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Zur Geschichte der Hans von Reutlingen-Forschung
von Ernst Günther Grimme
Vor fast genau 100 Jahren beginnt man, sich im
Rahmen der Aachener Forschung mit Werk und
Persönlichkeit Hans von Reutlingens, des größten,
uns namentlich bekannten Aachener Künstlers des
späten Mittelalters zu beschäftigen. Die im Vorangehenden veröffentlichten neuen Erkenntnisse zur
Riographie des Meisters geben Anlaß, rückblickend
die gemeinsamen ßemiihungen von Geschichtsund Kunstgeschichts-Wissenschaft um die Erhellung von Leben und Werk des Hans von Reutlingen zu skizzieren.
Die erste eingehende ßeschreibung von Werken
des Aachener Meisters findet sich bei: F. Bock (Karls
des Großen Pfalzkapelle und ihre Kunstschätze.
Köln und Neuß 1865). Er behandelt das Standbild
des hl. Petrus, das er in die letzte Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert. Das große Kapitelsiegel setzt er
im dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts an. Die
Monstranz Karls V. rekonstruiert er und datiert
ins frühe 16. Jahrhundert.
Der Name »Hans von Reutlingen« ist ihm noch
unbekannt, er behandelt die angeführten Goldschmiedearbeiten als qualitätvolle Werke eines
anonymen Meisters.
Johann Hubert Kessel (Geschichtliche Mittheilung
über die Heiligthiimer der Stiftskirche zu Aachen.
Köln und Neuß 1864) bildet die Figur des hl. Petrus ab. Er übernimmt die Datierung Bocks und
verbreitet sich nach kurzer, unbedeutender Beschreibung über die legendäre und historische Herkunft der Reliquie.
W. Scheins (Kunstschätze der Münsterkirche zu
Aachen . . . Berlin 1876) fiigt der Beschreibung
Bocks außer der Erwähnung romanischen Ornamentes der silbervergoldeten Fassung, das ihm
als Beweis für eine »ältere Aufbewahrung« dient,
nichts Neues hinzu. Er beschreibt die Monstranz
und sieht in ihr ein Werk der Übergangszeit.
Es ist das Verdienst Stephan Beißels (»Die Besehauzeichen des Hans von Reutlingen«, in: Zeitschrift für christliche Kunst II. Sp. 379), erstmals
auf das Meisterzeichen an den Werken Hans von
Reutlingens hingewiesen zu haben. Er entdeckte
auf dem Evangelienbuchdeckel »ein schrägliegendes großes lateinisches R, dessen unterer Strich
jenseits des langen, geraden Striches hinaufgeht
und mit ihm ein Kreuz bildet. Das Monogramm
besteht demnach aus den Buchstaben R und I.
Dasselbe Beschauzeichen und dasselbe Meister-
zeichen findet sich auf den silbernen Siegelstempeln des Aachener Münsters«.
Eine erste Auswertung dieser Erkenntnisse versuchen Loersch-Rosenberg. (Die Aachener Goldschmiede, ihre Arbeiten und ihre Merkzeichen
Z. A. G. V. Aachen 1893. S. 92 Nr. 64). Sie weisen
die Buchstaben I und P einem Meister mit den
Initialen I und R zu, indem sie die zweite Hälfte
des I zugleich als untere Schleife des R oder das P
als griechisches R ansehen. Der Katalog der Werke
führt den Buchdeckel, das Agnus-Dei-Reliquiar, die
Petrusstatue, die Monstranz, den Siegelstempel des
Stiftskapitels sowie einen vergoldeten Kelchfuß an.
Die Zusammenstellung des damals bekannten urkundlichen Materials, die Katalogisierung der
Werke, vor allem die Gleichsetzung des Monogramms mit dem Namen Hans (Jan) von Reutlingen macht die Arbeit von Loersch-Rosenberg zum
Ausgangspunkt der gesamten späteren Forschung.
Theodor Schön (Goldschmied Ilans [Brun] von
Reutlingen und die Goldschmiedekunst in der
Reichsstadt Reutlingen, in: Archiv für christliche
Kunst, XXI Jahrgang 1903, S. 7-9) versucht erstmals, das Künstlermonogramm in die Anfangsbuchstaben des Namens Johann Prun aufzulösen.
Schön übernimmt den Katalog von Loersch-Rosenberg oberflächlich, so daß die Petrusstatue mit
einem »Paulus« verwechselt wird.
St. Beißel (Kunstschätze des Aachener Kaiserdoms.
München-Gladbach 1904) beschreiht die Petrusfigur und die Monstranz, ohne neue Gesichtspunkte hinzuzufügen.
Edwin Redslob befaßt sich 1911 in seinem Aufsatz
iiber die Pluvialschließen des Aachener Münsters
(in: Aachener Kunstblätter, Aachen 1911, S. 9) stilkritisch mit dem Werk Hans von Reutlingens. Er
fügt den bekannten Stiicken die Monile mit »Madonna, Petrus und Markus« hinzu. Im Vergleich
mit der Petrusfigur und der Plastik der Dommonstranz kommt er zu einer Zuschreibung an
Hans von Reutlingen. »Zu den von M. Rosenberg
zusammengestellten sechs Arbeiten wäre also vermutungsweise ein neues Stück zu setzen . . .« Er
möchte die Monile als Arbeit der Renaissance ansprechen und bezeichnet Hans von Reutlingen als
»Goldschmied der Übergangszeit«.
Wenig vorher hatte H. Schweitzer (Katalog der
Sonderausstellung für christl. Kunst, Aachen 1907,
105
Nr. 110) dem Katalog der gesicherten Werke die
beiden Meßkännchen aus St. Foillan hinzugefiigt.
1916 erschienen die »Kunstdenkmäler der Stadt
Aachen, I. Das Münster zu Aachen«, bearbeitet von
Karl Faymonville (Düsseldorf 1916).
Er beschreibt die Monstranz, gibt ein Literaturverzeichnis und erwähnt die Besehauzeichen. Erstmals erscheint der Münsterkelch als Werk Hans
von Reutlingens. Die Petrusstatuette wird beschriehen, die Markung erwähnt, die bekannte Literatur
zitiert. Die Besprechung der Chormantelschließe
übernimmt die Zuschreibung an Ilans von Reutlingen nicht. Das Agnus-Dei-Reliquiar erscheint als
Werk des Hans von Reutlingen.
Eugen Liithgen (Die niederrheinische Plastik von
der Gotik bis zur Renaissanee. Straßburg 1917)
versucht, die Petrusfigur des Aachener Domes in
engen Zusammenhang mit der Emmericher Silbermadonna, darüber hinaus mit der niederrheinischen
Plastik zu bringen.
Julius von Schlosser hat sich 1918 (Die Schatzkammer des Allerhöchsten Kaiserhauses in Wien.
Wien 1918) mit der entwicklungsgeschichtlichen
Einordnung des Buchdeekels befaßt.
Marc Rosenherg (Der Goldschnriede Merkzeichen.
3. Aufl. 1. Band. Frankfurt a. M. 1922, S. 9) stellt
das bis dahin bekannte Werk des Meisters erneut
zusammen. Erstmals wird der Kreuznacher Kreuzfuß mit Hans von Reutlingen in Verbindung gebracht. Rosenberg dankt diesen Plinweis einer Mitteilung P. Stephan Beißels S. J. Das Agnus-DeiReliquiar, der Domkelch und die Meßkännchen
werden in den Katalog mit aufgenommen. Die
Chormantelschließe des Domes wird dem Aachener
Meister zugeschrieben.
1922 erscheinen die »Kunstdenkmäler der Stadt
Aachen« II: Die Kirchen der Stadt Aachen (bearbeitet von Karl Faymonville, Düsseldorf 1922). Auf
S. 66 wird die Paxtafel aus St. Foillan besprochen
und als Werk Hans von Reutlingens ausgewiesen.
Gustav Grimme fiigt im »Führer durch die historische Jahrtausendausstellung in Aachen« (Aachen
1925) dem Katalog einen gotischen Kelch aus dem
Christenserinnenkloster inAachen hinzu. Das Werk
ist durch das Beschauzeichen als Arbeit Hans von
Reutlingens gesichert. An gleicher Stelle wird ein
Relicjuienkreuz aus der Aachener Jakobskirche nrit
dem Namen Hans von Reutlingens in Verbindung
gebracht.
Der gleiche Verfasser setzt sich in seinem Aufsatz
»Die Goldschmiedekunst der Kaiserstadt Aachen«
(in: Die Bergstadt. 14. Jahrgang. 4. Heft) ausführlicher mit der künstlerischen Entwicklung des Meisters auseinander.
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Ernst Kris befaßt sich im »Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien« (XXXV 1923-25
»Das große Majestätssiegel Kaiser Maximilians«)
mit dem großen Majestätssiegel Kaiser Maximilians.
Er macht es sehr wahrscheinlich, daß es sich bei
dem angeführten Siegelstempel um »Das große
Majestätssiegel« handelt, das Hans von Reutlingen im Jahre 1500 für Maximilian I. geschnitten
hat. Kris datiert den Buchdeckel, den er als Voraussetzung für das Siegel ansieht, einleuchtend gegen
Ende des Jahrhunderts. Seine stilkritischen Beobachtungen erfassen erstmalig Elemente des Stiles
unseres Meisters.
Fritz Witte vereinigt in seinem 1932 erschienenen
Sammelwerk »1000 Jahre deutscher Kunst am
Rhein« (Leipzig 1932) noch einrnal das Urkundenmaterial und die bekannten Werke. Sein Hinweis,
daß Aachener Goldschmiede nach Spanien auswanderten »und hier durch mehrere Generationen eine
bedeutsame Rolle spielten« (er meint die Künstlerdynastie der Harfes), ist revisionsbedürftig; denn
im Vertrag mit dem Domkapitel von Leön vom
21. 2. 1502 heißt es ausdrüeklich: »Enrique de Colonia platero...« (F. S. Sanchez Canton: Los Arfes.
S. 11). Witte erwähnt schon Eigenarten der Konstruktion, das Übereinanderlegen der Fußplatten
in sich überschneidenden geometrischen Formen.
»Aus den bizarren, teilweise wild naturalistischen
Ornamenten wächst sein Formenschatz merklich in
die Renaissance hinein. Verwandt sind das herrliche Altarkreuz in Kreuznach und eine Monstranz
im Schnütgen-Museum in Köln.« Witte rnöchte die
Plastik Hans von Reutlingens allein aus der rheinischen Formensprache heraus erklären.
Neues Urkundenmaterial veröffentlicht Josef Gerhardt Rey (Die Familie Schervier und deren Sippen. Aachen 1936. S. 82 ff.).
1935 erscheinen die »Kunstdenkmäler von EupenMalmedy« bearbeitet von Heribert Reiners). Hier
wird das Siegel des Abtes Wilhelm von Manderscheid publiziert (vgl. S. 258) und mit dem Namen
Hans von Reutlingens in Beziehung gebracht.
In den »Kunstdenkmälern des Kreises Kreuznach«
(bearbeitet von W. Zimmermann, Düsseldorf
1935, S. 78) wird das Kreuzreliquiar mit dem
Kreuzfuß Hans von Reutlingens abgebildet und auf
S. 82 ausführlicher besprochen. Besonders wichtig
ist der Hinweis auf die urkundlich gesicherte Anfertigung des Fußes im Jahre 1501. Der Beschreibung folgt eine kurze künstlerische Würdigung, die
die »dekorative« und »technische« Leistung über
die figuralen Lösungen stellt.
Der Beitrag iiber Id.v. R. im Künstlerlexikon
(Thieme-Beeker) bezieht sich auf Beißel, Loersch-
Rosenberg und Schön. Die bekannten Urkunden
werden zitiert, die bei Loersch-Rosenberg aufgestellten Werke angeführt und ein »vergoldetes
Reliquiar in der Pfarrkirche zu Erkelenz« dem
Katalog hinzugefiigt. Weder die »Kunstdenkmäler
des Kreises Erkelenz« noch die Erkelenzer Überlieferung wissen jedoch von einem solchen Reliquiar.
H. Schnitzler (Der Dom zu Aaehen. Düsseldorf
1950. S. XXXIX) schreibt: »Das Ende der Spätgotik und den Beginn der Renaissance zeigen in
der Schatzkammer (des Aachener Domes) die
Werke des Hans von Reutlingen an . . . Er . . . schuf
die charaktervolle Petrusstatuette, die Chormantelschließe, wo die Madonna zwischen dem hl. Antonius Eremita und Markus sowie dem Donator
thront, das große Kapitelsiegel, die herrliche, nach
der Überlieferung von Karl V. bei seiner glanzvollen Krönung 1520 gestiftete Monstranz und das
Agnus-Dei-Reliquiar . . .«
Die bis 1950 erschienene Literatur zu Hans von
Reutlingen zählt beschreibend seine Werke auf,
stellt die Urkunden über ihn zusammen und erwähnt ihn in übergreifenden Zusammenhängen.
Eine Biographie des Meisters ist nicht versucht
worden. Durchweg übernehmen die Verfasser die
Angaben von Loersch-Rosenberg und Theodor
Schön. Nur der Aufsatz von Kris bietet Ansatzpunkte zu kunstkritischer Betrachtung.
In seiner 1954 abgesehlossenen Bonner Dissertation über Hans von Reutlingen hat Verfasser
den Versuch unternommen, das bekannte Werk
Hans von Reutlingens chronologisch zu ordnen, zu
vermehren und stilistisch zu charakterisieren. Ausgehend von einer möglichen Beteiligung an dem
um 1480 entstandenen sogenannten Apostel-Antependium wird die Entwicklung, die sich für die
Zeit von 1492 bis 1524 durch Urkunden fixieren
läßt, über die großen Hauptwerke — Buchdeckel
des Reichsevangeliars, Majestätssiegel Kaiser Maximilians, Kreuznacher Kreuzfuß, Petrusstatue,
Dommonstranz usw. bis hin zum Kapitelsiegel
skizziert. Der angeführte Katalog verzeichnet elf
durch Dokumentation oder Beschauzeichen gesicherte Werke sowie elf auf Grund stilistischer
Merkmale zugeschriebene Arbeiten.
In seinem Buch »Aachener Goldschmiedekunst im
Mittelalter«, Köln 1957, hat Verfasser noch einmal das Werk Hans von Reutlingens zusammengestellt, abgebildet und auf die enge Zugehörigkeit zum Bereich der maasländischen Kunst hingewiesen.
In Heft 19/20 der Aachener Kunstblätter, Aachen
1960/61 fügt Frans von Molle das von ihm als
Werk des Hans von Reutlingen identifizierte Statuettenreliquiar der hl. Mutter Anna der Tongerner
Marienkirche dem bekannten Werk des Hans von
Reutlingen hinzu.
Wenig später identifiziert Verfasser die Ziborienmonstranz der Aachener Pfarrkirche Heilig Kreuz
ebenfalls als Arbeit Idans von Reutlingens und
stellt sie als »Kunstwerk des Monats« im SuermondtMuseum vor.
In der Ausstellung »Die großen Jahrhunderte der
Aachener Goldschmiedekunst« wurden 1962 im
Krönungssaal des Aachener Rathauses erstmals alle
bekannten Werke Hans von Reutlingens in einer
repräsentativen Dokumentation vorgestellt. Der
vom Verfasser bearbeitete Katalog stellte nunmehr
31 Werke des Aachener Meisters und seiner Werkstatt mit Abbildungen zusammen.
Während Verfasser in Hans von Reutlingen
lediglich einen Mitarbeiter Zutmans an der Lütticher Lambertus-Büste, dem zentralen Werk der
spätgotischen Goldschnriedekunst im Rheinmaasland gesehen hatte, erweist Pierre Colman in
Ileft 27 der Aachener Kunstblätter, Aachen 1963,
(Le createur du buste-reliquaire de Saint Lambert)
Hans von Reutlingen als ihren Hauptmeister. Colman fiigt 2 weitere bedeutsame Siegelbilder dem
gesicherten Oeuvre hinzu und vermutet auch in der
Christophorus-Statuette der Tongerner Liebfrauenkirche eine Arbeit Hans von Reutlingens.
Dadurch hat das künstlerische Gewicht Hans von
Reutlingens eine neue Proportion erfahren. Soweit
wir überblicken, gibt es keinen mittelalterlichen
Goldschmied, mit dessenNamen eine solcheAnzahl
von Arbeiten verbunden werden könnte.
Im gleichen Band der Aachener Kunstblätter stellt
Verfasser ein weiteresWerk Hans von Reutlingens,
einen Kruzifixus, der auf ein barockes Kreuz montiert wurde, vor (Ein unbekanntes Werk des Hans
von Reutlingen in: Aachener Kunstblätter, Ileft 27,
Aachen 1963).
Die vorstehend publizierte Arbeit von E. Meuthen,
die Hans von Reutlingen auch als Entwerfer von
Münzbildern erweist und seine Lebenszeit auf
Grund archivalischer Funde ganz neu fixiert, hat
der weiteren F orschung neue Aufgaben zugewiesen.
Zur Zeit der Drucklegung dieses Bandes bereitet
Lotte Perpeet-Frech eine Arbeit über rheinische
Monstranzen vor, in der sie sich kritisch mit Hans
von Reutlingen und seinem Umkreis auseinandersetzt. Gegenüber der starken Betonung des Maasländischen wird hier eine intensivere Beeinflussung
clurch die rheinisch-kölnische Entwicklung angenommen.
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