KULTUR REGIONAL — NR. 275 FREITAG, 25. NOVEMBER 2016 Heimat, wo ist das? K U LTUR -M AGAZI N Die Deutsch-Iranerin Shida Bazyar erzählt in „Nachts ist es leise in Teheran“ vom Schicksal einer Flüchtlingsfamilie – Lesung in Neustadt VON GERHILD WISSMANN NEUSTADT. Flucht, Exil, Heimat in der Fremde – in ihrem hochaktuellen Debütroman „Nachts ist es leise in Teheran“ erzählt die deutsch-iranische Autorin Shida Bazyar eine spannende, autobiografisch grundierte Familiengeschichte, die ihren Anfang 1979 in Teheran nimmt und den Bogen bis in die deutsche Gegenwart spannt. Auf Einladung des „Literarischen Forums“ stellt die 28Jährige ihr Buch am kommenden Mittwoch in der Neustadter Stadtbücherei vor. Auf vier verschiedenen Zeitebenen schildert die Autorin aus der Perspektive von vier Ich-Erzählern die Geschichte einer iranischen Familie zwischen den Jahren 1979 und 2009. Bezieht man den Epilog mit ein, so erweitert sich die Handlung um eine „Nachts ist es leise in Teheran“ schreibt die Geschichte einer iranischen Familie, die nach der Machtergreifung der Ajatollahs im Jahr 1979 nach Deutschland flieht, aus wechselnden Perspektiven bis in die Gegenwart fort. FOTO: AFP Shida Bazyar weitere Ich-Erzählerin. Beherrschende Themen sind die Entwicklung der politischen Situation im Iran und die schwierige Integration im deutschen Exil. Im ersten Kapitel kämpft der 27jährige Behsad Hedayat nach dem Sturz des Schahs als Mitglied einer kommunistischen Bewegung für eine Art iranisches Kuba. Nach der Machtergreifung von Ajatollah Khomeini werden die Kommunisten jedoch so erbittert verfolgt, dass Behsad und seine Genossen in den Untergrund gehen. Als das religiös verbrämte Terrorregime das Leben immer schwieriger macht, flieht er 1987 mit seiner Frau Nahid und den beiden Kindern Laleh und Morad auf Umwegen in die Bundesrepublik Stehen in diesem ersten, von Behsad erzählten Kapitel die brisanten politischen Ereignisse im Vordergrund, so rückt die Autorin im folgenden Teil das Geschehen im Exil aus der weiblichen Perspektive von Nahid in den Fokus: Ihr Leben in der Fremde, wo die Hoffnung auf Heimkehr die Integration erschwert, Melancholie und Existenzängste bestimmen den All- Pfälzer Gebabbel tag, der mitunter durch kleine Freuden wie der Geburtstagsfeier für ihre Tochter Laleh mit deutschen Freundinnen aufgehellt wird. Wiederum zehn Jahre später, 1999, ist diese die Protagonistin des dritten Kapitels. Sie scheint integriert zu sein, hat in der zehnten Klasse das beste Zeugnis, spricht jedoch genau wie ihre Eltern nicht über ihre Zeit im Iran, an die sie sich mitunter sehnsuchtsvoll erinnert. Bis eine Reise in die alte Heimat mit ihrer Mutter und der in Deutschland geborenen Schwester Tara eine hochemotionale Wiederbegegnung bringt. Die Großfamilie bereitet den drei „exotischen Ausländern“ einen begeisterten Empfang und feiert Lalehs Vater, der mit seinem Sohn nicht in das Land zurückkehrte, in dem seine Genosse umgebracht wurden, als Märtyrer und Held. Gegen Ende ihres Aufenthaltes hat das Mädchen allerdings Mitleid vor allem mit den Frauen, die in ihrem Leben keine eigenen Entscheidungen treffen können. Ihr überraschendes Fazit: Das richtige Leben für sie ist in Deutschland. Hier ist ihr Bruder Mo, Ich-Erzähler des vierten Kapitels, im Jahr 2009 anscheinend voll integriert. Student mit Nullbock, der ganz anders als Laleh, die mit einem Einser-Diplom eine steile Karriere als Architektin vorlegt, politisch in die Fußstapfen seiner El- tern tritt. Er geht zu linken Demos und verfolgt die Bilder von der „Grünen Revolution“ in Teheran umso gespannter, weil seine Eltern nicht daran teilnehmen können. Fast grotesk: Während die grünen Demonstranten im Iran unter Lebensgefahr gegen den verhassten Präsidenten Ahmadinedschad auf die Straße gehen, protestiert er mit seinen Kommilitonen gegen Studiengebühren. Eine überraschende politische Wendung zeichnet sich dann im Epilog der jüngsten Tochter Tara ab. Gibt es doch noch eine Chance für die Eltern, in ihre alte Heimat zurückzukehren? „Nachts ist es leise in Teheran“ ist ein dichter, vielschichtiger und vielstimmiger Roman mit Sprüngen und Rückblenden, in dem sich die Zusammenhänge erst allmählich erschließen. Obwohl Bazyar, die 1988 als Tochter iranischer Eltern in Hermeskeil im Hunsrück geboren wurde, hier nicht die Geschichte ihrer eigenen Familie erzählt, ist ihr ein eindrückliches Buch über Emigration und die schwierigen Phasen der Integration gelungen, das beispielhaft für die Leistungen einer jungen Generation deutscher Autoren mit Migrationshintergrund steht. Für das Buch wurde Bazyar, die in Hildesheim literarisches Schreiben studierte und als Bildungsreferentin und freie Autorin in Berlin lebt, am letzten Samstag mit dem mit 10.000 Euro dotierten UllaHahn-Autorenpreis der Stadt Monheim am Rhein ausgezeichnet. „Dieser Roman erzählt uns eine große Geschichte, die sich aus vier Kapiteln schlüssig fügt – und mit seinem Epilog eine bemerkenswerte Pointe setzt“, hieß es in der Laudatio. TERMIN Shida Bazyar liest am Mittwoch, 30. November, um 20 Uhr in der Neustadter Stadtbücherei aus „Nachts ist es leise in Teheran“ (Kiepenheuer & Witsch, gebunden, 284 Seiten, 19,99 Euro). Karten (8/6 Euro) in der Bücherei. |Foto: gern Kabarett mit Jess Jochimsen im Schloss NEUSTADT-HAMBACH. Mit seinem Jahresendzeitprogramm „Vier Kerzen für ein Halleluja“ kommt der Kabarettist und Autor Jess Jochimsen am kommenden Donnerstag, 1. Dezember, um 20 Uhr ins Hambacher Schloss. Der Wahl-Freiburger, bekannt unter anderem durch zahlrei- Jess Jochimsen che Fernsehauftritte etwa beim „Scheibenwischer“ oder im „Quatsch Comedy Club“, ist seit 1995 mit SoloProgrammen unterwegs. In „Vier Kerzen für ein Halleluja“ widmet er sich einem wehmütigen Rückblick auf das abgelaufene Jahr, „aber auch brandneuen Liedern, notwendigen Wutausbrüche und schlimmen Dias von Bahnhöfen und anderen unterirdischen Sehenswürdigkeiten“. Karten (19,50/17,50 Euro) unter 06321/ 926290, [email protected] oder bei Tabak Weiss. |hpö/Foto: frei Benefizkonzerte für „Nadija“ ESTHAL/NEUSTADT. Wie schon seit vielen Jahren kommen auch 2016 wieder Solisten des ukrainischen Nationalchores zu Benefizkonzerten für das Behindertenzentrum „NadijaDzherelo“ in Lviv (Lemberg) nach Esthal und Neustadt. Im Kloster St. Maria in Esthal singen sie am Dienstag, 29. November, um 19 Uhr, in der Heim’schen Sektkellerei in Neustadt am Mittwoch, 30. November – dieses Konzert ist allerdings schon ausgebucht. Der Eintritt ist frei. |hpö Kino soll verbinden Dietmar Hoos legt Poster und Postkarten in Mundart vor Roxy-Kino startet Filmreihe für junge Flüchtlinge MECKENHEIM/KASSEL. Als Pfälzer in der Diaspora, der sich in der Fremde auf „soi Mudderschbrooch“ besonnen hat – so charakterisiert sich Dietmar Hoos selbst. Der gebürtige Meckenheimer lebt seit 2009 in Kassel und hat ausgerechnet dort einen Verleger für Postkarten und Poster in Pfälzer Mundart gefunden. Hoos ist von Haus aus promovierter Biologe, hatte aber auch über viele Jahre in Neustadt eine Werbeagentur, die unter anderem Tourismus-Prospekte für die Tourist, Kongress und Saalbau GmbH (TKS) verlegte. Vor sieben Jahren dann zog es ihn „der Liebe wegen“ ins Nordhessische, wo er seitdem als freier Autor und Wanderführer tätig ist. Anfang des Jahres erschien von ihm der Führer „111 Orte in Kassel, die man gesehen haben muss“ im Emons-Verlag – und dieses Buch öffnete ihm letztlich den Zugang zu dem Dialekt-Projekt. Denn bei einer Lesung im April in einer Kassler Buchhandlung kam er mit dem Kleinverleger Jörg Robbert in Kontakt, der in seinem Verlag „Kasseler Perspektiven“ bereits seit längerem eine sehr erfolgreiche Reihe mit Postkarten und Postern in nordhessischer Mundart laufen hat. Mit dem „Pälzischen Gebabbel“ knüpft Hoos nun in der Aufmachung an diese Serie an. Zurückgreifen kann er dabei auf die sprachlichen Urerfahrungen seiner eigenen Kindheit, denn der 57Jährige stammt aus einer alteingesessenen Bauernfamilie aus Meckenheim. „Hochdeutsch war meine erste Fremdsprache“, sagt er. Auf den Karten und Postern versammelt Hoos rund 100 lautmalerisch wiedergegebene pfälzische und kurpfälzische Standardbegriffe wie „Allaa!“, „Jesses nää“ oder „Bess emol uff“. Doch er „vergliggert“ auch alte, fast ausgestorbene Worte wie „Noochgschwischderkinner“, „Boddschamber“ oder „Borzelbock“. Wenn man da nicht ganz „heggewelsch“ wird? Falls das Projekt ein Erfolg wird, soll es fortgesetzt werden. Eine Vorlage mit Pfälzer Schimpfworten, sei schon in Planung, so Hoos. Ein weiteres Projekt mit kulinarischen Begriffen – sehr wichtig in der lebensfrohen Pfalz! – ist angedacht. NEUSTADT. Im Neustadter Roxy-Kino startet am kommenden Montag das Projekt „Kino verbindet – Kultur macht stark“, bei dem künftig einmal im Monat eine moderierte Kinoveranstaltung speziell für junge Flüchtlinge angeboten werden soll, die aber auch dem einheimische Publikum offen steht. Das Projekt ist eine Gemeinschaftsaktion des Roxy-Kinos mit dem Christlichen Jugenddorf in Neustadt und wird aus dem Programm „Kultur macht stark“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unterstützt. Federführend ist die Arbeitsgemeinschaft Kino-Gilde in Berlin, ein Verband, in dem über 300 unabhängige Filmkunst- und Programmkinos in ganz Deutschland zusammengeschlossen sind. Zum Start der Reihe am Montag ist ANZEIGE „Tschick“ zu sehen, Fatih Akins Verfilmung des gleichnamigen Romans von Wolfgang Herrndorf über zwei jugendliche Außenseiter aus Berlin, die sich in den Sommerferien in einem gestohlenen Auto auf den Weg Richtung Osten machen. Beim zweiten Termin der Reihe, der am 13. Dezember ansteht, sollten die Besucher dann selbst unter mehreren Angeboten auswählen können, welchen Film sie sehen wollen, sagt Kino-Chef Michael Kaltenegger. Die Vorstellungen starten jeweils mit einer kurzen Einführung durch den Kölner Schauspieler und MedienPädagogen Christoph Bautz, die auch in Arabisch und Dari übersetzt wird. Nach dem Film gibt es für alle Teilnehmer die Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen, wobei Sprachvermittler für Arabisch, Dari, Deutsch und Englisch helfen sollen. Nach Kal- Die neue Reihe startet am Montag mit dem Film „Tschick“. teneggers Worten sind alle relevanten Kommunikatoren über das Projekt informiert worden und hätten ihre Unterstützung zugesagt, so dass er auf regen Zuspruch hoffe. Auch einige Schul-AGs hätten ihr Kommen angekündigt. FOTO: STUDIOCANAL TERMIN Die Reihe „Kino verbindet“ startet in Neustadt am Montag, 28. November, um 17 Uhr im Roxy-Kino. Der Eintritt beträgt 7 Euro, für Schüler, Studenten und Senioren 6 Euro. Für Flüchtlinge wird der Eintritt von „Kultur macht stark“ übernommen. |hpö ANZEIGE NOCH FRAGEN? Das Poster im Format 50 x 70 Zentimeter kostet 9,95 Euro, die Postkarte 1 Euro. Beides ist im Neustadter Buchhandel erhältlich oder online unter www.kasseler-perspektiven.de. |hpö Dietmar Hoos lebt seit 2009 in Kassel – ausgerechnet dort kam er auf die Idee, Pfälzer Dialektbegriffe auf einem Poster zu versammeln. FOTO: LM 9269131_10_1 neu_hp15_lk-kult.01
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