Liebe Gemeinde, das Bild, das Sie vorne auf Ihrem Gottesdienstblatt abgedruckt haben, hat manche befremdet und andere zum Lachen gebracht. Für diejenigen, die sich gewundert haben, erkläre ich es: es zeigt ein Tinder Profil; genauer genommen, es zeigt ein fiktives Tinder-Profil, Jesus‘ Tinder-Profil. Tinder ist eine Dating-app, ein Programm, das man sich auf’s Handy herunterladen kann. Was früher die Kontaktanzeige in der Zeitung war, ist nun auch in die elektronische Welt gesickert. Bei Tinder geht es um Liebe auf den ersten Blick. Man sieht von einem Profil nur das Bild. Wenn es gefällt, dann wischt man in die eine Richtung, wenn nicht, dann „wischt man es weg“. Wenn die andere Person einen auch mag, kann man Kontakt zueinander aufnehmen und sich schreiben oder sich eben auch verabreden. Tinder ist sehr kontrovers. Deshalb ist dieses Bild auch eine Provokation. „Es geht doch nur um Sex“, sagen viele. Für manche stimmt das wohl. Es geht um die Liebe; für manche ist sie ein Geschäft, andere sehnen sich nach ihr. In der ESG, in Kirche als Institution geht es um zweierlei: um Gemeinschaft mit Gott und Gemeinschaft mit den Menschen; um es mit den Worten des Markusevangeliums auszudrücken (dort antwortet Jesus, als er gefragt wird): Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft« (5. Mose 6,4-5). 31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. 32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Ja, Meister, du hast recht geredet! Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm; 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. 34 Da Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen. Wenn es in der Bibel um die Liebe geht, besonders im Neuen Testament, dann geht es um 1. Gottesliebe, 2. Nächstenliebe, 3. Feindesliebe. Unser Jesus-Tinder-Bild hat offensichtlich nur etwas mit dem ersten, mit der Gottesliebe zu tun. An Gott zu glauben ist in gewisser Weise vergleichbar mit dem sich in einen Menschen verlieben. Es passiert, oder es passiert nicht. Es gibt kein „soll“. Niemand kann die Liebe verordnen oder arrangieren. Gleichzeitig ist diese Liebe, die auch ein unbewusstes Entscheidungsmoment in sich trägt, der Anfang. Ohne Gottesliebe gibt es keinen Glauben, weder jüdischen noch christlichen. 1 Nicht mehr lange, dann ist Weihnachten, manche nennen es das Fest der Liebe. Es sind auch die Tage, an denen ganz besonders klar wird, wen wir nicht lieben, und wer uns nicht liebt; wie unvollkommen unsere menschliche Liebe ist. Es ist trotzdem das Fest der Liebe. Jedes Jahr bekommen wir die Chance, uns in Gott zu verlieben. Gott wird Mensch in einem Kind. Es ist leicht, ein Kind zu mögen, sich in ein kleines Ding zu verlieben. An Weihnachten haben wir wieder einmal die Chance, uns in Gott zu verlieben. Was aber dann? Was fangen wir an mit dieser Liebe? Ich lese noch einmal den Anfang unseres Evangeliumstextes aus Johannes 3: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Es geht um ewiges Leben. „17 Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. 18 Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er hat nicht geglaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes. 19 Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. 20 Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. 21 Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind.“ Wer glaubt, wer seinem Herzen, wer Gott folgt („glauben“ heißt ja nichts anderes als „folgen“), der lebt anders, der handelt anders. Ich bin seit fast 100 Tagen hier in der ESG und ich habe schon entdecken dürfen, dass und wie hier anders gelebt wird. Wo an der Universität Leistung und Intellekt zählt (zählen müssen) da gibt es hier noch mehr. Auf Englisch würde man sagen „we care“. Wenn jemand Hilfe sucht, sei es als ausländischer Student, sei es als deutscher Student, oder auch als klassischer Stadtstreicher, dann werden diese Menschen hier nicht weggeschickt. Es geht um den Menschen. Es geht darum, den Nächsten zu lieben, wie man sich selbst liebt, auch den Feind zu lieben, Unliebsame. Dafür gibt es in der ESG eine Gemeinschaft von jungen Menschen, die tatsächlich diese Einstellung haben. Um etwas dauerhaftes zu bekommen, um Glauben zu leben, um Liebe zu leben, bedarf es nicht nur eines Gefühls, es bedarf einer Einstellung. Darum geht es auch Jesus, um die Einstellung. Die Gottesliebe setzt er voraus (einen Ausdruck dieser Gottesliebe haben wir im Psalm gehört). Aber das, was wir dann weiter mit dieser ersten Verliebtheit anfangen, darüber kann man sich unterhalten, daran kann man arbeiten. Um eine Haltung einzuüben, brauchen wir Gemeinde, brauchen wir andere Menschen, mit denen wir reden, streiten, erleben oder ganz einfach leben können. Für Kinder gibt es viele Angebote in Gemeinden. Gerade in der Zeit, in der man sein Leben durch Bildung und Ausbildung in neue Bahnen lenkt, genau da ist es auch wichtig, die Möglichkeit zu haben, diese christliche Haltung einzuüben, denn von alleine kommt sie nicht. Es ist ein Wechselschritt zwischen geistlich-religiösem, Gottesdiensten und Andachten, und scheinbar Säkularem, manchmal auch Politischem. Es ist auch ein Wechselschritt zwischen Älteren und Jüngeren, Lehrenden und Lernenden, Gebenden und Empfangenden. Schließlich ist es wesentlicher Teil einer Evangelischen Studentengemeinde, dass wir das, was wir tun, nicht tun, um geliebt zu werden (von anderen oder von Gott), sondern, dass wir uns eben als schon Geliebte verstehen. Unsere Taten enspringen Gottes Liebe, die unendlich ist. Wir wollen, dass offenbar wird, dass unsere Werke in Gott getan sind. Gott hat sich schon dieser Welt hingegeben. Er hat seine Liebeserklärung schon lange gemacht. Diese „Liebe im Überfluss-Theologie“ ist ein 2 Sicherheitsnetz gegen allen Missbrauch, der mit Gottes Liebe getrieben wird. Wir müssen, wir können uns Gottes Liebe und unser ewiges Leben nicht verdienen. Es ist uns geschenkt. Eine interessante Erfahrung mit Tinder ist die Ungewissheit. Es geht zwar alles rasend schnell, aber man fragt sich doch beim Wischen: Wie wird der andere auf mich reagieren?! Jetzt stelle man sich vor, man wüsste, dass man sich darauf verlassen könnte, dass der andere einen mag... dass der andere einen schon akzeptiert hat und es nur noch auf den eigenen Schritt zum Zusammenkommen ankäme?! Vielleicht dauert es dann immer noch eine Weile, bis man zusammen findet, bis man den Mut dazu hat, sich aufeinander einzulassen. Unter Menschen gibt es diese Sicherheit nicht. Bei Gott dagegen schon. 3
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