Judith Pallitsch 1 Der Zwilling

Judith Pallitsch
Der Zwilling
„Danke, dass du mitgekommen bist Anna.“
„Soll das ein Witz sein? Natürlich komme ich mit, mein Schatz. Ich möchte doch
wissen, wo du aufgewachsen bist und endlich deinen Zwillingsbruder kennen lernen.
Aber vielleicht ist er ja noch sexyer als du und ich brenne mit ihm durch.“, lachte
Anna und zwinkerte ihrem Verlobten zu.
Patrick lachte auf.
„Das kann sogar leicht sein. Alexander war immer der Beliebtere von uns zwei. Die
Mädchen rannten ihm nur so nach. Er war in allem besser als ich.“
„Hast du ihn dann nicht beneidet?“
„Eigentlich nicht. Wir haben uns immer nur sehr selten gesehen und wenn, dann
haben wir nur miteinander geredet und er hat mich aufgebaut, wenn’s mir schlecht
ging. Er hat mir echt durch ein paar schwierige Zeiten geholfen. An Tagen, an denen
ich nicht weiter wusste, war er für mich da. Ich glaube wegen ihm bin ich heute da,
wo ich bin. Ohne ihn hätte ich nichts auf die Reihe gekriegt.“
Anna lächelte. „Das ist schön. Er klingt nach einem wundervollen Menschen. Wieso
habt ihr eigentlich nie zusammen gelebt?
„Naja, ich habe dir ja erzählt, dass ich bei meiner Mutter aufgewachsen bin. Und er
bei unserem Vater. Unsere Eltern konnten nicht einmal eine Minute unter demselben
Dach verbringen ohne Porzellan nach einander zu schmeißen. Nur zufällig hat
Alexander diesen einen Sommer, in der Stadt verbracht, wo Mama und ich gelebt
haben. Aber das war der beste Sommer, den ich je hatte. Danach, als ich von meiner
Mutter weg bin, haben wir uns irgendwie aus den Augen verloren.“
Plötzlich läutete Annas Handy. Schnell drückte sie den Anruf ab.
„Wer war das?“
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„Ein Arbeitskollege. Ich soll wahrscheinlich wieder irgendetwas über das
Wochenende vorbereiten, aber der kann mich heute mal. Ich hab dieses
Wochenende wichtigere Sachen zu tun.“
Die beiden lächelten einander an und Patrick konnte nicht glauben, dass so eine
Schönheit seine Frau werden wollte. Noch nie war er in seinem Leben so glücklich
gewesen und er konnte es nicht erwarten endlich Alexander wieder zu sehen und
ihm von seinem Glück zu berichten, auch wenn er sich unwohl fühlte, zurück in die
Kleinstadt zu kommen, in der er aufgewachsen war.
Sie fuhren die Serpentinen hinab, an deren Ende sich die Stadt aufbaute. Der
Kirchturm in der Mitte, die vielen, kleinen Häuser mit roten und schwarzen Dächern
rundherum. Einige mit Pool. Ihr Ziel war das Gasthaus ein paar Straßen von der
Kirche entfernt. Dort hatte Patrick sich früher immer mit Alexander getroffen. Denn es
wäre unmöglich gewesen mit ihm nach Hause zu gehen. Ihre Mutter hätte verrückt
gespielt. Außerdem wollte Patrick seinem Bruder den Anblick ersparen, was aus der
Mutter im Laufe der Jahre geworden war.
Sie parkten direkt vor dem Gasthaus. Patrick schaute sich kurz um, als könnte er bei
den umstehenden Autos erkennen, welches davon seinem Bruder gehörte, was
natürlich Schwachsinn war. Er hatte ihn schon Jahre nicht mehr gesehen.
Patrick stieg aus dem Wagen, lief einmal um das Auto und öffnete Anna die Tür, die
ihm lächelnd entgegentrat, als hätte diese Aktion ihr gezeigt wie sehr er sie li ebte.
Hand in Hand gingen sie in das Gasthaus. Es sah aus wie früher. Dunkle, urige
Möbel und eine massige Bar am Eingang. Man hatte versucht das kleine Restaurant
optisch zu vergrößern, indem Spiegel an den Wänden und über den Sitzbänken
angebracht wurden. Trotzdem wirkte der Gastraum winzig und verwinkelt.
Ein bekannter Geruch trat Patrick in die Nase. Eine Mischung aus alten Textilien und
abgestandenem Frittieröl. Patrick atmete tief ein und plötzlich tanzten tausende
Erinnerungen durch seinen Kopf.
Eine uralte Frau kam ihnen entgegen. Als sie Patrick sah, setzte sie an ihn zu
umarmen, zögerte aber dann. Doch die Freude stand ihr ins Gesicht geschrieben:
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„Patrick! Das man dich hier wieder einmal sieht. Mein bester Kunde! Du hast dich
kaum verändert. Ich habe dich sofort wiedererkannt. Bist du auf Besuch bei deiner
Mutter? Und wer ist denn dieses wunderhübsche Mädchen an deiner Seite?“
„Danke, Frau Lehner. Es ist schön mal wieder hier zu sein.“, grinste Patrick. „ Das ist
meine Verlobte Anna. Wir treffen uns mit meiner Familie.“
„Das ist schön.“, antwortete die Alte, doch es schien als bedrückte sie etwas. „Es ist
schön dich kennen zu lernen Anna. Man sieht, dass du dem Jungen gut tust.“
„Die Freunde ist ganz meinerseits.“, lächelte Anna, als ihr Handy ein zweites Mal an
diesem Tag läutete und sie hastig abdrückte.
Sie setzten sich an denselben Tisch, an dem Patrick früher immer mit Alexander
gesessen hatte. Anna setzte sich gegenüber von einem Spiegel, um ihre Haare zu
richten, die vom Fahrtwind ganz zerzaust waren. Patrick, der gegenüber saß,
lächelte und half ihr dabei. Sie war so wunderschön.
Zum ersten Mal überhaupt bestellte sich Patrick in dem Restaurant etwas zu essen.
Zuerst wollten sie auf Alexander warten, aber Anna war unglaublich hungrig.
Auch nach dem Essen war Alexander noch immer nicht da. Anna blickte auf die Uhr.
„Wann hat er gesagt, er kommt?“
„Er sollte schon längst da sein. Komisch. Normalerweise war ich immer der, der zu
spät war. Er saß immer schon hier, wenn ich gekommen bin.“
„Vielleicht hat er vergessen. Ruf ihn doch einfach an.“
Patrick nahm Annas Handy, denn er hatte seines vergessen, blickte kurz
gedankenverloren auf das Display und sagte dann:
„Ich Idiot weiß nicht einmal seine Nummer.“
Anna lachte kurz auf, während sie ihr Handy schnell zurücknahm und kurz das
Display checkte.
Als die Alte kam um abzuservieren, verlangte Patrick resignierend die Rechnung. Mit
besorgtem Gesichtsausdruck kam die Frau zum Abkassieren.
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„Was ist denn mit Ihnen los?“, fragte Patrick freundlich als er bezahlte.
„Nichts. Ich bin nur erstaunt, wie wenig sich verändert hat.“
Verwirrt ging das Paar aus dem Gasthaus ins dunstige, heiße Freie. Sie setzten sich
ins Auto.
„Na das war ja wohl nichts. Es tut mir leid, dass wir den ganzen weiten Weg umsonst
gefahren sind.“
„Du willst doch nicht gleich jetzt nach Hause fahren. Komm schon, wenn wir schon
mal hier sind, können wir auch deine Mutter besuchen gehen. Was glaubst du, was
sie von uns hält, wenn sie hört, dass wir hier gewesen sind und sie nicht einmal
besuchen. Immerhin bin ich ihre zukünftige Schwiegertochter. Ich weiß du hattest
kein sehr gutes Verhältnis zu ihr, aber komm schon, das ist jetzt schon Ewigkeiten
her.“
Patrick konnte zu Anna nicht Nein sagen. Er wollte die Liebe seines Lebens auf
keine Art und Weiße enttäuschen. Also fuhren die beiden an den Stadtrand.
Es war ein kleines Bungalowhäuschen. Die Fassadenfarbe war noch blasser als
damals und einige dunkle Flecken waren dazugekommen. Der Garten war schon seit
Ewigkeiten nicht gepflegt worden. Alles war braun und verdorrt. Die Pflanzen, die
keine Pflege brauchten, wucherten über Haus und Gehsteig. Genauso hatte Patrick
es in Erinnerung. Die anderen Kinder hatten es früher immer „die Höhle“ genannt, er
„das Hexenhaus“.
Die Tür öffnete ihnen eine mit tauschenden Falten übersäte Frau. Man sah, dass sie
einmal wunderschön gewesen war, aber ihre ergrauten, langen Haare und die
abgemagerte Gestalt, ließen nur ahnen, wie lange das schon her war. Sie blinzelte
ein paar Mal gegen das Sonnenlicht.
Als sie ihren Sohn erkannte, begann sie zu strahlen und umarmte ihn. Patrick
erschrak bei der ganzen ehrlich zu scheinenden Liebe, die sie ihm entgegenbrachte,
und darüber, dass er seine Arme fast zweimal um ihren dürren Körper wickeln
konnte. Sie roch nach Alkohol, aber nicht so stark wie er es in Erinnerung hatte.
„Mama, das ist Anna, meine Verlobte.“
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Erstaunen und Freude war auf dem Gesicht der Frau zu lesen als sie sich von
Patrick löste und kurzerhand Anna umarmte, die verdutzt, aber zufrieden ihren
Verlobten anblickte.
„Kommt doch rein Kinder. Ich freue mich so sehr. Hättet ihr euch angekündigt, hätte
ich natürlich aufgeräumt, aber ich hoffe ihr verzeiht einer alten Dame.“, sagte sie
vergnügt, während das Paar ihr ins Wohnzimmer folgte. Eilig trug sie Decken und
Zeitschriften vom Sofa und gebot ihnen zu sitzen, während sie Gläser und Flaschen
wegräumte.
Dann setzte sie sich an den Rand des ebenfalls mit Zeitschriften belagerten Fauteuils
und lächelte die beiden an.
„Was führt euch hier her?“
„Ich wollte Anna zeigen, wo ich aufgewachsen bin und da haben wir uns gedacht,
dass wir kurz hier vorbeischauen können.“, antwortete Patrick.
„Das ist sehr schön. Das hätte ich gar nicht von dir erwartet Patrick.“, lächelte seine
Mutter, während sie zwischen Anna und Patrick hin und her blickte. „Was habt ihr
euch denn alles angeschaut?“
Patrick zögert und Anna kam ihm zuvor. „Wir sind in dieses kleine, alte Gasthaus
gegangen. Patrick hatte mir so viel davon erzählt. Wir wollten dort eigentlich
Alexander treffen, aber er ist leider nicht gekommen.“
Die faltige Frau nickte lächelnd, doch aus ihrem Gesicht war die Freundlichkeit
gewichen. Abscheu mischte sich in ihren Ausdruck.
Da läutete Annas Handy abermals. Diesmal sprang sie auf und sagte mit einem
gequälten Lächeln:
„Entschuldigung bitte. Es scheint mein Kollege lässt mich heute nicht in Ruhe…“
Sie ging in die Küche und schloss die Tür hinter sich.
Kaum war Anna verschwunden veränderte sich das freundliche Gesicht der alten
Frau zu einem hämischen Grinsen.
„Was ist Mutter?“, fragte Patrick als hätte er nur darauf gewartet.
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„Weiß sie, dass sie Alexander nie zu Gesicht bekommen wird, weil es ihn nie
gegeben hat? Weiß sie, was für einen Irren sie heiraten will?“
Patrick stand abrupt auf.
„Du hast dir ja schon lange das Hirn weggesoffen, aber dass du deinen eigenen
Sohn vergisst, ist doch wohl unverzeihlich! Anna, wir gehen!“
Aber Anna hatte ihn nicht gehört. Als er Richtung Küche ging, war ihre Stimme
deutlich zu hören, obwohl sie versuchte zu flüstern.
„Ruf mich ja nicht mehr an du Idiot! Du warst der größte Fehler meines Lebens und
ich bereue jeden Tag, dass ich dir verfallen bin. Ich werde ihn heiraten und es gibt
nichts was du dagegen tun kannst. Also hör auf mich anzurufen und droh mir nie
wieder, du Arschloch!“
***
„Da bist du ja wieder. Habt ihr etwas vergessen?“, fragte die Besitzerin des
Gasthauses als Patrick durch die Tür hineinstürmte.
„Nein, ich dachte nur, dass mein Bruder vielleicht in der Zwischenzeit gekommen
ist.“, antwortete Patrick atemlos.
Die Alte quälte sich zu einem Lächeln, aber in ihren Augen war etwas Anderes zu
lesen, das Patrick nicht verstand und ihm wütend machte. Dann sagte sie aber:
„Ich glaube, er hat sich vor kurzem hereingeschlichen. Schau mal auf dem Platz, wo
ihr sonst immer gesessen habt. Ich bring euch beiden dann eine Cola vorbei. Wie
früher.“
„Dankeschön, Frau Lehner.“, sagte Patrick und beruhigte sich ein wenig. Der Geruch
in dem Gastraum entspannte ihn.
Patrick ging an den Tisch, an dem Anna und er zuvor gesessen hatten und setzte
sich vis-a-vis vom Spiegel.
„Warum hast du dich heute verspätet?“
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„Tut mir leid Bruder. Ich wurde aufgehalten. Aber ich bin froh dich endlich wieder zu
sehen.“
„Und ich erst!“
Die alte Gasthausbesitzerin brachte das Glas Cola.
Patrick und sein Zwillingsbruder tranken.
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