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D. Henze: Deutschlands Anteil an der geographischen Erforschung
Henze, Dietmar: Deutschlands Anteil an der
geographischen Erforschung der außereuropäischen Erdteile im 20. Jahrhundert. Teil 1: Von
1900 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016. ISBN:
978-3-515-11328-1; 466 S.
Rezensiert von: Heinz Peter
Leibniz-Institut für Länderkunde
Brogiato,
In seinem Vorwort gibt der Autor einige wichtige Informationen über Ziele und Inhalte seines Werks. So beginnt er gleich mit der Feststellung, es handle sich um eine „Ergänzung
zu meinem Hauptwerk“ (S. 9). Mit Hauptwerk meint Henze seine „Enzyklopädie der
Entdecker und Erforscher der Erde“, die er in
jahrzehntelanger mühevoller Gelehrtenarbeit
zusammenstellte. Zwischen 1975 und 2004 erschienen 27 Lieferungen mit mehr als 3600
Druckseiten, ein wahres Titanenwerk. Die Enzyklopädie endet 1900, was man immer schon
als unglücklich empfand, der Erste Weltkrieg
hätte sich als weltgeschichtliche Zäsur sicher
mehr angeboten. Das vorliegende Werk setzt
die Enzyklopädie zeitlich fort, es lässt aber
darüber hinaus in vieler Hinsicht denselben
Verfasser erkennen. Sprache und Inhalt sind
sehr ähnlich, lediglich die Gliederung wechselt vom Biographischen zum Regionalen.
Auch was der Autor unter „der geographischen Erforschung“ versteht, macht er im Vorwort unmissverständlich deutlich. Es ist die
„geographische Ganzheitlichkeit“ (S. 9), die
komplexe Betrachtungsweise von Ländern
und Landschaften. Die geographische Detailforschung, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr und mehr durchgesetzt hat, spielt
für Henze keine Rolle: „Keinen Platz können
beanspruchen Arbeiten über quartäre Strandlinien, über Eisdickenmessungen, über seitliche Erosion u.ä.m.“ (S. 10). Sein Bedauern,
dass sich die Geographie von ihrem länderkundlichen Ansatz abgewendet hat, mögen
viele Geographen, vor allem ältere, teilen.
Und noch eine weitere Bemerkung des
Vorwortes deutet Henzes Einstellung seinem
Stoff gegenüber an: „Im Forschungswettstreit
der Nationen blieb Deutschland in der ersten Reihe“ (S. 9). Das klingt nach Erich Mindt
„Der erste war ein Deutscher“ (1942) und ist
auch so gemeint. Im Vordergrund der Darstel-
lung stehen die unbestritten großen Verdienste deutsch(sprachig)er Forscher. Henze macht
in sympathischer Offenheit kein Hehl daraus,
dass die Akteure seine Helden sind, deren Taten es verdienen, wieder an die Öffentlichkeit
gebracht zu werden. In diesem Sinne ist das
Buch ein „Who was where“, eine einzigartige Aneinanderreihung von Forschungsreisen
und deren publizierten (!) Ergebnissen.1 Wobei nach unten kaum Grenzen sichtbar werden: Selbst eine Hochzeitsreise durch Korea
findet Aufnahme, da als Ergebnis „ein gut bebildertes Werk“ entstand (S. 95). Weniger wäre oftmals Mehr gewesen, denn damit wird
ein weiteres Problem angedeutet: Der Text
ist durchsetzt von Eigennamen von Personen
wie Orten, was die Lesbarkeit nicht gerade
auflockert. Zahlreiche detaillierte Routenbeschreibungen mit Namenlisten, z. B. „Eregli
– Devrek – Boli – Düsdje – Aktsche-scheht“
(S. 32), „von Aden über Schuqra, Laudar Nisab, Wadi Djirdan nach Hadramaut“ (S. 47)
usw. erfordern eine räumliche Vorstellungskraft, die kein Mensch besitzt, oder großmaßstäbige Karten, die sich zumeist in den Originalberichten befinden, hier aber vollends fehlen. Selbst der gewissenhafte Leser, der sich
bemüht, die Reiserouten im Atlas oder im Internet nachzuvollziehen, wird vor schier unlösbare Probleme gestellt, da viele Orte heute anders geschrieben werden. Ähnliches gilt
für Völkernamen („die Wahima (Watussi) und
die Wanjambo, die Waganda und die Waheie,
die Wageia und die Bakulia, die Masai und die
Wandorobbo“ S. 196). Einige Überblickskarten zu den einzelnen Großregionen wären für
den Verlag sicher aufwändig gewesen, hätten
dem Leser aber die Orientierung erleichtert.
In einem Kontrast zu solchen schwerfälligen Aufzählungen geographischer Namen
steht die Sprache Henzes, die er wählt, um
seiner Hochschätzung der Forscherleistungen Ausdruck zu verleihen: „Bei allem Stre1 Nur
am Rande sei erwähnt, dass trotz der Fülle an
Akteuren auch seltsame Lücken existieren. So fehlen
beispielsweise der Offizier Paul Graetz, der 1907–1909
als erster Afrika von Küste zu Küste mit dem Auto durchquerte, oder die Geographen Gustav StratilSauer, der auf dem Motorrad 1924–1926 bis nach Afghanistan kam, und Wilhelm Rohmeder, dessen Landeskunde von Argentinien (1937) ihm als Habilitationsschrift anerkannt wurde. Die Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen.
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ben nach einer aufgelockerten, lebendigen
Form waren epitaphisch anmutende Prägungen nicht zu vermeiden, die indes dem nicht
mißfallen werden, der das Werk als Ehrenmal deutscher Forschungsreisender aufzufassen geneigt ist“ (S. 10). Immer wieder bemüht
sich Henze, seine Beschreibungen und Bewertungen in eine künstlerische Sprachhülle zu
stecken. So wird das große China-Werk Ferdinand von Richthofens zu „einer faustischen
Schöpfung, deren Lichtbau dem Eintretenden
geistige Läuterung verhieß“ (S. 14). Nachdem
Henze die Publikationen des Schutztruppenoffiziers Ludwig von Stein in Kamerun ausführlich und mit viel Empathie dargelegt hat
(S. 246–249), steigert er sich gegen Ende: „In
diesem stygischen Winkel mit seinen Hippopotamus und Riesenalligatoren bewährte
sich STEINs alle niederhaltende Kraftnatur.
Er blieb ganz empfangenden Sinnes inmitten
dampfender Sumpf- und Wasserwälder ...“
(S. 249). Richard Kandts Buch „Caput Nili“
ist für Henze „von tiefbeseelter Prägung und
vollendeter Form, nicht geschrieben für reine Sachgeister“ (S. 200). Zu einem Buch Walther Pencks über die Puna de Atacama heißt
es: „Das kleine erlebnisfrische Buch entzückte
jede träumerische Seele und erregte die Mitgehenslust aller geographischen und nichtgeographischen Leser“ (S. 299). Und Martin
Schwind, „ein Abendländer von tiefer japanischer Gefühligkeit“, fand nach Henze „im kolonialen Bild Karafutos [...] die reinsten Züge
japanischen Seelentums“ (S. 101). Kein Wunder, dass der Geographiehistoriker bei so viel
Seele sogleich an Ewald Banse denkt, der die
Wissenschaft mit der Kunst versöhnen wollte
und die Seele in der Landschaft suchte. Henze
wurde 1968 mit einer Arbeit über Banse promoviert und hat sich immer wieder mit dessen Werk auseinandergesetzt.
Die bisherigen Zitate haben bereits gezeigt,
dass sich Henze einer Sprache bedient, die so
manchen Leser zumindest irritieren wird, erwartet man sie nicht in einem Sachbuch des
Jahres 2016, von einem Wissenschaftsbuch
ganz zu schweigen. Es ist die Sprache der
Zeit, in der sich der Verfasser bewegt. Und damit sind wir beim Hauptproblem des Buches.
Der Klappentext verheißt „eine eindrucksvolle Zusammenschau und kritische Würdigung“. Eine eindrucksvolle Zusammenschau
ist es ohne jeden Zweifel, eine kritische Würdigung hingegen nicht. Hierzu fehlt Henze
die Distanz, eine wichtige Grundlage für jede wissenschaftliche Abhandlung. Man sucht
vergebens nach kritischen Untertönen; Fragen
nach den Motiven werden nicht gestellt, einzig „Wagelust und Tatenwille“ (S. 9) scheinen der Antrieb der Reisenden gewesen zu
sein. Der politische Kontext der Forschungen,
gleichgültig ob im Zeitalter des Kolonialismus oder während des Nationalsozialismus,
spielt für Henze keine Rolle. Daher kann es
auch kaum verwundern, dass die jüngere Forschungsliteratur, bis auf wenige Ausnahmen,
unberücksichtigt bleibt. Einzige Quellenbasis
bilden die zeitgenössischen Veröffentlichungen, die allerdings exzessiv: Die beiden Literaturverzeichnisse – warum es zwei sind,
bleibt unklar – umfassen 80 Seiten und enthalten 1840 Titel!
Der Autor identifiziert sich so sehr mit seinen Helden, empfindet so starke Sympathie
mit ihnen, dass sich die Texte Henzes und
die zeitgenössischen Berichte in Form und
Inhalt nicht mehr unterscheiden. Wenn Zitate nicht als solche mit Anführungszeichen
kenntlich gemacht wären, wüsste man häufig nicht, stammt der Text aus 2016 oder
1916. Zweifellos hat die deutsche Kolonialkartographie hervorragende Karten hervorgebracht, aber muss, nein darf man die „Zeit
der schönsten Blüte der deutschen Kolonialkartographie“ (S. 15) so enthusiastisch verklären: „Es war ein rauschhaftes Schaffen, dessen schöpferischer Glanz das Ephemerische
jener einzigartigen Epoche um so schmerzhafter machte“ (S. 16). Oder im Buch „Kumbuke“ des Kolonialoffiziers August Hauer wird
die koloniale Landschaft zur „Bühne aller opfervollen Gefechte und Patrouillen. Die Bühne
bleibt davon unberührt, und dies ist wie Trost
für die Schicksale und Leiden der kämpfenden Truppe“ (S. 214 f.). Ob es auch ein Trost
für die niedergemetzelten Afrikaner war? Solche Texte stehen in der Kolonialliteratur zuhauf, hier aber werden sie von Henze als seine eigenen Worte geschrieben. Da passt es
auf erschreckender Weise, dass die „Kolonialschuldlüge“ in der Weimarer Republik den
Kolonialgegnern Gustav Noske und Matthias Erzberger zugewiesen wurde. Henze übernimmt diese Diktion, ohne jeden Kommentar
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D. Henze: Deutschlands Anteil an der geographischen Erforschung
als Tatsache (S. 17)! Spätestens hier fragt man
sich, was man da gerade liest, aber auch, ob
das Buch lektoriert wurde und die beiden prominenten Stiftungen, die das Buch gefördert
haben, diese Stellen kannten.
Nach all der Kritik bleibt abschließend festzuhalten, dass Henze ein an Fakten überbordendes Werk geschrieben hat. Mancher wird
das Buch als Nachlagewerk nutzen, vermutlich ohne Henze als Quelle zu nennen. Auch
dies ist das Schicksal solcher enzyklopädischer Kompilationen. Oder wie Henze Franz
Thorbecke über Hans Dominik zitiert: „Für
die Wissenschaft sind die Bücher eine oft nur
schwer zu entwirrende Materialsammlung,
trotzdem bleiben sie eine reiche Fundgrube“
(S. 250).
Heinz Peter Brogiato über Henze, Dietmar:
Deutschlands Anteil an der geographischen Erforschung der außereuropäischen Erdteile im 20.
Jahrhundert. Teil 1: Von 1900 bis zum Ausbruch
des Zweiten Weltkrieges. Stuttgart 2016, in: HSoz-Kult 09.12.2016.
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