ZfPFI Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie 3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016 ISSN 2313-4267 DOI 10.15136/2016.3.2.1-15 Märchenhaft menschlich Fabulous human Brigitte Sindelar Kurzzusammenfassung Die Faszination des Menschen durch das Numinose macht den Schlusssatz der tradierten Märchen wahr: Sie sind noch lange nicht gestorben, sie leben heute noch. Und sie haben in den „Fantasy-Romanen“ Nachkommen, denen ihre Abstammung anzumerken ist. Märchenfiguren aller Zeiten mühen sich mit Schwierigkeiten ab, die so menschlich sind, dass sie, im Wunderbaren bewältigt, auch heute in der Psychotherapie als Projektionsfläche und Bearbeitungsraum seelischer Konflikte nutzbar gemacht werden können. Abstract The fascination of the numinous makes the conclusive sentence of traditional fairy tales come true: fairy tale characters in fact did not die, but are still alive. Moreover, their descendants, the “fantasy novels”, witness their roots and parentage. Fairytale characters of all times struggle with difficulties, which are original human, and they overcome them prodigiously. Psychotherapy is harnessing the traditional fairy tales as well as the fantasy novels of today as a projection screen and processing room of emotional conflicts. Schlüsselwörter Märchen, Fantasy-Roman, numinos, Psychotherapie, Individualpsychologie Keywords Fairy tale, fantasy novel, numinous, psychotherapy, Individual Psychology, Adlerian psychotherapy Seite 1 ZfPFI Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie 3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016 ISSN 2313-4267 DOI 10.15136/2016.3.2.1-15 1 Das Märchen als Tummelplatz der Psychopathologie im Froschkönig ist voller phobisch anmutender Vorurteile gegenüber Amphibien. Bemerkenswert ist dabei, dass diese beiden Prinzessinnen durchaus von ihrer Verzärtelung profi- Aus dem Blickwinkel der Psychotherapie be- tieren, wobei doch die eine erst durch ihre trachtet, erstaunt es, dass die Erzählforschung Überempfindlichkeit den Beweis ihrer Prinzes- Märchenfiguren flächenhaft mit einem wun- sinnenidentität führen kann und die andere derbaren Außenleben, aber ohne Innenleben durch den aggressiven Akt, den Frosch an die versteht (Lüthi, 1989). Denn schließlich sind in Wand zu werfen, einen Königssohn zum Mann jedem Märchen jeglicher Gattung die Persön- gewinnt. Und erst all die bösen Hexen mit lichkeiten der Märchenfiguren von den Aus- ihrer dissozialen Persönlichkeitsstörung, die wirkungen einer konflikthaften Innenwelt immer so qualvoll enden, wie etwa die Hexe in gezeichnet, die eine Vielzahl von behand- Hänsel und Gretel, die im Backofen ihr Leben lungsbedürftigen psychischen Störung diagno- lässt. Für den Psychotherapeuten und die stizieren lassen. Da sind zum Beispiel die Stief- Psychotherapeutin ist die Behandlungsbedürf- schwestern von Aschenputtel, die sich selbst- tigkeit angesichts dieser Symptomatik der verletzend Ferse und Zehen abschneiden; da Märchenfiguren evident. Für die Paarthera- ist Rumpelstilzchen, das sich suizidiert, indem peuten ist der Arbeitsauftrag im Märchen er sich in der Mitte entzweireißt, und das allerdings nicht definiert, denn die Märchen höchstwahrscheinlich gar nicht in der Absicht, enden nahezu immer am Zeitpunkt einer Be- sich umzubringen, sondern als Unfall infolge ziehung, ab dem diese erst so richtig heraus- einer Impulskontrollstörung. Und dann die fordernd wird, nämlich mit der Hochzeit. Eine Mutter von Rapunzel, die in der Folge ihres Ausnahme stellt hier vielleicht das tapfere unerfüllten Kinderwunsches eine Essstörung Schneiderlein (Grimm & Grimm, 1986) dar. entwickelt und sich nur mehr von den Rapun- Nachdem es sieben Fliegen mit einem Schlag zeln aus dem Garten der Hexe ernährt. Oder erledigt hat, zieht es mit einem Gürtel, auf den gar Dornröschen, die gleich für hundert Jahre es „Sieben auf einen Streich“ gestickt hat, voll in eine Depression fällt, sodass sie nicht aus Stolz auf seine Tapferkeit durchs Land. Da das dem Bett kann. Und all die bösen Stiefmütter, Schneiderlein als klein von Wuchs beschrieben wie etwa die offensichtlich unter einer narzis- wird, lässt sich die Weglassung der Nennung, stischen leidende welche Art von Wesen ihm denn zum Opfer Stiefmutter von Schneewittchen, die nicht alt gefallen sind, sogar dadurch rechtfertigen, werden kann. Und dann sind da noch die vie- dass um die Taille eines zart gebauten Mannes len verzärtelten Prinzessinnen: So zum Bei- wohl nicht genug Platz für dieses zusätzliche spiel die Prinzessin auf der Erbse, die nicht Wort „Fliegen“ gewesen sein könnte. Genau schlafen kann, weil unter einem Berg von das aber lässt der tendenziösen Apperzeption Matratzen eine Erbse liegt; und die Prinzessin derer, die die Gürtelaufschrift lesen, den für Persönlichkeitsstörung Seite 2 ZfPFI Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie 3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016 ISSN 2313-4267 DOI 10.15136/2016.3.2.1-15 den Fortgang der Geschichte notwendigen aussetzen lassen. Das tapfere Schneiderlein Spielraum, sieben menschliche Gegner als kann aber entrinnen, indem er, die Fiktion durch einen Streich erschlagen anzunehmen. seiner Übermacht weiterführend, die Soldaten Das Schneiderlein erweist sich dann in der des Königs, die den Auftrag haben, ihn umzu- Folge insofern als tapfer, als es diese Verken- bringen, mittels seiner fiktiven Überlegenheit nung der Botschaft auf seinem Gürtel an- verjagt. Denn als sie im Auftrag des Königs und nimmt und der Minderwertigkeit seiner kör- im Komplott mit der Königstochter darauf perlichen Kleinheit seine beachtlich große und lauern, dass er einschläft und sie ihn im Schlaf auch kreative Bauernschläue erfolgreich ent- entführen und aussetzen können, wiederholt gegensetzt, auf das Weiterbestehen der Fehl- er, den Schlaf vortäuschend, den Bericht sei- interpretation von Wirklichkeiten durch seine ner Heldentaten: „Ich habe siebene mit einem Gegner bauend. Da gehört schon eine gehöri- Streiche getroffen, zwei Riesen getötet, ein ge Portion Mut dazu, darauf zu setzen, dass Einhorn fortgeführt und ein Wildschwein ge- der Riese einen Stein nicht von einem Stück fangen, und sollte mich vor denen fürchten, Käse unterscheiden kann, und ihm vorzuma- die draußen vor der Kammer stehen!“ (ebd., S. chen, man hätte aus einem Stein das Wasser 171). Über diese Übermacht erschreckt, laufen herausgedrückt, obwohl es nur ein Stück Käse die Soldaten davon, und das Schneiderlein war. Und auch sein Leben darauf zu setzen, bleibt für sein Lebtag König. Des Schneider- einen Vogelflug als Stein zu deklarieren, den leins Meisterschaft der Täuschung, die ihn aus man so weit geworfen hätte, dass er die so vielen prekären Situationen gerettet hat, Schwerkraft überwindet und nicht mehr zur rettet ihm also auch in dieser bedrohlichen Erde zurückkehrt, bedarf eines tapferen Situation das Leben, in dieser Szene am Ende Übermuts. Der Erfolg gibt dem tapferen des Märchens sogar in Form einer „Doppel- Schneiderlein recht: Und so bezwingt es durch täuschung“: Den Schlaf vortäuschend, berich- trickreiche Täuschungsmanöver noch mehr tet er von der Erfolgsgeschichte seiner bishe- Riesen, fängt ein gefährliches Wildschwein rigen Täuschungen. Hier „ist die Spannung und ein Einhorn, bis dem König nichts anderes zwischen Sein und Schein bereits im Titel an- übrig bleibt, als ihm die Tochter zur Frau zu gelegt, denn es handelt sich offensichtlich um geben (Grimm & Grimm, 1986). Am Ende der einen Schneider in Diminutivform, der deswe- Geschichte bekommen wir Einblick in ein kur- gen den Menschen vorspielt, tapfer zu sein“ zes konflikthaftes Intermezzo in seiner noch (Rieken, 2011, S. 368). Das tapfere Schneider- jungen ehelichen Beziehung: Als er im Schlaf lein hat offensichtlich seine Kompensations- spricht und dabei seine für eine Königstochter strategie seiner Minderwertigkeit gefunden nicht standesgemäße Herkunft erraten lässt, und bleibt in nachvollziehbarer Weise mit will der Schwiegervater den unerwünschten seiner Problemlösestrategie konsequent sei- Schwiegersohn loswerden und des Nachts im nem Lebensstil treu, Sicherheit durch Täu- Schlaf von seinen Soldaten entführen und schung anzustreben, nachdem sich dieser ja Seite 3 ZfPFI Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie 3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016 ISSN 2313-4267 DOI 10.15136/2016.3.2.1-15 bewährt hatte. Im Grunde genommen ist das gur ist entweder ein Ausbund moralischer tapfere Schneiderlein eine psychopathologisch Verwerflichkeit oder von herausragender mo- unauffällige Figur: List und Betrügerei sind ralischer Integrität. So ist der Prinzessin, die zwar unredlich, aber keine psychische Stö- den Frosch nicht mit in ihr Bettchen nehmen rung. Im Unterschied zu den anderen Mär- will, nicht nur vorzuwerfen, dass sie ein gege- chenfiguren ist das Schneiderlein nicht in ei- benes Versprechen brechen will, schon auch nem unbewussten emotionalen Konflikt ge- zugute zu halten, dass es ihr gutes Recht ist, fangen, sondern lässt ganz bewusst und ab- nicht jedem, der ihr einen Gefallen tut, intime sichtsvoll den Schein trügen. Es bleibt dabei, körperliche Nähe zu gewähren. Fraglich wird auf die tendenziöse Apperzeption seiner Geg- hier also weniger die unmoralische Haltung ner zu vertrauen und zur Täuschung zu grei- der Prinzessin, Versprechen nicht einlösen zu fen, um sich in Sicherheit zu bringen. Sym- wollen, sondern vielmehr der Erziehungsstil ptome seelischen Leidens finden sich bei ihm ihres Vaters, des Königs, der die Prinzessin jedoch nicht – eine Ausnahmeerscheinung dazu gebracht haben muss, für eine kleine unter den Märchenfiguren. Hilfestellung bei der Erhaltung ihres materiellen Besitzes gleich sich selbst als Gegenlei- 2 Märchenhafte Ordnung für Gefühle und Moral stung zu versprechen. Schließlich hatte der Frosch etwas für einen Frosch nicht allzu Schwieriges getan, als er die goldene Kugel, Die Attraktivität der Märchen für die psycho- die der Prinzessin in den Teich gefallen war, therapeutische Behandlung zu hinterfragen, wieder herauszuholen, nachdem er der Prin- führt zur in der in vielen Märchenfiguren ge- zessin das Versprechen abringen konnte, ihn gebenen Ordnung, die das Chaos widersprüch- mit in ihr Bettchen zu lassen und ihm einen licher Gefühle überschaubar macht: Protago- Kuss zu geben (Grimm & Grimm, 1986). Der nisten im Märchen haben eine klare emotio- Ausgang des Märchens, der der Prinzessin den nale Identität, „denn die dargestellten Bezie- optimalen Ehemann zu bescheren scheint, hungen sind einfach und eindimensional“ weil sie, den Anordnungen des Vaters folgend, (Seiffge-Krenke, 2009, S. 117). Das macht es ihr Versprechen einhält, verdeckt diesen kriti- für den Märchenleser oder -hörer einfach, schen Blick auf den Vater allerdings. Stellungnahme für oder gegen die Märchenfi- Auch das tapfere Schneiderlein ist nicht einer gur zu beziehen, da jede von ihnen „[…] nur der beiden Kategorien gut – böse zuzuordnen. abgrundtief böse oder von selbstloser Güte“ Seine Größe im Täuschen macht es erfolg- (ebd., S. 117) ist. Diese Attributierung „böse reich, woraus der ermutigende Schluss zu oder gut“ impliziert eine moralische Wertung ziehen wäre, dass diese gewisse Form der des Handelns der Figuren. Allerdings ist diese Intelligenz durchaus den Sieg über die brachia- bei genauerer Betrachtung doch nicht durch- le Gewalt von Riesen erringen kann, aber mo- gängig eindeutig. Denn nicht jede Märchenfi- ralisch eindeutig ist dieses Handeln nicht. Seite 4 Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie ZfPFI 3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016 ISSN 2313-4267 DOI 10.15136/2016.3.2.1-15 Denn ganz abgesehen von der Hochstapelei erreicht das Schneiderlein im Grunde genom- 3 Märchenhafte Vieldeutigkeiten des Mensch-Seins men nur, „daß [sic!] diese List ja auch zur Gewalt wird, daß [sic!] letztlich alle vor ihm zit- Das Potential der Märchen für die Psychothe- tern, so wie sie am Anfang vor den Riesen rapie liegt in der Vielfalt der Deutungsmög- gezittert haben“ (Kast, 1993, S. 55). lichkeiten, die durch einen Perspektivenwech- Auch wenn die Bösen im Märchen drastisch sel das Verstehen von eigenem bisher Unver- bestraft werden, so entbehrt die Erzählung standenen möglich machen. Interpretationen dieser Strafen der realistischen Detailbe- sind per se immer offen hinsichtlich ihrer Rea- schreibung: „Auch hier enthält sich das Mär- litätstreue: „Jede Deutung bleibt eine An- chen jedes Auskosten des Grausigen“ (Lüthi, Deutung“ (Kast, 2000, S. 14), woraus die Opti- 1989, S. 19). Allerdings wäre es eine Fehlein- on erwächst, Märchen auch immer wieder schätzung der Wirkung des Märchens, dies anders zu interpretieren, andere Aspekte zu einer Entschärfung des Grausamen im Mär- beleuchten, zum Widerspruch herauszufor- chen gleichzusetzen. Selbst wenn der Mär- dern und in der Folge den eigenen unterdrück- chenstil „das Geschehen knapp und prägnant ten Wünschen und unerfüllten Sehnsüchten signalisiert und nicht breite Schilderungen, begegnen zu können, um eine Veränderung sondern des Lebensstils zur psychischen Gesundheit in fortschreitende Handlung liebt“ (Lüthi, 2008, S. 21), so verleiht die Phantasie Bewegung zu bringen. des Kindes oder auch des Erwachsenen, der Märchen erlauben auch deswegen unter- das Märchen hört oder liest, anhand der schiedlichste Zugänge zur Interpretation, da wachgerufenen inneren Bilder den Märchenfi- das Außenleben der Märchenfiguren sowohl guren und Szenarien, in denen die Handlung als „nach außen gestülptes“ eigenes Innenle- stattfindet, dreidimensionale optische Gestalt ben in den verschiedenen Facetten und Wi- und Bewegung. Denn schließlich entsteht auf dersprüchlichkeiten der Gefühlswelt als auch diese Weise die emotionale Beteiligung am als intersubjektives Geschehen in einem Be- Schicksal der Märchenfiguren, auch wenn das ziehungsraum verstanden werden kann. Ob Märchen nicht „von Gefühlswallungen und beispielsweise die Beziehung zum Vater oder kaum von Schmerzen“ spricht (Lüthi, 1989, S. dessen Introjekt als bedeutsam erachtet wird, 33). Und genau so tun dies die knapp gehalte- tut der Eignung des Märchens für die Anre- nen Hinweise, dass die böse Stiefmutter gung zur Auseinandersetzung mit der Bezie- Schneewittchens auf glühenden Kohlen tan- hung zum Vater keinen Abbruch. zen musste oder die böse Hexe aus Hänsel und Gretel im Backofen verschmoren musste. Einmal aktiviert durch das Numinose, macht die Phantasie nicht Halt vor der Imagination des Grausamen. Eines der in ihrer Finalität hinterfragbaren Elemente im Märchen ist die konsequente Vernichtung des Bösen am Ende des Märchens. Sind die Figuren eines Märchens als Seite 5 ZfPFI Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie 3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016 ISSN 2313-4267 DOI 10.15136/2016.3.2.1-15 unterschiedliche und widersprüchliche Gefüh- verstehen. Überlieferte Märchen erzählen von le oder auch Charakterzüge einer Person zu typisch menschlichen Problemen. Von der Zeit verstehen, dann gerät der gute Ausgang des unterschiedlich eingefärbt, überdauern sie die Märchens durch die Vernichtung der unmora- Jahrhunderte (Kast, 2000). Aschenputtel ver- lischen, zerstörerischen und aggressiven Mär- liert in jungen Jahren ihre Mutter. Die Stief- chenwesen vielleicht sogar in den Verdacht, mutter bringt zwei eigene Töchter in die Fami- ein Resultat des Gehorsams zu sein, der die lie mit. Die Drei behandeln Aschenputtel Anpassung verlangt. Und des Gehorsams fata- denkbar schlecht, nutzen sie aus und lassen le Auswirkungen auf die Persönlichkeitsent- sie in der Asche schlafen, wovor der aus beruf- wicklung in Autoritätsabhängigkeit, in Abspal- lichen Gründen oft abwesende Vater sie nicht tung der Aggression und in der Folge der als beschützen kann. Zum Unterschied von ihren legitim bewerteten Grausamkeit gegenüber Stiefschwestern, die vom Vater der Familie den Projektionsfiguren der eigenen Aggression Schmuck und erlesene Kleidung fordern, sind ja mittlerweile hinlänglich verstanden wünscht sie sich einen Zweig, den sie am Grab (Gruen, 2000, 2003). Dass dieses Wissen um der Mutter einpflanzt. Als Gabe der verstor- die aktiv-destruktive, das Gemeinschaftsge- benen Mutter schenkt ihr der Baum, der aus fühl vernichtende Handlungsfolge des Gehor- dem Zweig wächst, dann die notwendige Gar- sams bei weitem noch nicht im notwendigen derobe, sodass sie am Fest des heiratswilligen Ausmaß Eingang in die Erziehung gefunden Prinzen teilnehmen kann. Die Vögel helfen ihr, hat, ist sogar der Beleg für die Abspaltung. die an sich unlösbare Aufgabe des Herausle- Geht es aber nicht um den Gehorsam, der sens von Linsen aus der Asche in einem sehr sozial unerwünschte Gefühle abzutöten ver- begrenzten Zeitraum, der ihr von der Stief- sucht, ohne sie jedoch umbringen zu können, mutter gestellt wird, zu erfüllen. Und am Ende sondern um die Überwindung von Angst, um sind es wieder Tauben, die verhindern, dass den Mut, sich auch offensichtlich überlegenen der Prinz irrtümlich eine ihrer Stiefschwestern Gegnern stellen und um die Vermittlung der zur Frau nimmt, nur weil die sich durch Ab- ermutigenden Aussicht, diese besiegen zu schneiden der Ferse bzw. der Zehen in können, dann ist das Märchen als Metapher Aschenputtels Schuh zwängen und dadurch dafür unentbehrlich in der Erziehung. vortäuschen wollen, Aschenputtel zu sein: „Rucke di guck, rucke di guck, Blut ist im 4 Märchenhafte Lösungen menschliche Probleme für Schuck (Schuh): Der Schuck (Schuh) ist zu klein, Die rechte Braut sitzt noch daheim“ ( (Grimm & Grimm, 1986, S. 181). Aschenputtel Die Themenstellungen im Märchen lassen sich leidet also unter der Situation ihrer Patch- immer sowohl als innerpsychischer Konflikt als work-Familie, bei der die leiblichen Kinder der auch als Beziehungskonflikte oder Herausfor- zweiten Frau des Vaters und Aschenputtels derungen im Zuge von Entwicklungsprozessen Stiefmutter von dieser bevorzugt werden. Seite 6 ZfPFI Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie 3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016 ISSN 2313-4267 DOI 10.15136/2016.3.2.1-15 Aschenputtel befreit sich aus ihrer unglückli- erfordert Kreativität, die überraschend bisher chen Lage durch ihre gute Beziehung zu den Ungedachtes hervorbringt. Weil im Märchen Tieren und ihren „grünen Daumen“, indem sie alles erdenkliche und unerdenkliche Wunder- sich vom Vater einen Spross wünscht, der, bare möglich ist, ist das Märchen „[…] ein um- durch ihre Pflege zum Baum herangewachsen, fangreiches Reservoir, in dem wir neue Reak- die rettenden Früchte abwirft. Die in der tionsmöglichkeiten aufbewahren, auf die wir Holzwirtschaft tätigen Eltern von Hänsel und zurückgreifen können, wenn die herkömmli- Gretel sind armutsgefährdet, was die Mutter chen, geläufigen Methoden nicht mehr grei- dazu bringt, ihre Kinder loswerden zu wollen. fen“ (Bly, 1991, S. 11). Schneewittchens eitle Stiefmutter ist zutiefst gekränkt darüber, dass ihre Erwartungen an die Anti-Aging-Kosmetik offensichtlich nicht erfüllt werden, wie ihr der Blick in den Spiegel 5 Die Ermutigung zur Unvollkommenheit und zum Überwindungsstreben im Märchen beweist. Der im Märchen Rumpelstilzchen als Müller tätige selbständige Unternehmer hat Das Märchen macht aber auch Mut, die Hoff- die völlig unrealistischen finanzwirtschaftli- nung auf ein erfülltes Leben nicht aufzugeben, chen Anforderungen an seine Tochter, dass sie selbst wenn etwas misslungen ist, so wie dem Stroh zu Gold spinnt, und ist bereit, sie für Königssohn im Märchen Eisenhans die Selbst- seinen eigenen sozialen Aufstieg einem ge- beherrschung bei der Bewachung des Gold- nauso skrupellosen, nur am finanziellen Erfolg brunnens misslingt: Nachdem viele Jahre lang interessierten König auszuliefern. Die Proble- Jäger im Wald des Königs verschwinden, ge- me der Märchenfiguren sind menschlich und lingt es einem besonders mutigen Jäger, einen wirklichkeitsnah, die Problemlösungen phan- wilden Mann in einem Pfuhl des Waldes zu tastisch und unwahrscheinlich. Und dadurch finden, dem das Verschwinden der Jäger ange- rücken Wirklichkeit und nur in der Welt der lastet werden kann. Dieser wilde Mann wird Phantasie Mögliches näher zusammen, was auf dem Anwesen des Königs in einen eisene- die Problemlösung dann gelingen lässt. „Das ren Käfig gesperrt und kommt so zum Namen Unwahrscheinliche als Grundelement des „Eisenhans“. Der kleine Sohne des Königs lässt Märchens ist demnach die Brücke zwischen sich von Eisenhans dazu überreden, in einem dem Wirklichen und dem Unmöglichen, hat unbewachten Augenblick den Schlüssel zum also Berührungsflächen mit der Realität“ (Rie- Käfig, der unter dem Kopfpolster seiner Mut- ken, 2011, S. 381), was Hoffnung auf die ter versteckt ist, zu stehlen, und lässt Eisen- Überwindung von Bedrohungen durch unge- hans frei, der ihn mitnimmt. Die Aufgabe, die wöhnliche oder bisher infolge der Umklamme- ihm Eisenhans stellt, einen Weiher zu bewa- rung der Gedanken durch die Begrenzungen chen, aber dabei auf keinen Fall mit dem Was- der Wirklichkeit undenkbare Ereignisse und ser in Berührung zu kommen, überfordert den Fertigkeiten aufkommen lässt. Problemlösung Buben in seiner Folgsamkeit, beschert ihm Seite 7 ZfPFI Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie 3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016 ISSN 2313-4267 DOI 10.15136/2016.3.2.1-15 aber goldenes Haar. Diese Unfolgsamkeit führt ten weit weniger untadelig ist als das der mei- dazu, dass er nicht mehr bei Eisenhans bleiben sten Protagonisten, erleben ein märchenhaft kann, sondern seinen eigenen, selbständigen glückliches Ende, wie eben das tapfere Weg gehen muss, ohne sich als der Besonde- Schneiderlein (wobei sich aus psychothera- re, nämlich der Königssohn mit goldenen Haa- peutischer Perspektive bei diesem glücklichem ren zeigen zu dürfen, allerdings mit der Zusage Ende die Frage aufdrängt, was wohl an un- weiterer Unterstützung durch Eisenhans. Die- glücklicher Beziehung zwischen ihm und sei- se Hilfestellung des Eisenhans besteht nicht ner Angetrauten ihn in Zukunft erwarten darin, dass Eisenhans ihm Aufgaben abnimmt, wird). Eine besonders mutige Königstocher ist sondern dass er den Königssohn mit der für die unglückliche Prinzessin in einem griechi- die Bewältigung seiner Aufgaben notwendigen schen Volksmärchen: Sie wird von ihrer Mut- Ausstattung, wie Pferd und Mitstreitern, ver- ter weggeschickt, nachdem eine weise Frau an sorgt. Und am Ende gewinnt der Königssohn der Schlafstellung dieser jüngsten Tochter von die Königstochter des anderen Landes zur Frau Dreien erkennt, dass das unglückliche Schick- und der verwunschene Eisenhans seine Identi- sal dieses Mädchens die Ursache dafür ist, tät als König zurück (Grimm & Grimm, Der dass kein Freier sich für die Königstöchter Eisenhans, 1987). Zwar wird dieses vor allem interessiert. Auf ihrem Weg begleitet sie ihre unter dem Aspekt der Ablösung des Königs- Schicksalsfrau (altgriechisch: sohns von der Mutter und der Integration der n- Anteile des „Wilden Mannes“ verstanden (Bly, heil an. Durch die Ermutigung einer Königin, 1991), birgt aber auch noch einen weiteren die sie dennoch aufnimmt, obwohl jede Nacht Aspekt: Eisenhans schickt den Königssohn als verheerende Auswirkungen hat, gelingt es ihr, Konsequenz des Versagens zwar fort, steht sich dem unglücklichen Schicksal in Gestalt ihm aber dennoch in Zukunft zur Seite. Und ihrer Moira zu stellen und trotz heftiger Wi- schließlich ist es am Ende genau dieses Versa- derstände ihr Schicksal zu verändern (nach gen, das ihm nicht nur die Vertreibung, son- Kast, 1993, S. 181ff.). Dieses Märchen weist dern auch goldene Haare beschert, wodurch auf „die Möglichkeit, sein Schicksal zu beein- er die Königstochter zur Frau bekommt. Es flussen“ (ebd., S. 179), selbst wenn es als ein zeigt sich also, „dass man durchaus etwas unglückliches erscheint, hin. falsch machen kann, wie es im Leben eben ist, und trotzdem wird einem auch wieder verziehen“ (Friedrich, 2011, S. 6). Dieser Fluch, der zwar in diesem Märchen nicht explizit so, sondern als Schicksal benannt wird, aber in der Wirkweise einem Fluch Dieser Aspekt der Ermutigung lässt sich in gleicht, ist als Motiv in vielen Märchen anzu- vielen Märchen aufspüren. Nicht nur Aschen- treffen. Verflucht wird einerseits, wer sich ein puttel und Hänsel und Gretel entkommen Vergehen zuschulden kommen lässt, wie Lud- durch ihren Mut und ihre Ausdauer ihrem wig Uhland, ein Dichter der Romantik und Schicksal, auch Märchenfiguren, deren Verhal- Zeitgenosse der Brüder Grimm, in seiner BalSeite 8 ZfPFI Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie 3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016 ISSN 2313-4267 DOI 10.15136/2016.3.2.1-15 lade vom Fluch des Spielmanns erzählt: Der grenzungen des Wahrscheinlichen, und im König, dessen Herz sich durch den Gesang der Märchen lässt sich der Fluch, der Unschuldige jungen Spielmanns nicht erreichen ließ und trifft, immer wieder durch Ereignisse und der den jungen Spielmann dafür tötet, Handlungen, die vom Wahrscheinlichen aus- wünscht der alte Spielmann: „Dein Name sey gehen, lösen: Dass eine junge Frau voll vergessen, in ew’ge Nacht getaucht, Sey wie Schreck einen Frosch, der in ihr Bett springt, ein letztes Röcheln, in leere Luft verhaucht!“ mit voller Kraft gegen die Wand wirft, er- (Uhland, 1815, S. 335). Und noch in der Balla- scheint nicht völlig ausgeschlossen. Sogar die de wird die Erfüllung des Fluchs beschrieben: Variante, dass sie den Forsch küsst, liegt noch „Des Königs Namen meldet kein Lied, kein im Bereich des Denkmöglichen, falls sie eine Heldenbuch; versunken und vergessen! Das ist besondere Liebe zu Amphibien hegt. Unwahr- des Sängers Fluch“ (ebd., S. 337). Die innere scheinlich ist daran nur, dass dadurch aus dem Stellungnahme zu den Protagonisten fällt hier Frosch ein liebenswerter junger Mann wird. leicht, denn der unsympathische und gewalt- Dass ein junger Mann grundsätzlich imstande tägige König, der den jungen Spielmann er- ist, Dornrosensträucher zu durchschlagen, ist mordet, wird nach den Regeln der Gerechtig- wahrscheinlich. Dennoch gelingt es erst dem keit bestraft und so der Tod des jungen Spiel- jungen Mann, der es zum richtigen Zeitpunkt, mannes gerächt. Ein Wermutstropfen der also zum Ablaufdatum des Fluches der 13. Ungerechtigkeit ist, dass dabei offenbar nicht weisen Frau, in Angriff nimmt, weil der Fluch nur der König, sondern sein gesamtes Umfeld abgelaufen ist und sich die Dornenhecke da- der Vernichtung anheimfällt. mit verwandelt. Der Fluch hat also auch im Andrerseits trifft im Märchen den Fluch häufig eine oder einen Unschuldigen: Dornröschen konnte schließlich nichts dafür, dass ihr Vater nur zwölf goldene Teller besaß und daher die 13. weise Frau nicht einlud. Der Fluch dieser beleidigten weisen Frau traf aber sie. Die miss- Märchen nicht den Charakter der unveränderbaren Größe – manche Verfluchungen sind durch den Mut zu ungewöhnlichen Handlungen aufzuheben, manchen ist am besten durch geduldiges Ausharren in der Hoffnung auf Verbesserung der Lage zu begegnen. liche Lebenslage, unverschuldet von der Rache Motive aus „alten“ Märchen werden weiterhin für eine kriminelle oder auch nur sozial unan- als verdichtende Metapher herangezogen, um gepasste Handlung durch einen Fluch getrof- sowohl innerpsychische als auch intersubjekti- fen zu werden, ist eine Situation der Ohn- ve Problemstellungen zu beschreiben. Das macht und Unterlegenheit, die eines stark verzärtelte Kind wird mit dem Titel „Prinzessin ausgeprägten Überwindungsstrebens bedarf, auf der Erbse“ bedacht. Die psychologische um sich ihr entgegenzustellen. Effizient verflu- Ratgeberliteratur verwendet die Cinderella- chen zu können, ist eine Kunst der Magie, die Variante von Aschenputtel zur Ermutigung von daher den Hexen, Feen und Zauberern vorbe- in Abhängigkeiten verstrickten Frauen (Dow- halten ist. Zauberei ist entfesselt von den Be- ling, 1997), Eisenhans zur Ermutigung beim Seite 9 Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie ZfPFI 3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016 ISSN 2313-4267 DOI 10.15136/2016.3.2.1-15 Finden der männlichen Identität (Bly, 1991), oder oft zeitgleich durch Verfilmungen. Man- Peter Pan zur Metapher für die infantile Per- che moderne Märchen erreichen uns von An- sönlichkeit (Kiley, 1984). Und der zur Zeit des fang an ausschließlich in der Erzählform des Nationalsozialismus von Österreich nach den Filmes, dessen Erscheinen oft von sparsam USA geflohene und in den 1970er Jahren so- textierten Bilderbüchern begleitet wird. wohl da als auch dort tätige Psychoanalytiker Rudolf Ekstein (1912 – 2005) beschreibt anhand des Froschkönigs aktualisierte Aspekte partnerschaftlicher Beziehungsschwierigkei- ten: „Heutzutage musst du viele Frösche küssen, bis ein Prinz dabei ist“ (mündliche Mitteilung in den 1970er Jahren). 6 Märchen der Gegenwart Moderne Märchen, die es auf die Erfolgsliste des hohen Bekanntheitsgrades geschafft haben, zeigen einen Verlauf der Entfremdung personifizierter Vorbilder aus den alten Märchen. Von besonderer Attraktivität ist offenbar Aschenputtel in seiner modernen Identität der Cinderella, die in der Verfilmung der Disney-Studios von 1950 stark auf das Vorbild der Cendrillon des französischen Märchendichters Charles Perrault (1628 – 1703) zurückgreift, Volksmärchen stammen aus Erzähltraditionen. indem eine Kutsche aus Kürbis von Mäusen „Das hat den großen Vorteil, verglichen mit gezogen wird. Cinderella ist aber auch Oper, den modernen Märchen – von denen es nicht Ballett, aber auch Namensgeberin für Horror-, allzu viele gibt –, daß [sic!] sehr viel Zufälliges Erotik- und Pornofilme. Als Motiv gibt die Ge- durch die verschiedenen Menschen durch die schichte vom armen Mädchen und dem rei- Zeit hindurch aus den Märchen herausgefallen chen Prinzen auch dem Erfolgsfilm „Pretty ist, daß [sic!] die Märchen uns wirklich die Woman“ Kontur. Eine adaptierte Form der Bilder und die Geschichten übermitteln, die Geschichte mit menschlichen Darstellern brin- für viele Menschen Gültigkeit haben“ (Kast, gen die Disney-Studios 2015 auf den Markt. 2000, S. 13). Erzählen bedeutet, im Kopf des Mit der Verfilmung ändern die Figuren der Zuhörers Bilder zu erzeugen, die einerseits tradierten Märchen aber auch ihren Charak- individuell im Detail, andrerseits generell im ter: Das Flächenhafte (Lüthi, 2005) weicht Konzept sind. Märchen der Gegenwart sind einem dynamischen Seelenleben. jedenfalls Kunstmärchen, selbst wenn sie sich inhaltlich an die tradierten Märchen anlehnen. Ein Charakteristikum des Kunstmärchens liegt „in der abweichenden Gestaltung: Figuren erhalten ein Innenleben, sie empfinden ihre Umwelt“ (Pöge-Alder, 2011, S. 53). Diese Innenwelt wird in modernen Märchen immer auch in Bildern dargestellt, manchmal zuerst in Form umfangreicher Illustrationen und bald So ergeht es auch Prinzessin Elsa im Computeranimationsfilm „Die Eiskönigin“ von Walt Disney Pictures, der die Grundidee des Märchens „Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen, dass die Liebe „kalte“ Herzen erwärmen könne, aufgreift und mit anderen Konfliktthemen verknüpft. Prinzessin Elsa ist mit dem Problem konfrontiert, mithilfe ihrer Zauberkraft Kälte mit allen dazugehörigen Seite 10 ZfPFI Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie 3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016 ISSN 2313-4267 DOI 10.15136/2016.3.2.1-15 Naturerscheinungen wie Eis und Schnee er- Moderne Märchen entfernen sich im Zeitlauf zeugen zu können, diese aber nicht ausrei- ihres Erscheinens immer mehr von den Inhal- chend steuern zu können. Dieser Mangel an ten der tradierten Märchen, sind also nie Ver- Impulskontrolle – womit der Film ein aktuelles filmungen tradierter Märchen, auch wenn sie Thema der Kinderpsychotherapie anspricht – Elemente aus tradierten Märchen aufgreifen: hat für Elsa fatale Folgen, weil sie damit der Prinzessin Elsa ist um ein großes Stück weiter Isolation von ihrer Schwester, Prinzessin Anna, entfernt vom Inhalt der Geschichte der und insgesamt der Gemeinschaft ihrer Freun- Schneekönigin als es Cinderella von Aschen- de ausgeliefert scheint. Prinzessin Elsa, Prin- puttel war. Moderne Märchen zeichnen sich zessin Anna sowie ihre Gefährten, den aber auch dadurch aus, dass sie Grenzen zwi- Schneemann Olaf, den Prinzen Hans, den Eis- schen Phantasie und Wirklichkeit ziehen: Pe- verkäufer Kristoff und sein Rentier Sven, gibt ter Pan lockt drei Londoner Kinder in sein es aber nicht nur als Zeichentrickfigur, als Bil- „Nimmerland“, das wiederum seinen Weg in derbuchillustration, also in einem gewissen die Realität durch Michael Jackson (1958 – Naheverhältnis zum Buch, sondern auch in 2009) in dessen „Neverland Ranch“ fand. Die Form einer Vielzahl von Merchandise-Artikeln, drei Londoner Kinder verließen ihre Realität, wie als Luftballon, auf Papierservietten, auf um mit Peter Pan auf dessen fiktiver Insel Trinkbechern, auf Kinderbadeanzügen und beim Kampf gegen den bösen Käpt’n Hook vielem mehr. Die Märchenfiguren waren, mitzuhelfen und sich von Fee Glöckchen (Tin- während sie durch Erzählungen tradiert wur- ker Bell) unterstützen zu lassen (Barrie, 1904). den, Bilder im Kopf, später dann vielleicht Die Welt der fiktiven Insel ist abgegrenzt von Illustrationen in einem Märchenbuch. Die der realen Welt. Das moderne Märchen von Figuren der neuen Märchen haben durch ihre Peter Pan unterscheidet sich damit in wesent- Verbreitung auf Merchandise-Artikel die Ei- lichen Zügen vom Volksmärchen, das nach genschaft, in die reale Lebenswelt der Kinder Lüthi unter anderem durch das Fehlen einer Einzug zu nehmen, sich dabei aber vom räumlichen und zeitlichen Gliederung flächen- Schneemann in einen Luftballon, von der Prin- haften Charakter aufweist (Lüthi, 2005): Wäh- zessin in eine Serviette, einen Pullover oder rend Dornröschens hundertjährigem Schlaf einen Badeanzug zu verwandeln. Sie werden verändert sich außer der Dornrosenhecke, die dadurch einerseits realer, weil Alltagsgegen- wächst, nichts. Aber während Peter Pan auf ständen anhaftend, andrerseits unrealer, weil seiner Insel Neverland seine Abenteuer be- eine Prinzessin Elsa von der Serviette in die streitet, bekommt seine Familie ein neues Phantasie einen weiteren und sperrigeren Kind, und er bleibt nach seiner Rückkehr aus Weg zurückzulegen hat als Dornröschen, das seiner Herkunftsfamilie ausgeschlossen. Die aus den vorgelesenen oder erzählten Wörtern Abgegrenztheit der numinosen von der realen im Kopf des Kindes entsteht. Welt verleiht und ermöglicht diesen beiden Welten unterschiedliche Zeitdimensionen. Das Seite 11 Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie ZfPFI 3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016 ISSN 2313-4267 DOI 10.15136/2016.3.2.1-15 Ausagieren der seelischen Innenwelt, wie es Dort fristet er ein Leben in Benachteiligung, das Volksmärchen als Übersetzung von Gefüh- die an das Aschenputtelmotiv erinnert. Als er len in Handlungen oder in Bilder tut, verläuft an der Schwelle zur Adoleszenz steht, holt ihn im modernen Märchen, das ja immer ein der Schlüsselbewahrer der Zaubererschule Kunstmärchen ist, zumindest zweidimensional Hogwarts über die Schwelle in die Zauberwelt. in Handlung und Gefühlsausdruck, in Tren- Die reale Welt ist also klar getrennt von der nung der Welt des Numinosen von der Welt Welt des Märchenhaften, vereint ist sie in der des Realen. Märchenfiguren der modernen Person Harry Potters, der allerdings in der Märchen sind außerdem Menschen mit Ge- realen Welt als Fremder imponiert. Im Zau- schichte, die in einer bedeutsamen Mitwelt berinternat führt er, abgesehen vom Lehrplan leben, während im Volksmärchen die Mitwelt des Zauberns, ein ganz real anmutendes sozia- „die gleiche unbedeutende Rolle wie die Vor- les Leben eines Jugendlichen, in Freundschaft welt und Nachwelt“ spielt (Lüthi, 1989, S. 34). mit Hermine und Ron und in Konkurrenz mit Das Numinose steht im modernen Märchen dem Anführer einer Gruppe von Mitschülern. nicht nur im Gegensatz zum Erfahrungs- und Der siebente Band endet mit einer Vorschau in Alltagswissen des Märchenlesers oder -hörers die Zukunft Harrys als Ehemann und Vater in (vgl. Pöge-Alder, 2011, S. 30), sondern auch zu der Zauberwelt (Rowling, 2007). Wie alle an- dem der Protagonisten des modernen Mär- deren kommerziell erfolgreichen modernen chens. Während das Wunderbare im Volks- Märchen hinterlässt auch Harry Potter durch märchen als etwas Selbstverständliches auf- eine Fülle von Merchandise-Artikeln Spuren tritt (Pöge-Alder, 2011, S. 27), wird es im mo- der Zauberwelt in der realen Welt der Kinder. dernen Kunstmärchen zum Besonderen. Dies lässt eine neue Variante der Eindimen- Besonders deutlich wird dies in der Geschichte Harry Potters, die bereits mit dem fulminanten Verkaufserfolg des 1997 erschienenen ersten Bandes von sieben eine Begeisterungswelle für Fantasy-Romane auslöste (Rowling, 1997). Die Buchreihe begleitet Harry sionalität andenken: Waren im Volksmärchen die Welten innerhalb des Märchens eindimensional, so setzt die Realität der MerchandiseArtikel die Phantasiewelt des Märchens diese in eine Eindimensionalität mit der Wirklichkeit des Lesenden. Potter von seinem elften Geburtstag bis zum In Harry Potters Geschichte lassen sich zahl- Eintritt in die Erwachsenenwelt, jedem seiner reiche Einzelmotive des Märchens aufspüren. Lebensjahre einen Band widmend. Harry Pot- Neben dem Aschenputtelmotiv erinnert Har- ter wird als Kleinstkind infolge der Ermordung rys Eintritt in die Zauberwelt an den Weg des seiner mit Zauberkraft ausgestatteten Eltern Königssohns in die Welt des Eisenhans. Die durch den bösen Zauberer Lord Voldemort aus klare Zuordnung des eindeutig bösen Lord der Zauberwelt in die reale Welt seiner nicht- Voldemort als Antagonist der unzweifelhaft magischen Tante und deren Familie gestoßen guten Figuren Harry, seiner Freundin Hermine und weiß daher nichts von seiner Zauberkraft. und seines Freundes Ron gestaltet die GeSeite 12 ZfPFI Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie 3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016 ISSN 2313-4267 DOI 10.15136/2016.3.2.1-15 fühlswelt der Geschichte durchgehend und tionsfigur anzubieten, sondern in die der Spie- eindeutig geordnet wie im Volksmärchen. ler dieser Figur in seiner virtuellen Realisation Möglicherweise hat dieser letztere Aspekt dann auch tatsächlich eintritt. Die Eindimen- nicht unwesentlich zum Erfolg der Geschich- sionalität im Volksmärchen, in der „[…] der ten von Harry Potter in einer nach Orientie- Held jedes Jenseitsreich erwandern“ kann, in rung suchenden Zeit beigetragen. der die diesseitige […] neben der jenseitigen Welt“ steht (Pöge-Alder, 2011, S. 215), wird 7 Märchenhaftes zwischen Hilfestellung zur Lebensbewältigung und Verführung zur Lebensflucht durch die spezielle Form der Eindimensionalität des Second-Life-Spiels zum Risiko des Realitätsverlusts durch Realitätsflucht, wenn die Eindimensionalität nicht das Charakteristikum Die Anziehungskraft des Wunderbaren, des eines Märchens ist, sondern die Lebenswelt Unfassbaren, der Zauberei ist ungebrochen. charakterisiert. Die Schwelle von der realen Die aktuelle Erfolgsgeschichte der beiden Welt in die digitale ist niedrig, aber für ma- österreichischen Zauberer Thommy Ten und chen Spieler nur beim Eintritt, nicht bei der Amelie Van Tass, die soeben eine steile Karrie- Rückkehr in die reale Welt, wenn diese ohne re in Hollywood durchlaufen, sind ein Beleg Zauber ist. Harry Potter muss eine Schwelle dafür. Der kommerzielle Erfolg der modernen überschreiten, um in die Welt des Numinosen Märchen, allen voran die am intensivsten von zu kommen, und er bleibt dann dort, mit Magie durchdrungene Geschichte von Harry wunderbaren Zukunftsaussichten. Als Vorbild Potter, beleuchtet eine tiefe Sehnsucht der für den Umgang mit dem selbst zu schreiben- menschlichen Existenz nach den Wunderba- den Märchen mit sich selbst als Protagonisten ren, mit dessen Hilfe die Angst und die Bedro- in der numinosen Welt des Computerspiels hung besiegt werden kann, die in der realen eignet er sich nicht, wenn die Computerspiel- Welt mit den Mitteln der Wirklichkeit un- welt die reale Welt verdrängt. überwindlich erscheint. Das moderne Mär- Die Handlung im Märchen endet immer in chen eignet sich daher auch zur Realitäts- einer realen Welt, in die die Protagonisten flucht. Eine Kulmination findet die Realitäts- nach der Bewältigung ihrer Abenteuer zurück- flucht in der Welt der Computerspiele, die kehren, mit der guten Aussicht, in dieser rea- durch die interaktive Gestaltung der eigenen len Welt glücklich bis an ihr Lebensende zu Identität in einer selbstgestalteten Phantasie- leben, und wenn sie nicht gestorben sind, welt in den „Second Life“-Spielen anbieten, sogar noch heute. Das wären halt doch auch „sich ein idealisiertes, virtuelles Alter-Ego und schöne Aussichten in der Wirklichkeit. eine idealisierte, virtuelle Welt zu erschaffen“ (Sindelar, 2014, S. 105). Diese virtuelle Welt ist dann eine Märchenwelt, die sich nicht darauf beschränkt, einen Protagonisten als IdentifikaSeite 13 Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und Individualpsychologie ZfPFI 3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016 ISSN 2313-4267 DOI 10.15136/2016.3.2.1-15 Literatur Grimm, Jacob, & Grimm, Wilhelm (1986). Der Froschkönig oder der Eiserne Heinrich. 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