Tropfen, Trips, Tenside. Evidenzbasierte Behandlung von

„„Einleitung
Im Blickpunkt
Tropfen, Trips, Tenside.
Evidenzbasierte
Behandlung von
Vergiftungen im
Kindes- und Jugendalter
Wenn ein Kind giftige Substanzen aufgenommen
hat, ist zügiges und zielgerichtetes Handeln
entscheidend. Dies erfordert die Kenntnis der
Symptome bestimmter schwerer und häufig auftretender Intoxikationen. Neben der symptomorientierten Therapie geben die drei Grundpfeiler
der spezifischen Behandlung von Vergiftungen
Maßnahmen an die Hand, um zügig und adäquat
handeln zu können. Die deutschen Giftinformationszentren (GIZ), die über große Erfahrung bei
der Diagnostik und Therapie intoxikierter Patienten verfügen, leisten allen an der Behandlung
Beteiligten weitere Unterstützung.
Über die symptomorientierte Therapie intoxikierter Patienten hinaus existieren drei Grundpfeiler der spezifischen Behandlung bei Vergiftungen (»Drei-Säulen-Modell« der Klinischen
Toxikologie [7]):
1.Primäre Giftentfernung
2.Sekundäre Giftentfernung
3.Gabe von Antidoten
A. Schaper, A. Groeneveld, A. Kilian, G. Kaiser
Giftinformationszentrum-Nord,
Universitätsklinik Göttingen
Magenspülung – Aktivkohle – Giftentfernung –
Antidot – Bremer Liste
pädiatrische praxis 87, 1–10 (2016)
Mediengruppe Oberfranken –
Fachverlage GmbH & Co. KG
pädiatrische praxis 2016 Band 87 / 1
„„Primäre Giftentfernung
Die primäre Giftentfernung umfasst die Magenspülung und die Applikation medizinischer
Kohle. Eine kritische Überprüfung tradierter Indikationen zur primären Giftentfernung führte
während der letzten 20 Jahre zu einem Paradigmenwechsel in der klinischen Toxikologie.
Wurde noch in den 90er Jahren des letzten
Jahrhunderts insbesondere die Indikation zur
Gabe von Ipecacuanhasirup zum induzierten
Erbrechen sehr großzügig gestellt, so ergab die
wissenschaftliche Aufarbeitung der vorhandenen Daten und Publikationen, dass diese Maßnahmen der primären Giftentfernung ein nicht
zu unterschätzendes Risiko für die Patienten
in sich bergen: Nicht selten kam es in Folge
dieser Maßnahmen zu Aspirationspneumonien.
Von den europäischen und nordamerikanischen
Fachgesellschaften für Klinische Toxikologie
wurden entsprechende Empfehlungen erarbeitet und kürzlich erneut überprüft [5]. Da die
1
Evidenz für die Anwendung von Verfahren der
primären Giftentfernung gering ist, dürfen diese
nicht unreflektiert angewandt werden.
Die Indikation zur Magenspülung besteht innerhalb der ersten Stunde nach Ingestion einer potentiell lebensbedrohlichen Dosis einer Noxe. Im
Kleinkindalter ist diese Maßnahme eine Rarität.
Sollte die Indikation gestellt werden, so muss bei
der Durchführung darauf geachtet werden, dass
die Magenspülung mit isotonischer Kochsalzlösung durchgeführt wird. Eine Magenspülung mit
Leitungswasser könnte zu einer lebensbedrohlichen Störung des Wasser-Elektroly-Haushalts
führen. Kontraindikationen umfassen die Inges­
tion ätzender Substanzen und das Verschlucken
langkettiger Kohlenwasserstoffverbindungen,
wie z. B. Lampenöle oder Benzin [1]. Nach Inges­
tion von Substanzen mit potentiellen ZNS-Wirkungen sollte die Magenspülung unter Intubationsschutz durchgeführt werden. In seltenen
Ausnahmefällen kann eine Gastroskopie mit
endoskopischer Bergung von Tabletten indiziert
sein. Klinisch relevant ist diese Maßnahme nach
Ingestion sehr großer Mengen von Carbamazepin
(Bezoarbildung) oder von Quetiapin (»Auskleisterung« der Magenwand durch die in den Tabletten enthaltene Hypromellose).
Die einmalige Gabe von medizinischer Kohle ist
indiziert innerhalb einer Stunde nach Inges­tion
einer potenziell toxischen Dosis einer Sub­
stanz, die von Kohle gebunden werden kann [2]
( Abb. 1). Die Dosis berechnet sich entweder
über das Körpergewicht (0,5–1 g/kg KG) oder
über die verschluckte Menge der giftigen Substanz (Kohlemenge 10-fach über Giftmenge).
„„Sekundäre Giftentfernung und
Antidotgabe
Bei fünf Medikamenten (Carbamazepin, Theophyllin, Dapson, Phenobarbital und Chinin) ist
ausnahmsweise auch eine verspätete und repetitive Kohlegabe indiziert [3]: Alle vier Stunden sollten 0,5–1g/kg KG, alternativ stündlich
ein Viertel davon, gegeben werden. Funktionell
stellt diese verspätete und repetitive Kohlegabe
2
Abb. 1 | Bei Vergiftungen wird medizinische Kohle mit
Wasser aufgeschlämmt und oral verabreicht (nur innerhalb der ersten Stunde nach Ingestion). Mit freundlicher
Genehmigung von Guido Kaiser, Göttingen
als Maßnahme der sekundären Giftentfernung
gleichsam eine gastrointestinale Hämoperfusion dar. Abdominelle Passagestörungen stellen
selbstverständlich eine Kontraindikation dar.
Zu den weiteren Maßnahmen der sekundären
Giftentfernung gehören die Urinalkalisierung
durch parenterale Gabe von Natriumbicarbonat, die Hämodialyse und die deutlich seltener
angewandte Hämoperfusion.
Eine nicht unerhebliche Anzahl von Intoxikationen kann durch spezifische Antidote behandelt
werden. Einige wichtige Antidota sind in  Tabelle 1 zusammengestellt. Aufgrund des erheblichen
2016 Band 87 / 1 pädiatrische praxis
Noxe
Antidot
Amatoxin (»Knollenblätterpilzgift«)
Silibinin
Atropin
Physostigmin, Neostigmin
Benzodiazepine
Flumazenil
Chloroquin
Diazepam
Digitalis
Digitalis-Antikörper
Eisen
Deferoxamin
Flusssäure
Kalziumglukonat
Methanol, Ethylenglykol
Fomepizol, Ethanol
Methämoglobinbildner
Toloniumchlorid
Neuroleptika-assoziierte EPMS (extrapyramidal
motorische Störungen)
Biperiden
Organophosphate, Nervenkampfstoffe
Atropin, Oxime
Opioide
Naloxon
Paracetamol
Acetylcystein
Phenprocoumon (Marcumar)
Vitamin K
Tenside
Dimeticon
Verschiedene Schwermetalle
DMPS (Dimercaptopropansulfonat)
Verschiedene Gifte
Aktivkohle
Zyanide
Natriumthiosulfat, 4-DMAP, Hydroxocobalamin
Tab. 1 | Klinisch relevante Noxen und die entsprechenden Antidota
Komplikationsrisikos sollte die Anwendung sekundärer Giftentfernungsverfahren und die Gabe
der meisten Antidote unter intensivmedizinischen
Bedingungen in der Klinik erfolgen. Zur Feststellung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses im konkreten Fall ist die vorherige Konsultation eines Gift­
informationszentrums dringend anzuraten.
„„Genussmittel und Drogen
Nikotin
Die akzidentelle Ingestion von Zigaretten oder
Kippen ist eine der häufigsten Expositionen im
Kindesalter. In aller Regel ist sie harmlos. Niko-
pädiatrische praxis 2016 Band 87 / 1
tin ist ein toxisches Alkaloid mit überwiegend
stimulierender, in hohen Dosen jedoch auch
lähmender Wirkung auf das Zentralnervensystem. Bei der ausgesprochen seltenen manifesten Vergiftung stehen gastrointestinale Symptome im Vordergrund. Darüber hinaus können
Blässe, seltener auch Hautrötungen, vermehrter
Speichelfluss, Schwitzen, Tachykardie, leichte
Benommenheit und Zittrigkeit auftreten. Die
schwere Vergiftung ist gekennzeichnet durch
Somnolenz bis Koma, Blutdruckabfall, Krampf­
anfälle und Atemdepression sowie Muskelfaszikulationen.
Unbedenkliche Ingestionsmengen sind nach
[3]:
3
• Säuglinge: ein Drittel einer Zigarette oder
eine halbe Kippe
• Kleinkinder: eine halbe Zigarette oder eine
Kippe
• Jugendliche: eine Zigarette oder zwei
Kippen
Bei deutlich darüber hinaus gehenden Mengen
kann eine primäre Giftentfernung erwogen werden.
Äthanol
Der Trinkalkohol Äthanol kommt vorwiegend in
Genussmitteln wie Bier, Wein, Schnaps, usw.
vor. Darüber hinaus können auch Desinfektionsmittel, Glasreiniger und viele Kosmetika – insbesondere Parfüm und Rasierwasser – relevante
Äthanolmengen enthalten. Ab einer Blutalkoholkonzentation von ca. 0,6 Promille ist mit
leichten Vergiftungen zu rechnen. Ab 2 Promille
können schwere, ab 3 Promille lebensbedrohliche Intoxikationen auftreten. Da Ethanol in
der Leber die Gluconeogenese hemmt, kann
insbesondere für Kleinkinder die Hypoglykämie
im Vordergrund stehen. Zur Behandlung reicht
in der Regel die Gabe gesüßter Getränke aus.
Die schwere Intoxikation ist durch ausgeprägte
ZNS-Symptome, bis zu Koma und generalisierten
Krampfanfällen, geprägt (»Binge-Drinking«/­
»Komasaufen« bei Jugendlichen). Neben der
symptomorientierten, ggf. intensivmedizinischen, Therapie kann bei lebensbedrohlichen
Intoxikationen eine sekundäre Giftentfernung
mittels Hämodialyse erwogen werden; in praxi
ist diese Therapiemaßnahme fast nie indiziert.
Drogen
Im Kleinkindalter sind Intoxikationen mit Drogen eine Rarität. Hinzuweisen ist allerdings
auf eine besonders gefährdete Gruppe von Kindern: Dies sind Kinder von Eltern, die sich in
einem Opioid-Substitutionsprogramm (zumeist
mit Methadon) befinden. Da diese die tägliche
oder wöchentliche Methadon-Dosis mitunter als
sogenannte »take-home«-Dosis mit nach Hause
4
nehmen, können auch Kleinkinder Zugang zu
diesen ausgesprochen gefährlichen Opioiden
erhalten.
Drogenabusus bei Kindern und Jugendlichen
beginnt meist ab dem 10. bis 12. Lebensjahr.
Neben Ecstasy und Cannabis werden zunehmend
illegale biogene Drogen wie z. B. Engelstrompete oder Stechapfel konsumiert. Bei Amphetaminen, Metamphetamin sowie den Inhaltsstoffen
von Engelstrompete und Stechapfel stehen sympathomimetische oder parasympatholytische
Symptome im Vordergrund. Gefährdet ist diese
Patientengruppe durch Herzrhythmusstörungen und Krampfanfälle. Darüber hinaus ist die
Unfallgefahr durch Halluzinationen zu bedenken. Intoxikationen mit Engelstrompete oder
Stechapfel können durch Benzodiazepine und
die Antidota Physostigmin oder Neostigmin
behandelt werden (s. u.). Für Einzelheiten wird
auf die entsprechende Fachliteratur verwiesen
[4, 9].
„„Sieben wichtige Vergiftungen durch
Haushaltsprodukte und Chemikalien
Haushaltsentkalker
Hierbei handelt es sich um eine sehr häufige
Exposition: In den Wasserkocher wird Entkalkungsmittel zum Einwirken eingefüllt, dies wird
vergessen und dann mit dem Entkalkerwasser
Babynahrung zubereitet. Bei den handelsüblichen Haushaltsentkalkern, deren Rezeptur zumeist auf Zitronen- oder Essigsäure basiert, ist
diese Exposition unproblematisch. Hinzuweisen
ist jedoch auf Produkte für den professionellen
gewerblichen Einsatz, die stark ätzende Substanzen enthalten können.
Lampenöle
Bei parfümierten Lampenölen ist zwischen
älteren Produkten auf Paraffinbasis und neueren Produkten auf der Basis von Rapssäuremethylester zu unterscheiden. Da Lampenöle
mitunter sehr lange aufbewahrt werden, kann
2016 Band 87 / 1 pädiatrische praxis
im Einzelfall die Unterscheidung zwischen alten
und neuen Lampenölen problematisch sein. Die
Gefährlichkeit beruht auf der pulmonalen Toxizität. Dünnflüssige paraffinhaltige Lampenöle
bergen ein ausgesprochen hohes Aspirationsrisiko in sich. Nach Ingestion außergewöhnlich
großer Mengen können zentralnervöse und kardiale Symptome hinzukommen. Eine primäre
Giftentfernung durch Magenspülung ist nicht
indiziert [1]. Entwickelt sich eine chemische
Pneumonitis, so wird diese symptomorientiert
therapiert.
Die Erfahrungen mit Vergiftungen durch neuere
Produkte auf Rapssäuremethylester sind noch
sehr begrenzt. Die im Handel befindlichen farbund duftstofffreien Lampenöle enthalten auch
weiterhin meist dünnflüssige Paraffinöle.
Toxische Alkohole (Methanol und Glykole)
Da die kurzkettigen Glykole und Methanol im
Körper von der Alkoholdehydrogenase (ADH)
gegiftet, d. h. zu toxischen Metaboliten umgebaut werden, werden beide Substanzgruppen
gemeinsam behandelt. Beim Vergiftungsbild
unterscheiden sich beide Noxen: Methanol
kann zur Erblindung führen und bei den Glykolen steht die Nephrotoxizität im Vordergrund.
Beiden gemeinsam ist die schwere Acidose bei
akuten Vergiftungen.
Methanol kann in einigen gewerblichen Produkten, wie Treibstoff für Modellflugzeuge, enthalten sein. Ethylenglykol ist Hauptbestandteil
von Kühlerfrostschutzmitteln für das Auto. Das
Vergiftungsbild kann durch gastrointestinale
Symptome und ZNS-Symptome, wie Rauschzustände, bestimmt sein. Bemerkenswert an den
Intoxikationen ist, dass die Symptome mitunter
erst mit mehreren Stunden Verspätung auftreten. Für beide Intoxikationen existieren Antidota: Durch Hemmung der Alkoholdehydrogenase
kann der Abbau zu den toxischen Metaboliten
verhindert werden. Dies ist einerseits durch die
Gabe von Ethanol möglich, andererseits steht
seit einigen Jahren das spezifisches Antidot
Fomepizol zur Verfügung. Es zeigt deutlich
pädiatrische praxis 2016 Band 87 / 1
weniger Nebenwirkungen als Ethanol, ist allerdings in Deutschland bisher nur begrenzt verfügbar. Bei schweren Intoxikationen kann die
sekundäre Giftentfernung mittels Hämodialyse
erwogen werden [10].
Rasierwasser und Parfüm
Der toxikologisch relevante Inhaltsstoff beider
Kosmetikagruppen ist Ethanol. In der Regel ingestieren die Kinder nur geringe Mengen. Nach
Einnahme größerer Mengen kann die Bestimmung des Blutalkoholspiegels indiziert sein.
Rohrreinigungsmittel und Abflussreiniger
Viele dieser grobkörnigen oder flüssigen Produkte (weitere potentiell ätzende Produkte
siehe  Tabelle 2) enthalten bis zu 98 % Natriumhydroxid, seltener Kaliumhydroxid. Schon
die Ingestion kleiner Mengen kann zu ausgedehnten Laugenverätzungen führen, während
die Inhalation der entstehenden Aerosole
eine Reizung der Atemwege zur Folge hat. Die
wichtigste Sofortmaßnahme ist die Gabe von
Flüssigkeit zur Verdünnung und zum Spülen der
Schleimhaut. Erbrechen sollte unbedingt ver-
Produkt
• Backofenreiniger
• Grillreiniger
• Desinfektionsmittel
• Kaliumpermanganat
• Abbeizmittel
• Lötwasser
• Kalk
• Zement
• Melkmaschinenreiniger
• Gewerbliche Geschirrspülmaschinen­
reiniger
• Stein- und Fliesenreiniger
Tab. 2 | Potenziell ätzende Produkte
5
hindert werden und eine Magenspülung ist kontraindiziert. Beim Verdacht auf das Vorliegen
einer Verätzung sollten die Patienten stationär
überwacht werden und eine Endoskopie sollte
innerhalb von 12 bis 24 Stunden nach der Ingestion durchgeführt werden. Die Indikation zur
systemischen Corticoidtherapie wird kontrovers
diskutiert.
Cave: Nach dem Verschlucken ätzender Flüssigkeiten können Ätzspuren in der Mundhöhle
fehlen und dennoch können Verätzungen des
Ösophagus vorliegen.
Kieselgel
Abb. 2 | Ungefährliche Silicagel-Kügelchen als
­Trockenmittel. © jakkritpimpru – Fotolia
Kieselgel (Silicagel®) ist als hygroskopisches
Trocknungsmittel weit verbreitet. Da die kleinen
Beutel oft mit der Aufschrift »do not eat« oder
sogar mit einem Totenkopf versehen sind, werden die Giftinformationszentren häufig bezüglich dieser unproblematischen Noxe konsultiert
( Abb. 2). Es handelt sich um das chemisch
inerte Siliciumdioxid, das praktisch ungiftig ist.
Tensidhaltige Handspülmittel, Shampoos
und ähnliche Produkte
Kationische Tenside können bei hinreichend
hoher Konzentration Verätzungen hervorrufen.
Anionische und nichtionische Tenside hingegen sind relativ unproblematisch. Sie sind
die toxikologisch relevanten Inhaltsstoffe in
Flüssigseifen, Handspülmitteln, Duschgels und
Shampoos. Es handelt sich um den häufigsten
Vergiftungsfall im Kleinkindalter. Nach Ingestion stehen die schleimhautreizende Wirkung und
die Schaumbildung im Vordergrund. Erbrechen,
Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfall sind
möglich. Bei erheblicher Schaumbildung oder
nach Erbrechen ist in sehr seltenen Fällen das
Risiko einer Aspiration gegeben. Die Gabe von
Flüssigkeit ohne Kohlensäure und eines Entschäumers (Dimeticon) sind die wichtigsten
Erstmaßnahmen. Weitere therapeutische Maßnahmen sind in der Regel nicht erforderlich. Bei
begründetem Verdacht auf eine Aspiration sollten die Patienten stationär überwacht werden.
6
Abb. 3 | Altbewährt, weit verbreitet, aber nicht harmlos:
Acetylsalicylsäure (ASS). Mit freundlicher Genehmigung
von Guido Kaiser, Göttingen
2016 Band 87 / 1 pädiatrische praxis
„„Sieben wichtige Vergiftungen durch
Medikamente
Acetylsalicylsäure
Auch das »Volksmedikament Nr. 1« ( Abb. 3)
kann, in zu hoher Dosis eingenommen, zu ernsthaften Vergiftungszuständen führen. Wegen der
Gefahr des Auftretens eines Reye-Syndroms wird
die Indikation zur ASS-Anwendung in der Kinderheilkunde sehr streng gestellt. Die leichte
Vergiftung ist gekennzeichnet durch abdominelle Beschwerden. Darüber hinaus kann es zu
Ohrgeräuschen, einer Hörminderung, Schwindel und durch zentrale Atemstimulation zur
Hyperventilation kommen. Mit zunehmender
Schwere der Vergiftung treten metabolische
Azidose, ZNS-Symptome wie Benommenheit,
delirante Zustände oder Krämpfe hinzu. Sehr
schwere Vergiftungen können darüber hinaus
durch Leber- und Nierenschäden sowie kardiale
Symptome bestimmt sein. Eine Ingestion von
weniger als 75 mg/kg KG erfordert keine Therapie. Nach Ingestion größerer Mengen sollte
eine Bestimmung der Blutzucker- und Elekt-
Abb. 4 | verlockend und gefährlich für Kinder: herumliegende Tabletten. Mit freundlicher Genehmigung von Guido
Kaiser, Göttingen
pädiatrische praxis 2016 Band 87 / 1
rolytkonzentrationen sowie eine Blutgasanalyse
durchgeführt werden. Bei schweren Vergiftungen kann die Salicylatausscheidung durch eine
Urinalkalisierung gesteigert werden (sekundäre
Giftentfernung).
Carbamazepin
Bei Carbamazepinintoxikationen besteht eine
schlechte Korrelation zwischen der eingenommenen Menge, der Serumkonzentration und der
Symptomatik. Bei Epileptikern kann schon bei
leichten Intoxikationen die Krampfkontrolle
verloren gehen. Andererseits werden in vielen
Fällen toxische Mengen ohne wesentliche Symp­
tome toleriert. Nach Ingestion von weniger
als 20 mg/kg KG sind allenfalls leichte Symp­
tome, nach Ingestion von mehr als 40 mg/kg
KG schwere Symptome zu erwarten. Initial wird
die Vergiftung oft durch Übelkeit und rezidivierendes Erbrechen, später von ZNS-Symptomen
bestimmt. Kardiovaskuläre Symptome sind nur
nach Ingestion sehr großer Mengen zu erwarten.
Nach Ingestion von mehr als 30 mg/kg KG sollte
Abb. 5 | Spezielle Zahnpasta enthält große Mengen
Fluorid. Mit freundlicher Genehmigung von Guido Kaiser,
Göttingen
7
eine primäre Giftentfernung erwogen werden.
Da Carbamazepin zur Verklumpung (sogenannte
Bezoarbildung) neigt, sollte unter Intubationsschutz zunächst eine Endoskopie durchgeführt
werden. Befindet sich ein Bezoar im Magen, so
sollte dieser zunächst endoskopisch zerkleinert
und dann mittels einer Magenspülung entfernt
werden. Daran anschließen sollte sich die repetitive Kohlegabe in einer Dosierung von 0,5 bis
1 g/kg KG alle 4 Stunden. Diese sollte durchgeführt werden bis der Carbamazepinspiegel unterhalb des toxischen Bereiches liegt. Bei schweren
Intoxikationen ist eine sekundäre Giftentfernung
mittels Hämoperfusion möglich.
Betablocker und Calziumantagonisten
Ingestionen dieser Medikamente sind immer
ernst zu nehmen und es sollte auf jeden Fall
ein Giftinformationszentrum konsultiert werden
( Abb. 4).
Fluoride
Es handelt sich um eine sehr häufige Exposition
im Kindesalter, die in der Regel harmlos verläuft
( Abb. 5). Erst nach Ingestion von mehr als
100 mg Fluorid kann es durch lokale Reizung
zu Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen oder
Durchfall kommen. Nach deutlich größeren Ingestionsmengen können gastrointestinale Blutungen, ZNS- und Herz-Kreislauf-Symptome den
Verlauf bestimmen. Nach Ingestion von weniger
als 100 mg Fluoriden ist die Gabe von Milch
ausreichend; die darin enthaltenen Kalziumionen bilden mit den Fluoriden schwer lösliche
Komplexe, die nicht resorbiert werden.
Nasentropfen
Hierbei handelt sich in der Regel um xylometazolinhaltige, vasokonstriktorisch wirkende Sympathomimetika mit vorwiegender Stimulation der
Alpharezeptoren. Die Resorption kann auch über
die Konjunktival- und Nasopharyngealschleimhaut erfolgen. Symptome können nach Ingestion
8
von mehr als 0,1 bis 0,2 mg/kg KG auftreten.
Die Symptomatik ist häufig bestimmt von Somnolenz, Erbrechen, Blässe, Tachykardie und seltener Hypertension. Nach Ingestion von mehr
als 0,1 mg/kg KG für Säuglinge und Kleinkinder
bzw. mehr als 0,2 mg/kg KG für Schulkinder und
Jugendliche sollte bis maximal eine Stunde nach
Ingestion Kohle appliziert werden. Darüber hinaus sollten die Patienten überwacht werden.
Paracetamol
Führende Symptome der Paracetamolintoxikation sind gastrointestinaler Natur und betreffen darüber hinaus Leber und Niere. Nach einer
einmaligen Paracetamol-Überdosierung von
weniger als 150 mg/kg KG ist auch ohne Therapie beim Gesunden keine Leberschädigung zu
erwarten. Nach mehr als 250 mg/kg KG ist eine
Leberschädigung wahrscheinlich, nach mehr als
350 mg/kg KG ist sie ohne Therapie bei mehr
als 90 % der Vergifteten zu erwarten. Bei Risikopatienten können allerdings auch geringere
Ingestionsmengen toxisch wirken. Zu diesen
gehören Früh- und Neugeborene, Kleinkinder
mit anhaltendem Fieber und geringer Nahrungsaufnahme und hungernde Patienten (z. B. bei
Anorexia nervosa).
Bei schweren Vergiftungen treten in der Regel
nach spätestens 6 bis 14 Stunden unspezifische Symptome wie Übelkeit und Erbrechen,
Schwitzen und Lethargie auf. Nach vorübergehender klinischer Besserung kommt es dann als
Zeichen der Leberschädigung zum Anstieg der
Transaminasen. Der Paracetamolspiegel im Serum sollte erst nach vollständiger Resorption der
Noxe, d. h. nicht früher als 4 Stunden nach der
Ingestion bestimmt werden. Mit Acetylcystein
steht ein wirksames Antidot für die Paracetamol-Vergiftung zur Verfügung. Es fördert die
Regeneration von Glutathion, das zur Entgiftung der toxischen Paracetamol-Abbauprodukte
gebraucht wird. Acetylcystein sollte intravenös
wie folgt dosiert werden:
• Initialdosis: 150 mg/kg KG in 5%iger
­Glucose als Kurzinfusion über 60 Minuten.
2016 Band 87 / 1 pädiatrische praxis
• Erhaltungsdosis: 50 mg/kg KG innerhalb
von 3 Stunden in 5%iger Glucose, danach
100 mg/kg KG innerhalb von 16 Stunden i­n
5%iger Glucose.
• Somit beträgt die Gesamtdosis 300 mg/kg
KG in 20 Stunden.
Bei fortbestehend erhöhten Transaminasen wird
eine Weitergabe der Erhaltungsdosis von Acetylcystein empfohlen. Bei der lebensbedrohlichen Paracetamol-Intoxikation mit Ausfall der
Leberfunktion besteht als einzige Therapieoption die Lebertransplantation.
Merke: Beim Gesunden ist eine Paracetamol-Ingestionsmenge bis zu 150 mg/kg KG unproblematisch.
Opioide
Wichtigstes Symptom ist die Atemdepression.
Sie erfolgt schleichend und ohne subjektives
Atemnotgefühl (Erhöhung der Reizschwelle des
Atemzentrums) oder es kommt zum plötzlichen
Atemstillstand. Typisch für die schwere Vergiftung ist die Trias Atemdepression, Koma und
Miosis. Die Symptomatik kann initial von Erbrechen und später von Bradykardie und Arrhythmien bestimmt sein. Bei den gastrointestinalen
Symptomen können eine verzögerte Magenentleerung und eine Obstipation mit Harnverhalt
im Vordergrund stehen. Während Vergiftungen
mit Heroin im Kindesalter kaum vorkommen,
haben Vergiftungsfälle mit opioidhaltigen Analgetika wegen deren größerer Verbreitung und
Anwendung während der letzten Jahre stetig an
Bedeutung zugenommen. Neben Morphinsulfat,
Codein, Tilidin oder Tramadol betrifft dies auch
Ersatzstoffe für Drogenabhängige wie Methadon
und Buprenorhin.
Ein plötzlicher Atemstillstand erfordert kontrollierte Beatmung mit Notfallintubation. Bei
einer sich langsam entwickelnden Ateminsuffizienz sollte Naloxon in Intubationsbereitschaft
appliziert werden. Naloxon hebt zuverlässig die
atemdepressive Wirkung der Opioide auf, hat
aber nur eine Halbwertszeit von 1 bis 1,5 Stun-
pädiatrische praxis 2016 Band 87 / 1
den, muss also ggf. wiederholt oder als Dauer­
infusion gegeben werden.
Ovulationshemmer/Kontrazeptiva
Diese häufig im Zugriffsbereich der Kleinkinder
gelagerten Medikamente enthalten Kombinationen von Östrogenen und Gestagenen oder nur
Gestagene (Minipille) in niedriger Dosierung.
Bei schlechter Korrelation zur eingenommenen
Menge kommt es mitunter nach 12 bis 24 Stunden zu Übelkeit und Erbrechen, in Einzelfällen
über Tage anhaltend. Weitere Symptome sind
nach Einnahme von bis zu einer Monatspackung
nicht zu erwarten. Nach Ingestion von bis zu
einer Monatspackung kann auf jegliche Maßnahmen verzichtet werden und es reicht die
häusliche Überwachung [9]. Nach Ingestion von
mehr als einer Monatspackung sollte innerhalb
einer Stunde nach der Ingestion Kohle appliziert werden (siehe oben).
„„Fazit für die Praxis
Die deutschsprachigen Giftinformationszentren
verfügen über große Erfahrung bei der Diagnostik und Therapie von Vergiftungen. Daher
sollten diese bei Intoxikationen oder Vergiftungsverdachtsfällen konsultiert werden. Die
GIZen können bei der Identifikation seltener
Noxen oder Produkte hilfreich sein. Eine ausführliche Liste der deutschsprachigen Giftinformationszentren ist auf der Internetseite des
Giftnotrufs Göttingen hinterlegt.
Liste der Giftinformationszentren und weitere
Informationen: http://www.giz-nord.de
„„Zusammenfassung
Das Drei-Säulen-Modell der Klinischen Toxikologie umfasst die drei Bereiche Primäre Giftentfernung (Magenspülung, einmalige Gabe
von Aktivkohle), Sekundäre Giftentfernung (u.
a. Hämodialyse, Hämoperfusion, verspätete und
repetitive Gabe von Aktivkohle) und die Gabe
9
spezifischer Antidota. In drei Kapiteln (Zigaretten/Drogen, Haushaltschemikalien, Medikamente) werden verschiedene Intoxikationen
bei Kindern und Jugendlichen dargestellt. Diese
Auswahl wurde aus Sicht des Giftnotrufs getroffen, da es sich entweder um häufige Vergiftungen handelt oder diese spezielle diagnostische
oder therapeutische Maßnahmen erfordern.
4. Frohne D, Pfänder HJ. Giftpflanzen. Ein Handbuch für
Apotheker, Ärzte, Toxikologen und Biologen. 5. Aufl. Stuttgart:
Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft; 2004.
5. Höjer J, Troutman WG, Hoppu K, Erdman A, Benson BE,
Mégarbane B et al. Position paper update: ipecac syrup for
gastrointestinal decontamination. Clinical Toxicology 2013; 51:
134–139.
6. Kaiser G, Scheinichen F. Eine rettende Hand: Die Fünf-Finger-Regel bei Vergiftungen. Rettungsdienst 2011; 34: 32–37.
7. Schaper A, Ceschi A, Deters M, Kaiser G. Of pills plants
and paraquat: The relevance of poison centers in emergency
Schaper A, Groeneveld A, Kilian A, Kaiser G:
Evidence-based therapy of frequent intoxications in children and adolescents
medicine. Eur J Int Med 2013; 24: 104–109.
8. Schaper A, Kaiser G. Kohle, Kali, Kinderklinik. Monatsschr
Kinderheilk 2014; 162: 546–554.
9. von Mühlendahl KE, Oberdisse U, Bunjes R, Brockstedt M,
Summary: The »three-column-model« of clinical toxicology encompasses the three areas
of primary detoxification (gastric lavage and
single dose activated charcoal), enhanced elimination (e.g. hemodialysis, hemoperfusion,
multiple dose activated charcoal) and the application of specific antidotes. In three chapters
(cigarettes/drugs, household products and medical drugs) several intoxications in childhood
and adolescence are presented. The selection
was taken from the perspective of a poisons
centre, since these are either very frequent
intoxications or demand special diagnostic or
therapeutic measures.
Desel H, Hrsg. Vergiftungen im Kindesalter. 4. Aufl. Stuttgart:
Thieme; 2003.
10. Zilker T. Klinische Toxikologie für die Notfall- und Intensivmedizin. 1. Aufl. Bremen: UNI-MED; 2008.
Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass
bei der Erstellung des Beitrags keine Interessenkonflikte im Sinne der Empfehlungen des
International Committee of Medical Journal
Editors bestanden. Der Beitrag enthält keine
Studien an Menschen oder Tieren. Teile des Artikels wurden an anderer Stelle [8] veröffentlicht.
Keywords: Gastric lavage – activated charcoal –
detoxification – Bremen list of antidotes
Literatur
1. Benson BE, Hoppu K, Troutman WG, Bedry R, Erdman A,
Höjer J et al. Position paper update: gastric lavage for gastrointestinal decontamination. Clinical Toxicology 2013; 51:
140–146.
2. Chyka PA, Seger D, Krenzelok EP, Vale JA. American Academy of Clinical Toxicology; European Association of Poisons
Priv.-Doz. Dr. Andreas Schaper
Giftinformationszentrum-Nord
Universitätsklinik Göttingen
Robert-Koch-Straße 40
37075 Göttingen
Centres and Clinical Toxicologists. Position paper: Single-dose
activated charcoal. Clin Toxicol 2005; 43: 61–87.
[email protected]
3. EAPCCT, Hrsg. Position statement and practice guidelines
on the use of multi-dose activated charcoal in the treatment
of acute poisoning. J Toxicol Clin Toxicol 1999; 37: 731–51.
10
2016 Band 87 / 1 pädiatrische praxis