Erfolge – und Herausforderungen

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WELTAIDSTAG 2016
Erfolge – und Herausforderungen
Vera Zylka-Menhorn
ie Möglichkeiten zur Verhinderung und Behandlung der HIV-Infektion waren niemals größer als
heute. „Inzwischen ist es grundsätzlich möglich, Menschen mit HIV abhängig von ihren Lebensumständen
und ihrem Lebensalter zielgerichtet zu helfen“, sagte
Exekutivdirektor Michel Sidibé kürzlich bei der Vorstellung des Jahresberichts von UNAIDS. Danach waren 2015 weltweit 36,7 Millionen Menschen Träger des
Immundefizienzvirus – eine hohe Zahl. Aber es gibt
Lichtblicke: 18,2 Millionen haben inzwischen Zugang
zu antiretroviralen Therapien (ART). Die Ausweitung
der ART habe zur Folge, dass immer mehr HIV-Infizierte ein höheres Lebensalter erreichen, führte Sidibé
fort. So seien letztes Jahr 5,8 Millionen Betroffene bereits älter als 50 Jahre.
Darunter sind auch viele deutsche Patienten; denn
hierzulande entspricht die Lebenserwartung der HIVInfizierten mittlerweile der der nichtinfizierten Bevölkerung. Vor zwei Jahrzehnten hätten viele Wissenschaftler (und Politiker) eine derartige Entwicklung
nicht für möglich gehalten. Heute kennt man den Erreger bis ins letzte Detail, da weltweit – kommerziell und
staatlich – mit Hochdruck geforscht wurde. Doch was
wie eine „routiniert inszenierte Forschungsstory anmutet, hatte Züge eines Dramas – mit Irrtümern und Siegen, Helden und Verlierern“, wie Brandeins (Ausgabe
10/2016) resumiert. HIV hat Millionen Menschenleben
gefordert und Kinder zu Waisen gemacht. Und die HIVInfektion ist immer noch die häufigste Todesursache
der Teenager in Afrika. Sowohl die Wissenschaft als
auch die Politik müssen darauf noch Antworten finden.
UNAIDS hat die weiteren Ziele zur Eindämmung der
Epidemie klar gesteckt: Bis 2020 will man so vielen
Menschen Zugang zur ART verschaffen, dass HIV bis
2030 keine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit mehr
darstellen wird. Unter dem Motto „90–90–90“ sollen
dann 90 Prozent aller HIV-Infizierten über ihre Infektion
Bescheid wissen, 90 Prozent davon mit ART therapiert
werden, so dass HIV bei 90 Prozent der Behandelten unter der Nachweisgrenze liegt. Um dieses Ziel zu errei-
D
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 48 | 2. Dezember 2016
chen, bedarf es finanzieller Ressourcen, politischen Willens und funktionierender Gesundheitssysteme; hier bestehen in vielen Ländern nach wie vor Defizite.
In Industrienationen ist die Diagnose kein Todesurteil mehr. Menschen mit HIV können arbeiten, Sport
treiben, reisen und dank der Medikation sogar gesunde
Kinder zeugen. Angesichts dieser „Normalität“ besteht
nunmehr die Gefahr, dass sich eine gewisse Sorglosigkeit breit macht. Laut Umfragen gehörte Aids 1987 für
67 Prozent der Deutschen zu den gefährlichsten Krankheiten, 2014 teilten nur noch 8 Prozent diese Einschätzung. Das Bewusstsein über die Möglichkeiten einer effektiven ART und – neuerdings – einer medikamentösen
Präexpositionsprophylaxe (PrEP) erhöhen die Bereitschaft für sexuelle Risikokontakte erheblich: Die Zahlen über Infektionen mit Chlamydien, N. gonorrhoeae,
Trichomonaden, Mykoplasmen oder Hepatitis C steigen
kontinuierlich; die Syphilis-Inzidenz sich hat innerhalb
einer Dekade sogar vervierfacht. Mit rund 3 200 HIVNeuinfektionen pro Jahr ist Deutschland seit einiger
Zeit auf stabilem Niveau. Damit dies so bleibt, steht die
Präventionsarbeit vor neuen Herausforderungen. Das
Robert Koch-Institut bittet daher vor allem die niedergelassenen Ärzte, offensiver Tests auf HIV und andere
sexuell übertragbare Infektionen anzubieten – beispielsweise im Rahmen regelmäßiger STI/STD-Beratungen.
Dr. med. Vera Zylka-Menhorn
Ressortleiterin Medizinreport
A 2177