Einigung über den Stabilitätspakt

8.12.2016
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Neue Zürcher Zeitung
WI.WI
Samstag, 14.12.1996 / 21
Einigung über den Stabilitätspakt
Von Währungsfragen geprägter EU­Gipfel
Nach langwierigen Verhandlungen ist es am EU­Gipfel in Dublin gelungen, den von Deutschland
geforderten Stabilitätspakt unter Dach und Fach zu bringen. Dieser verpflichtet die Teilnehmer der
für 1999 geplanten Währungsunion auch nach der monetären Verschmelzung auf eine
stabilitätsorientierte Finanzpolitik. Andernfalls drohen ihnen saftige Geldbussen. Keine
Kontroversen löste im Dublin Castle hingegen die konkrete Ausgestaltung des EWS II aus.
rg. Dublin, 13. Dezember
Der Beginn des zweitägigen Europäischen Rates in Dublin hat ganz im Zeichen der Vorbereitung der
Währungsunion gestanden. Es galt, nach mehr als zwölfmonatigen Verhandlungen in den zuständigen
Fachgremien endlich eine Verständigung über den zunächst vom deutschen Finanzminister Waigel
geforderten Stabilitätspakt zu finden. Zu diesem Zweck reisten die Finanzminister der EU bereits am
Donnerstag in die irische Kapitale, um den Durchbruch zu erreichen und damit den Erfolg des EU­Gipfels
zu sichern. Doch erst nach weiteren Beratungen am Freitag vermochten sie den Staats­ und
Regierungschefs einen für alle Delegationen akzeptablen Kompromiss zu unterbreiten. Mit dieser
Verständigung war auch der Weg frei für die Absegnung des EWS II als Nachfolgesystem für das geltende
Europäische Währungssystem (EWS). Das neue Währungsarrangement wird ein System fester, aber
anpassungsfähiger Wechselkurse zwischen der Einheitswährung Euro und den übrigen Währungen im EU­
Raum sein. Weiter konnten in Dublin auch gewisse Details zum rechtlichen Status des Euro geklärt
werden. Präzisierungen zum Maastricht­Vertrag
Das Vertragswerk von Maastricht verpflichtet in den einschlägigen Artikeln die Teilnehmerstaaten der
Währungsunion zur Einhaltung einer stabilitätsorientierten Budgetpolitik, und es enthält auch Verfahren
und Möglichkeiten für Sanktionen gegen Länder, die vom finanzpolitischen Pfad der Tugend abweichen
bzw. «übermässige Haushaltsdefizite» ausweisen. Doch die Bestimmungen blieben damals wenig präzise
und hätten später Tür und Tor für politischen Kuhhandel im Ministerrat geöffnet. Deshalb schlug Waigel
vor mehr als einem Jahr einen Stabilitätspakt vor mit dem Ziel, ein glaubwürdiges und quasi automatisch
wirkendes Regelwerk zu finden, das potentielle Sünder davor abschreckt, den Staatshaushalt aus dem
Ruder laufen zu lassen. Und als übermässiges Etatdefizit gilt im Prinzip ein jährlicher Fehlbetrag in der
Staatskasse von mehr als 3% des Bruttoinlandprodukts (BIP). Die Anstrengungen haben sich gelohnt. Der vereinbarte Stabilitätspakt kommt einem
unmissverständlichen Bekenntnis der EU­Staaten für dauerhaft geordnete Staatsfinanzen gleich. Zum
einen steht nun ein straffes Verfahren fest, wie die EU­Kommission und der Ministerrat ein Land mit
übermässigem Defizit zur Räson bringen und mit pekuniären Sanktionen belegen können. Zum andern
wird im Pakt auch geregelt, unter welchen Bedingungen die 3%­Regel «verletzt» werden darf, ohne dass
das betreffende Land gebüsst wird: in rezessiven Zeiten oder bei ausserordentlichen Ereignissen
(Naturkatastrophen). Wann herrscht Rezession?
Der grosse Zankapfel war in Dublin bezeichnenderweise die Definition der Rezession. Deutschland
pochte auf eine kräftige Kontraktion des BIP, damit ausnahmsweise und vorübergehend ein Etatdefizit
«ungestraft» mehr als 3% des BIP betragen darf. Auf der anderen Seite stand Frankreich, das auf die
straffreie Umgehung der 3%­Regel schon bei mildem Abschwung pochte, weil aus der Sicht von Paris
allzu rigide Regelungen schmerzhafte Abstriche an der nationalen Souveränität in Budgetfragen
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implizieren. Der gefundene Kompromiss sieht nun wie folgt aus: Beträgt der BIP­Rückgang in einem Jahr
weniger als 0,75%, müssen Länder mit exzessiven Defiziten innerhalb einer bestimmten Frist
Budgetkorrekturen vornehmen. Geschieht dies nicht, muss der Rat Sanktionen beschliessen (gemäss
Artikel 104 c Absatz 11, EU­Vertrag), und zwar zunächst in Form einer unverzinslichen Einlage. Diese
Sanktion, betragsmässig mindestens 0,2% und maximal 0,5% des BIP, wird nach zwei Jahren in eine
Geldbusse umgewandelt, wenn das betreffende Haushaltdefizit weiterhin übermässig bleibt. Liegt die BIP­
Kontraktion zwischen 0,75% und 2%, gibt es für den Rat durchaus Spielraum. Er wird das Land mit einem
Fehlbetrag von mehr als 3% des BIP nur dann auf die «Anklagebank» setzen, wenn es keine besonderen
Umstände wie beispielsweise ein besonders abrupter Abschwung geltend machen kann. Bei BIP­
Schrumpfungen um mehr als 2% herrscht ohne Wenn und Aber Rezession; der Begriff des übermässigen
Defizits findet keine Anwendung mehr; Sanktionsmöglichkeiten fallen selbstredend weg. Der Stabilitätspakt muss nun in eine Ratsverordnung gegossen werden, die dann von den EU­Chefs an
ihrem Gipfel Ende Juni 1997 in Amsterdam verabschiedet werden soll. ­ Schliesslich wurde in Dublin die
Amtszeit des Präsidenten des Europäischen Währungsinstituts, Alexandre Lamfalussy, bis Ende erstes
Semester 1997 verlängert und der niederländische Zentralbankchef Duisenberg als dessen Nachfolger
ernannt. (Vgl. weitere Meldungen auf den Seiten 1 und 20) © 1996 Neue Zürcher Zeitung
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