BRIEFE Das Leser-Forum chronischer Schmerzen bereits mit J. Bonica (Etablierung einer multidisziplinären Die Behandlung chronischer Schmerzen ist eiEinrichtung; 1947), G. Engel (biopsychone zunehmende Herausforderung für das Gesoziales Modell; 1977) sowie T. Mayer sundheitssystem. In Gießen wurde ein kliniund R. Gatchel (functional restoration; sches Behandlungskonzept etabliert, das eine 1988) entwickelt und etabliert wurden. enge Zusammenarbeit der anästhesiologischen Ausgehend von Mainz (1970er Jahre) und der psychosomatischen Klinik beinhaltet und Göttingen, Heidelberg, München (DÄ 44/2016: „Versorgung chronisch Schmerz(1990er Jahre) fand dieses interdisziplikranker: Interdisziplinäre Zusammenarbeit“ von näre Konzept unter der Bezeichnung PD Dr. med. Hagen Maxeiner et al.). „multimodaler Schmerztherapie“ Einzug in die Behandlung von Patienten mit Klare Vorgaben chronischen Schmerzerkrankungen in Ein Blick in die Geschichte der Schmerz- Deutschland und wurde in der Folge sowohl im stationären als auch tagesklinimedizin sowie in die aktuelle schmerzschen Setting umgesetzt, weiterentwimedizinische Literatur hätte den Lesern ckelt und wissenschaftlich evaluiert. Die des Artikels aufzeigen können, dass bioKommission „Multimodale interdisziplipsychosoziale Ansätze in der Therapie SCHMERZMEDIZIN näre Schmerztherapie“ der Deutschen Schmerzgesellschaft erarbeitet seit 2009 konsentierte Struktur- und Prozesskriterien. Es wurden klare Vorgaben für strukturelle, organisatorische und inhaltliche Bedingungen einer solchen Schmerztherapie formuliert. Die Publikationen dieser Kommission scheinen den Autoren des Beitrags allerdings unbekannt. Auch Bezüge zur internationalen Literatur werden vermisst. Dies erweckt bei der Vorstellung des „Gießener Modells“ den irreführenden Eindruck einer innovativen Therapie. Dabei steht das „Gießener Modell“ hinter den längst konsentierten Strukturund Prozessempfehlungen sogar zurück und erreicht damit nicht einmal den „state-of-the-art“ multimodaler Schmerz- BRIEFE therapie, wie er seit einigen Jahren etabliert ist. Um nur einige Punkte zu nennen: ● Die Therapieindikation ergibt sich – entgegen der Darstellung der Gießener Kollegen – einzig aus einem interdisziplinären Assessment, welches auch von den Kostenträgern in der Regel gefordert wird. Damit werden u. a. die individuellen Therapieerfordernisse sowie die Therapiebereitschaft der Patienten bestimmt. ● Die im Beitrag von Maxeiner und Leweke beschriebene Behandlungsdauer von 14 Tagen entspricht nicht der für nachhaltige Effekte erforderlichen Dosis hochintensiver Programme, wie sie z. B. auch in der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz gefordert werden. ● Die Zuteilung der Patienten in solche mit Schmerzerkrankungen mit überwiegendem „körperlichen Hintergrund“ sowie solche mit „psychischem Hintergrund“ beinhaltet eine in der modernen Schmerztherapie längst überwundene Dichotomisierung in körperlich oder psychosozial begründete Schmerzerkrankung. ● Invasive Verfahren, die anscheinend in Gießen weiterhin eine Rolle spielen, widersprechen dem Therapieziel der Steigerung der Aktivität und Selbstwirksamkeit und spielen angesichts mangelnder Evidenz in der Schmerztherapie keine Rolle mehr. Auch in diesem Punkt berücksichtigt das beschriebene Behandlungskonzept nicht den aktuellen Wissensstand. ● Der mangelnde Bezug zu den konsentierten Erfordernissen multimodaler Schmerztherapie wird weiterhin in der Beschreibung der Gießener Therapieinhalte deutlich: Während dort konsiliarische Zusatzuntersuchungen das „interdisziplinäre Setting“ bilden, wird im Rahmen moderner schmerztherapeutischer Konzepte seit langem ein festes interdisziplinäres Team gefordert, das in stabiler therapeutischer Beziehung gemeinsam mit den Patienten („shared decision making“) individuelle Möglichkeiten der Schmerzbewältigung auslotet und Wege hin zur Steigerung von Selbstwirksamkeit und Kontrollerleben beschreitet. Maxeiner und Leweke verweisen in ihrem Artikel darauf, dass „die Evaluation des Therapiekonzeptes … in ersten Ergebnissen eine gute Effizienz“ zeige. Leider sind keine detaillierteren Angaben zu finden, weder im Text noch in der zitierten Literatur. So bleiben wesentliche Angaben zu den Patientenmerkmalen, den genauen Therapieinhalten und -intensitäten, den Outcomedomänen und Studienendpunkten A 2162 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 47 | 25. November 2016 BRIEFE sowie den Messinstrumenten verborgen. Somit fehlt der Behauptung über die Effizienz und Nachhaltigkeit die wissenschaftliche Grundlage. Im Gegensatz zu diesen fehlenden Angaben gibt es bereits zahlreiche Veröffentlichungen aus Deutschland, die eben diese Nachhaltigkeit multimodaler Schmerztherapie demonstrieren konnten. Prof. Dr. med. Rainer Sabatowski, 01307 Dresden (Korrespondenzadresse), Dr. med. Bernhard Arnold, 85221 Dachau, PD Dr. med. Dominik Irnich, 80366 München, Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Michael Pfingsten, 37075 Göttingen, Prof. Dr. med. Marcus Schiltenwolf, 69118 Heidelberg, Literatur bei den Verfassern. ARZNEIMITTELGESETZ Zum Editorial „Arzneimittelgesetz: Ärzte vom Regressrisiko befreien“ von Falk Osterloh (DÄ 41/2016). Pharma-Werbeaktivitäten Dem Kommentar ... zum im Grunde unverständlich häufigen Einsatz neuer Medikamente, die keinen Zusatznutzen aufweisen, widerspreche ich: Es lägen ... im Einzelfall möglicherweise Informationen vor, die die Verordnung eines Arzneimittels rechtfertigen, auch wenn es keinen Zusatznutzen erhalten hat. Und: Es gäbe eine ausreichend hohe „intrinsische“ ärztliche Motivation, sich bezüglich neuer Medikamente zu informieren. Toll, wenn solch eine intrinsche ärztliche Motivation auf die intrinsischen Werbeaktivitäten von Pharmareferenten trifft: „Herr Doktor, hier sind die Infos meiner Firma, mit denen Sie die wissenschaftlichen Einwände (kein Zusatznutzen) umschiffen können.“ Deutsche niedergelassene Ärzte lassen sich nämlich wesentlich und gern von Pharmareferenten über neue Medikamente informieren (siehe: Dt Arztebl Int [2010]107:392–398). Grundsätzlich sollte jeder Arzt, der bevorzugt mit diesen Herstellerinformationen – welche stehen den Niedergelassenen denn sonst noch zur Verfügung? – die Verordnung neuer Substanzen begründet, zu seinen Patienten sagen: „Ich verordne ihnen heute ein neues Medikament, über das verständlicherweise nur ein geringes Wissen vorliegt (weltweit und bei mir persönlich). Dies Wissen ist durch Effekte des publication bias (gute Effekte publizieren, ungünstige Effekte kleinreden oder nicht publizieren) beeinflusst. In der Regel wurDeutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 47 | 25. November 2016 A 2163
© Copyright 2024 ExpyDoc