Zeitschrift für freie psychoanalytische Forschung und

ZfPFI
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016
ISSN 2313-4267
DOI 10.15136/2016.3.2.1-15
Märchenhaft menschlich
Fabulous human
Brigitte Sindelar
Kurzzusammenfassung
Die Faszination des Menschen durch das Numinose macht den Schlusssatz der tradierten
Märchen wahr: Sie sind noch lange nicht gestorben, sie leben heute noch. Und sie haben in
den „Fantasy-Romanen“ Nachkommen, denen ihre Abstammung anzumerken ist. Märchenfiguren aller Zeiten mühen sich mit Schwierigkeiten ab, die so menschlich sind, dass sie, im
Wunderbaren bewältigt, auch heute in der Psychotherapie als Projektionsfläche und Bearbeitungsraum seelischer Konflikte nutzbar gemacht werden können.
Abstract
The fascination of the numinous makes the conclusive sentence of traditional fairy tales
come true: fairy tale characters in fact did not die, but are still alive. Moreover, their descendants, the “fantasy novels”, witness their roots and parentage. Fairytale characters of all
times struggle with difficulties, which are original human, and they overcome them prodigiously. Psychotherapy is harnessing the traditional fairy tales as well as the fantasy novels of
today as a projection screen and processing room of emotional conflicts.
Schlüsselwörter
Märchen, Fantasy-Roman, numinos, Psychotherapie, Individualpsychologie
Keywords
Fairy tale, fantasy novel, numinous, psychotherapy, Individual Psychology, Adlerian psychotherapy
Seite 1
ZfPFI
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016
ISSN 2313-4267
DOI 10.15136/2016.3.2.1-15
1 Das Märchen als Tummelplatz der
Psychopathologie
im Froschkönig ist voller phobisch anmutender Vorurteile gegenüber Amphibien. Bemerkenswert ist dabei, dass diese beiden Prinzessinnen durchaus von ihrer Verzärtelung profi-
Aus dem Blickwinkel der Psychotherapie be-
tieren, wobei doch die eine erst durch ihre
trachtet, erstaunt es, dass die Erzählforschung
Überempfindlichkeit den Beweis ihrer Prinzes-
Märchenfiguren flächenhaft mit einem wun-
sinnenidentität führen kann und die andere
derbaren Außenleben, aber ohne Innenleben
durch den aggressiven Akt, den Frosch an die
versteht (Lüthi, 1989). Denn schließlich sind in
Wand zu werfen, einen Königssohn zum Mann
jedem Märchen jeglicher Gattung die Persön-
gewinnt. Und erst all die bösen Hexen mit
lichkeiten der Märchenfiguren von den Aus-
ihrer dissozialen Persönlichkeitsstörung, die
wirkungen einer konflikthaften Innenwelt
immer so qualvoll enden, wie etwa die Hexe in
gezeichnet, die eine Vielzahl von behand-
Hänsel und Gretel, die im Backofen ihr Leben
lungsbedürftigen psychischen Störung diagno-
lässt. Für den Psychotherapeuten und die
stizieren lassen. Da sind zum Beispiel die Stief-
Psychotherapeutin ist die Behandlungsbedürf-
schwestern von Aschenputtel, die sich selbst-
tigkeit angesichts dieser Symptomatik der
verletzend Ferse und Zehen abschneiden; da
Märchenfiguren evident. Für die Paarthera-
ist Rumpelstilzchen, das sich suizidiert, indem
peuten ist der Arbeitsauftrag im Märchen
er sich in der Mitte entzweireißt, und das
allerdings nicht definiert, denn die Märchen
höchstwahrscheinlich gar nicht in der Absicht,
enden nahezu immer am Zeitpunkt einer Be-
sich umzubringen, sondern als Unfall infolge
ziehung, ab dem diese erst so richtig heraus-
einer Impulskontrollstörung. Und dann die
fordernd wird, nämlich mit der Hochzeit. Eine
Mutter von Rapunzel, die in der Folge ihres
Ausnahme stellt hier vielleicht das tapfere
unerfüllten Kinderwunsches eine Essstörung
Schneiderlein (Grimm & Grimm, 1986) dar.
entwickelt und sich nur mehr von den Rapun-
Nachdem es sieben Fliegen mit einem Schlag
zeln aus dem Garten der Hexe ernährt. Oder
erledigt hat, zieht es mit einem Gürtel, auf den
gar Dornröschen, die gleich für hundert Jahre
es „Sieben auf einen Streich“ gestickt hat, voll
in eine Depression fällt, sodass sie nicht aus
Stolz auf seine Tapferkeit durchs Land. Da das
dem Bett kann. Und all die bösen Stiefmütter,
Schneiderlein als klein von Wuchs beschrieben
wie etwa die offensichtlich unter einer narzis-
wird, lässt sich die Weglassung der Nennung,
stischen
leidende
welche Art von Wesen ihm denn zum Opfer
Stiefmutter von Schneewittchen, die nicht alt
gefallen sind, sogar dadurch rechtfertigen,
werden kann. Und dann sind da noch die vie-
dass um die Taille eines zart gebauten Mannes
len verzärtelten Prinzessinnen: So zum Bei-
wohl nicht genug Platz für dieses zusätzliche
spiel die Prinzessin auf der Erbse, die nicht
Wort „Fliegen“ gewesen sein könnte. Genau
schlafen kann, weil unter einem Berg von
das aber lässt der tendenziösen Apperzeption
Matratzen eine Erbse liegt; und die Prinzessin
derer, die die Gürtelaufschrift lesen, den für
Persönlichkeitsstörung
Seite 2
ZfPFI
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016
ISSN 2313-4267
DOI 10.15136/2016.3.2.1-15
den Fortgang der Geschichte notwendigen
aussetzen lassen. Das tapfere Schneiderlein
Spielraum, sieben menschliche Gegner als
kann aber entrinnen, indem er, die Fiktion
durch einen Streich erschlagen anzunehmen.
seiner Übermacht weiterführend, die Soldaten
Das Schneiderlein erweist sich dann in der
des Königs, die den Auftrag haben, ihn umzu-
Folge insofern als tapfer, als es diese Verken-
bringen, mittels seiner fiktiven Überlegenheit
nung der Botschaft auf seinem Gürtel an-
verjagt. Denn als sie im Auftrag des Königs und
nimmt und der Minderwertigkeit seiner kör-
im Komplott mit der Königstochter darauf
perlichen Kleinheit seine beachtlich große und
lauern, dass er einschläft und sie ihn im Schlaf
auch kreative Bauernschläue erfolgreich ent-
entführen und aussetzen können, wiederholt
gegensetzt, auf das Weiterbestehen der Fehl-
er, den Schlaf vortäuschend, den Bericht sei-
interpretation von Wirklichkeiten durch seine
ner Heldentaten: „Ich habe siebene mit einem
Gegner bauend. Da gehört schon eine gehöri-
Streiche getroffen, zwei Riesen getötet, ein
ge Portion Mut dazu, darauf zu setzen, dass
Einhorn fortgeführt und ein Wildschwein ge-
der Riese einen Stein nicht von einem Stück
fangen, und sollte mich vor denen fürchten,
Käse unterscheiden kann, und ihm vorzuma-
die draußen vor der Kammer stehen!“ (ebd., S.
chen, man hätte aus einem Stein das Wasser
171). Über diese Übermacht erschreckt, laufen
herausgedrückt, obwohl es nur ein Stück Käse
die Soldaten davon, und das Schneiderlein
war. Und auch sein Leben darauf zu setzen,
bleibt für sein Lebtag König. Des Schneider-
einen Vogelflug als Stein zu deklarieren, den
leins Meisterschaft der Täuschung, die ihn aus
man so weit geworfen hätte, dass er die
so vielen prekären Situationen gerettet hat,
Schwerkraft überwindet und nicht mehr zur
rettet ihm also auch in dieser bedrohlichen
Erde zurückkehrt, bedarf eines tapferen
Situation das Leben, in dieser Szene am Ende
Übermuts. Der Erfolg gibt dem tapferen
des Märchens sogar in Form einer „Doppel-
Schneiderlein recht: Und so bezwingt es durch
täuschung“: Den Schlaf vortäuschend, berich-
trickreiche Täuschungsmanöver noch mehr
tet er von der Erfolgsgeschichte seiner bishe-
Riesen, fängt ein gefährliches Wildschwein
rigen Täuschungen. Hier „ist die Spannung
und ein Einhorn, bis dem König nichts anderes
zwischen Sein und Schein bereits im Titel an-
übrig bleibt, als ihm die Tochter zur Frau zu
gelegt, denn es handelt sich offensichtlich um
geben (Grimm & Grimm, 1986). Am Ende der
einen Schneider in Diminutivform, der deswe-
Geschichte bekommen wir Einblick in ein kur-
gen den Menschen vorspielt, tapfer zu sein“
zes konflikthaftes Intermezzo in seiner noch
(Rieken, 2011, S. 368). Das tapfere Schneider-
jungen ehelichen Beziehung: Als er im Schlaf
lein hat offensichtlich seine Kompensations-
spricht und dabei seine für eine Königstochter
strategie seiner Minderwertigkeit gefunden
nicht standesgemäße Herkunft erraten lässt,
und bleibt in nachvollziehbarer Weise mit
will der Schwiegervater den unerwünschten
seiner Problemlösestrategie konsequent sei-
Schwiegersohn loswerden und des Nachts im
nem Lebensstil treu, Sicherheit durch Täu-
Schlaf von seinen Soldaten entführen und
schung anzustreben, nachdem sich dieser ja
Seite 3
ZfPFI
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016
ISSN 2313-4267
DOI 10.15136/2016.3.2.1-15
bewährt hatte. Im Grunde genommen ist das
gur ist entweder ein Ausbund moralischer
tapfere Schneiderlein eine psychopathologisch
Verwerflichkeit oder von herausragender mo-
unauffällige Figur: List und Betrügerei sind
ralischer Integrität. So ist der Prinzessin, die
zwar unredlich, aber keine psychische Stö-
den Frosch nicht mit in ihr Bettchen nehmen
rung. Im Unterschied zu den anderen Mär-
will, nicht nur vorzuwerfen, dass sie ein gege-
chenfiguren ist das Schneiderlein nicht in ei-
benes Versprechen brechen will, schon auch
nem unbewussten emotionalen Konflikt ge-
zugute zu halten, dass es ihr gutes Recht ist,
fangen, sondern lässt ganz bewusst und ab-
nicht jedem, der ihr einen Gefallen tut, intime
sichtsvoll den Schein trügen. Es bleibt dabei,
körperliche Nähe zu gewähren. Fraglich wird
auf die tendenziöse Apperzeption seiner Geg-
hier also weniger die unmoralische Haltung
ner zu vertrauen und zur Täuschung zu grei-
der Prinzessin, Versprechen nicht einlösen zu
fen, um sich in Sicherheit zu bringen. Sym-
wollen, sondern vielmehr der Erziehungsstil
ptome seelischen Leidens finden sich bei ihm
ihres Vaters, des Königs, der die Prinzessin
jedoch nicht – eine Ausnahmeerscheinung
dazu gebracht haben muss, für eine kleine
unter den Märchenfiguren.
Hilfestellung bei der Erhaltung ihres materiellen Besitzes gleich sich selbst als Gegenlei-
2 Märchenhafte Ordnung für Gefühle
und Moral
stung zu versprechen. Schließlich hatte der
Frosch etwas für einen Frosch nicht allzu
Schwieriges getan, als er die goldene Kugel,
Die Attraktivität der Märchen für die psycho-
die der Prinzessin in den Teich gefallen war,
therapeutische Behandlung zu hinterfragen,
wieder herauszuholen, nachdem er der Prin-
führt zur in der in vielen Märchenfiguren ge-
zessin das Versprechen abringen konnte, ihn
gebenen Ordnung, die das Chaos widersprüch-
mit in ihr Bettchen zu lassen und ihm einen
licher Gefühle überschaubar macht: Protago-
Kuss zu geben (Grimm & Grimm, 1986). Der
nisten im Märchen haben eine klare emotio-
Ausgang des Märchens, der der Prinzessin den
nale Identität, „denn die dargestellten Bezie-
optimalen Ehemann zu bescheren scheint,
hungen sind einfach und eindimensional“
weil sie, den Anordnungen des Vaters folgend,
(Seiffge-Krenke, 2009, S. 117). Das macht es
ihr Versprechen einhält, verdeckt diesen kriti-
für den Märchenleser oder -hörer einfach,
schen Blick auf den Vater allerdings.
Stellungnahme für oder gegen die Märchenfi-
Auch das tapfere Schneiderlein ist nicht einer
gur zu beziehen, da jede von ihnen „[…] nur
der beiden Kategorien gut – böse zuzuordnen.
abgrundtief böse oder von selbstloser Güte“
Seine Größe im Täuschen macht es erfolg-
(ebd., S. 117) ist. Diese Attributierung „böse
reich, woraus der ermutigende Schluss zu
oder gut“ impliziert eine moralische Wertung
ziehen wäre, dass diese gewisse Form der
des Handelns der Figuren. Allerdings ist diese
Intelligenz durchaus den Sieg über die brachia-
bei genauerer Betrachtung doch nicht durch-
le Gewalt von Riesen erringen kann, aber mo-
gängig eindeutig. Denn nicht jede Märchenfi-
ralisch eindeutig ist dieses Handeln nicht.
Seite 4
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
ZfPFI
3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016
ISSN 2313-4267
DOI 10.15136/2016.3.2.1-15
Denn ganz abgesehen von der Hochstapelei
erreicht das Schneiderlein im Grunde genom-
3 Märchenhafte Vieldeutigkeiten des
Mensch-Seins
men nur, „daß [sic!] diese List ja auch zur Gewalt wird, daß [sic!] letztlich alle vor ihm zit-
Das Potential der Märchen für die Psychothe-
tern, so wie sie am Anfang vor den Riesen
rapie liegt in der Vielfalt der Deutungsmög-
gezittert haben“ (Kast, 1993, S. 55).
lichkeiten, die durch einen Perspektivenwech-
Auch wenn die Bösen im Märchen drastisch
sel das Verstehen von eigenem bisher Unver-
bestraft werden, so entbehrt die Erzählung
standenen möglich machen. Interpretationen
dieser Strafen der realistischen Detailbe-
sind per se immer offen hinsichtlich ihrer Rea-
schreibung: „Auch hier enthält sich das Mär-
litätstreue: „Jede Deutung bleibt eine An-
chen jedes Auskosten des Grausigen“ (Lüthi,
Deutung“ (Kast, 2000, S. 14), woraus die Opti-
1989, S. 19). Allerdings wäre es eine Fehlein-
on erwächst, Märchen auch immer wieder
schätzung der Wirkung des Märchens, dies
anders zu interpretieren, andere Aspekte zu
einer Entschärfung des Grausamen im Mär-
beleuchten, zum Widerspruch herauszufor-
chen gleichzusetzen. Selbst wenn der Mär-
dern und in der Folge den eigenen unterdrück-
chenstil „das Geschehen knapp und prägnant
ten Wünschen und unerfüllten Sehnsüchten
signalisiert und nicht breite Schilderungen,
begegnen zu können, um eine Veränderung
sondern
des Lebensstils zur psychischen Gesundheit in
fortschreitende
Handlung
liebt“
(Lüthi, 2008, S. 21), so verleiht die Phantasie
Bewegung zu bringen.
des Kindes oder auch des Erwachsenen, der
Märchen erlauben auch deswegen unter-
das Märchen hört oder liest, anhand der
schiedlichste Zugänge zur Interpretation, da
wachgerufenen inneren Bilder den Märchenfi-
das Außenleben der Märchenfiguren sowohl
guren und Szenarien, in denen die Handlung
als „nach außen gestülptes“ eigenes Innenle-
stattfindet, dreidimensionale optische Gestalt
ben in den verschiedenen Facetten und Wi-
und Bewegung. Denn schließlich entsteht auf
dersprüchlichkeiten der Gefühlswelt als auch
diese Weise die emotionale Beteiligung am
als intersubjektives Geschehen in einem Be-
Schicksal der Märchenfiguren, auch wenn das
ziehungsraum verstanden werden kann. Ob
Märchen nicht „von Gefühlswallungen und
beispielsweise die Beziehung zum Vater oder
kaum von Schmerzen“ spricht (Lüthi, 1989, S.
dessen Introjekt als bedeutsam erachtet wird,
33). Und genau so tun dies die knapp gehalte-
tut der Eignung des Märchens für die Anre-
nen Hinweise, dass die böse Stiefmutter
gung zur Auseinandersetzung mit der Bezie-
Schneewittchens auf glühenden Kohlen tan-
hung zum Vater keinen Abbruch.
zen musste oder die böse Hexe aus Hänsel
und Gretel im Backofen verschmoren musste.
Einmal aktiviert durch das Numinose, macht
die Phantasie nicht Halt vor der Imagination
des Grausamen.
Eines der in ihrer Finalität hinterfragbaren
Elemente im Märchen ist die konsequente
Vernichtung des Bösen am Ende des Märchens. Sind die Figuren eines Märchens als
Seite 5
ZfPFI
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016
ISSN 2313-4267
DOI 10.15136/2016.3.2.1-15
unterschiedliche und widersprüchliche Gefüh-
verstehen. Überlieferte Märchen erzählen von
le oder auch Charakterzüge einer Person zu
typisch menschlichen Problemen. Von der Zeit
verstehen, dann gerät der gute Ausgang des
unterschiedlich eingefärbt, überdauern sie die
Märchens durch die Vernichtung der unmora-
Jahrhunderte (Kast, 2000). Aschenputtel ver-
lischen, zerstörerischen und aggressiven Mär-
liert in jungen Jahren ihre Mutter. Die Stief-
chenwesen vielleicht sogar in den Verdacht,
mutter bringt zwei eigene Töchter in die Fami-
ein Resultat des Gehorsams zu sein, der die
lie mit. Die Drei behandeln Aschenputtel
Anpassung verlangt. Und des Gehorsams fata-
denkbar schlecht, nutzen sie aus und lassen
le Auswirkungen auf die Persönlichkeitsent-
sie in der Asche schlafen, wovor der aus beruf-
wicklung in Autoritätsabhängigkeit, in Abspal-
lichen Gründen oft abwesende Vater sie nicht
tung der Aggression und in der Folge der als
beschützen kann. Zum Unterschied von ihren
legitim bewerteten Grausamkeit gegenüber
Stiefschwestern, die vom Vater der Familie
den Projektionsfiguren der eigenen Aggression
Schmuck und erlesene Kleidung fordern,
sind ja mittlerweile hinlänglich verstanden
wünscht sie sich einen Zweig, den sie am Grab
(Gruen, 2000, 2003). Dass dieses Wissen um
der Mutter einpflanzt. Als Gabe der verstor-
die aktiv-destruktive, das Gemeinschaftsge-
benen Mutter schenkt ihr der Baum, der aus
fühl vernichtende Handlungsfolge des Gehor-
dem Zweig wächst, dann die notwendige Gar-
sams bei weitem noch nicht im notwendigen
derobe, sodass sie am Fest des heiratswilligen
Ausmaß Eingang in die Erziehung gefunden
Prinzen teilnehmen kann. Die Vögel helfen ihr,
hat, ist sogar der Beleg für die Abspaltung.
die an sich unlösbare Aufgabe des Herausle-
Geht es aber nicht um den Gehorsam, der
sens von Linsen aus der Asche in einem sehr
sozial unerwünschte Gefühle abzutöten ver-
begrenzten Zeitraum, der ihr von der Stief-
sucht, ohne sie jedoch umbringen zu können,
mutter gestellt wird, zu erfüllen. Und am Ende
sondern um die Überwindung von Angst, um
sind es wieder Tauben, die verhindern, dass
den Mut, sich auch offensichtlich überlegenen
der Prinz irrtümlich eine ihrer Stiefschwestern
Gegnern stellen und um die Vermittlung der
zur Frau nimmt, nur weil die sich durch Ab-
ermutigenden Aussicht, diese besiegen zu
schneiden der Ferse bzw. der Zehen in
können, dann ist das Märchen als Metapher
Aschenputtels Schuh zwängen und dadurch
dafür unentbehrlich in der Erziehung.
vortäuschen wollen, Aschenputtel zu sein:
„Rucke di guck, rucke di guck, Blut ist im
4 Märchenhafte
Lösungen
menschliche Probleme
für
Schuck (Schuh): Der Schuck (Schuh) ist zu
klein, Die rechte Braut sitzt noch daheim“ (
(Grimm & Grimm, 1986, S. 181). Aschenputtel
Die Themenstellungen im Märchen lassen sich
leidet also unter der Situation ihrer Patch-
immer sowohl als innerpsychischer Konflikt als
work-Familie, bei der die leiblichen Kinder der
auch als Beziehungskonflikte oder Herausfor-
zweiten Frau des Vaters und Aschenputtels
derungen im Zuge von Entwicklungsprozessen
Stiefmutter von dieser bevorzugt werden.
Seite 6
ZfPFI
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016
ISSN 2313-4267
DOI 10.15136/2016.3.2.1-15
Aschenputtel befreit sich aus ihrer unglückli-
erfordert Kreativität, die überraschend bisher
chen Lage durch ihre gute Beziehung zu den
Ungedachtes hervorbringt. Weil im Märchen
Tieren und ihren „grünen Daumen“, indem sie
alles erdenkliche und unerdenkliche Wunder-
sich vom Vater einen Spross wünscht, der,
bare möglich ist, ist das Märchen „[…] ein um-
durch ihre Pflege zum Baum herangewachsen,
fangreiches Reservoir, in dem wir neue Reak-
die rettenden Früchte abwirft. Die in der
tionsmöglichkeiten aufbewahren, auf die wir
Holzwirtschaft tätigen Eltern von Hänsel und
zurückgreifen können, wenn die herkömmli-
Gretel sind armutsgefährdet, was die Mutter
chen, geläufigen Methoden nicht mehr grei-
dazu bringt, ihre Kinder loswerden zu wollen.
fen“ (Bly, 1991, S. 11).
Schneewittchens eitle Stiefmutter ist zutiefst
gekränkt darüber, dass ihre Erwartungen an
die Anti-Aging-Kosmetik offensichtlich nicht
erfüllt werden, wie ihr der Blick in den Spiegel
5 Die Ermutigung zur Unvollkommenheit und zum Überwindungsstreben im Märchen
beweist. Der im Märchen Rumpelstilzchen als
Müller tätige selbständige Unternehmer hat
Das Märchen macht aber auch Mut, die Hoff-
die völlig unrealistischen finanzwirtschaftli-
nung auf ein erfülltes Leben nicht aufzugeben,
chen Anforderungen an seine Tochter, dass sie
selbst wenn etwas misslungen ist, so wie dem
Stroh zu Gold spinnt, und ist bereit, sie für
Königssohn im Märchen Eisenhans die Selbst-
seinen eigenen sozialen Aufstieg einem ge-
beherrschung bei der Bewachung des Gold-
nauso skrupellosen, nur am finanziellen Erfolg
brunnens misslingt: Nachdem viele Jahre lang
interessierten König auszuliefern. Die Proble-
Jäger im Wald des Königs verschwinden, ge-
me der Märchenfiguren sind menschlich und
lingt es einem besonders mutigen Jäger, einen
wirklichkeitsnah, die Problemlösungen phan-
wilden Mann in einem Pfuhl des Waldes zu
tastisch und unwahrscheinlich. Und dadurch
finden, dem das Verschwinden der Jäger ange-
rücken Wirklichkeit und nur in der Welt der
lastet werden kann. Dieser wilde Mann wird
Phantasie Mögliches näher zusammen, was
auf dem Anwesen des Königs in einen eisene-
die Problemlösung dann gelingen lässt. „Das
ren Käfig gesperrt und kommt so zum Namen
Unwahrscheinliche als Grundelement des
„Eisenhans“. Der kleine Sohne des Königs lässt
Märchens ist demnach die Brücke zwischen
sich von Eisenhans dazu überreden, in einem
dem Wirklichen und dem Unmöglichen, hat
unbewachten Augenblick den Schlüssel zum
also Berührungsflächen mit der Realität“ (Rie-
Käfig, der unter dem Kopfpolster seiner Mut-
ken, 2011, S. 381), was Hoffnung auf die
ter versteckt ist, zu stehlen, und lässt Eisen-
Überwindung von Bedrohungen durch unge-
hans frei, der ihn mitnimmt. Die Aufgabe, die
wöhnliche oder bisher infolge der Umklamme-
ihm Eisenhans stellt, einen Weiher zu bewa-
rung der Gedanken durch die Begrenzungen
chen, aber dabei auf keinen Fall mit dem Was-
der Wirklichkeit undenkbare Ereignisse und
ser in Berührung zu kommen, überfordert den
Fertigkeiten aufkommen lässt. Problemlösung
Buben in seiner Folgsamkeit, beschert ihm
Seite 7
ZfPFI
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016
ISSN 2313-4267
DOI 10.15136/2016.3.2.1-15
aber goldenes Haar. Diese Unfolgsamkeit führt
ten weit weniger untadelig ist als das der mei-
dazu, dass er nicht mehr bei Eisenhans bleiben
sten Protagonisten, erleben ein märchenhaft
kann, sondern seinen eigenen, selbständigen
glückliches Ende, wie eben das tapfere
Weg gehen muss, ohne sich als der Besonde-
Schneiderlein (wobei sich aus psychothera-
re, nämlich der Königssohn mit goldenen Haa-
peutischer Perspektive bei diesem glücklichem
ren zeigen zu dürfen, allerdings mit der Zusage
Ende die Frage aufdrängt, was wohl an un-
weiterer Unterstützung durch Eisenhans. Die-
glücklicher Beziehung zwischen ihm und sei-
se Hilfestellung des Eisenhans besteht nicht
ner Angetrauten ihn in Zukunft erwarten
darin, dass Eisenhans ihm Aufgaben abnimmt,
wird). Eine besonders mutige Königstocher ist
sondern dass er den Königssohn mit der für
die unglückliche Prinzessin in einem griechi-
die Bewältigung seiner Aufgaben notwendigen
schen Volksmärchen: Sie wird von ihrer Mut-
Ausstattung, wie Pferd und Mitstreitern, ver-
ter weggeschickt, nachdem eine weise Frau an
sorgt. Und am Ende gewinnt der Königssohn
der Schlafstellung dieser jüngsten Tochter von
die Königstochter des anderen Landes zur Frau
Dreien erkennt, dass das unglückliche Schick-
und der verwunschene Eisenhans seine Identi-
sal dieses Mädchens die Ursache dafür ist,
tät als König zurück (Grimm & Grimm, Der
dass kein Freier sich für die Königstöchter
Eisenhans, 1987). Zwar wird dieses vor allem
interessiert. Auf ihrem Weg begleitet sie ihre
unter dem Aspekt der Ablösung des Königs-
Schicksalsfrau
(altgriechisch:
sohns von der Mutter und der Integration der
n-
Anteile des „Wilden Mannes“ verstanden (Bly,
heil an. Durch die Ermutigung einer Königin,
1991), birgt aber auch noch einen weiteren
die sie dennoch aufnimmt, obwohl jede Nacht
Aspekt: Eisenhans schickt den Königssohn als
verheerende Auswirkungen hat, gelingt es ihr,
Konsequenz des Versagens zwar fort, steht
sich dem unglücklichen Schicksal in Gestalt
ihm aber dennoch in Zukunft zur Seite. Und
ihrer Moira zu stellen und trotz heftiger Wi-
schließlich ist es am Ende genau dieses Versa-
derstände ihr Schicksal zu verändern (nach
gen, das ihm nicht nur die Vertreibung, son-
Kast, 1993, S. 181ff.). Dieses Märchen weist
dern auch goldene Haare beschert, wodurch
auf „die Möglichkeit, sein Schicksal zu beein-
er die Königstochter zur Frau bekommt. Es
flussen“ (ebd., S. 179), selbst wenn es als ein
zeigt sich also, „dass man durchaus etwas
unglückliches erscheint, hin.
falsch machen kann, wie es im Leben eben ist,
und trotzdem wird einem auch wieder verziehen“ (Friedrich, 2011, S. 6).
Dieser Fluch, der zwar in diesem Märchen
nicht explizit so, sondern als Schicksal benannt
wird, aber in der Wirkweise einem Fluch
Dieser Aspekt der Ermutigung lässt sich in
gleicht, ist als Motiv in vielen Märchen anzu-
vielen Märchen aufspüren. Nicht nur Aschen-
treffen. Verflucht wird einerseits, wer sich ein
puttel und Hänsel und Gretel entkommen
Vergehen zuschulden kommen lässt, wie Lud-
durch ihren Mut und ihre Ausdauer ihrem
wig Uhland, ein Dichter der Romantik und
Schicksal, auch Märchenfiguren, deren Verhal-
Zeitgenosse der Brüder Grimm, in seiner BalSeite 8
ZfPFI
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016
ISSN 2313-4267
DOI 10.15136/2016.3.2.1-15
lade vom Fluch des Spielmanns erzählt: Der
grenzungen des Wahrscheinlichen, und im
König, dessen Herz sich durch den Gesang der
Märchen lässt sich der Fluch, der Unschuldige
jungen Spielmanns nicht erreichen ließ und
trifft, immer wieder durch Ereignisse und
der den jungen Spielmann dafür tötet,
Handlungen, die vom Wahrscheinlichen aus-
wünscht der alte Spielmann: „Dein Name sey
gehen, lösen: Dass eine junge Frau voll
vergessen, in ew’ge Nacht getaucht, Sey wie
Schreck einen Frosch, der in ihr Bett springt,
ein letztes Röcheln, in leere Luft verhaucht!“
mit voller Kraft gegen die Wand wirft, er-
(Uhland, 1815, S. 335). Und noch in der Balla-
scheint nicht völlig ausgeschlossen. Sogar die
de wird die Erfüllung des Fluchs beschrieben:
Variante, dass sie den Forsch küsst, liegt noch
„Des Königs Namen meldet kein Lied, kein
im Bereich des Denkmöglichen, falls sie eine
Heldenbuch; versunken und vergessen! Das ist
besondere Liebe zu Amphibien hegt. Unwahr-
des Sängers Fluch“ (ebd., S. 337). Die innere
scheinlich ist daran nur, dass dadurch aus dem
Stellungnahme zu den Protagonisten fällt hier
Frosch ein liebenswerter junger Mann wird.
leicht, denn der unsympathische und gewalt-
Dass ein junger Mann grundsätzlich imstande
tägige König, der den jungen Spielmann er-
ist, Dornrosensträucher zu durchschlagen, ist
mordet, wird nach den Regeln der Gerechtig-
wahrscheinlich. Dennoch gelingt es erst dem
keit bestraft und so der Tod des jungen Spiel-
jungen Mann, der es zum richtigen Zeitpunkt,
mannes gerächt. Ein Wermutstropfen der
also zum Ablaufdatum des Fluches der 13.
Ungerechtigkeit ist, dass dabei offenbar nicht
weisen Frau, in Angriff nimmt, weil der Fluch
nur der König, sondern sein gesamtes Umfeld
abgelaufen ist und sich die Dornenhecke da-
der Vernichtung anheimfällt.
mit verwandelt. Der Fluch hat also auch im
Andrerseits trifft im Märchen den Fluch häufig
eine oder einen Unschuldigen: Dornröschen
konnte schließlich nichts dafür, dass ihr Vater
nur zwölf goldene Teller besaß und daher die
13. weise Frau nicht einlud. Der Fluch dieser
beleidigten weisen Frau traf aber sie. Die miss-
Märchen nicht den Charakter der unveränderbaren Größe – manche Verfluchungen sind
durch den Mut zu ungewöhnlichen Handlungen aufzuheben, manchen ist am besten
durch geduldiges Ausharren in der Hoffnung
auf Verbesserung der Lage zu begegnen.
liche Lebenslage, unverschuldet von der Rache
Motive aus „alten“ Märchen werden weiterhin
für eine kriminelle oder auch nur sozial unan-
als verdichtende Metapher herangezogen, um
gepasste Handlung durch einen Fluch getrof-
sowohl innerpsychische als auch intersubjekti-
fen zu werden, ist eine Situation der Ohn-
ve Problemstellungen zu beschreiben. Das
macht und Unterlegenheit, die eines stark
verzärtelte Kind wird mit dem Titel „Prinzessin
ausgeprägten Überwindungsstrebens bedarf,
auf der Erbse“ bedacht. Die psychologische
um sich ihr entgegenzustellen. Effizient verflu-
Ratgeberliteratur verwendet die Cinderella-
chen zu können, ist eine Kunst der Magie, die
Variante von Aschenputtel zur Ermutigung von
daher den Hexen, Feen und Zauberern vorbe-
in Abhängigkeiten verstrickten Frauen (Dow-
halten ist. Zauberei ist entfesselt von den Be-
ling, 1997), Eisenhans zur Ermutigung beim
Seite 9
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
ZfPFI
3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016
ISSN 2313-4267
DOI 10.15136/2016.3.2.1-15
Finden der männlichen Identität (Bly, 1991),
oder oft zeitgleich durch Verfilmungen. Man-
Peter Pan zur Metapher für die infantile Per-
che moderne Märchen erreichen uns von An-
sönlichkeit (Kiley, 1984). Und der zur Zeit des
fang an ausschließlich in der Erzählform des
Nationalsozialismus von Österreich nach den
Filmes, dessen Erscheinen oft von sparsam
USA geflohene und in den 1970er Jahren so-
textierten Bilderbüchern begleitet wird.
wohl da als auch dort tätige Psychoanalytiker
Rudolf Ekstein (1912 – 2005) beschreibt anhand des Froschkönigs aktualisierte Aspekte
partnerschaftlicher
Beziehungsschwierigkei-
ten: „Heutzutage musst du viele Frösche küssen, bis ein Prinz dabei ist“ (mündliche Mitteilung in den 1970er Jahren).
6 Märchen der Gegenwart
Moderne Märchen, die es auf die Erfolgsliste
des hohen Bekanntheitsgrades geschafft haben, zeigen einen Verlauf der Entfremdung
personifizierter Vorbilder aus den alten Märchen. Von besonderer Attraktivität ist offenbar Aschenputtel in seiner modernen Identität
der Cinderella, die in der Verfilmung der Disney-Studios von 1950 stark auf das Vorbild der
Cendrillon des französischen Märchendichters
Charles Perrault (1628 – 1703) zurückgreift,
Volksmärchen stammen aus Erzähltraditionen.
indem eine Kutsche aus Kürbis von Mäusen
„Das hat den großen Vorteil, verglichen mit
gezogen wird. Cinderella ist aber auch Oper,
den modernen Märchen – von denen es nicht
Ballett, aber auch Namensgeberin für Horror-,
allzu viele gibt –, daß [sic!] sehr viel Zufälliges
Erotik- und Pornofilme. Als Motiv gibt die Ge-
durch die verschiedenen Menschen durch die
schichte vom armen Mädchen und dem rei-
Zeit hindurch aus den Märchen herausgefallen
chen Prinzen auch dem Erfolgsfilm „Pretty
ist, daß [sic!] die Märchen uns wirklich die
Woman“ Kontur. Eine adaptierte Form der
Bilder und die Geschichten übermitteln, die
Geschichte mit menschlichen Darstellern brin-
für viele Menschen Gültigkeit haben“ (Kast,
gen die Disney-Studios 2015 auf den Markt.
2000, S. 13). Erzählen bedeutet, im Kopf des
Mit der Verfilmung ändern die Figuren der
Zuhörers Bilder zu erzeugen, die einerseits
tradierten Märchen aber auch ihren Charak-
individuell im Detail, andrerseits generell im
ter: Das Flächenhafte (Lüthi, 2005) weicht
Konzept sind. Märchen der Gegenwart sind
einem dynamischen Seelenleben.
jedenfalls Kunstmärchen, selbst wenn sie sich
inhaltlich an die tradierten Märchen anlehnen.
Ein Charakteristikum des Kunstmärchens liegt
„in der abweichenden Gestaltung: Figuren
erhalten ein Innenleben, sie empfinden ihre
Umwelt“ (Pöge-Alder, 2011, S. 53). Diese Innenwelt wird in modernen Märchen immer
auch in Bildern dargestellt, manchmal zuerst
in Form umfangreicher Illustrationen und bald
So ergeht es auch Prinzessin Elsa im Computeranimationsfilm „Die Eiskönigin“ von Walt
Disney Pictures, der die Grundidee des Märchens „Die Schneekönigin“ von Hans Christian
Andersen, dass die Liebe „kalte“ Herzen erwärmen könne, aufgreift und mit anderen
Konfliktthemen verknüpft. Prinzessin Elsa ist
mit dem Problem konfrontiert, mithilfe ihrer
Zauberkraft Kälte mit allen dazugehörigen
Seite 10
ZfPFI
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016
ISSN 2313-4267
DOI 10.15136/2016.3.2.1-15
Naturerscheinungen wie Eis und Schnee er-
Moderne Märchen entfernen sich im Zeitlauf
zeugen zu können, diese aber nicht ausrei-
ihres Erscheinens immer mehr von den Inhal-
chend steuern zu können. Dieser Mangel an
ten der tradierten Märchen, sind also nie Ver-
Impulskontrolle – womit der Film ein aktuelles
filmungen tradierter Märchen, auch wenn sie
Thema der Kinderpsychotherapie anspricht –
Elemente aus tradierten Märchen aufgreifen:
hat für Elsa fatale Folgen, weil sie damit der
Prinzessin Elsa ist um ein großes Stück weiter
Isolation von ihrer Schwester, Prinzessin Anna,
entfernt vom Inhalt der Geschichte der
und insgesamt der Gemeinschaft ihrer Freun-
Schneekönigin als es Cinderella von Aschen-
de ausgeliefert scheint. Prinzessin Elsa, Prin-
puttel war. Moderne Märchen zeichnen sich
zessin Anna sowie ihre Gefährten, den
aber auch dadurch aus, dass sie Grenzen zwi-
Schneemann Olaf, den Prinzen Hans, den Eis-
schen Phantasie und Wirklichkeit ziehen: Pe-
verkäufer Kristoff und sein Rentier Sven, gibt
ter Pan lockt drei Londoner Kinder in sein
es aber nicht nur als Zeichentrickfigur, als Bil-
„Nimmerland“, das wiederum seinen Weg in
derbuchillustration, also in einem gewissen
die Realität durch Michael Jackson (1958 –
Naheverhältnis zum Buch, sondern auch in
2009) in dessen „Neverland Ranch“ fand. Die
Form einer Vielzahl von Merchandise-Artikeln,
drei Londoner Kinder verließen ihre Realität,
wie als Luftballon, auf Papierservietten, auf
um mit Peter Pan auf dessen fiktiver Insel
Trinkbechern, auf Kinderbadeanzügen und
beim Kampf gegen den bösen Käpt’n Hook
vielem mehr. Die Märchenfiguren waren,
mitzuhelfen und sich von Fee Glöckchen (Tin-
während sie durch Erzählungen tradiert wur-
ker Bell) unterstützen zu lassen (Barrie, 1904).
den, Bilder im Kopf, später dann vielleicht
Die Welt der fiktiven Insel ist abgegrenzt von
Illustrationen in einem Märchenbuch. Die
der realen Welt. Das moderne Märchen von
Figuren der neuen Märchen haben durch ihre
Peter Pan unterscheidet sich damit in wesent-
Verbreitung auf Merchandise-Artikel die Ei-
lichen Zügen vom Volksmärchen, das nach
genschaft, in die reale Lebenswelt der Kinder
Lüthi unter anderem durch das Fehlen einer
Einzug zu nehmen, sich dabei aber vom
räumlichen und zeitlichen Gliederung flächen-
Schneemann in einen Luftballon, von der Prin-
haften Charakter aufweist (Lüthi, 2005): Wäh-
zessin in eine Serviette, einen Pullover oder
rend Dornröschens hundertjährigem Schlaf
einen Badeanzug zu verwandeln. Sie werden
verändert sich außer der Dornrosenhecke, die
dadurch einerseits realer, weil Alltagsgegen-
wächst, nichts. Aber während Peter Pan auf
ständen anhaftend, andrerseits unrealer, weil
seiner Insel Neverland seine Abenteuer be-
eine Prinzessin Elsa von der Serviette in die
streitet, bekommt seine Familie ein neues
Phantasie einen weiteren und sperrigeren
Kind, und er bleibt nach seiner Rückkehr aus
Weg zurückzulegen hat als Dornröschen, das
seiner Herkunftsfamilie ausgeschlossen. Die
aus den vorgelesenen oder erzählten Wörtern
Abgegrenztheit der numinosen von der realen
im Kopf des Kindes entsteht.
Welt verleiht und ermöglicht diesen beiden
Welten unterschiedliche Zeitdimensionen. Das
Seite 11
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
ZfPFI
3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016
ISSN 2313-4267
DOI 10.15136/2016.3.2.1-15
Ausagieren der seelischen Innenwelt, wie es
Dort fristet er ein Leben in Benachteiligung,
das Volksmärchen als Übersetzung von Gefüh-
die an das Aschenputtelmotiv erinnert. Als er
len in Handlungen oder in Bilder tut, verläuft
an der Schwelle zur Adoleszenz steht, holt ihn
im modernen Märchen, das ja immer ein
der Schlüsselbewahrer der Zaubererschule
Kunstmärchen ist, zumindest zweidimensional
Hogwarts über die Schwelle in die Zauberwelt.
in Handlung und Gefühlsausdruck, in Tren-
Die reale Welt ist also klar getrennt von der
nung der Welt des Numinosen von der Welt
Welt des Märchenhaften, vereint ist sie in der
des Realen. Märchenfiguren der modernen
Person Harry Potters, der allerdings in der
Märchen sind außerdem Menschen mit Ge-
realen Welt als Fremder imponiert. Im Zau-
schichte, die in einer bedeutsamen Mitwelt
berinternat führt er, abgesehen vom Lehrplan
leben, während im Volksmärchen die Mitwelt
des Zauberns, ein ganz real anmutendes sozia-
„die gleiche unbedeutende Rolle wie die Vor-
les Leben eines Jugendlichen, in Freundschaft
welt und Nachwelt“ spielt (Lüthi, 1989, S. 34).
mit Hermine und Ron und in Konkurrenz mit
Das Numinose steht im modernen Märchen
dem Anführer einer Gruppe von Mitschülern.
nicht nur im Gegensatz zum Erfahrungs- und
Der siebente Band endet mit einer Vorschau in
Alltagswissen des Märchenlesers oder -hörers
die Zukunft Harrys als Ehemann und Vater in
(vgl. Pöge-Alder, 2011, S. 30), sondern auch zu
der Zauberwelt (Rowling, 2007). Wie alle an-
dem der Protagonisten des modernen Mär-
deren kommerziell erfolgreichen modernen
chens. Während das Wunderbare im Volks-
Märchen hinterlässt auch Harry Potter durch
märchen als etwas Selbstverständliches auf-
eine Fülle von Merchandise-Artikeln Spuren
tritt (Pöge-Alder, 2011, S. 27), wird es im mo-
der Zauberwelt in der realen Welt der Kinder.
dernen Kunstmärchen zum Besonderen.
Dies lässt eine neue Variante der Eindimen-
Besonders deutlich wird dies in der Geschichte
Harry Potters, die bereits mit dem fulminanten Verkaufserfolg des 1997 erschienenen
ersten Bandes von sieben eine Begeisterungswelle
für
Fantasy-Romane
auslöste
(Rowling, 1997). Die Buchreihe begleitet Harry
sionalität andenken: Waren im Volksmärchen
die Welten innerhalb des Märchens eindimensional, so setzt die Realität der MerchandiseArtikel die Phantasiewelt des Märchens diese
in eine Eindimensionalität mit der Wirklichkeit
des Lesenden.
Potter von seinem elften Geburtstag bis zum
In Harry Potters Geschichte lassen sich zahl-
Eintritt in die Erwachsenenwelt, jedem seiner
reiche Einzelmotive des Märchens aufspüren.
Lebensjahre einen Band widmend. Harry Pot-
Neben dem Aschenputtelmotiv erinnert Har-
ter wird als Kleinstkind infolge der Ermordung
rys Eintritt in die Zauberwelt an den Weg des
seiner mit Zauberkraft ausgestatteten Eltern
Königssohns in die Welt des Eisenhans. Die
durch den bösen Zauberer Lord Voldemort aus
klare Zuordnung des eindeutig bösen Lord
der Zauberwelt in die reale Welt seiner nicht-
Voldemort als Antagonist der unzweifelhaft
magischen Tante und deren Familie gestoßen
guten Figuren Harry, seiner Freundin Hermine
und weiß daher nichts von seiner Zauberkraft.
und seines Freundes Ron gestaltet die GeSeite 12
ZfPFI
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016
ISSN 2313-4267
DOI 10.15136/2016.3.2.1-15
fühlswelt der Geschichte durchgehend und
tionsfigur anzubieten, sondern in die der Spie-
eindeutig geordnet wie im Volksmärchen.
ler dieser Figur in seiner virtuellen Realisation
Möglicherweise hat dieser letztere Aspekt
dann auch tatsächlich eintritt. Die Eindimen-
nicht unwesentlich zum Erfolg der Geschich-
sionalität im Volksmärchen, in der „[…] der
ten von Harry Potter in einer nach Orientie-
Held jedes Jenseitsreich erwandern“ kann, in
rung suchenden Zeit beigetragen.
der die diesseitige […] neben der jenseitigen
Welt“ steht (Pöge-Alder, 2011, S. 215), wird
7 Märchenhaftes zwischen Hilfestellung zur Lebensbewältigung und
Verführung zur Lebensflucht
durch die spezielle Form der Eindimensionalität des Second-Life-Spiels zum Risiko des Realitätsverlusts durch Realitätsflucht, wenn die
Eindimensionalität nicht das Charakteristikum
Die Anziehungskraft des Wunderbaren, des
eines Märchens ist, sondern die Lebenswelt
Unfassbaren, der Zauberei ist ungebrochen.
charakterisiert. Die Schwelle von der realen
Die aktuelle Erfolgsgeschichte der beiden
Welt in die digitale ist niedrig, aber für ma-
österreichischen Zauberer Thommy Ten und
chen Spieler nur beim Eintritt, nicht bei der
Amelie Van Tass, die soeben eine steile Karrie-
Rückkehr in die reale Welt, wenn diese ohne
re in Hollywood durchlaufen, sind ein Beleg
Zauber ist. Harry Potter muss eine Schwelle
dafür. Der kommerzielle Erfolg der modernen
überschreiten, um in die Welt des Numinosen
Märchen, allen voran die am intensivsten von
zu kommen, und er bleibt dann dort, mit
Magie durchdrungene Geschichte von Harry
wunderbaren Zukunftsaussichten. Als Vorbild
Potter, beleuchtet eine tiefe Sehnsucht der
für den Umgang mit dem selbst zu schreiben-
menschlichen Existenz nach den Wunderba-
den Märchen mit sich selbst als Protagonisten
ren, mit dessen Hilfe die Angst und die Bedro-
in der numinosen Welt des Computerspiels
hung besiegt werden kann, die in der realen
eignet er sich nicht, wenn die Computerspiel-
Welt mit den Mitteln der Wirklichkeit un-
welt die reale Welt verdrängt.
überwindlich erscheint. Das moderne Mär-
Die Handlung im Märchen endet immer in
chen eignet sich daher auch zur Realitäts-
einer realen Welt, in die die Protagonisten
flucht. Eine Kulmination findet die Realitäts-
nach der Bewältigung ihrer Abenteuer zurück-
flucht in der Welt der Computerspiele, die
kehren, mit der guten Aussicht, in dieser rea-
durch die interaktive Gestaltung der eigenen
len Welt glücklich bis an ihr Lebensende zu
Identität in einer selbstgestalteten Phantasie-
leben, und wenn sie nicht gestorben sind,
welt in den „Second Life“-Spielen anbieten,
sogar noch heute. Das wären halt doch auch
„sich ein idealisiertes, virtuelles Alter-Ego und
schöne Aussichten in der Wirklichkeit.
eine idealisierte, virtuelle Welt zu erschaffen“
(Sindelar, 2014, S. 105). Diese virtuelle Welt ist
dann eine Märchenwelt, die sich nicht darauf
beschränkt, einen Protagonisten als IdentifikaSeite 13
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
ZfPFI
3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016
ISSN 2313-4267
DOI 10.15136/2016.3.2.1-15
Literatur
Grimm, Jacob, & Grimm, Wilhelm (1986). Der
Froschkönig oder der Eiserne Heinrich.
Adler, Alfred (1912f). Zur Erziehung der Eltern.
In Carl Helbling (Hrsg.), Kinder- und
In A. Bruder-Bezzel (Hrsg.), Persönlich-
Hausmärchen, gesammelt durch die
keit und neurotische Entwicklung. Frü-
Brüder Grimm (12. Aufl., Bd. 1, S. 21-
he Schriften (1904–1912). Alfred Adler
26). Zürich: Manesse.
Studienausgabe, Bd. 1 (S. 223–236).
Grimm, Jacob, & Grimm, Wilhelm (1987). Der
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Eisenhans. In Carl Helbling (Hrsg.),
2007.
Kinder- und Hausmärchen, gesammelt
Barrie, James Matthew (1904). Peter Pan, or
durch die Brüder Grimm (13. Aufl., Bd.
The Boy Who Wouldn’t Grow Up. Ab-
2, S. 291-303). Zürich: Manesse.
gerufen am 1. 11 2016 von Project Gu-
Gruen, Arno (2000). Der Fremde in uns. Stutt-
tenberg
Australia:
http://www.gutenberg.net.au/ebooks
03/0300081h.html
Bly, Robert (1991). Eisenhans. Ein Buch über
Männer. München: Kindler.
gart: Klett-Cotta.
Gruen, Arno (2003). Die Konsequenzen des
Gehorsams für die Entwicklung von
Identität und Kreativität [DVD]. Müllheim: Auditorium Netzwerk.
Dowling, Colette (1997). Der Cinderella-
Kast, Verena (1993). Märchen als Therapie (1.
Komplex: Die heimliche Angst der
Auflage 1989; 4. Ausg.). München: dtv.
Frauen vor der Unabhängigkeit. Frankfurt am Main: Fischer.
Friedrich, Max H. (2011). Welche Schätze birgt
das Märchen? Das Märchen und seine
Bedeutung im psychosozialen Berufsfeld. Wien: Austria Press.
Grimm, Jacob, & Grimm, Wilhelm (1986).
Aschenputtel. In Carl Helbling (Hrsg.),
Kinder- und Hausmärchen, gesammelt
durch die Brüder Grimm (Bd. 1, S. 172184). Zürich: Manesse.
Grimm, Jacob, & Grimm, Wilhelm (1986). Das
tapfere Schneiderlein. In Carl Helbling
(Hrsg.) Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm (Bd.
1, S. 158-171) . Zürich: Manesse.
Kast, Verena (2000). Familienkonflikte im
Märchen (1. Auflage 1988, 6. Ausg.).
München: dtv.
Kiley, Dan (1984). The Peter Pan Syndrome:
Men who have never grown up. London: Corgi Books.
Lüthi, Max (1989). So leben sie noch heute.
Betrachtungen zum Volksmärchen (1.
Auflage 1969, 3. Ausg.). Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht.
Lüthi, Max (2005). Das europäische Volksmärchen: Form und Wesen: eine literaturwissenschaftliche Darstellung (1. Auflage 1947, 11. Ausg.). Tübingen - Basel: UTB/Francke.
Seite 14
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
ZfPFI
3. Jahrgang/Nummer 2, Dezember 2016
ISSN 2313-4267
DOI 10.15136/2016.3.2.1-15
Lüthi, Max (2008). Es war einmal. Vom Wesen
des
Volksmärchens.
Göttingen:
http://www.deutschestextarchiv.de/u
hland_gedicht_1815/341
Vandenhoeck & Ruprecht.
Pöge-Alder,
Kathrin
(2011).
Märchenfor-
Autorin
schung. Theorien, Methoden, Interpretationen (1. Auflage 2007, 2. Ausg.).
Univ.-Prof.in Dr.in Brigitte Sindelar
Tübingen: Narr Francke Attempto.
[email protected]
Rieken, Bernd (2011). Beispiele aus dem Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften. In Bernd Rieken, Brigitte
Sindelar, & Thomas Stephenson, Psychoanalytische
Individualpsychologie
in Theorie und Praxis. Psychotherapie Pädagogik - Gesellschaft (S. 359-397).
Sigmund Freud PrivatUniverisität Wien
Freudplatz 1, 1020 Wien
Klinische Psychologin
Psychotherapeutin
Lehrtherapeutin im Fachspezifikum Individualpsychologie der SFU
Vizerektorin für Forschung
Wien - New York: Springer.
Rowling, Joanne K. (1997). Harry Potter and
the
Philosopher‘s
Stone.
London:
Bloomsbury.
Rowling, Joanne K. (2007). Harry Potter and
the
Deathly
Hallows.
London:
Bloomsbury.
Seiffge-Krenke, Inge (2009). Psychotherapie
und Entwicklungspsychologie. Beziehungen: Herausforderungen- Ressourcen - Risiken (2. Ausg.). Heidelberg:
Springer.
Sindelar, Brigitte (2014). Kinder und Jugendliche, gefangen im weltweiten Netz.
Zeitschrift für freie psychoanalytische
Forschung und Individualpsychologie
1/1,
S.
97-116.
doi:
10.15136/14.1.1.xx-x5.
Uhland, Ludwig (1815). Gedichte. Des Sängers
Fluch. Abgerufen am 1. 11 2016 von
Deutsches
Textarchiv:
Seite 15