Paradies* Irgendwann begann ich, mir in meinem Kopf schöne Sachen auszumalen. Ich musste mir einen Platz suchen, in dem ich mich wohlfühlte. Die Zeit, in der ich keinen Ausweg mehr fand, am Morgen erwachte und irgendwie begriff, dass mein eigenes Leben ein Haufen Scheisse war. Ich hatte mich auf meinem eigenen Weg verrannt. Konnte nicht mehr vorwärts, links oder rechts geschweige denn zurück. In diesen Momenten war ich kraftlos. Ich wusste an keinem Tag, was passieren würde. Böse Worte und Schläge waren zu meinem Alltag geworden. Die Drogen, die am Anfang nur ein Spiel waren, brauchte ich mittlerweile, um nicht völlig durchzudrehen. Ich bin mitten in der Hölle und finde den Weg nach draussen nicht mehr. Um diese Momente zu ertragen, erfand ich in meinem Kopf ein kleines Paradies. Ich begann mich immer mal wieder in eine Ecke zu setzen, irgendwo in der Wohnung, schloss meine Augen und besuchte mein kleines Paradies. Ich gebe Dir, lieber Leser, meinen kleinen Ort heute preis. Denn ich brauche ihn nicht mehr. Damals hat er mir geholfen, zu überleben. Heute ist er in meinen Gedanken immer noch wunderschön und deshalb möchte ich Dir mein kleines Paradies vorstellen: Ich öffnete in meinen Gedanken eine grosse schwere Holztür. Sie sah aus wie eine alte Schlosstüre. Sie war so mächtig und massiv gebaut, doch ich hatte die Kraft, sie zu öffnen. Hinter der Tür befand sich mein Paradies! Die saftig grüne Wiese hat kein Ende, sie ist voll mit wunderschönen, verschieden farbigen, grossen und kleinen Blumen, die wundervoll duften. Schmetterlinge fliegen umher, es geht ein leichter Wind, der mir um die Nase weht. Ich gehe ein paar Schritte und sehe den kleinen Bach, das Wasser ganz klar, Steine zieren den Grund, durch die Strahlen der Sonne glitzern sie wie Edelsteine. Hier ruhe ich mich immer aus, an dem grossen Baum, der sein schönes Blütenkleid mit viel Stolz trägt. Sein Stamm ist mächtig und ich fühle mich mit ihm eins. Ich geniesse die Wärme der Sonne und verweile einen Moment. Der blaue Himmel deckt mich zu und gibt mir das Gefühl von Sicherheit. Diesen Ort suchte ich immer wieder auf. Tag für Tag erholte ich mich so von den Strapazen, von den Ereignissen, die mein Leben bestimmten. Ab und an änderte ich mein kleines Paradies. Manchmal hatte es fröhliche Tiere, die umher sprangen, manchmal hörte ich Kinder, die lachten, oder der Geruch von Erdbeeren und anderen frischen Früchten stieg mir in die Nase. Ab und zu hörte ich leise Musik erklingen, bei der ich ruhig mitsummte. Ja, mein kleines Paradies bedeutete mir damals sehr viel, es gab mir Kraft und Mut, nicht aufzugeben. Es gibt so viele schöne Dinge auf unserer Erde, für die es sich lohnt, immer weiterzugehen. Heute bin ich dankbar, dass ich diese Dinge, die ich mir damals ausgemalt habe, mit vollem Bewusstsein erleben darf. Ich geniesse es, wenn ich die Sonne spüre, die Blumen rieche und im Sommer die Schmetterlinge fröhlich um mich herum tanzen. Ich wünsche Dir lieber Leser, dass Du genau zu schätzen weisst, wie wunderbar und lebenswert solch kleine Dinge im Leben sind. Manche Menschen überleben nur, indem sie in Gedanken ein kleines Paradies erfinden, so wie ich es getan habe. Ich hoffe, Du bist nun gestärkt und voller Kraft, weiterzulesen. Und es würde mich freuen, wenn Du ab und zu an das Paradies denken würdest. *Auszug aus dem Buch «Chrüzweg» von Anick Eggli Autofahrt mit Folgen* Im Spital angekommen, stiegen wir aus dem Auto und begaben uns Richtung Notfalldienst, psychiatrische Abteilung. Der Arzt erwartete uns schon. Er war klein, hatte einen Bart, der sein ganzes Gesicht bedeckte. Für mich eine Horrorvorstellung, wenn ich daran dachte, dass ich diesem Mann, der mir absolut nicht sympathisch war, erzählen musste, was heute passiert war. Wir sassen in diesem Krankenzimmer, er stand am Fenster. «So Frau Eggli, erzählen Sie mir einmal, was in Ihnen so vorgeht. Was haben Sie im Moment für Gedanken, wie und was fühlen Sie?» Ich wusste nicht, was ich diesem Doktor erzählen soll. «Ich bin einfach müde. Ich möchte nur noch schlafen und vergessen. Ich habe keine Kraft mehr», sprudelten die Worte aus mir heraus. «Was wollten Sie unterwegs mit dem Auto? Wo wollten Sie hin?», fragte er. Und es kam mir so vor, als wusste er schon alles, was ich sagen würde. «Ich wollte weg, kann Ihnen nicht genau sagen, was ich wollte. Ich will einfach schlafen.» Ich weinte und konnte mich nicht mehr erholen. Der Arzt schaute mich ernst an und sagte zu mir: «Sie sind höchst suizidgefährdet und brauchen Hilfe. Ist Ihnen das bewusst?» Wie auch? Ich habe keine Ahnung, was mit mir passiert und er konfrontiert mich mit Selbstmord! Er bat meine Mutter in ein Nebenzimmer, die Türe liess er offen. «Ihre Tochter muss so schnell wie möglich in die Psychiatrie, sie braucht Medikamente und Betreuung, um das Schlimmste zu vermeiden. Wir haben zwei Möglichkeiten. Die eine, sie kommt freiwillig. Die andere, wir stecken sie in eine Zwangsjacke.» Ich hörte diese Worte und war mir in diesem Moment nicht bewusst, dass es um mich geht. Ich sass auf dem Stuhl wie angeklebt. Meine Mutter kam aus dem Zimmer, der Arzt folgte ihr. Und mir schoss durch den Kopf: Er hat darauf gewartet, dass eine kleine, drogenabhängige Suizidgefährdete in seine Praxis kam, damit er wieder einmal eine Person einliefern kann. Er lächelte und sah aus wie ein kleiner giftiger Zwerg, der nur auf seine Chance wartete. Ich sah überall kleine Monster, die lachten, die mich auslachten, die laut und leise durcheinander kicherten. Völlig abgedreht! Ich hatte Angst. «Sie können mit Ihrer Tochter sprechen, und ich melde sie telefonisch in der Psychiatrie an.» Er verliess das Zimmer und ging ans Telefon. In diesem Augenblick packte mich meine Mutter am Arm: «Sei jetzt stark und renne mit mir aus dem Krankenhaus, wir müssen hier weg.» Ich tat, was sie sagte. Wir rannten, so schnell es ging, die Treppen hinunter, raus aus dem Saftladen und rein in unser Auto. Wir hatten beide Herzrasen. Waren aufgewühlt. Meine Mutter schrie Jessica an, die im Auto wartete. «Fahr los, fahr los, na mach schon!» «Wir fahren jetzt nach Hause und warten auf deinen Vater, um zu sehen, was wir machen können. Du gehst nur über meine Leiche in eine Psychiatrie, wir schaffen das anders.» Es war erst vier Uhr nachmittags, als wir zu Hause eintrafen. In der Zwischenzeit war auch mein Vater zu Hause. Es gab irgendetwas zu essen, keine Ahnung mehr was. Auf jeden Fall ging ich in mein altes Kinderzimmer, setzte mich an den Computer und schaute mir irgendwelche Musik-Videos an. Jessica sass neben mir. Dieses Mal ohne Fragen, ohne zu reden. Sie sass da und verstand nicht, was in den letzten paar Stunden passiert war. Es klingelte an der Tür. Meine Mutter öffnete: die Polizei. «Guten Abend Frau Eggli, wir suchen Ihre Tochter, sie ist heute aus dem Spital geflüchtet, nun haben wir die Aufgabe, sie abzuholen, um sie in der Klinik heil abzugeben.» Der Polizist hielt ein A4-Blatt in der Hand, mit einem Bild und einem Beschrieb von mir. Wie eine Schwerverbrecherin! Krass oder? «Das ist doch Ihre Tochter?» «Ja,» antwortete meine Mutter. Sie sprach weiter und erzählte dem Polizisten, dass ich zur Zeit nicht im Haus wäre. Ich sei mit meinem Vater unterwegs zu meiner Grossmutter. Die Polizisten fanden dies keine gute Idee, dass sie mich nicht zu Hause hätte. «Nun gut, Frau Eggli», hörte ich den Polizisten sagen. «Sie haben bis um 23 Uhr Zeit, Ihre Tochter zurückzuholen. Um diese Zeit stehen wir wieder hier und wollen die junge Dame sehen. Wir wollen mit ihr sprechen und sehen, in was für einem Zustand sie sich befindet.» Die zwei Polizisten verabschiedeten sich höflich und gingen. Meine Mutter schloss die Tür, ich sah die Angst in Ihrem Gesicht. Die Verzweiflung. «Was wollen wir jetzt tun,» fragte sie meinen Vater. Er sprach ganz ruhig. Versuchte es zumindest. Die Situation war schon so heikel genug, um nicht einigermassen ruhig zu bleiben. *Auszug aus dem Buch «Chrüzweg» von Anick Eggli
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