SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer Erinnerungen an einen Apokalyptiker Von Stefan Fuchs Sendung: Donnerstag. 08.12.2016 Redaktion: Anja Brockert Regie: Felicitas Ott Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. 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Nur/ merkt ihr es nicht. - Ihr lest ein Buch/ über Kassandra, aber ihre Schreie habt ihr nicht gehört. Das war / um fünf vor zwölf. Bald ist es/ fünf, und wenn ihr Schreie hört, / sind es die euren.“ Regie: Musik wieder kurz hoch, Ansage: Der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer. Erinnerungen an einen Apokalyptiker. Eine Sendung von Stefan Fuchs. Cut 1: [Hildesheimer]: Zwar bin ich mit meinen Eltern, 1933 nach Palästina ausgewandert. Israel existierte damals noch nicht einmal als Wunschtraum. Aber als der Staat gegründet wurde, war ich schon wieder in Europa, wohin ich gehörte und gehöre. Ich habe also gewissermaßen die Heimat verschmäht auf Kosten jener Heimatlosigkeit, die von außen betrachtet ein Merkmal des Juden ist, und für mich also von innen betrachtet, jene Heimatlosigkeit symbolisiert, in der wir, Jude oder nicht, alle heimisch sind. Sie ist die Quelle all meiner kreativen Aktivität. Ich will auf der Erde keine Heimat haben. Vielleicht offenbart sich nicht zuletzt in dieser Versagung mein Judentum. Cut 2:[Jürgen Becker] Wolfgang Hildesheimer fiel mir auf durch einen seiner ersten Sätze, die mir haften geblieben sind: die narrative Literatur ist am Ende. Cut 4: [Volker Jehle]: Er hat sich ständig als Gescheiterten bezeichnet. Ich bin bis zuletzt nicht dahintergekommen warum eigentlich. Sprecher: Wolfgang Hildesheimer wurde vor hundert Jahren geboren, am 9. Dezember 1916. Er war einer der erfolgreichsten Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur, BüchnerPreisträger, ausgezeichnet mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden. Seine „Lieblosen Legenden“ wurden in den sechziger Jahren zum Kultbuch, eine MozartBiografie zum viel beachteten Versuch, die Psychoanalyse für das Verständnis des Komponisten fruchtbar zu machen. Als sich aber Hildesheimer mit seinen ProsaMonologen „Tynset“ und „Masante“ in literarisch schwieriges Gelände vorwagte, verließen ihn Leser und Kritik. Der Literaturwissenschaftler Stephan Braese hat zum 100. Geburtstag eine Biografie über Hildesheimer geschrieben, der ein großer Bewunderer von James Joyce war: Cut 5: [Stephan Braese]: 2 Als er Beckett und Joyce kennengelernt hat, erfolgte das zeitgleich zu den Verfolgungen im Dritten Reich. Und diesen Zusammenhang hat er beispielsweise immer mitgelesen. Während man, als [man] Becketts „Warten auf Godot“ im Deutschland der zweiten Hälfte der 50er Jahre dann auf dem Theater sah, kaum Verbindungen dazu hergestellt hat, dass dieses ausgetrocknetste Menschsein, das in diesen Beckett-Dramen erkennbar ist, in irgendeinem Zusammenhang mit der NSZeit stehen könnte. Sprecher: Für Stephan Braese sind Hildesheimers Erfahrungen während der Kriegsjahre in England und im britischen Mandatsgebiet in Palästina entscheidend für die Entwicklung seines ästhetischen Konzepts in der Tradition der angelsächsischen Moderne. In seiner Biografie verweist er auf die Katastrophen des Weltkriegs und der Shoa als historischen Rahmen für eine Literatur, die sich von nun an mehr denn je selbst infrage stellen musste. Cut 6: [Stephan Braese]: Hildesheimer erlebte, dass dieses wichtige europäische Land, nämlich England, offensichtlich politisch nichts dagegen hatte, dass mitten in Europa in diesem wichtigen Land Deutschland diese Menschenrechtsverletzungen, diese Verfolgungen stattfinden. Er ist genau informiert gewesen über die Versuche der britischen Verwaltung, Palästina für einen jüdischen Flüchtlingszustrom zu schließen. Das wird man als Hintergrund mitlesen müssen für dieses Lebensgefühl einer permanenten Bedrohung. Hildesheimer erlebte das Herankommende, erlebte die Drohung, erlebte das Unheil mit großer Deutlichkeit. Sprecher: Als der aus dem Exil zurückgekehrte Wolfgang Hildesheimer nach Kriegsende Mitglied der „Gruppe 47“ wird, bewundert man sein elegantes Auftreten, seine Mehrsprachigkeit, seine internationalen Kontakte. Aber Hildesheimer teilt die Vorstellungen seiner Schriftstellerkollegen vom kulturellen Wiederaufbau nicht. Er glaubt nicht an die Möglichkeit eines Neuanfangs, der das Geschehene in Zukunft unmöglich machen könne. Die im Nachkriegsdeutschland vielzitierte Rede von der Barbarei, die das Gedichteschreiben nach Ausschwitz darstelle, stammt von Theodor W. Adorno. Für den Soziologen, Philosophen und Kunsttheoretiker haftete aller ästhetischen Stilisierung des millionenfachen Schreckens ein schwer erträglicher Makel an. Es schien ihm, als gebe die Kunst dem Grauen des Holocaust nachträglich einen Sinn. Zugleich aber hatte die Erfahrung des totalen Zusammenbruchs europäischer Zivilisation auch für Adorno einen Anspruch auf künstlerischen Ausdruck. Dieses Dilemma einer Literatur nach dem Holocaust prägt Hildesheimers Schreiben immer intensiver. Cut 7: [Hildesheimer liest aus den „lieblosen Legenden“]: „Eines Abends saß ich im Dorfwirtshaus vor genauer gesagt hinter einem Glas Bier, als ein Mann gewöhnlichen Aussehens sich neben mich setzte und mich mit gedämpft vertraulicher Stimme fragte, ob ich eine Lokomotive kaufen wolle. Nun ist es zwar ziemlich leicht, mir etwas zu verkaufen, denn ich kann schlecht nein sagen, aber bei einer größeren Anschaffung dieser Art schien mir doch Vorsicht am Platze.“ 3 Sprecher: Hildesheimers Einstieg in die deutsche Nachkriegsliteratur ist fulminant. Grotesk surreale Kurzgeschichten in der Art der „Größeren Anschaffung“, die man als Satire auf die beginnende Konsumgesellschaft lesen kann, treffen den Nerv der Zeit. Die großen Zeitungen drucken sie. Unter dem Titel „Lieblose Legenden“ sind sie als Buch erfolgreich. Völlig unerwartet für einen Schriftsteller, für den die Literatur immer nur zweite Wahl war. Eigentlich wollte Hildesheimer Maler werden. Cut 8: [Volker Jehle:] Zum Schreiben kam er (..) durch Zufall. (..) Das bestätigten auch die Briefe an die Eltern. Das ist ganz wörtlich zu nehmen. Da war es zu dunkel am Ofen und zu kalt am Fenster und dann hat er geschrieben und dann wurde ihm diese Geschichte aus der Hand gerissen. Sprecher: Der Literaturwissenschaftler Volker Jehle erinnert sich an Wolfgang Hildesheimer wie an einen Vater. Er hat ihn zu Beginn der achtziger Jahre kennengelernt und dann regelmäßig in seinem Schweizer Domizil in Poschiavo besucht. In seinem Atelier richtete Hildesheimer für den jungen Bewunderer eine Schublade ein, in der er alles deponierte, was er der Nachwelt überliefern wollte, und beauftragte ihn mit Herausgabe seines Lebenswerks. Jetzt hat Volker Jehle die Briefe Hildesheimers an die Eltern veröffentlicht. Cut 9: [Volker Jehle]: Er hat mit seinen Geschichten ganz einfach verdrängt. Er hat lustig geschrieben, witzig geschrieben. Die Phase der „Lieblosen Legenden“ ging eigentlich so bis 1957. Bis zum Umzug nach Poschiavo war alles witzig auf Teufel komm raus. Er war der Satiriker, er war der Komische, er hat die leichten Feuilletons geschrieben, wo die Leute gelacht haben und manche haben bemerkt, das da auch Tiefgang drin ist. Sprecher: Wolfgang Hildesheimer ist nach dem Krieg eher zufällig nach Deutschland zurückgekehrt: Im Sommer 1946 verlässt er Palästina und geht erst einmal nach London, wo er vor dem Krieg eine Ausbildung zum Bühnenbildner gemacht hatte. Dort erhält er das Angebot, bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als Simultandolmetscher zu arbeiten. Cut 10: [Hildesheimer erzählt 16.04.1978 SDR 12:10]: Mit Judentum in seiner grausamsten Bedeutung, mit Rassenzugehörigkeit, Artfremdheit und all den Worten dieses Vokabulars wurde ich erst konfrontiert als ich Simultandolmetscher bei den Nürnberger Gerichten wurde. Als sich hier systematisch und schematisch eine Geschichte aufrollte, die ich in den Jahren ihres Geschehens nur aus Berichten und Gerüchten gekannt hatte. Die Geschichte war entsetzlich, aber sie gehörte einer Vergangenheit an, deren Bewältigung schließlich nicht meine Aufgabe war. Die Frage der Schuld oder der Kollektivschuld überließ ich meinem Unbewussten und wartete auf den Entscheid von innen. Sprecher: 4 1947 beginnen die Alliierten in Nürnberg eine zweite Prozess-Serie. Nach der NaziProminenz werden jetzt auch jene zur Rechenschaft gezogen, die sich vor allem als Befehlsempfänger sehen. Aber die NS-Ärzte und die Führer der sogenannten Einsatztruppen haben schwerste Verbrechen zu verantworten. Cut 11: [Stephan Braese]: Die herausragende Bedeutung liegt darin, dass Hildesheimer, der aus seiner näheren Familie kein Opfer durch den Holocaust zu beklagen hatte, dort erstmals „face to face“ mit dem Ausmaß und den Konkreta der Vernichtungspolitik konfrontiert wurde. Er bezeugt, dass er beispielsweise einen Lampenschirm aus menschlicher Haut gesehen hat. Für etwa zweieinhalb Jahre befand sich Hildesheimer mehrere Stunden am Tag im Nürnberger Schwurgerichtssaal, sah diese schwerster Verbrechen Angeklagten in seiner Muttersprache sprechen, - es haben fast ausnahmslos alle Angeklagten ihre Schuld geleugnet -, und musste das ins Englische übersetzen. Er schreibt von seinem ersten Tag im Gerichtsaal an seine Eltern. „Ich hatte nicht viel zu übersetzen, nur den Satz „I am not guilty“, aber sechsmal.“ Sprecher: Biograph Stephan Braese ist überzeugt, dass die direkte Konfrontation mit der Banalität des Bösen in Nürnberg, mit der absoluten Durchschnittlichkeit der Akteure der NS-Tötungsmaschinerie in Hildesheimer die Sensibilität für die Zerbrechlichkeit der Zivilisation verstärkt hat. Er glaubt immer weniger an die Möglichkeiten einer ästhetischen Verarbeitung des Schreckens. Cut 12: [Der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer im Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold 1984]: An einem bestimmten Punkt habe ich eingesehen, dass man mit der Satire oder dem Humor überhaupt nicht mehr weiterkommt. Und bin ernster geworden, was viele Leute sehr bedauert haben. Sprecher: 1953 veröffentlicht Hildesheimer mit seinem ersten Roman „Paradies der falschen Vögel“ eine Groteske über den Kulturbetrieb. Aber die Satire eskaliert immer deutlicher ins Absurde. Auf der Bühne hatte er mit Komödien begonnen, das Stück „Landschaft mit Figuren“ macht ihn jetzt zum Vertreter des absurden Theaters in der Tradition Becketts und Ionescos. Ihn fasziniert der surrealistische Blick, der in den Alltagsdialogen die Bodenlosigkeit der menschlichen Existenz sichtbar macht. Das Atelier eines Malers wird zum Schauplatz einer gnadenlosen Abrechnung mit der Rolle der Kunst als groteskem Sahnehäubchen auf den Leichenbergen der bürgerlichen Gesellschaft. 1957 verlässt Wolfgang Hildesheimer Deutschland und zieht in das Bergdorf Poschiavo im Schweizerischen Graubünden. Ist dieser Umzug eine Art zweites Exil? Oder ist es nur eine Flucht vor dem „entsetzlichen bayrischen Klima“, wie Hildesheimer an seinen Freund Friedrich Dürrenmatt schreibt? Cut 13: [Hildesheimer erzählt 16.04.1978]: Ich erinnere mich an einen Spaziergang mit meiner Mutter währenddessen sie den bekannten Satz von Moritz Goldstein zitierte: „Wir Juden verwalten das Kulturgut einer Nation, die uns nicht dazu aufgefordert hat.“ Der Satz von Goldstein ist mir 5 geblieben, er wirkt sich noch heute aus, ja seine Bedeutung hat sich sogar erweitert. Ich würde,- vielleicht zu Unrecht -, als Jude kein deutsches Kulturgut verwalten wollen. Nicht zum Beispiel als leitender Redakteur etwa den Beitrag eines Dichters zurückweisen wollen, der vielleicht labil und anfällig für die Erfahrung jener Distinktionen ist, die jetzt nur schlummern, aber ewig latent bleiben. Noch heute und vor allem nach dem, was geschehen ist, fühle ich, dass hier der Platz eines Juden nicht ist. Sprecher: Spät erst, Ende der siebziger Jahre bekennt sich Hildesheimer öffentlich zu seinem Lebensgefühl ständiger Alarmbereitschaft als Jude im Deutschland der Nachkriegszeit. Die Vorstellung einer spezifisch jüdischen Identität war selbst unter den Schriftstellerkollegen der Gruppe 47 tabuisiert. 1963 hatte Hildesheimer einen Text über die „Vier Hauptgründe, weshalb ich nicht in der Bundesrepublik lebe“ kurz vor der Veröffentlichung zurückgezogen. Cut 14: [Hildesheimer erzählt 16.04.1978]: Wir Juden sind anders, wir sind in unserer Selbstbeobachtung im positiven wie im negativen Sinn sensibler, reagieren anders und empfindlicher auf Regungen unserer Seele und unseres Körpers, sind weniger robust. Wir sind weniger naiv, weniger leichtgläubig, aber auch weniger gelassen in kritischen Situationen. Wir sind unruhiger, reden mit mehr Emphase, sind lebhaftere, intensivere aber auch anstrengendere, hartnäckigere Gesprächspartner. Sprecher: Schriftstellerkollegen wie Heinrich Böll, aber auch enge Freunde wie Walter Jens reagierten mit blankem Entsetzen auf Hildesheimers Versuch, sein Anderssein durch das Aufgreifen antisemitischer Stereotype zu bestimmen. Sie verstehen nicht, dass Jahrhunderte der Verfolgung Spuren bei den Verfolgten hinterlassen haben, dass für einen Juden spätestens mit Ausschwitz das Grundvertrauen in die Zivilisation unwiederbringlich zerrüttet sein muss. 1965 erscheint unter dem Titel „Tynset“ der erste der beiden Prosamonologe Hildesheimers, die das Dilemma des Erzählens nach Auschwitz mit radikaler Konsequenz entfalten. Zitator: Was ist es denn, das ich mir unter Tynset vorstelle? Ich sollte froh sein, diesen Namen gefunden zu haben, ohne nach dem Ding oder dem Ort zu forschen, der diesen Namen trägt. Es gibt wenig genug Namen, die nicht entweder so schön sind, dass die Erforschung dessen, was sie bedeuten, in ein falsches Paradies führt, in ein Gebiet läppischer Schwelgerei, auf moosweichen Waldboden der schönen Träume, auf denen man ein Eichhorn erwartet, oder aber mit Erinnerungen so behaftet sind, dass mir stets der erste Träger des Namens dazu einfiele, von dessen Gegenwart ich mich niemals ganz befreien könnte. Sprecher: „Tynset“ ist Hildesheimers erster Antiroman. Der Titel spielt auf einen kleinen Ort in Norwegen an, den der Ich-Erzähler in einem Kursbuch der norwegischen Staatsbahnen gefunden hat. Es ist der Klang dieses fremden Namens, der ein Geheimnis verheißt. Aber es ist das Geheimnis eines blinden Flecks, einer 6 Leerstelle, die allein durch ihre Abstraktheit eine Verheißung einschließt. Der Erzähler ist nie in Tynset gewesen, und er wird auch nie nach Tynset gelangen. Er verbringt seine schlaflosen Nächte eher damit Geschichten abzuwehren, als sie zu erzählen, weil sie entweder in das „falsche Paradies der läppischen Schwelgerei“ führen, oder aber in das Grauen des tausendfach erlebten Schreckens. Ein Drittes bleibt ausgeschlossen. Für den Erzähler wie für Hildesheimer selbst sind Geschichten untrennbar mit dem Klang bestimmter Eigennamen verbunden. Zitator: Eines Nachts stieß ich im Telefonbuch auf den Bewohner eines schräg gegenüberliegenden Hauses. Ich kannte ihn nicht. Ich glaube, er hieß Huncke oder so ähnlich. Ich rief ihn an, es war schon spät in der Nacht. „Fühlen Sie sich schuldig, Herr Huncke?“ Seine Stimme zitterte, als er nun sprach, seine Schuld war aufgerufen, war plötzlich ins Unermessliche angewachsen. Er zischte unter dem Atem: „Warte nur! Bald sind wir wieder da! Dann geht es euch an den Kragen!“„ Sprecher: Namen wie Huncke, Malkusch, Kabaster - für den ehemaligen Simultandolmetscher bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen sind sie ins Gedächtnis eingebrannt. Sie sind zu phonetischen Mahnmalen der Gräuel des industriellen Massenmords geworden. Auch 1965 findet man sie noch zuhauf im Telefonbuch. Es bedarf nur eines anonymen Anrufs, um die ehemaligen Nazi-Schergen aufzuscheuchen: die Mörder sind unter uns, überall, in nächster Nachbarschaft. Auf eigenartige Weise ist für Hildesheimer im Klang der Namen das Schicksal von Opfern und Tätern schon fixiert. Das macht es schwer, eine andere Geschichte zu erzählen als die eines Schreckens, der sich hartnäckig wiederholt, wieder und wieder. Zitator: Doris Wiener kam in einer Gaskammer um – installiert von der Firma Föttle und Geiser, an Firmennamen erinnere ich mich unfehlbar und genau -, und er, er hieß übrigens Bloch, er war, soweit ich mich jetzt erinnere, der einzige Mensch, den ich jemals gekannt habe, der sich buchstäblich sein Grab selbst schaufelte, und zwar unter Aufsicht von Kabasta, der ihn dann, Gesicht grabwärts, vor das Grab stellte und ihn durch einen Genickschuss tötete, mit seiner rechten Hand, der großen, roten, blonden, dieser seiner Hand. Cut 15: [Hildesheimer im Gespräch mit Stephan Reinhardt]: Das „Masante“ Buch war wahrscheinlich das Buch, in dem die Nürnberger Erfahrung tatsächlich zu Papier kam. Das hat lange in mir gearbeitet. Tatsache ist, dass alle Figuren in Masante reale Figuren sind. Sie haben alle Modelle. Ich habe lange Zeit das Material und auch die Bilder dieser Modelle vor mir gehabt, und die Häscher entsprechen tatsächlich verschiedenen Figuren, wie ich sie in Nürnberg und wohl auch später getroffen habe oder beobachten konnte. Sprecher: Zehn Jahre nach „Tynset“ erscheint 1973 mit „Masante“ Hildesheimers zweiter Antiroman. Er setzt „Tynset“ in gewisser Weise fort. Hildesheimer stellt darin die Möglichkeiten des Erzählens ein letztes Mal auf die Probe. Der menschenscheue, kontaktarme Ich-Erzähler aus „Tynset“ hat seine Bettgruft verlassen und begibt sich 7 auf eine letzte Reise. Sie führt ihn weit weg von Europa und den Schrecken seiner jüngeren Vergangenheit, nach Meoná, an den Rand der Wüste, in den südlichen Negev, eine Grenzregion des Staates Israel. Meoná ist ein extremer Ort. Die heruntergekommene Bar mit ihren angestaubten Erinnerungsstücken, in der der Erzähler Zuflucht sucht, steht für die letzte Chance des Erzählens. Dort trifft Hildesheimers Alter Ego auf die ewig betrunkene Barbesitzerin Maxine. Im Verlauf des Textes gerät sie zu einer Allegorie der erzählenden Literatur. „Masante“ ist Wolfgang Hildesheimers schwierigster und zugleich bedeutendster Text. Am Ende schickt er seinen Erzähler buchstäblich in die Wüste. Zitator: Die Welt gibt keinen guten Satz mehr her. Den Punkt setzen, den Schlussstrich ziehen, meine Zeit ist vorbei. In Zukunft wird nicht mehr gesungen: es gibt keine Tonarten mehr zur Wahl. Nur noch eine. Nein, zwei: Befehl und Schrei. Wer nicht befiehlt oder schreit, ist verstummt. Zeugenschaft geben? Für wen? Wovon? Von Gleichgültigkeit, Dulden, Versagen, Ohnmacht? Lieber ein Ende. Sprecher: Wolfgang Hildesheimer selbst wird noch zwei Jahrzehnte weiterschreiben.1977 veröffentlicht er seine von der Musikkritik als „kopernikanische Wende begrüßte“ Mozart-Biographie. Er sagte, sie sei eine Flucht gewesen vor den Qualen, die ihm die Niederschrift des „Masante“-Buches bereitet habe. Cut 17: [Interview Wolfgang Hildesheimer mit Anne Quirin, 20.10.77]: „Es wurde viel gesprochen in der Kritik von der so genannten Entmythologisierung. Das stimmt nun überhaupt nicht! Im Gegenteil Ich habe ihn eigentlich, wenn man so will eher re-mythologisiert, indem ich versucht habe, all das abzukratzen, womit ihn die Biographik beklatscht hat. Er ist überwuchert mit einem Rankenwerk von Attributen, die meiner Meinung nach nicht zutreffen. Sprecher: So wie „Tynset“ und „Masante“ Antiromane sind, so ist Hildesheimers „Mozart“ eine Antibiographie. Sie verweigert sich hartnäckig jedem platten Versuch, das Genie Mozarts zu begreifen, besteht geradezu auf ihrem eigenen Scheitern. Das Rätsel des genialen Künstlers bleibt für Hildesheimer ebenso unergründlich wie das Rätsel des Rückfalls der Menschen in die Barbarei des Massenmords. Cut 18: [Jürgen Becker]: Hildesheimer hatte aufgehört zu schreiben. Und er hatte das auch kundgetan. Der Zustand der Welt sei so, (..) er würde jetzt nur noch schweigen. Sprecher: Der Schriftsteller Jürgen Becker stieß 1960 zur „Gruppe 47“. Er erinnert sich, wie Hildesheimer 1984 in einem Interview erklärt, dass er das Schreiben nunmehr einstellen werde. Cut 19: [Jürgen Becker]: 8 Nach dieser Erklärung, die damals auch von den Kollegen wahrgenommen und diskutiert wurde, hier hört einer auf zu schreiben. Es war eben die Frage, was macht Hildesheimer, wo er jetzt plötzlich sagt, ich schreibe nicht mehr. Was ist das für eine Reaktion eines Schriftstellers, wenn er meint, die Welt sei so, dass man literarisch ihr nicht mehr beikommen könne? Gerade dann muss es doch eine Herausforderung sein, dass man nach Mitteln und Möglichkeiten sucht, wieder eine Sprache dafür zu finden. Sprecher: Heute bedauert Jürgen Becker den Spott, mit dem er und Autoren wie Peter Handke und Martin Walser auf Hildesheimers erklärtes Ende der Literatur reagiert haben. Cut 20: [Wolfgang Hildesheimer im Gespräch]: Es hat für mich etwas Lähmendes zu denken, dass ich hier Literatur mache, während in Wirklichkeit, sich Menschen darauf vorbereiten müssen, dass das Leben sehr bald ein Kampf ums Überleben sein wird. Es ist fürchterlich und seine Fürchterlichkeit wird eben sehr bagatellisiert. Unsereins werden so als Endzeitpropheten bezeichnet, die Geschäfte mit der Angst machen und diese elende Verniedlichung ist natürlich letztlich dem Verdrängen der Anderen zuzuschreiben. Die anderen verdrängen diese Zukunft. Sprecher: Der Kritik und den meisten Schriftstellerkollegen Hildesheimers ist in den achtziger Jahren die Vorstellung von einem Ende der Literatur oder gar einem Ende der Kunst völlig fremd. Sie können sich nur ein persönliches Versiegen der Inspiration vorstellen, eine private Schreibkrise allenfalls. Hildesheimers gute Gründe für das Ende des Erzählens werden belächelt. Cut 21: [Wolfgang Hildesheimer im Gespräch]: Es ist zu dem Schrecken, wie ich ihn damals beschrieben habe natürlich noch einiger dazugekommen. Damals dachte man noch nicht an das, was man fälschlicherweise heute Umwelt nennt. Damals waren die Schrecken menschliche Gestalten. Heute ist es auch das vom Menschen Verursachte. Das Element der Weltzerstörung war nicht einberechnet, muss aber doch schon erahnt gewesen sein. Klee sagt ja auch, der Künstler wohnt etwas näher an den Dingen und realisiert ihre Veränderungen stärker und früher als andere. Sprecher: Früh hat Wolfgang Hildesheimer erahnt, dass sich mit der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch den technologischen Fortschritt eine neue Katastrophe abzeichnete. Er erkannte die apokalyptischen Dimensionen dieser Entwicklung. Hinter der vom globalen Kapitalismus getriebenen Ausbeutung des Planeten sieht Hildesheimer die gleichen Kräfte am Werk, die einst die Züge nach Auschwitz steuerten.1974 hält er in Dublin zu Ehren von James Joyce einen Vortrag mit dem lakonischen Titel „End of Fiction“. Er legt dar, wie eng für ihn das Ende der Literatur mit seiner kategorischen Absage an den Fortschrittsglauben verbunden ist. Was dann folgt, klingt wie die prophetische Beschreibung einer Zeit, in der das 9 Schwungrad technologischer Innovationen außer Kontrolle geraten ist. Mit vorhersehbaren Folgen für die zunehmend überforderten Menschen. Regie: Musik Zitator: „Konfrontiert mit dem Unvorhersehbaren und – schlimmer! – dem Unkontrollierbaren werden wir von einem kollektiven Empfinden hilfloser Erwartung beherrscht. Es wird genährt von jeder neuen wissenschaftlichen Entdeckung und jedem technischen Fortschritt, weil dieser Fortschritt sich in absoluter Wertfreiheit vollzieht. Dieser Zustand hat unser Bewusstsein um eine furchtbare Dimension erweitert, ein ubiquitäres Element der Furcht. ***** Literaturangaben: Wolfgang Hildesheimer Gesammelte Werke Hrsg. Von Hart Nibbrig et alii Suhrkamp Verlag 1991 10
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