SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER Zeitschrift für Sportpsychologie, 11/4, © 2004 by Hogrefe Verlag DOI 10.1026/1612-5010.11.4.127 Diese Artikelfassung entspricht nicht vollständig dem in der Zeitschrift veröffentlichten Artikel. Dies ist nicht die Originalversion des Artikels und kann daher nicht zur Zitierung herangezogen werden. Kolumnentitel: SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER Regelanwendung und Game-Management. Qualifizierende Merkmale von Schiedsrichtern in Sportspielen. Ralf Brand Universität Stuttgart Wolfgang Neß Universität Kassel Manuskript zur Veröffentlichung akzeptiert in der Zeitschrift für Sportpsychologie (Heft 4-2004) 1 SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 2 Zusammenfassung In der sportpsychologischen Forschung besteht Uneinigkeit darüber, wie die Aufgabe von Schiedsrichtern im Sport angemessen zu beschreiben sei. Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass Schiedsrichter als Game-Manager und nicht als bloße Instanzen der Regelverwaltung betrachtet werden müssen. Hierzu werden die Daten von 163 Schiedsrichtern herangezogen, darunter sämtliche Spielleiter der 1. Bundesliga Basketball, Handball und Eishockey. In weiteren explorativen Analysen zeigt sich, dass Bundesligaschiedsrichter häufiger als niedrigklassig agierende Schiedsrichter hoch qualifizierten Berufstätigkeiten nachgehen, und dass die berufsbezogene Leistungs- und Führungsmotivation von Bundesligaschiedsrichtern höher als die anderer Schiedsrichter ist. Es wird argumentiert, dass sich diese qualifizierenden Personeneigenschaften gleichermaßen im Leistungsumfeld Beruf, wie auch im Leistungsumfeld Spielleitung günstig auswirken. Die erhaltenen Ergebnisse zum Schiedsrichter als Spielleiter sind insbesondere im Hinblick auf zukünftige sportpsychologische Analysen von Schiedsrichterentscheidungen bedeutsam. Schlüsselwörter: Schiedsrichter im Sport, Game Management, berufliche Entwicklung, Motivation SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 3 Abstract Sport psychologists disagree about how the role and the function of referees in sport should be described adequately. The present investigation shows that referees are to be considered as game managers and not as bare authorities of rule administration. Therefore the data of 163 referees is analyzed; among them the whole group of Germany’s first league basketball, handball and hockey referees. Exploratory analyses indicate that first league referees, compared to other referees, occupy more often a professional or managerial position in everyday life, and that they achieve higher scores in job-related achievement motivation and leadership. It is argued, that these motivational qualities have advantageous effects on both, their professional careers as well as their success in managing sport games. Results are considered to be important especially with regard to future sport-psychological analysis of referee’s decisions. Key-words: referees in sport, game-management, career development, motivation SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 4 Regelanwendung und Game-Management. Qualifizierende Merkmale von Schiedsrichtern in Sportspielen. In der Öffentlichkeit wird Schiedsrichtern meist nur dann größere Aufmerksamkeit zuteil, wenn sie Fehler begehen. Dies liegt aber gewissermaßen in der „Natur der Sache“ und braucht nicht weiter diskutiert zu werden (Heisterkamp, 1978; Brand, 2002a). Aus diesem Blickwinkel heraus ist es also gar nicht einmal so verwunderlich, dass sportpsychologische Forschung bisher fast ausschließlich auf die Analyse von leistungsbeeinträchtigenden Bedingungen der Schiedsrichtertätigkeit konzentriert blieb. Inhaltliche Schwerpunkte bildeten Fragestellungen zur Stress- und Stressbewältigung (zusammenfassend in Brand, 2002a) sowie solche zum Urteilen und Entscheiden von Schiedsrichtern (zusammenfassend in Plessner & Raab, 1999). Demgegenüber blieb die wissenschaftliche Analyse möglicher qualifizierender Merkmale im Hintertreffen. Ausnahmen stellen einige Arbeiten aus der Expertise-Forschung dar (z. B. Ste-Marie, 1999, 2000), sowie eine einzelne Arbeit zur SelbstPräsentation von Schiedsrichtern nach kritischen Entscheidungen (Brand, 2002b). Das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es, zu einer Perspektivenerweiterung anzuregen, die das Rollenverständnis über Schiedsrichter im Sport weiterentwickeln soll. Demnach halten wir es für nicht ausreichend, gelungene Schiedsrichterleistungen ausschließlich über das NichtVorhandensein von Urteils- und Entscheidungsfehlern zu definieren (vgl. Emrich & Papathanassiou, 2003). Wir argumentieren, dass darüber hinaus qualifizierende Merkmale von Belang sind, die Schiedsrichter zum Beispiel dazu in die Lage versetzen, trotz möglicherweise falsch entschiedener Einzelsituationen, Spiele sicher „im Griff“ im zu halten und diese souverän zu leiten. Theoretische und konzeptionelle Anknüpfungspunkte Zur weiteren Argumentation bedienen wir uns zweier Anknüpfungspunkte: Die Bestimmung der Aufgaben und damit auch der zur Aufgabenbewältigung notwendigen SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 5 Kompetenzen von Schiedsrichtern ergibt sich maßgeblich aus dem konkreten Kontext des Sports bzw. des Wettkampfsports. Dieser Komplex wird im Abschnitt Regeltext und Schiedsrichterentscheidung zunächst ausführlich erörtert. Im Journal of Sport and Exercise Psychology wurde jüngst eine Kontroverse ausgetragen, die ihren Ausgangspunkt u. E. vor allem in verschiedenen Auffassungen über die Aufgaben von Schiedsrichtern im Sport nimmt (Plessner & Betsch, 2001, 2002; Mascarenhas, Collins & Mortimer, 2002). Auf diese wird im Abschnitt Game-Management oder Fehlentscheidung eingegangen. Auf diese sportspezifischen Überlegungen folgt im Abschnitt Qualifizierende Eigenschaften, Spielleiterqualitäten und Beruf eine allgemeinere Argumentation, die auf der Feststellung einer Analogie der Situationen von Schiedsrichtern im Sport und der von Führungskräften im Berufsleben beruht. Sie bildet den Kernansatzpunkt unserer empirischen Untersuchungen. Regeltext und Schiedsrichterentscheidung Grundsätzlich wird das Phänomen Sport erst über seine Regelwerke gegenüber anderen gesellschaftlichen Wirklichkeitsbereichen unterscheidbar. Regeln „konstitutieren den Sport, sie regulieren das sportliche Handeln, sie setzen fest, was unterlassen werden muss bzw. was ausgeführt werden darf. Dabei erheben sie den Anspruch auf soziale Verbindlichkeit“ (Digel, 1982, S. 44). Die primäre Aufgabe des Schiedsrichters wird aus dieser Grundsituation heraus definiert. Schiedsrichter wachen als unparteiische Instanz über die Einhaltung der Regeln durch die Spielparteien und sanktionieren Regelverletzungen (vgl. Röthig, 1992). Das resultierende Bild vom „Schiedsrichter als Regelüberwacher und durchsetzer“ (Emrich & Papathanassiou, 2003, S. 6) ist Ausgangspunkt der meisten sportpsychologischen Untersuchungen zum Thema Schiedsrichter (Plessner & Raab, 1999, für einen Überblick). Unserer Überzeugung nach, die einerseits auf Beobachtungen in der Schiedsrichterpraxis beruht und andererseits an theoretische Überlegungen anknüpft, stellt SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 6 eine solche Rollenbeschreibung allerdings eine definitorisch unangemessene Verkürzung der Aufgaben von Schiedsrichtern im Sportspiel dar. Demgegenüber vertreten wir eine weitergehende Auffassung: Schiedsrichter im Sport sollen (1) regelbasierte Entscheidungen treffen, die (2) von einer sinngerechten Auslegung des Regelsystems zeugen und (3) das Sportspiel unter gegebenen Kontextbedingungen spielbar machen (Brand, 2002a). (1) Regelbasierte Entscheidungen. Selbstverständlich stellt das Regelwerk die wesentliche, nicht aber die alleinige Grundlage von Schiedsrichterentscheidungen dar. Für einen Schiedsrichter kann es nicht darum gehen, „jedes kleine Vergehen entsprechend der Regeln zu ahnden (…). Man stelle sich hier einen Schiedsrichter vor, der exakt die Entfernung der Mauer zum Freistoßschützen mit dem Zollstock mäße“ (Emrich & Papathanassiou, 2003, S.12). Schiedsrichter müssen vielmehr in schnell zu entscheidender Interpretation Spielregeln in einer Grundsatzabwägung zwischen Geltungsanspruch und Erhaltung des Spielflusses auslegen (vgl. Heisterkamp, 1977). (2) Sinngerechte Auslegung des Regelsystems. Die Auslegefähigkeit einiger Regeln im Sport spiegelt sich wider in einer (empirisch fundierten) Unterscheidung von drei Typen von Schiedsrichterentscheidungen bzw. -pfiffen (Snyder & Purdy, 1987). Demnach gibt es, erstens, klare Entscheidungen, die von den Schiedsrichtern getroffen werden müssen und die eindeutig durch das kodifizierte Regelwerk gestützt sind (z. B. im Handball: der Verteidiger greift in den Arm des Werfers und verhindert so einen Torwurf; Typ-1-Entscheidung). Zweitens kommen aber auch Regelverletzungen vor, in denen eine Entscheidung getroffen werden kann, aber nicht getroffen werden muss (z. B. schreibt es der Basketballregeltext dem Schiedsrichter explizit vor, bei der Beurteilung von Kontakten, an resultierenden Vorteilsoder Nachteilssituationen abzuwägen; DBB, 2000, Art. 43.1.2; Typ-2-Entscheidung). Drittens kann es zu Situationen kommen, in denen einfach etwas gepfiffen werden muss („The third type of competence call involves situations in which something needs to be called; Snyder & SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 7 Purdy, 1987, S. 397). So zum Beispiel, wenn sich nach einem Foul im Fußball eine harmlose Rangelei zwischen Angreifer und Verteidiger „aufzuschaukeln“ droht und der Schiedsrichter beide Spieler mit einer gelben Karte belegt, obwohl das Handgemenge vielleicht nur von einem der beiden Spieler ausging (Typ-3-Entscheidung). Während Entscheidungen vom Typ1 nur in absoluten Ausnahmefällen auslegefähig sein dürften, bieten die Regelwerke der Sportarten als Entscheidungsgrundlage zu Typ-2 und Typ-3 Entscheidungen weite „Graubereiche“. Solche Schiedsrichterentscheidungen beziehen sich lediglich dem Sinn bzw. der Intention der Regelbildung nach auf das kodifizierte Regelwerk. (3) Das Spiel gestalten, ein Spiel spielbar machen. Zwei Bezugsebenen sind hierbei wichtig. Auf sportspiel-immanenter Ebene kommt jedem Pfiff des Schiedsrichters doppelte Bedeutung zu. Schiedsrichterentscheidungen beinhalten stets einen retrospektiven Bedeutungsaspekt (etwa „Die abgepfiffene Aktion war regelwidrig.“), genauso wie einen prospektiven Bedeutungsaspekt (etwa „Vergleichbare Aktionen sind zukünftig ebenfalls zu unterlassen“). Hieraus ergibt sich eine nicht zu unterschätzende Gestaltungsmöglichkeit, aber auch eine Gestaltungspflicht des Schiedsrichters (am deutlichsten im Kontext der Beurteilung von Foulsituationen). Zweitens gilt auf kontextueller Ebene der Inszenierung von Sportspielen zum Beispiel für den von wirtschaftlichen Motiven durchdrungenen Spitzensport, dass die für einen Verein „erfolgreiche“ Durchführung eines Spiels von Sieg oder Niederlage im sportlichen Wettkampf weitgehend entkoppelt sein kann. Wenn Bundesligaspiele spannend und ergebnisoffen sein sollen, vor allem aber dramatisch und medienwirksam sein müssen, können auch sportliche Niederlagen als erfolgreich bewertet werden, solange den (Eintritt bezahlenden) Zuschauern ein attraktives und spektakuläres Spiel geboten werden konnte. Schiedsrichter tragen mit ihren Entscheidungen wesentlich zur Inszenierung von Sportveranstaltungen bei. Das geflügelte (Un-)Wort der „gesunden internationalen Härte“ eignet sich dabei hervorragend zur schnellen Illustration dieses SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 8 Sachverhalts. Fußball-Fans erscheint es unmittelbar einleuchtend, dass vergleichbare Tacklings von Abwehrspielern in einem A-Jugend-Spiel anders als in der Champions-League beurteilt werden müssen. In der Praxis richten Schiedsrichter ihre Entscheidungen am Kontext der Inszenierung aus und berücksichtigen damit vor allem die Erwartungshaltungen von Spielern und veranstaltenden Organisationen, aber auch (indirekt und nicht in gleichem Ausmaß) die des Publikums. Bereits unter diesen Gesichtspunkten wandelt sich die Auffassung vom Schiedsrichter als Regelverwalter zum Schiedsrichter als Spielleiter, der unter gewissen Bedingungen vom bloßen Anspruch der strikten Regeldurchsetzung zurücktreten muss. Die Aufgabe von Schiedsrichtern (nicht nur im Spitzensport) besteht demzufolge darin, die sich im Spielprozess entwickelnden Situationen und Interaktionen zwischen den Spielparteien so zu gestalten, dass das Spiel für diese spielbar wird (vgl. Digel, 1987, für die ermöglichende Funktion von Regeln im Sport). Game-Management oder Fehlentscheidung Ausgangspunkt einer im Journal of Sport and Exercise Psychology zwischen Mascarenhas et al. (2002) und Plessner und Betsch (2001, 2002) ausgetragenen Kontroverse ist eine Laboruntersuchung mit Fußballschiedsrichtern. Plessner und Betsch (2001) zeigen unter Verwendung von manipuliertem Videomaterial, dass die Wahrscheinlichkeit auf Strafstoß für Mannschaft A zu entscheiden steigt, wenn vorher bereits ein Strafstoß für Mannschaft B vergeben wurde. Sie erbringen mit diesem (und zwei weiteren) Ergebnissen einen experimentellen Beleg dafür, dass Urteile von Schiedsrichtern nicht objektiv und ausschließlich auf die aktuell zu beurteilende Situation bezogen sind und erklären so fehlerhafte Strafstoßentscheidungen. Mascarenhas et al. (2002) stellen in ihrem Kommentar zur Untersuchung von Plessner und Betsch die ökologische Validität des Experiments in Frage. Außerdem und im gegebenen Zusammenhang nun wichtiger, führen sie eine alternative Ergebnisinterpretation ins Feld. Demnach könnten Schiedsrichter mit einer SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 9 Elfmeterentscheidung für Mannschaft A (nachdem schon früher auf Elfmeter für Mannschaft B entschieden wurde) auf die zunehmende Härte im Spiel reagieren wollen, um so eine weitere Eskalation der Körperkontakte zu verhindern. Die getroffenen Strafstoßentscheidungen gründeten damit auf nachvollziehbaren und sinnvollen Überlegungen der Schiedsrichter, die versuchen das Spiel zu managen: „Thus, expert referees make decisions that are appropriate fort he nuances of a particular game, allowing the game to flow, using the whistle only when the consequences for not doing so may adversely affect the tempo or temper of the game“ (Mascarenhas et al., 2002, S. 330). Plessner und Betsch entgegnen jedoch „In our opinion, good refereeing should reflect proper craftsmanship rather than an artist’s attitude in dealing with a task that at times surpasses the human capacity to process information“ (2002, S. 336). Unsere Vermutung ist, dass den Beiträgen unterschiedliche Auffassungen über die primären Aufgaben und die Rolle von Schiedsrichtern im Sport zugrunde liegen: Der Schiedsrichter als Regelanwender einerseits, ist vor allem der korrekten und objektiven Entscheidungsfindung streng nach kodifiziertem Regelwerk verpflichtet. Andererseits soll ein Schiedsrichter als Spielleiter Spielsituationen „managen“ und das Regelwerk sinnvoll und auf den konkreten Kontext bezogen auslegen. Diese beiden Auffassungen schließen sich u. E. allerdings gegenseitig nicht aus. Vielmehr verhalten sie sich komplementär zueinander, stellen zwei Seiten einer Medaille dar und sind in verschiedenen Situationen von verschiedener Bedeutung. Die Kontroverse beruht unserer Überzeugung nach auf einem Missverständnis. Unbestreitbar ist, dass bei der wissenschaftlichen Untersuchung von Typ-1Entscheidungen eine allgemeinpsychologische Herangehensweise und eine entsprechende Ergebnisinterpretation sinnvoll sind. Entsprechende Untersuchungen akzentuieren den Aspekt der Objektivität und der Richtigkeit von Schiedsrichterentscheidungen im Sinne des kodifizierten Regelwerks (z. B. Oudejans,Verheijen, Bakker, Gerrits, Steinbrückner & Beek, SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 10 2000, für Abseitsentscheidungen im Fußball). Für die Praxis des Schiedsrichterns sind solche Untersuchungen sinnvoll und nützlich, solange unterstellt wird, dass Urteilsverzerrungen und getroffene (Fehl-)Entscheidungen tatsächlich nicht-intentional sind, dass die Entscheidung des Schiedsrichters also nicht aus Gründen des Game-Managements so getroffen wurde. Wenn Typ-2 oder gar Typ-3 Entscheidungen zum Gegenstand sportpsychologischer Laboruntersuchungen werden, dann stoßen allgemeinpsychologisch zu interpretierende, experimentelle Untersuchungen zur sozialen Informationsverarbeitung ins Leere, weil sie auf die Analyse der automatisch ablaufenden Prozesse abzielen. Eine Herausforderung für sportpsychologische Untersuchungen wird es deshalb darstellen, darüber zu entscheiden, welche Situationen bzw. Schiedsrichterentscheidungen sich aus den genannten Gründen besser oder weniger gut zu entsprechenden Argumentationen eignen. (Mascarenhas mit Kollegen, sowie Plessner und Betsch kämen vermutlich zu unterschiedlichen Auffassungen darüber, ob es bei den im Laborexperiment dargestellten Strafstoßentscheidungen um Situationen handelt, die Typ-1 Entscheidungen erfordern, oder die Typ-2 Entscheidungen zulassen.) Einen Beitrag zur Lösung dieser Problematik sehen wir darin, dass in zukünftigen Untersuchungen begrifflich wie inhaltlich konsequent zwischen Schiedsrichtern in Sportspielen und Punkt- oder Kampfrichtern in Individualsportarten1 unterschieden werden sollte. Aus den mit Nachdruck vertretenen Positionen von Mascarenhas et al. (2001; die ausschließlich Schiedsrichter meinen) und Plessner und Betsch (2002, S. 336; die am Beispiel von Punkt-/Kampfrichteraufgaben illustrieren)2 wird die Unterschiedlichkeit der Konzepte deutlich: Die von einem Schiedsrichter zu beurteilende Situation (und damit die sportliche Leistung) entsteht in Sportspielen prozesshaft und in direkter Interaktion zwischen wettstreitenden Parteien. Auf Ebene der Einzelentscheidung besteht die Aufgabe des Schiedsrichters darin, konkurrierende und assoziierende Elemente des Sportspiels zu SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 11 balancieren (vgl. Emrich & Papathanassiou, 2003, S. 9). Darüber hinaus greifen Schiedsrichter fortwährend bzw. mehrfach in ein sich entwickelndes Gesamtspielgeschehen ein, so dass einzelne Entscheidungen grundsätzlich in Relation zueinander stehen. (Wenn aus Einzelentscheidungen heraus deutlich wird, dass der Schiedsrichter einen einheitlichen Bewertungsmaßstab anlegt, entspricht dies dem im Sportjargon gebräuchlichen Ausdruck der „Linie“ des Schiedsrichters; vgl. Snyder & Purdy, 1987). Demgegenüber entsteht die zu beurteilende Situation im Falle eines Punkt- oder Kampfrichters nicht aus einer direkten Interaktion zwischen Konkurrenten, sondern im Sinne einer einfachen Aktion aus einer sportlichen Darstellung heraus. Das Punkt- oder Kampfrichterurteil steht hier als Einzelentscheidung am Ende einer zu beurteilenden Darstellung. Ungleich dem Pfiff eines Schiedsrichters kommt dem Punkt- oder Kampfrichterurteil somit keine den Sportspielprozess steuernde Funktion zu. Die Argumentation, die im Kontext Sportspielen für die situationsgerechte Anpassung des Regelwerks in manchen Situation spricht (GameManagement), ist in diesem Fall ist in diesem Falle unsinnig. Um unsere Position vom Schiedsrichter als Spielleiter empirisch zu untermauern, wird im ersten Teil unserer empirischen Untersuchung nach der Selbsteinschätzung von Schiedsrichtern gefragt (Fragestellung 1): Wie bedeutsam ist der Komplementäraspekt ‚Game-Management’ im selbst wahrgenommenen Rollenbild als Schiedsrichter? Qualifizierende Eigenschaften, Spielleiterqualitäten und Beruf Psychologisch besonders interessant erscheint die Frage, ob Personen-Eigenschaften angenommen werden können, die Schiedsrichter für die beschriebene Tätigkeit als Spielleiter bzw. Game-Manager qualifizieren. Hinweise zur Entwicklung eines theoretischen Explorationskonzepts entnehmen wir zwei US-amerikanischen soziologischen Studien. Purdy und Snyder (1987) berichten über eine Untersuchung mit 689 Schiedsrichtern. Sie verwenden eine nach Wohnorten stratifizierte Stichprobe von lizensierten Basketballschiedsrichtern des SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 12 Staates Ohio (USA), die ihrer Spielleitertätigkeit zumindest auf High School-Ebene nachgehen. Die Autoren berichten zum einen die erstaunliche Zahl von 59 % Spielleitern in ihrer Stichprobe, die einen College- oder noch höheren akademischen Abschluss besitzen. Zum anderen stellen sie fest, dass 57 % der Personen in ihrer Stichprobe eine höhergestellte berufliche Position bekleiden. Aus einer anderen Untersuchung berichtet Furst (1991) für eine 165 Personen umfassende, noch höherklassig (State Division 1) agierende Schiedsrichterstichprobe aus verschiedenen Sportspielen einen noch höheren Prozentsatz von 63 % College-Absolventen und „well over 50% of the officials in managerial or professional careers“ (Furst, 1991, S. 98). In beiden Arbeiten wird nur vage über mögliche Gründe spekuliert, die dieses Zusammentreffen von Bildungs- und beruflichen Merkmalen mit der Schiedsrichtertätigkeit erklären könnten. Wir vermuten diese Gründe im Vorliegen einer strukturellen Analogie der Handlungsund Erfahrungsbereiche ‚Schiedsrichter im Sport’ und ‚Berufswelt’. Hier wie dort müssen leitende Personen Entscheidungen treffen und (soziale) Interaktionen auf ein Ziel hin koordinieren. Die Übernahme von Führungsverantwortung im Beruf beinhaltet den Willen und die Fähigkeiten des Führenden zur intentionalen sozialen Einflussnahme, die über kommunikative Prozesse vermittelt werden muss (Rosenstiel, 1995). Der Zusammenhang zwischen personalen Merkmalen (z. B. Motivationslagen) und Führungserfolg im Beruf ist durch einige Metaanalysen schon seit längerer Zeit eindrucksvoll belegt (vgl. Schuler & Funke, 1989). Verschiedene Autoren vertreten sogar die Auffassung, dass sich späterer Führungserfolg aus zu einem multiplen Indikator verdichteten Persönlichkeitsmerkmalen in einer Größenordnung von r = .40 vorhersagen ließe (Thornton, Gaugler, Rosenthal & Bentson, 1987). In Anlehnung zu Definitionen aus der A&OPsychologie soll Führung im Kontext Spielleitung die unmittelbare, absichtliche und zielbezogene Einflussnahme durch den Spielleiter auf die übrigen Spielbeteiligten bedeuten SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 13 (vgl. Rosenstiel, 1995, S. 337). Die Führungstätigkeit des Spielleiters umfasst zum einen die sinngerechte und verbindliche Auslegung des Regelwerks, wodurch das Spiel für die Spielparteien spielbar gemacht wird. Zum anderen sind die Fähigkeiten von Spielleitern angesprochen, sich durch getroffene Entscheidungen bei den Beteiligten Akzeptanz zu verschaffen (vgl. hierzu besonders das Konzept der symbolischen Führung; Neuberger, 1990) oder mit Konfliktsituationen nach umstrittenen Entscheidungen umzugehen (Brand, 2002b; Mascarenhas, 2002). Wir gehen davon aus, dass sich dem Kontext Sport entkleidete Anforderungen, ähnlich auch Führungskräften im Beruf stellen. Zur Entwicklung der personalen Merkmale von Führenden, hat sich auf Ebene der theoretischen Grundannahmen in der A&O-Psychologie mittlerweile die Auffassung durchgesetzt, dass sich individuelle Personen-Merkmale und Bedingungen des Tätigkeitsumfelds in reziproker Beziehung zueinander entwickeln, dass sie sich zunehmend verfestigen und sich stabilisierend auf das Denken und Handeln der Person auswirken (Schallberger, 1999). Als Ort dieser Wechselwirkungen müssen das individuelle Handeln und die daran gebundenen Erfahrungen betrachtet werden (Hoff, 2002). Wenn nun gerade Schiedsrichter in Spitzenligen sehr viel Zeit für ihre nebenberufliche Tätigkeit als Spielleiter aufbringen, erscheint es zumindest plausibel, dass aufgrund der benannten strukturell ähnlichen Anforderungen in den beiden Settings, gemachte (Führungs-)Erfahrungen ähnlich eindrücklich und nachhaltig sind. Gewinnbringende Erfahrungen in dem einen Setting könnten somit die Grundlagen des Handelns in dem anderen Setting konsolidieren oder sogar erweitern. In der organisationspsychologischen Literatur wird in ähnlichem Zusammenhang gelegentlich auf einen (bidirektionalen) „spill-over“ hingewiesen, der die Möglichkeit einer einfachen Übertragung von Kognitionen, Emotionen und Verhaltensweisen zwischen (beruflichen und freizeitlichen) Lebenssphären bezeichnet. Jedoch existieren dazu derzeit noch kaum aussagekräftige empirische Studien (vgl. Hoff, 2002). SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 14 In einem explorativ-empirischen Herangehen greifen wir berufsbezogene motivationale Personeigenschaften heraus und betrachten sie in Relation zur Spielleitertätigkeit im Sport. Wir vermuten erstens, dass sich Spielleiter im Spitzensport eher in beruflich qualifizierten Führungspositionen befinden (Fragestellung 2). Zweitens nehmen wir an, dass sich in hohen Ligen tätige Schiedsrichter, von ihrer beruflichen Position unabhängig, durch zu Führungstätigkeiten qualifizierende personale Eigenschaften auszeichnen. Im Besonderen meinen wir die Motivation von Personen, andere zu führen und Leistungssituationen zu gestalten (vgl. Hossiep & Paschen, 1998). Als grundlegend insbesondere für das Erreichen von Spitzenniveau in der Spielleitertätigkeit wird außerdem eine hohe Leistungsmotivation erwartet (Fragestellung 3). Methode Design Bei der Studie handelt es sich um eine einmalige, vollständig standardisierte Befragung von Schiedsrichtern aus dem Bereich des Spitzensports. Zur Kontrastierung unserer an Spitzenschiedsrichtern erhobenen Daten wurde außerdem eine Vergleichsgruppe befragt. Die Fragebögen wurden den Schiedsrichtern im Rahmen von offiziellen Schiedsrichter-Fortbildungslehrgängen im Sommer 2003 dargeboten und bearbeitet.3 Stichprobe Insgesamt nahmen 163 Schiedsrichter im Alter zwischen 17 und 49 Jahren (M = 34,2 Jahre, SD = 8,2 Jahre) aus den drei Sportspielen Handball, Basketball und Eishockey freiwillig und unentgeltlich an der Untersuchung teil. Nur zehn Personen waren Frauen, so dass wir in unseren Analysen nicht zwischen männlichen und weiblichen Schiedsrichtern unterscheiden wollen. Die aktuelle Ligenzugehörigkeit der Schiedsrichter reicht von der Landesliga bis hin zum internationalen Niveau (Tabelle 1). Unsere Untersuchungsgruppe stellt die Grundgesamtheit aller Bundesligaschiedsrichter der Saison 2003/2004 aus den drei SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 15 genannten Spielsportarten dar. Der Vergleichsgruppe gehören beim Handball Schiedsrichter der fünfthöchsten, beim Basketball und Eishockey Schiedsrichter der dritt- und vierthöchsten Spielklassen in Deutschland an. Messinstrumente und statistische Verfahren Neben einigen Personenangaben (Alter, Geschlecht etc.) wurden im ersten Teil des Fragebogens Fragen zur schulischen und beruflichen Ausbildung, sowie zur aktuellen beruflichen Position der Pbn gestellt (Fragestellung 2). Im zweiten Teil wurden einige Informationen zur Schiedsrichtertätigkeit erhoben. Unter diesen Fragen befand sich ein einzelnes Item zum Selbstbild der Schiedsrichter (Fragestellung 1). Hintergrund der gewählten Formulierungen sind die im deutschen Schiedsrichterwesen aktuell geführten Diskussionen zur Philosophie des Schiedsrichterns (z. B. in der Sportart Basketball: „feeling for the game“, vgl. Mascarenhas et al., 2002). In Frage steht dort, in welchen Situationen bzw. ob es Schiedsrichtern in den professionellen Spitzenligen überhaupt erlaubt sein soll, spezielle Regelauslegungen zu treffen, die durch die kodifizierten Regeln eigentlich nicht abgedeckt sind. Auf einem neunstufigen semantischen Differential gab deshalb jeder Schiedsrichter Auskunft darüber, ob er sich eher als strikte Instanz der Regeldurchsetzung sieht (1 = „Die Aufgabe des Schiedsrichters ist es, die Einhaltung der Spielregeln zu überwachen und Regelverletzungen zu ahnden. Seine Rechte und Pflichten sind in Wettkampfordnung und Regelwerk festgehalten.“) oder ob er sich als Game-Manager begreift (9 = „Der Schiedsrichter fungiert als Spielleiter, der zwar regelbasierte Entscheidungen trifft, die aber vor allem von einer sinngerechten Auslegung des Regelsystems zeugen und den gegebenen Spielkontextbedingungen angemessen sein müssen. [fett hervorgehoben:] Zugunsten des Spiels sind situationsspezifische Regelauslegungen möglich“). Zur standardisierten Erfassung der motivationalen Merkmale (Fragestellung 3) wurde auf das Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung (BIP) SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 16 zurückgegriffen4 (Hossiep & Paschen, 1998). Es handelt sich hierbei um einen normierten Test, dessen Skalen nicht nur vor dem Hintergrund theoretischer Befunde und Ansätze der differentiellen Psychologie und Motivationspsychologie entwickelt wurden, sondern sich vor allem auch an den Anforderungen der organisationspsychologischen Praxis orientieren (Ziegler, 2002). Das BIP leistet unter anderem die Beschreibung der beruflichen Orientierung des Probanden in den drei Dimensionen Leistungsmotivation, Gestaltungsmotivation und Führungsmotivation. (Tabelle 2) Die Auswertung der Fragebögen erfolgte grundsätzlich anonym. Jeder Schiedsrichter hatte jedoch mit der Eintragung eines Kennworts die Möglichkeit, eine individuelle BIPAuswertung zu erhalten. 138 Personen nutzten diese Gelegenheit und bekamen in einem für Dritte anonymisierten Verfahren ihre individuelle Auswertung zurückgemeldet. Sämtliche statistischen Auswertungen wurden mit Hilfe der Software SPSS 11.5 durchgeführt. Zur Überprüfung von Gruppenunterschieden wurden eine einfaktorielle Varianzanalyse (Rollenselbstbild der Schiedsrichter, Fragestellung 1), ein !2-Test (berufliche Qualifikation, Fragestellung 2), sowie eine multivariate Kovarianzanalyse berechnet (BIPDimensionen, Fragestellung 3). Ergebnisse Regeldurchsetzung und Game-Management (Fragestellung 1) Zur Frage nach dem Selbstbild der Schiedsrichter ergibt sich für die Gesamtgruppe bei einem Modus = Median = 8 (Perz25% = 7, Perz75% = 8, M = 7.14, SD = 1.87) ein eindeutiges Bild: Die Schiedsrichter selbst sehen sich viel mehr als Spielleiter denn als Regelverwalter. Ein differenzierteres Ergebnisbild ergibt sich, wenn man die Schiedsrichter nach Ligenzugehörigkeit (1. Bundesliga vs. Kontrollgruppe) und nach Sportarten unterscheidet (Basketball, Handball, Eishockey). Die Berechnung einer einfaktoriellen Varianzanalyse (Gruppenbildung aus Ligenzugehörigkeit ! Sportart) liefert einen SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 17 signifikanten Haupteffekt, F(5, 156) = 2.579, p = .029, "2 = .079, der bei Analyse der Kontraste zum Gesamtmittelwert auf den Beitrag der Handball-Kontrollgruppe (Kontrastschätzer = -0.79, p = .049) zurückgeführt werden kann (mit einem Median von 7 und M = 6.24 tendiert die Gruppe aber immer noch in Richtung Game-Management). Die visuelle Inspektion der Daten zeigt außerdem, dass neben den Antworten der HandballKontrollgruppenschiedsrichter auch die der Eishockey-Spitzenschiedsrichter – verglichen mit den anderen Gruppen – weniger homogen ausfallen. (Abbildung 1) Berufliche Qualifikation der Schiedsrichter (Fragestellung 2) Mit Ausnahme eines einzelnen Eishockey-Profischiedsrichters gehen zum Zeitpunkt der Befragung alle Schiedsrichter einer anderen beruflichen Alltagsbeschäftigung nach. 77.9% (n = 127) der Befragten sind berufstätig und weitere 12.9% (n = 21) studieren (je 3.1% befinden sich in einer Ausbildung oder besuchen eine Schule, 3% geben keine Auskunft; insgesamt n = 15). 59.6% (n = 96) geben als ihren höchsten erreichten Schulabschluss das Abitur oder Fachabitur an. Weitere 28.2% (n = 46) der Schiedsrichter haben die mittlere Reife erreicht. Der Anteil an Studierten beträgt insgesamt 39.3% (abgeschlossenes oder laufendes Hochschulstudium; n = 64). Zur Beschreibung der aktuellen beruflichen Tätigkeiten (Schüler und Studierende werden für diese Analysen aus der Stichprobe ausgeschlossen) wurde wie folgt vorgegangen. Schiedsrichter, die im Fragebogen angaben, dass ihre Tätigkeit am ehesten der eines „Gruppen-/Teamleiters“, eines „Abteilungsleiters“, „Hauptabteilungsleiters“, „Geschäftsführers“ „Vorstandes“ oder eines „Selbstständigen/Freiberuflers“ ähnele und die gleichzeitig angaben, dass sie im Beruf Führungsaufgaben wahrnehmen, wurden in der Gruppe der „hoch qualifiziert Berufstätigen“ zusammengefasst. Schiedsrichter, die ihre berufliche Tätigkeit am ehesten mit der eines „Sachbearbeiters“ verglichen oder eine „sonstige Tätigkeit“ angaben und aktuell keine Führungsverantwortung tragen, wurden in die SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 18 Gruppe der „niedriger qualifiziert Berufstätigen“ eingeordnet. Die für die Untersuchungsund die Vergleichsgruppe resultierenden Verteilungen können Tabelle 3 entnommen werden. Die Berechnung eines !2-Tests liefert das Ergebnis, dass die Anzahl an beruflich höher qualifiziert Tätigen in der 1. Bundesliga signifikant höher ist, als unter den Schiedsrichtern aus niederen Spielklassen, !2(1, N = 120) = 5,612, p = .018. Exploration BIP-Werte (Fragestellung 3) Die im BIP unter dem Bereich berufliche Orientierung zusammengefassten Variablen Leistungsmotivation, Gestaltungsmotivation und Führungsmotivation korrelieren hochsignifikant mit Werten zwischen r = .545 und r =.595, so dass eine multivariate Varianzanalyse berechnet wird. Als feste Faktoren gehen die zweigestuften Variablen ‚Ligenzugehörigkeit’ und ‚berufliche Qualifikation’ in das allgemeine lineare Modell ein. Aufgrund der Altersunterschiede zwischen den Gruppen wird das Lebensalter der Schiedsrichter als Kovariate eingeführt (vgl. die Anmerkungen zum Alter im Abschnitt Diskussion). Die Berechnung liefert eine nicht signifikante Interaktion, F(3, 113) = 0.916, p = .436, 1-# < .99, einen signifikanten Haupteffekt von mittlerer praktischer Bedeutsamkeit für die ‚Ligenzugehörigkeit’, F(3, 113) = 3.985, p = .010, "2 = .096, sowie einen signifikanten Haupteffekt von großer praktischer Bedeutsamkeit für die ‚berufliche Qualifikation’, F(3, 113) = 8.840, p < .001, "2 = .190. Der Einfluss der Kovariate ‚Alter’ ist nicht signifikant, F(3, 113) = 0.968; p = .410. Aus den Kontrastanalysen wird zum einen deutlich, dass sich 1. Bundesligaschiedsrichter von in niedrigen Spielklassen agierenden Kollegen durch höhere Leistungsmotivations- und Führungsmotivationswerte unterscheiden (als Kontrastschätzer resultieren Werte von 0.277 bzw. 0.443 bei p = .047 bzw. p = .004). Zum anderen weisen die hoch qualifiziert Berufstätigen mehr Führungsmotivation auf, als die niedrig qualifiziert Berufstätigen (Kontrastschätzer war 0.680 bei p < .001). Diskussion SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 19 Schiedsrichter beschreiben ihre Aufgabe im Sportspiel eher im Sinne eines GameManagements. Als Spielleiter betrachten sie es als ihre Aufgabe, das kodifizierte Regelwerk sinnvoll und situationsgerecht auszulegen. Zu einer Rollenbeschreibung, wonach sie als Instanzen der Regelüberwachung diese durchsetzen und sich dabei strikt an das Regelsystem und die Wettkampfordnung halten, neigen nur einzelne Schiedsrichter. Dies gilt gleichermaßen für Bundesligaschiedsrichter, wie auch für in unteren Spielklassen tätige Schiedsrichter. Wir ziehen hieraus zusätzliche Bekräftigung für unsere Argumentation, dass in zukünftigen sportpsychologischen Untersuchungen die Unterscheidung nach Typen von Entscheidungen und die Differenzierung zwischen Schiedsrichtern in Sportspielen oder Kampf- oder Punktrichtern in Individualsportarten gewinnbringend sein wird. Für praktische Belange in den Sportverbänden maßgeblich erscheint uns das Ergebnis, dass sich die Schiedsrichterkader der verschiedenen Sportarten im Hinblick auf das Merkmal ‚Regelverwaltung oder Game-Management’ mehr oder weniger inhomogen darstellen. Vor allem die breite Merkmalsverteilung im Spitzenkader der Eishockey-Schiedsrichter überrascht uns. Dreiviertel der Kaderangehörigen, beschreiben sich eher als Spielleiter. Das übrige Viertel der Schiedsrichter präferiert eher das Bild des strengen Regelüberwachers. Besonders für die gemeinsam in einer Liga antretenden Mannschaften ist es wichtig, dass Schiedsrichter die Spiele von Woche zu Woche nach vergleichbaren Maßstäben leiten. Unterschiedliche Auffassungen der Schiedsrichter darüber, wie die Spielregeln angewandt werden sollen, erschweren es den Mannschaften, sich auf konkrete Spielpaarungen einzustellen. Genauso wenig dürfte es einem Schiedsrichter leicht fallen, bei den Spielbeteiligten Akzeptanz für seine konkrete Regelhandhabung zu finden, wenn diese im Spiel zuvor von einem Kollegen anders gehandhabt wurde. Möglicherweise sollten die Schiedsrichterkommissionen in den Sportverbänden also stärker als bisher auf die Entwicklung einer von allen Schiedsrichtern geteilten Philosophie des Schiedsrichterns SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 20 hinwirken. Psychologische Unterschiede zwischen Personen, die Spiele auf Ebene der 1. Bundesliga (oder höher) leiten und Personen, die ihr Schiedsrichteramt in niederen Spielklassen ausfüllen, zeigen sich hinsichtlich zweier Motivationsausprägungen. Die berufsbezogene Leistungs- und Führungsmotivation von Bundesligaschiedsrichtern ist höher als die der Vergleichsschiedsrichter, die in niedrigen Ligen aktiv sind. Da der erwartete Interaktionseffekt im statistischen Modell jedoch nicht signifikant ist, sollte dies aber eher darauf zurückgeführt werden, dass Bundesligaschiedsrichter häufiger als niedrigklassig agierende Schiedsrichter hoch qualifizierten Berufstätigkeiten nachgehen. Aus arbeits- und organisationspsychologischen Untersuchungen ist bekannt, dass beruflich höher Qualifizierte im BIP günstigere Motivationswerte aufweisen (Hossiep & Paschen, 1998; Ziegler, 2002). Aufgrund des realisierten Untersuchungsdesigns erlauben unsere Daten keine ursächliche Erklärung für die größere Zahl beruflich hoch Qualifizierter in den 1. Bundesligen. Vor dem Hintergrund der dargestellten theoretischen Überlegungen bevorzugen wir jedoch eine Interpretation, wonach sich das gleichzeitige Agieren in zwei an sich verschiedenen Kontexten, die jedoch einige vergleichbare Anforderungen an die Person stellen, günstig auf die Entwicklung von motivationalen Personeigenschaften auswirkt. Diese wiederum, so nehmen wir an, wirken sich begünstigend auf beide Karrierebereiche aus. Denkbar wäre aber genauso, dass sich berufliche Erfahrungen stärker auf spielleitungsbezogene Erfahrungen übertragen, oder dass ein spill-over in gerade umgekehrter Richtung stattfindet. Diese Frage aber könnte allein im prospektiven Design, also anhand von Längsschnittuntersuchungen beantwortet werden. Zu solchen regen wir hiermit, auch unter dem folgenden Gesichtspunkt, nachdrücklich an. Es erscheint uns sinnvoll, in zukünftigen Untersuchungen Schiedsrichter bereits zu Karrierebeginn, d. h. in möglichst jungen Jahren auf qualifizierende personale Merkmale hin SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 21 zu untersuchen. In unserer Untersuchung unterscheiden sich Schiedsrichter, die bereits in der 1. Bundesliga agieren, im Altersmittel von ihren Kollegen in niederen Ligen. Das Lebensalter der Schiedsrichter stellt eine konfundierende Variable bei der Analyse solcher Fragestellungen dar, weil die Karriere und der Aufstieg im sportlichen Ligensystem genauso wie im Berufsleben Zeit verbraucht. Wir halten es zwar für unplausibel, dass die gefundenen Unterschiede zwischen Schiedsrichtern (oder Berufstätigen) allein auf deren Altersunterschiede zurückzuführen sein könnten. Dennoch kann unter der Voraussetzung der Alterskonfundierung ein strenger Nachweis über die vermuteten Beziehungen erst im prospektiven Design geführt werden. Zum Schluss unserer Datenexploration ist es uns wichtig festzuhalten, dass die gefundenen qualifizierenden Merkmale keine notwendige Bedingung für eine erfolgreiche Schiedsrichterkarriere darstellen. Vielleicht aber erleichtern sie Spielleitern den Aufstieg in der Kaderhierarchie, bis hin zum Bundesligaschiedsrichter. SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 22 Literatur Brand, R. (2002a). Schiedsrichter und Stress. Schorndorf: Hofmann. 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How dangerous it is to prevent decision-making in sports from a scientific evaluation could be seen, for example, in the figure skating event of the 2002 Winter Olympics in Salt Lake City.“ (Plessner & Betsch, 2002, S. 336) 3 Wir bedanken uns bei den Verantwortlichen für das Schiedsrichterwesen des Deutschen Eishockeybundes, des Deutschen Handballbundes und des Deutschen Basketballbundes für das Anbieten der Schiedsrichterkader, sowie die Unterstützung bei der Darbietung der Fragebögen. 4 Wir bedanken uns bei den Testautoren für die Überlassung der aktuellen BIP- Forschungsversion sowie die Berechnung und Rückmeldung der Dimensions-Scores. SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 26 Tabelle 1 Deskriptive Statistiken Alter Sportart n M (SD) Selbstbildb Leistungc Gestaltungd Führunge M (SD) M (SD) M (SD) M (SD) 1. Bundesliga (Untersuchungsgruppe) Basketball 23 38,1 (5,0) 7,6 (1,9) 4,2 (0,8) 4,0 (0,8) 4,3 (0,8) Handball 30 38,2 (4,1) 6,8 (2,3) 4,2 (0,6) 3,8 (0,5) 3,9 (1,0) Eishockeya 16 41,1 (5,0) 6,3 (2,5) 4,3 (0,6) 3,8 (0,4) 4,1 (0,6) Dritthöchste Liga und niedriger (Vergleichsgruppe) Basketball 61 26,9 (7,2) 7,4 (1,3) 3,9 (0,7) 3,7 (0,6) 3,7 (0,8) Handball 17 39,4 (5,7) 6,2 (2,2) 3,8 (0,8) 3,8 (0,9) 3,5 (1,0) Eishockeya 16 36,4 (6,3) 7,8 (0,9) 4,1 (0,5) 3,8 (0,4) 3,6 (0,7) Anmerkungen. Von den zehn weiblichen Schiedsrichtern entstammen acht der Sportart Basketball (alle Kontrollgruppe) und zwei der Sportart Handball (internationale Ebene). a Erfragt wurde die aktuelle Ligenzugehörigkeit in der Funktion als Hauptschiedsrichter. bSemantisches Differential zur Erfassung des Rollenselbstbilds (1 = Regelverwaltung bis 9 = Game Management). cBIP-Skala Leistungsmotivation. dBIP-Skala Gestaltungsmotivation. eBIP-Skala Führungsmotivation. SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 27 Tabelle 2 Drei Dimensionen des BIP mit Beschreibungen (Hossiep & Paschen, 1998, S. 17f.) Dimensionen Leistungsmotivation Gestaltungsmotivation Führungsmotivation Beschreibung - stellt hohe Anforderungen an die eigene Leistung - ist bereit, sich bei der Verfolgung seiner Ziele stark zu engagieren - möchte die eigene Arbeit kontinuierlich verbessern - verfügt über einen starken Willen, durch seine Tätigkeit gestaltend einzugreifen - ist motiviert, Missstände zu beseitigen - möchte eigene Vorstellungen umsetzen - möchte Führungsverantwortung wahrnehmen - kann andere Personen überzeugen und für seine Auffassung gewinnen - wirkt auf andere mitreißend und begeisternd SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 28 Tabelle 3 Anzahl Schiedsrichter klassifiziert nach beruflicher Qualifikation und erreichte Ligenzugehörigkeit als Schiedsrichter Ligenzugehörigkeit Berufliche Qualifikation Hoch Niedrig 1. Bundesliga 38 24 Niedere Liga 23 35 SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 29 Abbildung 1 Boxplots zum Selbstbild der Schiedsrichter Anmerkung zu Abbildung 1 Antennen entsprechen der Spannweite, die Boxlänge dem Interquartilbereich, die dunkle Linie in der Box dem Median. Kreise symbolisieren Ausreißer (1,5 bis 3 Boxlängen vom Rand der Box), Sterne Extremfälle (mehr als 3 Boxlängen vom Rand der Box). SCHIEDSRICHTER ALS GAME-MANAGER 30
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