Den Arbeitsschutz nicht vergessen

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SEITE EINS
DIGITALISIERUNG
Den Arbeitsschutz nicht vergessen
Michael Schmedt
D
igitalisierung hat das Zeug, zum Wort oder irgendwie auch zum Unwort des Jahres zu werden. Denn so unterschiedlich die Menschen sind, die
darüber sprechen, so unterschiedlich ist auch das, was
sie damit meinen. Für die einen ist sie hilfreich und zukunftsweisend, für die anderen gefährlich und existenzbedrohend, weil sie um ihren Arbeitsplatz fürchten.
In der Medizin sind künstliche Intelligenz, Ersatzteile für den menschlichen Körper aus 3-D-Druckern oder
Roboterchirurgie keine Zukunftsszenarien mehr, sondern angewandte Praxis. Da mutet das Telemonitoring
von Herzpatienten schon fast wie ein alter Hut an. Gerade im Gesundheitswesen versprechen sich viele eine
Verbesserung der Strukturen und der Behandlung. Und
auch wenn die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte eher an die Inbetriebnahme des Berliner
Flughafens erinnert, so wird sie dennoch Prozesse vereinfachen, transparenter und damit sicherer machen. Informationen werden dort vorliegen, wo sie gebraucht
werden: Beim Arzt und seinem Patienten. Die Zeiten,
in denen Patienten überdimensionale Umschläge mit
Röntgenbildern durch die Gegend schleppten, muss
vorbei sein. Das Telemonitoring wird angesichts der
demografischen Entwicklung eine immer wichtigere
Rolle bei der Versorgung chronisch Kranker einnehmen, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Dass der Weg zur digitalen Gesundheitswelt oft holperig und zugleich bedrohlich wirkt, sollte nicht dazu
führen, den Prozess nicht zu begleiten oder ihn gar abzulehnen. Denn nur wer sich aktiv einbringt, kann auch
gestalten. Wer zu spät mitspielt, kann das Wissensdefizit kaum noch aufholen. Die Patienten haben weniger
Berührungsängste, wie die Nutzung der GesundheitsApps zeigt. Und die Industrie hat das wirtschaftliche
Potenzial längst erkannt: Softwaregiganten wie Apple
oder Google investieren in den Medizinbereich. Gewisse Regularien für die Hersteller von Apps sind unabdingbar. Die Anwendungen müssen medizinisch valide
und datenschutzrechtlich konform sein. Das würde es
auch dem Arzt einfacher machen, seinen Patienten Hilfestellung bei der Auswahl solcher Apps zu geben.
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 49 | 9. Dezember 2016
So drehen sich die Diskussionen überwiegend um
Datenschutz und -verfügbarkeit und Prozessvereinfachung am Arbeitsplatz. Von Arbeitsschutz liest man
selten, denn die Digitaliserung soll ja die Arbeitswelt
vereinfachen: Flexibilität ist die Verheißung, die den
Arbeitnehmer ködern soll. Bundesarbeitsministerin
Andrea Nahles (SPD) hat just das „Weißbuch Arbeiten 4.0“ präsentiert. Schaut man sich den Diskussionsentwurf zur digitalisierten Arbeitswelt an, so stutzt
man beim Begriff „Wahlarbeitszeitgesetz“. Gemeint
ist eine zweijährige Experimentierphase, in der – mit
Bedingungen – eine begrenzte Abweichung von den
bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes zur
Tageshöchstarbeitszeit und Ruhezeit möglich ist. Das
erzürnte zu Recht den 1. Vorsitzenden des Marburger
Bundes, Rudolf Henke. Die Ausnahme von der Regel
sei für viele Ärztinnen und Ärzte und andere Beschäftigte im Gesundheitswesen längst zur Regel geworden. Daher könne man auf noch mehr Ausnahmen zulasten des Arbeitsschutzes getrost verzichten, kritisierte Henke. Und so geht einem auf, was vielleicht
nicht direkt auf der Hand liegt: Flexibilität heißt auch
Verfügbarkeit. Arbeiten von jedem Ort zu jeder Zeit
kann auch heißen, keinen Feierabend mehr zu haben.
Nicht nur die Daten müssen geschützt werden, auch
die Arbeitnehmer.
Michael Schmedt
Stellv. Chefredakteur
A 2229