Von der Irritation zur Attraktion

Von der Irritation zur Attraktion - Der Panoramablick aus dem Eisenbahnabteil
Wahrnehmungsweisen verändern sich. Diese Veränderungen sind schwer nachzuvollziehen,
da es sich um langsame und subtile Prozesse handelt und weil uns unsere eigenen Wah rnehmungsformen so selbstverständlich und natürlich erscheinen, dass sie uns normale rweise gar nicht bewusst und schon gar n icht zum Problem werden.
Im 19. Jahrhundert gab es einen technischen Innovationsschub, an dem sich die veränderten Anforderungen an Wahrnehmungsformen und die dadurch ausgelösten Irritationen nachvollziehen lassen. Es geht um
die Einführung der Eisenbahn und um die Reaktion vieler Zeitgenossen auf diesen Wechsel vom Tempo der
Fußgänger und Postkutschen zur Geschwindigkeit der Eisenbahn. Vielfach wird über körperliche Beschwerden berichtet, die durch das Eisenbahnfahren ausgelöst wurden. "Technikeuphoriker" sahen darin wiederum eine Möglichkeit, bestimmte Beschwerden zu heilen, und empfahlen, Eisenbahnfahren als Teil einer
Kurbehandlung. Erklärbar werden diese Phänomene - sieht man einmal von der durch die Neuigkeit dieses
Erlebnisses bedingten Erregung ab - wenn man persönliche Erfahrungsberichte über die ersten Eisenbahnfahrten heranzieht. So beschreibt der französische Schriftsteller Victor Hugo den Blick aus dem Abteilfenster als neue Form, eine Landschaft zu erleben:
"Die Blumen am Feldrain sind keine Blumen mehr, sondern Farbflecken, oder vielmehr rote und weiße
Streifen; es gibt keinen Punkt mehr, alles wird Streifen; die Getreidefelder werden zu langen gelben
Strähnen; die Kleefelder erscheinen wie lange grüne Zöpfe; die Städte, die Kirchtürme und die Bäume
führen einen Tanz auf und vermischen sich auf eine verrückte Weise mit dem Horizont; ab und zu taucht
ein Schatten, eine Figur, ein Gespenst an der Tür auf und verschwindet wie der Blitz, das ist der Zugschaffner." (zitiert nach Schivelbusch, 1979, S. 54)
Ein derartiger Effekt stellt sich ein, wenn man aus dem Eisenbahnfenster in den Nah- und Mittelbereich
schaut. Durch die Reisegeschwindigkeit verwischen die visuellen Eindrücke. Der Eisenbahnfahrer muss also
im Gegensatz zum Fußgänger und Postkutschenfahrer, der auch den Nahbereich detailliert wahrnehmen
kann, seinen Blick in die Ferne schweifen lassen, einen Panoramablick entwickeln. Tut er dies nicht, sondern hält die Augen über einen längeren Zeitraum auf den Nahbereich fixiert, könnte dies auch heute noch
Schwindelgefühle und Unwohlsein auslösen. Unterschiedliche Fortbewegungsgeschwindigkeiten erfordern
unterschiedliche Formen der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung.
Schivelbusch, der diese Veränderungen anschaulich beschrieben und analysiert hat, verweist in diesem
Zusammenhang auf die Analogie zwischen dem Panoramablick durch das Abteilfenster und dem Vorüberziehen der Bilder auf der Leinwand im Kino bzw. im Panorama, eines der Massenmedien des 19. Jahrhunderts (Schivelbusch 1979, S.51 ff.).
Vom „Rundgemälde“ zum „moving panorama“
Beim Begriff "Panorama" handelt es sich um ein Kunstwort. Mit diesem Fachbegriff wurden Landschaftsbilder
bezeichnet, die einen 360-Grad-Rundblick wiedergaben.
Das Wort bezeichnete nicht nur das Gemälde, sondern
auch das Spezialgebäude, in dem solche Panoramabilder präsentiert wurden.
Wie sich die Einstellung zum Erlebnis der Eisenbahnfahrt im Laufe weniger Jahrzehnte grundlegend verändert hat, zeigt sich 1900 bei der Weltausstellung in Paris. Es gäbe zahlreiche „Panoramen“ auf dem Gelände
der Weltausstellung, aber nicht alle seien gleich interessant, liest man in der Ausgabe der populärwissenschaftliche Zeitschrift „La Nature“ vom Juni 1900. In drei Fol- 1 Werbung für das "panorama mouvant" auf der Weltausgen stellt die Zeitschrift Beispiele für die Weiterentwick- stellung 1900 in Paris
lung dieser Form der Schaustellung vor (La Nature
1900). In den klassischen Panoramagebäuden konnten die Besucher den 360-Grad-Rundblick auf berühmte
Stadtansichten und Landschaften von einer Aussichtplattform aus genießen. Der realistische Eindruck wurde durch optische und akustische Effekte erhöht. Berichtet wird von einem Schweiz-Panorama, bei dem die
Stand: 30.11.2016
Wolf-Rüdiger Wagner
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Besucher auf einem nachgebauten Schiffsdeck standen, das schwankte, um den Seegang zu simulieren.
Bei den 1900 in der Zeitschrift La Natur vorgestellten
Panoramen handelt es sich um sogenannte „moving
panoramas“. Das Neuartige und Interessante an diesen neuen Medien ist, dass den Besuchern dabei der
Eindruck vermittelt werden soll, er bewege sich durch
die Szenerie oder Landschaft (La Nature 1900, S. 402
ff.). Die Landschaft „zieht“ an den Besuchern so vorbei, wie sie Reisende aus einem Zugabteil heraus,
vom Deck eines Kreuzfahrschiffes oder aus dem Korb
eines Heißluftballons erleben würden. Diese
„Scheinwelten“ werden mit einem für die damalige
Zeit hohen technischen Aufwand inszeniert.
Die Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn
2 Blick auf die vier Leinwände und einen Eisenbahnwagon
Mit Blick auf die durch die „Geschwindigkeit“ der Fahrt mit der Eisenbahn anfangs ausgelösten Irritationen
ist das Panorama „Fahrt auf der Transssibirischen Eisenbahn“ besonders aufschlußreich. Die Besucher dieses Panoramas sitzen in drei Waggons, wie sie auf dieser Strecke zum Einsatz kommen. An den Abteilfenstern werden mit Stadt- und Landschaftsansichten bemalte Leinwände vorbeigezogen. Man belässt es aber
nicht nur bei der Schweinbewegung, also dem Effekt, der eintritt, wenn ein Beobachter eine bewegte Szenerie sieht und bei ihm dadurch der Eindruck entsteht, er selbst würde sich bewegen. Vielmehr ist nicht nur
eine Leinwand, sondern es sind vier Bahnen, die in unterschiedlichen Abstand und mit unterschiedlicher
Geschwindigkeit an den Abteilfenstern vorbeigezogen werden. Am schnellsten mit 300 Metern pro Minute
bewegt sich im unteren Teil des Sichtfeldes der „Bahndamm“ – ein Band, auf dem Steine und Sand aufgeklebt sind – an den „Reisenden“ vorbei. In der zweiten Ebene ziehen mit 120 Meter pro Minute auf einem
Band Büsche und Sträucher, wie sie an Wegen und Straßen üblich sind, vorbei. Dahinter, noch langsamer
das Band mit Häusern und Bäumen. Die vierte Leinwand im Hintergrund mit Stadtansichten und typischen
Landschaftsformationen mit einer Länge 220 Metern und Höhe von 8 Metern bewegt sich während der 45
Minuten dauernden „Fahrt“ lediglich mit einer Geschwindigkeit von 5 Metern pro Minute an den Fenstern
vorbei.
Als der irische Porträtmaler Robert Barker 1787 in Edinburgh seine Erfindung eines 360-Grad-Rundbildes zum
Patent anmeldete, versprach er "Allsicht in einem Augenblick", "so as to make observers feel as if really on
the very spot" (zitiert nach Meyer 1993, S. 13). In einem
„moving panorama“ auf der Weltaustellung 1900 geht
es dagegen darum, den Besucher in die Situation eines
Reisenden zu versetzen, der sich mit der Geschwindigkeit eines modernen Verkehrsmittels durch eine Landschaft bewegt. Bewegung und Geschwindigkeit wird
vom Problem zur Attraktion! Besucht wurde das Panorama an 208 Öffnungstagen von mehr als 300.000 Besuchern (Sehsucht 1993, S. 63).
3 Blick auf die mechanische Vorrichtung, mit der die vier
Leinwände mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegt
werden können
Literatur
La Nature. Revue des Sciences 1900, Les Panoramas de l‘Exposition I, Le Stéréorama – Le Transsibérien, Bd.1, S. 399 –
403
Meyer, Claus Heinrich 1993: Von der stillbaren Sehsucht des Menschen, in: Süddeutsche Zeitung, 4.06.1993, S. 13
Schivelbusch, Wolfgang 1979: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Fankfurt am Main und Berlin
Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts 1993, hrsg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland anläßlich der Ausstellung „Sehsucht“, Frankfurt am Main
Abb. 1 Werbeplakat für das „panorama mouvant“ auf der Weltausstellung 1900 in Paris
Abb. 2 La Nature. Revue des Sciences 1900, Bd. 1: Le Stéréorama – Le Transsibérien, S. 401
Abb. 3 ebd., S. 401
Stand: 30.11.2016
Wolf-Rüdiger Wagner
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