Nachtfalter - Deutsches Schriftstellerforum

Geschrieben am 01.12.2016 von Guy Incognito
im Deutschen Schriftstellerforum
Nachtfalter
Nachtfalter
Auf dem Erdboden glimmt unweit eines mit Ejakulat gefüllten, erkaltenden Kondoms und zertretener
Grashalme eine Zigarette. Das Filternde geschwärzt im Mondschein. Neben einem Grabstein liegen leere
Bierflaschen. Sich entfernende Ausgelassenheit. Gelächter.
Mit einem Seufzer zertrete ich die Kippe, krame eine Plastiktüte aus der Hosentasche und ziehe mir
Handschuhe über. Ein Engel aus Sandstein thront über einer Inschrift und blickt auf mich hinab. Margarete
Keßler, * 23. November 1935 - † 12. April 2009.
»Morgen wird alles vergessen sein und dein Grab, Margarete, wie neu aussehen. Und du, Engel, wer hatte
hier seinen Spaß? Du deinen oder sie ihren?«
Er schweigt.
»Egal. Jedes Lachen vermehrt das Glück auf Erden nur um eine Sekunde, Vergessen um eine weitere
Stunde.«
Die Finger trommeln auf der Armlehne,
auf dem Tisch, auf der Fensterbank,
und nerven.
Die Daumen zwirbeln an ihnen.
Ich betrachte wieder ihr Spiel,
stoppe sie.
Kurz darauf beginnen sie von Neuem,
als wollten sie sich wach halten
oder vorbereiten,
loszustürmen und zu handeln.
»Macht nur.
Es wird euch nichts bringen.
Ich erlaube es euch nicht.«
Sie trommeln und zwirbeln weiter
und ich lasse sie.
Alle Lügen enden hier. In diesem Garten. Im Land der Niemands, zwischen Marmor, Sand, Basalt, Granit,
Bronze. Alle, friedlich vereint, bergen Erinnerungen und Vergessen zugleich. Ihre Namen haben keinerlei
Bedeutung für mich. Für andere schon. Ab und an entdecke ich einen Blumenstrauß, einen Kranz oder eine
brennende Kerze. Diese Momente bewundere ich und frage mich, woran würde sich mein Besucher
erinnern, stünde er vor meinem Stein?
Dann sehe ich die Bindestriche wieder.
Das erste Mal, als ich das Grab meiner Mutter besuchte, Vater an meiner Seite, ich wollte mich aus seiner
Hand losreißen und davonrennen. Er hielt mich mit seiner stoischen Ruhe fest.
»Die Mutter. In den Augen des Kindes ist sie Gott. Sieh hin.«
Ich sah hin. Ein weiß, glitzernder Stein. Ich wollte ihn anfassen. Ich wollte Mutter nahe sein. Das Glitzern kam
bestimmt von ihr und sie freute sich, mich zu sehen. Irgendwelche Zeichen und Zahlen als Inschrift fielen
mir auf, vor allem aber faszinierte mich dieser kurze, glitzernde Strich, der wie ein Fingerzeig in meine
Richtung wies und »Du« zu sagen schien.
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Geschrieben am 01.12.2016 von Guy Incognito
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Damals als Vierjähriger wusste ich es nicht. Marmore, unter hohem Druck und hohen Temperaturen aus
umgewandelten dolomitischen Sedimenten und Kalksteinen entstanden, kommen in verschiedenen Farben
vor und der Grabstein meiner Mutter ist ein kleinstkörniger, weißer Marmor. In den Spaltflächen befinden sich
Kalkspatminerale. Je nach Lichteinfall glitzern sie.
Mein Vater hatte mir danach eine Schwarz-Weiß-Fotografie mit meiner Mutter gegeben. Sie als junges
Mädchen, sitzend, nicht in die Kamera blickend. Ich trug das Foto bei mir, obwohl mir die junge Frau fremd
war. Meine Tante meinte, ich hätte ihre Augen. Aber das ist nicht wahr, ich habe niemandes Augen. Es ist
eine Lüge.
Das linke Bein zittert,
bald das rechte auch,
und sie nerven.
Ich betrachte wieder ihr Spiel,
stoppe sie.
Kurz darauf beginnen beide von Neuem,
als wollten sie aufstehen
oder den Raum verlassen,
irgendwo hin.
»Macht nur.
Es wird euch nichts bringen.
Ich erlaube es auch euch nicht.«
Sie zittern weiter
und ich lasse sie.
Während meiner Tour treffe ich auf den alten Seyfried. Er hebt wieder ein Grab aus, ist in sich gekehrt und
pfeift eine längst vergessene Melodie. Kiesel und aufgeweichte Erde rieseln ins Loch hinab, das Blatt des
Spatens taucht in die Erde und belädt einen Schubkarren. Die Quintessenz des Lebens.
Plötzlich hält Seyfried inne und blickt in meine Richtung. Er lächelt. Im Mondschein und der entfernt stehenden
Laterne zeichnen sich um seine Lippen faulige Vorderzähne und Zahnlücken ab.
»Ist es wieder so weit? Verlässt ein Gast das Paradies?«, frage ich.
»Wie immer, nach zwanzig Jahren«, nuschelt er und fragt im Gegenzug: »Weißt du, an wen du mich
erinnerst?«
»An Sartre, nur in hässlich.«
»Woher weißt du das?«
»Weil du den gleichen Witz immer wieder erzählst.« Ich deute an weiterzugehen.
»Warte!«, brüllt er. »Wie läuft es mit deiner Schreiberei, du weißt schon, deiner unendlichen Geschichte?« Er
schlägt sich so dann laut lachend auf den Oberschenkel und schüttelt den Kopf.
»Du Tattergreis weißt ja: Nicht das Ziel ist der Weg, sondern der Weg ist das Ziel.«
Er verstummt und setzt sein Graben fort.
Die Augen wandern umher,
blicken aus dem Fenster,
aufs Telefon, auf die Eingangstür,
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Geschrieben am 01.12.2016 von Guy Incognito
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und nerven.
Ich betrachte wieder mit,
starre gerade aus.
Kurz darauf beginnen sie von Neuem,
als wollten sie mir aus den Höhlen springen
oder fliehen.
»Macht nur.
Es wird euch nichts bringen.
Ich erlaube es euch nicht.«
Sie wandern weiter umher
und ich lasse sie.
An besonderen Nächten wie diesen bleibe ich vor einem Stein stehen und rede mir ein, der Zufall oder
meine Verfassung hätten entschieden. Basalt ist ein schwarzer, feinkörniger, druckfester Stein. Einst
dünnflüssiges Magma erkaltete es zu Basaltlava, das Gestein mit der größten Verbreitung. Sogar auf dem
Merkur, der Venus, dem Mars und dem Mond häufig vorzufinden. An der Inschrift dieses Steines komme ich
wie an allen anderen jede Nacht vorbei: Benjamin Rötter, * 15. Februar 1993 - † 8. Januar 1997. Der
Bindestrich. Genauso lang wie bei allen anderen. Und doch völlig anders.
Ich greife in die Jackeninnentasche und hole ein aktuelles Gedicht hervor. Strophe um Strophe betrachtend,
erinnere ich mich an den gestrigen Traum ...
… von einem Buch, welches ich schützend an meine Brust gepresst hielt und in einer mir fremden,
asphaltierten Straße rannte, die in eine gepflasterte Gasse führte, deren Ende sich verzweigte. Hinter mir
spürte ich Verfolger, deren Schritte in der Straße hallten.
Plötzlich umgab mich dichter Nebel. Ich stolperte, stürzte, das Buch entglitt mir und war fort. Lauter
werdendes Getrappel hämmerte sich durch meine Gehörgänge. Panisch und blind tastete ich den Boden ab,
fächerte mit den Händen, zerstob den Nebel und da, das Buch, aufgeschlagen neben mich liegend, leere,
kostbare Seiten, griff ich danach, richtete mich auf, wurde am Kragen gepackt und mir das Buch entrissen.
Nachts liege ich im Bett
und sage ihnen:
»Jetzt, jetzt entlasse ich euch.
Ihr seid frei.
Macht, was immer ihr wollt.«
Kein Finger, keine Hand,
kein Zeh, Knie oder Bein
rührt sich,
nicht einmal die Augen,
sie bleiben von den Lidern zugedeckt.
Wie immer.
»Sagte ich es euch nicht?«
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Alle Lügen enden an diesem Ort ...
… wie von einem Windstoß erfasste Flugschirme des reifen Löwenzahns, lösen sich Funken, wirbeln, verglimmen
...
... und ich blicke für einen Moment auf meine Wahrheit.
Gäbe es eine Inschrift, stünde:
Weiterhin tot, danke fürs Vorbeischauen. 21. November 2016 - 1. Dezember 2016.
Lesen Sie hier die komplette Diskussion zu diesem Text (PDF).
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