Mein Moskau (38) – Bürokraten und Kakerlaken-Mafiosi [Hanns-Martin Wietek] Dies ist das achtunddreißigste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993. Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde. Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen. Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge. Alle Folgen finden Sie hier. In der Zwischenzeit ist es auch in Moskau Frühling geworden. Wir machen einen Ausflug auf der Moskwa – Reka Moskwa, der Fluss Moskau. Die Moskwa windet sich in großen Mäandern durch die Stadt. Eineinhalb Stunden, die Sonne verwöhnt uns, fahren wir vorbei an Klöstern und Kirchen, an Wohnanlagen aus den verschiedensten Bauepochen – hier lerne ich den Unterschied zwischen Stalin-Empire, Chruschtschow- und Breschnew-Stil endgültig kennen; immer wieder liegen am Ufer oder als Silhouette im Hintergrund die großen typischen Hochhäuser wie das Hotel Ukraine, das Außenministerium, die LomonossowUniversität, das Hotel Kotelnitscheskaja – alle im StalinEmpire, im Zuckerbäckerstil, wie es im Westen heißt; der Kreml begleitet unsere Fahrt eine ganze Weile; gegenüber vom Hotel Ukraine liegt das Weiße Haus, das Parlamentsgebäude; wir fahren durch Teile des Hafens mit seinen teilweise historischen Industrieanlagen und Fabriken; die riesige, künstlerische Stahlkonstruktion auf dem Dach der Akademie der Wissenschaften erstrahlt golden im Sonnenlicht; von hier wird auch deutlich wie viele Grünanlagen es in Moskau gibt. Moskau zeigt sich hier von seiner schönsten Seite. Aber der Alltag mit seiner unendlichen, allmächtigen Bürokratie holt uns schon in den nächsten Tagen wieder unerbittlich ein. Ich muss das Auto verkaufen. Erst einmal muss das Auto am Deutschen Passangelegenheiten abgemeldet werden. Konsulat für An einem Vormittag ist die Prozedur erledigt; ich empfinde das schon als einigermaßen schnell, denn in der Zwischenzeit habe ich mich dem hiesigen Zeitempfinden angepasst. Am nächsten Morgen fahren wir zum Petschatniki Markt. Hier ist der größte private Automarkt von Moskau. An einer langen Straße im Industriegebiet (ein paar professionelle Autohändler, eine Tankstelle, eine Firma mit Bahnanschluss für Güterwagen, sonst nichts) stehen hunderte von Autos mit ‚Autowährung‘. ihren Besitzern; der Dollar ist die Von Schrottkisten – ‚dieses Auto in Russland nix Schrott‘ – bis hin zu Luxuslimousinen, meist Volvo, BMW und Mercedes (in dieser Reihenfolge), ist alles vertreten. Schnell kristallisiert sich heraus, wer hier in erster Linie Autos verkauft: Es ist die Auto-Mafia, es sind die ‚Kakerlaken-Mafiosi‘, die hier das Sagen haben. Aber auch ‚Normalbürger‘ bieten ihre Autos an. Zollnummern aus allen größeren Städten Deutschlands sehe ich. Litauen und Lettland sind ebenfalls stark vertreten. Menschenmassen schieben sich durch die Straße. Erinnerungen an meine erste Ankunft in Moskau werden wach: Sehr viele ’sowjetische Südländer‘, wie Georgier und Armenier bevölkern den Markt. – Was haben sie nur an sich, dass mich bei ihrem Anblick so ein ungutes Gefühl beschleicht? Ist es ihr sehr selbstbewusstes Auftreten? Ist es der dunkle Menschentyp? Oder ist es Voreingenommenheit? Ich weiß es nicht. – Elen führt die Verhandlungen. Es herrscht mäßiges Interesse für unseren Wagen; immer wieder kommt jemand, erkundigt sich, schaut sich den Wagen an, blickt in die Fahrzeugpapiere oder versucht, den Preis zu drücken. Bei unseren Nachbarn erwecken wir aber größeres Interesse; sie möchten uns offensichtlich hier weg haben. Wir stören sie. Erregte Wortwechsel sind die Folge, ich schalte jedoch auf stur; von diesen Kakerlaken-Mafiosi lasse ich mich schon lange nicht kommandieren! Ich bin so wütend, dass ich erst nach einiger Zeit bemerke, wie bedrückt Elen ist. Anfangs will sie nicht darüber sprechen, aber, nachdem ich nicht nachgebe, rückt sie mit dem Grund heraus. „Sie sagen andauernd schlechte Dinge über mich, sie beleidigen mich als Frau“, drückt sie sich vorsichtig aus. Was das jedoch im Klartext heißt, daran besteht kein Zweifel. Mein Blutdruck erklimmt gefährliche Höhen, und als kurz danach wieder einer von ihnen vor unserem Wagen steht und eindeutige Reden schwingt, lasse ich blitzschnell den Motor an und mache einen Kavalierstart. Zu unser beider Glück war er reaktionsschnell und konnte sich durch einen Sprung zur Seite retten. Danach war Ruhe. Die ‚Hackordnung‘ war geklärt. Nach einigen Stunden scheinen wir einen Käufer gefunden zu haben. Wir verabreden uns für den nächsten Morgen am Oktjabrskaja Ploschtschad, um zum Zollamt zu fahren und den Verkauf perfekt zu machen. Am nächsten Morgen stehen wir und warten und warten, niemand kommt. Erneute Suche nach einem Käufer, diesmal in Elens Bekanntenkreis. Nach langem hin und her werden wir fündig, Alexander will den Wagen. Wir fahren zum Zollamt am Rischskij voksal, am Rigaer Bahnhof, um die notwendigen Formalitäten zu erledigen; mir graut schon vor der ‚heiligen Bürokratia‘. Zuvor müssen wir aber noch tanken. In der letzten Zeit ist die Motorisierung in Moskau sprunghaft, gestiegen, die Tankstellen sind aber kaum mehr geworden. Wir fahren lange, bis wir eine gefunden haben. Wie nicht anders zu erwarten war, stehen die Autos Schlange. Vor unserer Zapfsäule jedoch, 96 Oktan, steht niemand. Alexander geht zur Kasse, um zu sagen wieviel Liter wir tanken wollen und um es zu bezahlen. – In Russland muss man immer zuerst die gewünschte Literzahl bezahlen, und dann gibt die Zapfsäule auch nur diese Menge ab. – „Wir haben an dieser Zapfsäule kein Benzin“, lautet die lakonische Antwort. Als wir gerade weiterfahren wollen, fährt dort ein Wagen vor, ein paar junge Kerle holen aus dem Kofferraum Benzinkanister und füllen sie. Alexander geht zurück und fragt, was denn nun los sei, es gebe doch Benzin. „Nje rabotet“, kommt kurz angebunden zurück, „eta mafia.“ Zu Deutsch: die Zapfsäule arbeitet nicht! Die da trotzdem tanken, das ist die Mafia! An einer anderen Tankstelle arbeitet unsere Zapfsäule. Am Zollamt herrscht qualvolle Enge. Ich suche meine Papiere zusammen: Pass, Kfz-Brief, Zollerklärung für den Wagen…. Wo ist die Zollerklärung? Sie war bei dem Kfz-Brief; das weiß ich genau, denn ich habe eigens alle Papiere für das Auto zusammengelassen! Alles Suchen in allen Taschen hilft nichts, die Zollerklärung ist weg! Die muss einer von denen geklaut haben, die sich gestern die Wagenpapiere angesehen haben. Aber wozu? Was kann er damit anfangen? Ich brauche aber die Zollerklärung, denn ohne sie kann ich den Wagen nicht verkaufen, und auf ihr muss von Amts wegen vermerkt werden, dass ich den Wagen ordnungsgemäß verzollt habe, sonst kann ich nicht über die Grenze zurück; und in meinem Visum ist der Wagen eingetragen. Zurück nach Hause. Dort telefoniert meine stundenlang, bis der weitere Weg klar ist: liebe Elen „Hans, morgen früh müssen wir mit Alexander zum Hauptzollamt fahren. Dort bekommst du eine Bescheinigung, dass du den Wagen an Alexander verkaufen darfst und eine Ersatzzollerklärung für die Grenze. Mit beiden Papieren können wir dann am Kfz-Zollamt am Rigaer Bahnhof den Verkauf perfekt machen.“ Und das mir! Der ich nichts so sehr auf der Welt hasse, wie Behördenkram! Am Hauptzollamt am nächsten Morgen geht alles sehr schnell; die Dame ist sehr hilfsbereit, freundlich wäre zu viel gesagt. – Ich habe den Eindruck, die Amtspersonen, die ich kennengelernt habe, haben Angst, etwas von ihrer behördlichen Würde zu verlieren, wenn sie wirklich freundlich sind. – Auf dem Kfz-Zollamt herrscht die gleiche qualvolle Enge wie am Tag zuvor. Eine stämmige ältere Dame ist, der Zerberus dieser ‚Gaskammer‘, in der wir warten müssen. Sie entscheidet, wer wann hier eingelassen wird; die anderen müssen draußen auf der Treppe warten. „Das ist unser ‚Towarisch Kommandeur'“, erklärt Elen. Ich weiß nicht warum, vielleicht weil wir gestern schon einmal erfolglos hier waren, wir durften sofort herein; vor uns sind nur sechs Parteien, Da aber jede Partei mit mindestens drei Personen anwesend ist, stehen und sitzen hier mindestens 20 Personen in einem fenster- und lüftungslosen Raum von maximal 12 m2. Ich scheine es unserem Towarisch Kommandeur angetan zu haben; sie schaut mich immer wieder an und redet irgendwas; wenn ich nicht wüsste, dass sie aus diesem Alter längst heraus ist, könnte ich annehmen, sie will flirten. Nach einer Weile meint Elen: „Hans, ich glaube, ich muss eifersüchtig werden! Die alte Dame redet ununterbrochen von deinem schönen Bart; und jetzt fragt sie, ob sie ihn einmal anfassen und streicheln darf?“ „Bitteschön!“ Ich halte ihr meinen streichelt ihn wirklich liebevoll. Bart hin, und sie – Warum übt mein Bart nur eine solche Anziehungskraft auf russische Frauen aus? Bei einer anderen Gelegenheit, ich war auch mit Elen zusammen, hatte ich das gleiche sogar mit einer hübschen jungen Frau erlebt! – Wir warten und warten, es geht nur langsam vorwärts. Als glücklich nur noch eine Frau vor mir ist, geht es gar nicht mehr weiter. Seit fast einer Stunde warten wir jetzt. Aber andauernd kommen junge Kerle, die ohne sich um uns zu scheren, in dem Büro, in das auch wir wollen, ein und ausgehen. Typ Mini-Mafiosi. Ich schaue bei einer Gelegenheit in das Büro, und siehe da, sie machen das gleiche, was auch wir wollen. Wieder beginnt mein Blutdruck zu steigen, ich werde langsam immer unfreundlicher und fange an, zu meckern. Es ist heute nämlich Freitag, und am Sonntag muss ich zurück nach Deutschland. Die Angelegenheit muss heute erledigt werden, und wer weiß wie lange heute hier gearbeitet wird. Um halb eins kommt Towarisch Kommandeur und teilt uns mit, dass jetzt Mittagspause ist. Wir sollen gehen. Ich explodiere, ich kenne mich nicht mehr. Diese verdammten Kakerlaken-Mafiosi bilden sich ein, sie seien hier die Bosse, die sich alles erlauben können. Und was mich mindestens genauso ärgert, ist, dass die anderen sich das gefallen lassen! Ich nicht! Ich reiße die Tür auf, gehe in das Büro, da sitzen gerade zwei von diesen jämmerlichen Figuren, und brülle sie und die ‚Amtsperson‘ an, dass die Scheiben wackeln. Die Lautstärke ersetzt, da mich eh niemand versteht, den Inhalt. Und nach der zu urteilen ist allen klar um was es geht. Das hat hier mit Sicherheit noch niemand erlebt, sie sitzen stocksteif da, reißen Mund und Augen auf, einer fängt an etwas zu stammeln, Verschluckt sich aber und schweigt dann auch. So, meine Adrenalinausschüttung ist abgebaut; schaut, zu, was ihr damit macht. Nach der Mittagspause sind wir die ersten. In einer vierte] Stunde ist, hier jetzt alles erledigt. Wir müssen aber anschließend noch zu einer Kommission, die einen Vertrag zwischen uns beglaubigen muss! Während wir auch dort vor der Tür wieder warten, Gott sei Dank nicht lange, dringen vertraute fränkische Laute an mein Ohr. Ich glaube, ich höre nicht recht: Ein Nürnberger Reiseunternehmer hat sich ebenfalls angestellt; nun wird uns die Zeit nicht lang. Nachdem auch bei dieser Kommission der Amtsschimmel zu Ende gewiehert hat, geht es noch einmal ins Zollbüro, noch ein Stempel! Und mein Gefühl hatte mich heute Morgen nicht getrogen: heute am Freitag ist eher Feierabend. Nach mir ist Schluss! Wenn ich nichts weiß, aber eines weiß ich gewiss: Nie mehr in meinem Leben werde ich in Moskau ein Auto verkaufen!
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