Das Künstlerpaar Lavinia Schulz und Walter

Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Maskentänzer
Das Künstlerpaar Lavinia Schulz und Walter Holdt
Von Jan Reetze
Produktion: DLF 2016
Redaktion: Barbara Schäfer
Erstsendung: Freitag, 18.11.2016 , 20:10-21:00 Uhr
Regie: Friederike Wigger
Sprecher:
Lavinia: Lisa Hrdina
Walter Holdt: Karim Cherif
Schreier: Martin Engler
Stuckenschmidt: Lasse Myhr
Autor: Fabian Busch
Kommentarsprecherin: Meriam Abbas
Urheberrechtlicher Hinweis
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©
Maskentänzer
A: Autor
B: Kommentarsprecherin
Sprechrollen:
Lavinia Schulz
Walter Holdt
Lothar Schreyer
Hans Heinz Stuckenschmidt
O-Töne:
Frank Böhme
Anke von Cieminski-Hoyer
Margarete Föhl
Nils Jockel
Stanislaw Rowinski
HS: Hörszene
Musiken:
Hans Heinz Stuckenschmidt: Marsch Alexanders des Großen über die Brücken Hamburgs
(CD „Bauhaus Reviewed 1919-1933“; Steffen Schleiermacher, Piano; Label: LTM, Nr.
LTMCD 2472)
Louis Fremaux: Toboggan Twostep; unbekannte Schellackplatte
Klänge leise unter der Szene
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Maskentänzer
A
18. Juli 1924, kurz vor 7 Uhr morgens. Im Treppenhaus einer Mietskaserne in
Hamburg-St. Georg.
HS
Hinter einer Tür kurz nacheinander ZWEI SCHÜSSE. Sekunden später wird die Tür
aufgerissen, Lavinia stürzt aus der Wohnung und die Treppe zum Erdgeschoss hinauf.
Eine Wohnungstür öffnet sich vorsichtig.
EIN NACHBAR: Frau Holdt?
LAVINIA: Ich habe meinen Mann erschossen!
EIN NACHBAR: Frau Holdt…
LAVINIA: Und jetzt erschieß ich mich auch selbst!
EIN NACHBAR: ……. um Gottes willen!
Sie läuft die Treppe wieder hinunter und schließt die Wohnungstür. Sekunden später
ertönt ein weiterer SCHUSS.
Klang fadet aus
A
Die Meldung schafft es bis ins „Neue Wiener Tageblatt“:
B
„19. Juli 1924. Die Maskentänzer Lavinia Schulz und Walter Holdt wurden gestern früh in
ihrer Hamburger Kellerwohnung tot aufgefunden. Frau Schulz hatte zuerst ihren Mann
und dann sich erschossen. Den Revolver hielt sie in der Hand. Zwischen den beiden
Toten lag unversehrt ihr einjähriges Söhnchen. Als Grund für die Bluttat werden
Nahrungssorgen vermutet.“
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Maskentänzer
A
Das gewaltsame Ende zweier Künstler.
Für Reporter und Polizei ein Routinefall. Angesichts des politischen Chaos und der
wirtschaftlichen Not jener Jahre sind Tragödien dieser Art an der Tagesordnung.
KLAVIER: Shimmy (George Antheil)
ANSAGE:
Maskentänzer
Das Künstlerpaar Lavinia Schultz und Walther Holdt
Feature von Jan Reetze
HS
Kellerraum/Werkstatt hinter dem Vorhang
Lavinia arbeitet an den Masken
LAVINIA zählt die Namen der Masken auf:
Mann und Tote Frau, Paar
Toboggan, Mann und Frau
Tote Frau
Bertchen (Paar, eine Figur schwarz, die andere weiß)
Große und kleine Technik (Paar)
Springvieh
Skirnir
Bibo
Sie
Insektentänzer
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Maskentänzer
Darauf:
A
Lavinia Schulz und Walter Holdt, die Toten aus dem Keller, sind keine Unbekannten. Ihre
wenigen, dafür spektakulären Auftritte in selbstentwickelten Tanzkostümen haben ihnen
seit 1921 hohe Aufmerksamkeit beschert. Künstler wie Gustaf Gründgens oder Emil
Nolde kennen und schätzen sie.
Auf Initiative von Max Sauerlandt, dem Direktor des Hamburger Museums für Kunst und
Gewerbe, veranstaltet das Museum einige Wochen nach der Beerdigung einen
Gedächtnisabend, danach lässt Sauerlandt die Tanzkostüme in drei Transportkisten für
Artistengepäck verstauen. Die Kisten landen auf dem Dachboden des Museums und
geraten in Vergessenheit – 64 Jahre lang. Ihr Inhalt wird nicht einmal inventarisiert.
JOCKEL (jockel_01)
Ich meine zu erinnern, dass ich häufiger schon auf dem Dachboden im Halbdunkel mir
solche bemalten Leinwände aufgefallen waren, die aus drei Kisten herausragten,
verstaubt, von Taubendreck überzogen, eigentlich alles kaum erkennbar, Farben schon
gar nicht, eigentlich eher schon so eine unklare Masse von Textilien.
A
Nils Jockel, heute freier Ausstellungsmacher
JOCKEL (jockel_01 ff):
Und ich meine zu erinnern, dass ich dann irgendwann mal mit einer Praktikantin, die ich
damals hatte, die mal so hervorgeholt habe, und ich festgestellt habe, dass es eben
merkwürdig dicke Leinwände waren, die da bemalt zu sein schienen. Und wir haben die
ein bisschen oberflächlich gereinigt und stellten fest, dass das ganz merkwürdige,
kostümartige Teile waren. ... Und damit ging eigentlich dieser Krimi los.
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Maskentänzer
A
Bis 1988 setzen die Kisten Staub an, werden nur gelegentlich hin und her geschoben.
Dann endlich kommt Nils Jockel, damals Kurator des Hamburger Museums, auf die Idee,
zu schauen, was wohl darin ist:
JOCKEL (jockel_02)
Es waren noch Notizen dabei, die dann langsam mir die Möglichkeit gaben, zu
rekonstruieren, um wen es sich überhaupt handelte.
Es gab eine Kollegin im Hause, die erinnern konnte, dass irgendwie eine gewisse Lavinia
Schulz und ein Wie-hieß-er-noch, irgendwas mit Holdt, irgendwie im Hause mal eine Rolle
gespielt hätten, und so haben wir dann nachher auch über einen Artikel, den sie mir,
glaube ich, gab, herausbekommen, dass es ein Tänzerpaar gab, das nur wenige Meter
vom Museum entfernt in einer Kellerwohnung tot aufgefunden worden war, und es sich
möglicherweise bei diesen Kostümen um diese Masken.
KLAVIER: Tango (Stefan Wolpe)
A
Lavinia Berta Schulz kommt am 23. Juni 1896 in Lübben in der Lausitz zur Welt. Eine
wohlhabende Familie, die Mutter ist Hausfrau, der Vater hat eine leitende Position in
einer örtlichen Bank. Pflegeleicht ist die Tochter schon als Kind nicht. Zeitweilig wird sie
deshalb in ein Internat in Frankfurt an der Oder geschickt. Lillie Schulz, die Mutter,
immerhin erkennt Lavinias Talent. Sie berichtet etwa,
Musik weg
B
dass das Kind, dem einmal die Aufgabe gestellt war, eine ganze Seite des Schulheftes mit
Nullen zu füllen, in jede Null ein anderes Maskengesicht gezeichnet hat. Und im Garten
oder in dem kleinen Mädchenzimmer spaziert sie, auf der Violine selbsterfundene
Melodien spielend, auf und ab.
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Maskentänzer
A
1912 geht das 16-jährige Provinzkind nach Berlin.
JOCKEL (jockel_04)
Eigentlich muss man sicher davon ausgehen, dass sie irgendeine Schneider- oder
Näherinnen-Ausbildung in Berlin bekommen hat, denn ihre späteren Arbeiten sind derart
professionell, das kann autodidaktisch sich niemand angeeignet haben.
FÖHL/Cieminski neu_01
Also unser Konzept war, das alles zu rekonstruieren …uns mit LS und WH beschäftigt…
A
Margarete Föhl und Anke von Cieminski-Hoyer, heute beide im Ruhestand, leiteten die
Gewandmeisterklasse der Anna-Siemsen-Schule in Hamburg.
…und da wir die Kostüme nicht aus dem Museum mitnehmen konnten, sind wir mit
unseren Gewandmeisterschülern wöchentlich ein-, zweimal hierher gewandert und haben
alles vermessen, fotografiert, Materialien analysiert – es war eine mühevolle Arbeit unter
den Augen der Restauratoren, wie wir das nun eigentlich anpacken.
Klavier: Sonatina „Death of the machines“ ( George Antheil)
A
Sie erhalten den Auftrag, den Dachbodenfund zu rekonstruieren.
Unter ihrer Leitung lässt das Museum für Kunst und Gewerbe sechs der
Ganzkörpermasken von ihrer Gewandmeisterklasse nachbauen. Dazu können auch
einige Originalchoreographien entschlüsselt werden. Die Resultate sind 2006 in der
Ausstellung „Entfesselt!“ zu sehen, in der es um die Hamburger Tanzszene der 20er Jahre
geht.
Musik weg
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Maskentänzer
Föhl /Cieminski neu: Fotoblättern
Das ist der Anfang von der Maske, (…),(Blättern von Fotos) das ist dann unsere fertige
Maske, wir haben dann auch Material verwendet, das dem entspricht was Lavinia Schulz
verlangt hat, das wurde dann schon integriert, dann musste man gucken wie die
Bewegungsfreiheit darin ist, die Stiefel sind ja auch selbstgemacht, alles aus
Filz….bearbeitet wie Leder, und so hat sich das entwickelt (Blättern) da sehen Sie mal,
was da für Arbeit dahinter steckt.
Atmo Kellerwohnung: Nähmaschine etc….
JOCKEL (jockel_05)
Sie hat eine sehr, sehr gute Ausbildung offenbar bekommen, in der klassischen,
akademischen Kunstausbildung damals, an einer wahrscheinlich Akademie für Frauen,
die damals erste Ausbildungsstätte, die es in Berlin gab, vom Künstlerinnenverein, um
dort ausgebildet zu werden, weil das war vorher ja nur Männern vorbehalten. Und die
wird sie möglicherweise abgebrochen haben. Aber das alles ist nur rein spekulativ, denn
wir haben darüber überhaupt keine Unterlagen.
Atmo weg
FÖHL/Cieminski neu_08
Also sie war wahnsinnig proportionssicher, sie war farbsicher, sie war formsicher, also
das zu kombinieren, was sie sich ausgedacht hat, sie war materialsicher, obwohl sie sich
eigentlich nur Materials bedient, das recycelt worden ist, wie man heut sagt, das war
auch für uns die Schwierigkeit, das wiederzufinden.
FÖHL/ Cieminski neu 02
Frage von Autor Jan Reetze (….Lautes Kichern der beiden Damen) ohoho! Also wir haben
uns dann …erstmal darum gekümmert, überhaupt die Materialien zu bekommen … und
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Maskentänzer
dann haben wir die Schnittmuster ganz individuell erstellt, [[wir mussten die Tänzer
erstmal vermessen, wir mussten die Proportionen verändern,]] weil die Menschen größer
waren als Lavina Schulz und Walter Holdt, wir mussten aber sehen, dass der Ausdruck der
Masken der gleiche blieb. … Die Masken waren sehr schwer, dann haben wir überlegt
welche der Materialien wir ersetzen können durch andere Dinge, also leichtere
Materialien, also das war eine sehr intensive Fusselarbeit, bevor wir überhaupt loslegen
könnten.
KLAVIER: Marche charaktéristique (Stefan Wolpe)
A
Lavinia Schulz nimmt in Berlin Kontakt zu dem Verleger und Galeristen Herwarth Walden
auf. Walden herrscht über ein expressionistisches Privatimperium, wie es sich heutige
Kunstmarketingexperten nicht besser ausdenken könnten: Als Markenzeichen steht
„Sturm“ über allen Aktivitäten, zentrales Organ ist die gleichnamige Zeitschrift, in der
Walden und sein Redakteur Lothar Schreyer Texte und Gedichte der Avantgarde
veröffentlichen.
Musik weg
ROWINSKI (row_03)
Es gibt schon einige Beweise dafür, dass Lavinia Schulz schon nach 1916, als sie eine
klassische Lehre, Zeichnen, Malen an der Berliner Akademie in diesem Sinne verworfen
hat und ihren eigenen Stil angefangen hat zu entwickeln…,
A
Dr. Stanislaw Rowinski ist Konservator am Museum für Kunst und Gewerbe. Um die
Werke von Lavinia Schulz und Walter Holdt zu restaurieren, hat auch er sich ausführlich
mit den verfügbaren Quellen befasst.
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Maskentänzer
ROWINSKI ….dass da nicht nur stilistische, formelle Veränderung in ihrer künstlerischen
Tätigkeit stattgefunden haben, sondern durch Kontakte mit Walden, mit Schreyer und
mit anderen Künstlern, angefangen mit dem 1. Herbstsalon der Avantgarde in Berlin,
dass sie sich auch mental verändert hat. Und aus ihren Briefen und den Texten, die uns im
Nachlass verblieben sind, konnte man entnehmen, dass sie schon, ja, eine
Metamorphosis im mentalen, psychischen, innerlichen Sinne vollzogen hat.
FÖHL/Cieminski neu_07
Wir haben ja ihre kleinen Kniffe, die haben wir ja hinterher gemerkt, was sie gemacht
hat, warum die Sache so wirkte, denn wir haben auch Masken zweimal malen müssen,
als wir dann feststellten, die lebt nicht, die Maske. Die guckt nicht.
KLAVIERAKZENT (Stefan Wolpe)
A
Lothar Schreyer gibt Lavinia Schulz einen Job an der Sturmbühne, zunächst als
Kostümbildnerin und Schneiderin.
Schreyer ist Schriftsteller, Dramatiker, Maler, promovierter Jurist und hat Erfahrung als
Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Offenkundig überzeugt sie ihn
schon bald auch von ihrem Schauspiel- und Tanztalent. Und sie weiß, was sie will.
Musik weg
A
Wenn man Schreyers Memoiren glaubt, löst er im Oktober 1918 mit seiner Inszenierung
von „Sancta Susanna“ des Sturm-Dramatikers August Stramm ein mittleres Erdbeben
aus:
HS
Musik: Nature Vivante (Wladimir Vogel)
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Maskentänzer
SCHREYER: Wir führten das Bühnenkunstwerk ein einziges Mal im Künstlerhaus in Berlin auf,
wenige Tage vor dem Zusammenbruch des ersten Weltkrieges. So vollzog sich unter
polizeilichem Schutz die künstlerische Revolution der Bühne. Lavinia Schulz, meine erste
„Schülerin“, eine geniale Person mit wilder Leidenschaft, nur von der Zucht der Kunst
gebändigt, spielte – nackt – die Sancta Susanna, unter atemlosem Verharren – vielleicht
Entsetzen – der Zuschauer, die nach Ende des Spiels in frenetischem Beifall und wüsten
Protesten das Kampfschauspiel zweier Welten boten. Die Presse war durchweg
ablehnend und verhöhnend. Wir aber wussten, dass wir in Deutschland das Signal des
expressionistischen Theaters gegeben hatten.
Musik kurz frei, dann weg
A
Tatsächlich gibt es nur eine einzige Rezension: Die Vossische Zeitung nennt den Abend
B
Ein „Theaterstürmchen“!
A
Stramms nur etwa dreißigminütiges Stück thematisiert sehr expressionistisch die Not
einer jungen Nonne mit dem zölibatären Leben, und das Militärische Oberkommando
hatte verfügt, für die Aufführung dürfe nicht öffentlich geworben werden. Darüber
hinaus ist die Angelegenheit aber ziemlich undramatisch. Lavinia Schulz spielt
keineswegs nackt, sondern trägt eine Art Mini-Bikini. Und das Publikum, das wegen der
fehlenden Werbung hauptsächlich aus Sturm-Künstlern und Mitgliedern des
Fördervereins besteht, weiß ohnehin, was zu erwarten steht.
1919, als ihm Berlin politisch zu unruhig wird, gibt Schreyer die Sturmbühne auf und
gründet an seinem Wohnort Hamburg die „Kampfbühne“. Er überredet Lavinia, ihm zu
folgen.
HS
SCHREYER: Heute kommt die Schulz. Es ist für meine Nerven eine harte Probe, aber
künstlerisch ist die Schulz für uns nötig.
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Maskentänzer
KLAVIER: Shimmy (George Antheil)
Atmo Kellerwohnung Lavinia, Walther
A
Während der Probenarbeit an der Kampfbühne lernt Lavinia den drei Jahre jüngeren
Tänzer und Schauspieler Walter Holdt kennen. Es ist Liebe auf den ersten Blick.
JOCKEL (jockel_07)
Ich gehe davon aus, dass er möglicherweise eher aus der Richtung der
Wandervogelbewegung, die ja durchaus verbreitet war und die ja auch völlig neue Wege
ging in dieser Zeit, vielleicht zum Laienspiel gekommen ist.
A
Walter Holdt, geboren am 20. Dezember 1899, stammt aus einer Kaufmannsfamilie,
arbeitet im väterlichen Unternehmen, weshalb man ihn fast immer im grauen
Geschäftsanzug antrifft. Er ist ein erstklassiger Tänzer, der seine Mittel genau kennt.
JOCKEL (jockel_07)
Dass er jemand war, der rhythmisches Gefühl hatte, der auch mit dem Tanz sich auf
autodidaktische Weise beschäftigt hat, wie das ja viele andere der großen Tänzerinnen in
Hamburg, das waren alles Dilettanten. Das waren welche, die mal ein bisschen
Ballettunterricht privat hatten, die sich untereinander unterrichtet haben, Dinge
abgeguckt haben, die vielleicht mal zu Kursen gingen auf dem Monte Verità, oder zu
Dalcroze nach Hellerau, also irgendwo eher aus Amateurszene, dürfte er seine
Fähigkeiten als ein außerordentlich Talentierter eben entwickelt haben. Aber ansonsten
hatte er eine Lehre als Kaufmann zu machen, dazu hatte ihn der Vater wahrscheinlich
verdonnert.
Atmo: Vorhang geht auf, dann Geräusche aus der Kellerwohnung
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Maskentänzer
A
Lavinia und Walter beziehen einen Kellerraum in einer Mietskaserne am Besenbinderhof,
wenige Schritte vom Museum für Kunst und Gewerbe entfernt. Mit Vorhängen
unterteilen sie den Raum in Schlaf-, Wohn- und Werkstattbereiche. Teppiche gibt es
nicht, es gibt einen Herd, kaltes Wasser, Außentoilette, das Licht kommt aus nackten
Glühbirnen. Die beiden schlafen in Hängematten, als Kleiderschrank dient eine alte
Seekiste, es gibt einen Tisch und ein paar Hocker, zudem finden Walters Pianino, sein
Schlagzeug und Lavinias Nähmaschine Platz.
Atmo geht weg
A
Trotz der großen Liebe wird die Beziehung von Lavinia Schulz und Walter Holdt bald zu
einem ständigen Balanceakt. Lothar Schreyer bemerkt:
HS
SCHREYER : [Ihre] …sehr hohe Begabung war plötzlich überschattet von größten menschlichen
Schwierigkeiten, die ich damals wie heute nur als dämonisch erkennen kann. Es hatte
sich eine unüberbrückbare sinnliche Verwirrung zwischen Lavinia Schulz und Walter
Holdt eingestellt.
Atmo: Lavinia zeichnet, darüber:
A
Auseinandersetzungen sind häufig und enden nicht selten handgreiflich. Als Lavinia
Schulz plötzlich auf offener Bühne beginnt, Walter Holdt zu schlagen, bis dieser sie
schließlich an den Haaren über den Boden schleift, sieht Schreyer keine andere
Möglichkeit mehr als beide zu feuern. Im Nachlass von Lavinia Schulz findet sich eine
Bleistiftkarikatur, die Schreyer als Schwein zeigt – Bildunterschrift:
HS Lavinia
„Das Schwein als Lehrmeister“.
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Maskentänzer
JOCKEL (jockel_12)
Lavinia Schulz stand ganz, ganz stark unter dem Eindruck von Lothar Schreyer, ich glaube,
das kann man sich gar nicht extrem genug vorstellen. Was Lothar Schreyer wollte, das
wird er ihr schon auch viel gesagt haben, das wird aber auch sie überall gelesen haben
können. Und eine der wesentlichen Forderungen war ja, sich zu ent-individualisieren, in
der größten Bemühung um Wahrhaftigkeit in der Kunst aufzugehen, also quasi für mich
auch der Eindruck eines In-der-Kunst-Verschwindens.
Klavierakzent: Nomos op. 2 (Josef Matthias Hauer)
A
Nach dem Rauswurf beschließt das Paar, sich selbständig zu machen. Nur noch Kostüme,
Bewegung und Musik sollen ihre Ausdrucksmittel sein. Sie nennen sich „die
Maskentänzer“. Und sie lassen keine Trennung von Kunst und Leben mehr zu.
O-Ton Jockel
Sie gemeinsam haben ihre Erfüllung darin gesehen, oder zumindest sich das so
hinformuliert, in ihrer Kunst aufgehen zu wollen, und dabei sich nicht um ihre
Unverwechselbarkeit, ihre Individualität zu bemühen, sich gar abzugrenzen großartig
gegen andere, dann hätten sie nämlich hinter den Masken hervorkommen müssen. Sie
wollten, wenn überhaupt, nur in ihrer Kunst eben halt selbst in Erscheinung treten.
Atmo Kellerwohnung, Werkeln
A
In ihrer Kellerbehausung beginnen die beiden mit dem Bau von Kostümen, die den
gesamten Körper verhüllen. Diese von Lavinia Schulz als „Ganzkörpermasken“
bezeichneten Geschöpfe sind perfekt auf ihre Körper zugeschnitten und stabil genäht.
Föhl/Cieminski, neu_Bitumen (0’29)
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Maskentänzer
Und dieses hier sind alles kleine Knet … Fimo war das, ja Fimo, und Wachs, die bunten da
waren Wachs … Sie hatte Bitumen, da muss irgendwie asphaltiert worden sein, und da ist
sie wohl rausgerannt und hat gesagt, hier, den Kopf mal voll Bitumen machen!, und das
hatten wir nun nicht, wir mussten mal wieder Ersatz suchen.
HS
LAVINIA arbeitet an den Masken und zählt die Materialien auf:
Sackleinen, Matratzenstoff, Pappe, Draht, Gips, Sperrholz, Pappmaché, Industrieabfälle,
Haushaltsgegenstände, ein Eimer Teer ...
Cieminski/Föhl ohne Tierprodukte, neu 05
Sie haben ja eigentlich das Leben, was normale Menschen lebten damals, negiert, sie
waren Vegetarier, also Lavinia hat nicht mal Seide verwandt, weil das von einem Wurm
stammt, ein tierisches Produkt war, obwohl Wolle ja auch ein tierisches Produkt ist, sie
hat hauptsdächlich Leinen und Wolle verwendet und solche Materialien, ohne
Tierprodukte.
A
Die Masken sind schwer, bis zu 40 Kilogramm, und von innen alles andere als angenehm.
Rauhe Nähte, scharfe Kanten, herausstehende Nägel, offene Drahtenden machen es
nötig, dass die Maskentänzer dicke Trikots tragen und ihre Köpfe bandagieren. An- und
ablegen können sie die Kostüme nur mit Hilfe von außen.
Klavier: (Josef Matthias Hauer)
A
Für ihre Ganzkörpermasken entwickeln sie Choreographien, die das, was damals gerade
als „Ausdruckstanz“ in Mode kommt, blass aussehen lassen. Eher sind die Tänze frühe
Vorläufer dessen, was wir heute als Tanztheater oder Performancekunst kennen.
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Maskentänzer
O-Ton Cieminski/FÖHL neu04
Wir haben dann festgestellt, wenn man so eine Maske aufsetzt, zum Beispiel diese hier,
man verschwindet darunter und dadurch, dass man das Gesicht nicht mehr sieht hat man
ganz andere Bewegungen und fühlt sich auch ganz anders.
Ja, man wird zum Springvieh, zur Gazetänzerin!
KLAVIER klingt aus
A
Im August 1921 heiraten Lavinia Schulz und Walter Holdt – heimlich. Als Begründung
nennt Lavinia die Sinn- und Geschmacklosigkeit von Familienfeiern. Ihrer Tante Dora,
der einzigen Vertrauten, die über die Hochzeit informiert wird, schreibt Lavinia später:
HS
LAVINIA: Wir, Walter Holdt und ich, wünschen Dir ein gesegnetes Osterfest. ... Wir begreifen
nicht, wie du unser einfaches „Heiraten“ hast tragisch nehmen können. Es ist uns
vollkommen unverständlich, was für Gefühle du für Festlichkeiten wie Geburtstag,
Kindtaufe, Konfirmation, Hochzeit und so weiter haben kannst. ... Du musst nicht
denken, dass wir herzlose Menschen sind. ... Wir empfinden dies als Ereignis, wenn der
Mensch Träger einer Sache ist und damit mehr passiert als nur etwas Körperliches.
JOCKEL (jockel_09)
Alles spricht dafür, dass sie den sehr viel aktiveren Teil in allem hatte, und dass er für sie
der ideale Partner war, weil er viele Dinge umsetzen konnte, möglicherweise sogar sehr
viel pragmatischer in manchen Dingen war, vielleicht auch sehr viel geschmeidiger im
sozialen Umgang mit anderen, vielfach vielleicht ihre Ausbrüche, die sie ja schon ganz
früh hatte und die man ihr auch durchaus übel angerechnet hat, Lothar Schreyer, ihr
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Maskentänzer
Mentor, eben halt ja auch, möglicherweise auch ausgebügelt hat, ein bisschen
konzilianter in manchem war als sie, also jemand, der dem Leben zugewandter und
zugetaner war, und der vor allem nicht den Expressionismus derart in sich aufgesogen
hat wie Lavinia Schulz es unter dem Einfluss von Lothar Schreyer getan hat, das heißt, er
hat viele Dinge, nach meiner Sicht, als der zwei, drei Jahre Jüngere eigentlich eher aus
zweiter Hand gemacht. Also er war in dem Sinne auch ein Mitlaufender, ein
Mittanzender.
Atmo Kellerwohnung, Holdt trommelt….Wasserkessel….
HS
LAVINIA: Wir wohnen in unserer Heimat. Wir besitzen keinen Boden und wir haben den
Kontakt zur Erde unserer Heimat verloren. Wir sind Menschen arischer Rasse. Wir sind
uns über unsere Rasse klar. Unser geistiges Urbuch ist die Edda. Die Edda ist vom Volk
geschaffen, sie ist nicht das Werk eines einzelnen. Die Edda ist das stärkste, was das
nordische Volk zu schaffen imstande ist. Wir glauben, dass jedes Volk seinem Blute
entsprechend seinen eigenen Kultus haben muss. Wir lehnen die Bibel als allein
seligmachendes Kultbuch aller Völker ab. Das Christentum, im Äußeren wie im
Innerlichen von der jüdischen Religion abhängig, ist nicht unser Kult und löst uns nicht
aus.
A
Der einzige Text, den man als eine Art Konzepterklärung der Maskentänzer auffassen
kann, formuliert 1921. Nils Jockel vermutet neben der Wandervogelbewegung weitere
Einflüsse:
JOCKEL (jockel_14)
Die Deutschnationalen sind ja mit dem Ende des 1. Weltkrieges nicht verschwunden,
sondern überhaupt erst neu und anders zum Zuge gekommen, und die Diskussion um das
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Maskentänzer
Deutschtum, um das Völkische, die setzt natürlich auch in der Kunstszene ein, und die
wesentlichen Förderer der Hamburger Kampfbühne waren Deutschnationale. Und Lothar
Schreyer war durchaus sehr stark diesem Gedanken, eine ursprünglich deutsche Kunst,
was immer das sein mag, schaffen zu wollen, dem stand er sehr nahe.
A
Stanislaw Rowinski:
ROWINSKI (row_05)
Auffallend ist, dass ihre Masken geschlossen sind, die haben überkreuzte oder
geschlossene Augenöffnungen, weit offene, eigentlich im Grunde genommen einen
hilfeschreienden Mund, ähnlich wie bei Edvard Munch, der auch psychische Probleme
hatte, vereinsamt war, er fühlte sich auch nicht verstanden. Also man könnte es natürlich
viel interpretieren, nicht nur ihre Auftritte und nicht nur ihre Verwirklichung von in
darstellender Form der Kostüme besagter Legenden oder alter Sagen wie der Edda, aber
auch die Welt der Dämonen und vielleicht grenzwertig, wo man sicher einige Attribute
der dunklen Welt in ihren Kostümen vorfinden kann, auch also starke Symbolik, die
zwischen Leben und Tod pendelte, wo man auch diese Zwischenräume, wo sich die Toten
mit Lebenden trafen.
A
Rowinski weist besonders auf den Schweizer Maler, Kunsttheoretiker und BauhausLehrer Johannes Itten und dessen Lehre von Farben und Symbolen hin. Itten ist
Anhänger des Mazdaznan, einer esoterischen Religionslehre, die in späteren Schriften
unter anderem die NS-Rassengesetze begrüßt und darauf hinweist, derlei bereits früher
und konsequenter gefordert zu haben.
ROWINSKI (row_08)
Ich habe es in Briefen finden können, dass sie sich mit Johannes Itten in Berlin getroffen
hat. Die esoterische Verwandtschaft und das Gedankengut, und die Welt, die zwischen
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Maskentänzer
Lebenden und Toten, zwischen Sagen und Legenden sich befindet…Und wir sehen ganz
klare Elemente, die farbige Darstellung von Kompositionen, von Symbolik bei Lavinia
Schulz, die bündig ist mit dem, was Johannes Itten und seine Mitarbeiter in seiner Schule
gemacht haben. Das können wir vorfinden.
Föhl /Cieminskli _Kleine Tasche neu_09
Erzähl die Geschichte von der kleinen Tasche … die Fototasche die, ach ja (lacht), …. also
es gab ne kleine Tasche bei diesen … da ist sie drauf … die bei dieser Figur notwendig war
und wir wussten nicht, was für eine kleine Tasche das ist und es ist eine Fototasche
dachten wir und du hast dann im Internet nachgeguckt, und dann stellte sich das raus,
das ist eine kleine Munitionstasche aus dem ersten Weltkrieg. Also da waren wir dann
doch recht überrascht, dass auch solche Dinge an einem Kostüm hingen. Und da war man
auch stolz, das haben wir jetzt auch und das auch!
A
Anfang 1921 absolvieren die Maskentänzer einen ersten Testauftritt in der „Tafelrunde“,
einem monatlichen Treff der Hamburger Expressionisten im Hinterzimmer eines Cafés.
Es ist wiederum Lothar Schreyer, der sie dort als „seine besten Schüler“ einführt. Trotz
der wütenden „Schwein als Lehrmeister“-Karikatur lassen sie den Kontakt zu ihm nie
abreißen. Schreyer selbst verabschiedet sich bei dieser Gelegenheit aus Hamburg, um
die Bühnenklasse am Bauhaus zu übernehmen – noch ohne zu ahnen, dass er dort auf
einen erbitterten Widersacher namens Oskar Schlemmer stoßen wird, der gerade sein
später berühmtes „Triadisches Ballett“ entwickelt.
Musik Klavier: Hans Heinz Stuckenschmidt
A
Hans Heinz Stuckenschmidt, gerade 19 Jahre alt, ist neu in Hamburg und auf der Suche
nach einer Bleibe. Der Auftritt der Maskentänzer gefällt ihm. Lavinia und Walter laden
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Maskentänzer
Stuckenschmidt in ihre Wohnung ein. Einen Pianisten und Komponisten können sie
genauso brauchen wie jemanden, der zur Miete beiträgt.
Klavier weg
BÖHME (boehme_07)
Stuckenschmidt war auch, wir würden heute sagen: ein Musikkurator oder jemand, der
Konzerte veranstaltet, und da finden wir wiederum in dem Stuckenschmidt-Archiv, das in
Berlin liegt, in der Akademie der Künste, finden wir sehr viele Skizzen, Programmskizzen,
was er dort zusammengestellt hat.
A
Frank Böhme, Professor für Angewandte Musik an der Hochschule für Musik und Theater
in Hamburg.
BÖHME (boehme_07)
Und das zeigt, dass jemand mit 18 Jahren also ein sehr breites musikalisches Verständnis
der Moderne seiner Zeit einfach hatte. Er hat hier durchaus einen Schönberg gespielt, er
hat durchaus Schönberg mit Debussy verbunden, er hat Anton Webern gespielt, also da
war ein junger Mann hier in Hamburg, der genau wusste, wo das musikalische Herz der
Moderne schlägt.
Klavier Stuckenschmidt weiter
A
Stuckenschmidt spielt den beiden seinen „Marsch Alexanders des Großen über die
Brücken Hamburgs“ vor.
Sie zeigen ihm ihre Masken.
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Maskentänzer
Vorhang wird aufgezogen
LAVINIA: Darf ich vorstellen: Toboggan Mann, Toboggan Frau, Springvieh, Bibo, Kippelfix,
Mann und Tote Frau, das hier sind die beiden Bertchens, und dieser blaue Kollege hier
mit dem Holzschwert, das ist Skirnir. Geben Sie ihm mal die Hand!
HANS: Da kann man ja schon kaum den Arm anheben. Was ist denn das für Material? [Er
KLOPFT gegen das Holzoberteil der Figur] Und in diesem schweren Zeug tanzen Sie?
LAVINIA: Kunst muss schwer sein. Sie muss anstrengen, sie muss wehtun. Sonst ist sie nichts
wert.
HANS: Finden Sie das nicht ein bisschen überspannt?
LAVINIA: Gar nicht. Sie könnten mir Millionen bieten, oder eine Burg im sonnigen Süden mit
20 Dienern. Ich lehne das alles ab. Entbehrung, Hunger, Kälte, nordische Landschaften
mit Sturm, Eis, Katastrophen: Das ist meine Welt, darin habe ich mich mit Holdt
gefunden.
WALTER: Unsere Ganzkörpermasken müssen primitiv sein, im besten Wortsinn. Ungefähr so
wie die Volkskunst der Südseevölker oder der afrikanischen Eingeborenen. Deren Kunst
ist immer mit ihrem Leben verbunden.
Er zieht den Vorhang wieder zu.
LAVINIA: So, Hans. Jetzt wissen Sie, wer die Maskentänzer sind. Wollen Sie immer noch hier
einziehen?
Klavier Stuckenschmidt weiter
A
Hans Heinz Stuckenschmidt bleibt volle zwei Jahre. Für ihn quetschen sie eine
Chaiselongue in eine Ecke. Im täglichen Umgang sprechen sich die drei mit Vornamen an,
bleiben dabei aber stets beim Sie – so lässt sich ein Rest von Distanz bewahren, wenn
schon die Wohnsituation keine zulässt. Schon bald führen sie Stuckenschmidt als
musikalischen Leiter in ihrem Briefkopf auf.
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Maskentänzer
Klavier weg
A
„Ein Abend für Tanz und Tongestaltung“ am 5. Dezember 1921 im Vortragssaal des
Museums für Kunst und Gewerbe ist der erste öffentliche Auftritt der Maskentänzer. Die
Zeitschrift „Die Rote Erde“ rezensiert:
Musik: Endresen
B
Zwei Menschen eröffnen sich hell, jung, freudig, kämpfend, heiß. Ein paar zurückgelegte
Arbeitsmeilen fühlt man von beiden Seiten, hier heller, freudiger, dort erregter noch und
mehr ins Dunkle gewendet. ... Was nun kommen muss auf der Grundlage dieses Abends:
die Gestaltung der Ruhe, die Verkündung des Helleren, der kosmischen Neulebendigkeit.
Wir haben zwei prächtige, ehrlich arbeitende Menschen vor uns. Dass sie nicht gleich
letzte Vollendung sind, ist selbstverständlich. Aber ist es nicht schön, mitzufühlen, was
hier wird? ... Wo sind die Menschen, die weitsehend genug sind und diese beiden
Menschen stützen?
A
Diese Frage bleibt dauerhaft unbeantwortet.
Musik: Endresen
HS
LAVINIA: Es wird sich mancher unter den Zuschauern gewundert haben, dass wir unsere
künstlerischen Darbietungen oder Veranstaltungen unentgeltlich geben. Man kann
Geistiges nicht für Geld verkaufen. Geist und Geld sind zwei feindliche Pole, und wenn
man Geistiges für Geld verkauft, so hat man den Geist an das Geld verkauft und hat den
Geist verloren.
Atmo Kellerwohnung
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Maskentänzer
A
Um über die Runden zu kommen, hält Lavinia Kostüme von Schauspielern in Ordnung.
Walter arbeitet weiter im elterlichen Geschäft. Doch auf die Dauer erweist sich das als
nicht vereinbar mit den eigenen künstlerischen Plänen. Und irgendwann geben sie diese
Arbeiten auf.
KLAVIERAKZENT (Hauer)
A
Im März 1922 stehen sie im Hamburger Curiohaus bei einem der schon damals
legendären Künstlerfeste auf der Bühne. Hans Heinz Stuckenschmidt:
HS
HANS: „Die Maskentänzer hatten sich verpflichtet, im Rahmen der „Astralen Tanzschau“ ein
neues Programm zu zeigen. Der Name des Festes, „Der himmlische Kreisel“, gab die
Stimmung an, die zu verkörpern war. Walter und Lavinia entschieden sich für
„Ungeheuer vom Sirius“. Zwei ihrer großen farbigen Masken wurden zurechtgemacht.
Ich schrieb Stücke dazu und orchestrierte sie – nicht immer zur Zufriedenheit der
Tanzmusiker.“
JOCKEL (jockel_15)
Das waren vorwiegend Feste, die die Schüler, wie sie hießen, also die Studenten der
Kunstgewerbeschule, die es damals noch war, mit ihren Lehrern organisierten, eigentlich
als eine interne Veranstaltung, die aber derartig kreativ und einfallsreich und vielseitig
waren, dass man sie dann auch – nicht zuletzt, um sie besser zu finanzieren – öffentlicher
gemacht hat. Und die wurden in sehr kurzer Zeit, also eigentlich bis in die Mitte der 20er
Jahre, so einzigartig, dass daraus ein ganz eigenes Geschehen sich in Hamburg
entwickelte. Wenn man in Hamburg künstlerisch etwas auf sich hielt, musste man dabei
sein, ob man wollte oder nicht. Es waren ja auch rauschende Kostümfeste, also man
musste auch kostümiert sein. Die Bühnenbilder, die Kulissen wurden sowohl in der
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Maskentänzer
Kunsthochschule als auch dann ja später im Curiohaus, von der Schülerschaft der
Kunsthochschule und den Professoren gestaltet. Es waren eigentlich in dem Sinne
Gesamtkunstwerke.
A
Dieser Auftritt macht die Maskentänzer deutschlandweit bekannt. In den folgenden
Monaten sind sie bei der Hamburgischen Überseewoche zu sehen, bei der Eröffnung
einer Werkbund-Ausstellung, sie werden ins Corso-Cabaret nach Düsseldorf eingeladen,
zurück in Hamburg gestalten sie die Eröffnung eines Cabaretkellers – immer unbezahlt.
MUSIK
Louis Fremaux: Toboggan-Twostep
A
Lavinia Schulz und Walter Holdt setzen neben der Musik ihres Hauskomponisten
vorrangig zeitgenössische Musiken ein, etwa von Erik Satie, Hermann Joseph Hauer oder
George Antheil. Gelegentlich aber greifen sie auch zu derben Gassenhauern.
B
Der „Toboggan-Twostep“ von Louis Fremaux in einer Schellack-Aufnahme. Nur dann,
wenn die Tänzer diesem Rhythmus folgen, wippen die Drahtgestelle der beiden Masken
synchron mit.
Atmo Vorhang und Kellerwohung zu dritt
A
Weil trotzdem irgendwoher Einnahmen kommen müssen und mehr als einmal wegen
unbezahlter Materialrechungen der Gerichtsvollzieher an ihre Kellertür klopft, baut
Walter Holdt sein Schlagzeug zusammen und formiert mit Stuckenschmidt und dem
späteren Dirigenten Victor Schlichter ein Jazztrio. Einige Monate lang treten sie im
Alkazar auf, einem Nachtclub in Hamburgs Rotlichtbezirk St. Pauli. Aber das Pensum,
tagsüber mit der nimmermüden Lavinia an Masken und Choreografien zu arbeiten und
nachts als Musiker auf der Bühne zu stehen, ist zu viel. Walter Holdt wird krank.
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Maskentänzer
Als Lavinia im Dezember 1922 schwanger wird, bitten sie Stuckenschmidt, auszuziehen.
Es fehlt nun nicht nur Walters Einkommen, sondern auch der Mietanteil ihres
Mitbewohners.
Schließlich übernimmt während der Schwangerschaft der Maler Emil Nolde, mit dem die
beiden befreundet sind, die Miete. Insgesamt hilft er dem Paar mit rund 50.000 Mark
aus.
FÖHL/CIEMINSKI (ciem_10):
Wir haben an den Kostümen sehen können, wo die Schwachstellen sind bei Lavinia Schulz
und haben das natürlich versucht auszumerzen und in den Griff zu bekommen.
Löten tun wir ja auch bei den Gewandmeistern, da sind ja viele Sachen gelötet, das sieht
man zwar nicht auf der Bühne, aber das ist so. Und irgendwann sagte ich dann, du, ich
glaube, löten können wir nicht, das bricht uns alles weg. Und dann haben wir beide uns
angeguckt und gesagt: Wir sind ja schon ziemlich alt geworden, aber schweißen können
wir beide nicht. Also wir haben noch einen Schweiß- und Lötkursus gemacht.
A
Namensgeber der beiden „Toboggan“-Masken ist eine Jahrmarktsattraktion, eine lange
Rutsche nach Art einer Wendeltreppe. Die Masken tragen am Körper befestigt eine
Konstruktion aus dünnen, schwingenden Metallstangen, die nach unten gebogen sind
und an das Drahtgestell eines aufgeklappten Regenschirms erinnern.
FÖHL/CIEMINSKI (ciem_10):
Unser Problem waren auch diese Metallstangen. Ich musste ja nun welche finden, die sich
bewegen, aber nicht bei jeder Bewegung zerbrechen, denn die hat damit Überschlag
gemacht und alles, die hat die ganz schön geknautscht. Und dann hatte ich erst einen
Draht, der sich immer aus den Verankerungen löste, und dann haben wir nachher das
alles gewechselt und haben das auch anders verarbeitet als Lavinia das gemacht hat, und
das gleiche Problem, haben wir dann festgestellt auch an dem Kostüm von Lavinia – die
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Maskentänzer
hat immer die Drähte mit Pflaster und nochmal mit Pflaster, die hat genau das gleiche
Problem gehabt, nur nicht den richtigen Draht.
ROWINSKI (row_10): Basis für Positionierung und Gestikulation und Pose, Haltung der
einzelnen Figuren, sind zum Teil historische Fotoaufnahmen, die 1924 durchgeführt
wurden. Dort haben sie sich auch schon positioniert.
A
Diese Aufnahmen, 28 postkartengroße Schwarzweiß-Fotografien, helfen bei der
Rekonstruktion. Sie zeigen die Maskentänzer in Kostümen und Pose. Diese Fotokarten
sind ein Glücksfall.
Die heute berühmten Bilder stammen von der Fotografin Minya Diez-Dührkoop, die
damals so etwas wie die Annie Leibovitz von Hamburg war und entsprechende Honorare
verlangte. Die Maskentänzer wollten die Bilder als Werbematerial einsetzen. Sie muss
ihnen die Fotos geschenkt haben. Man weiß, dass sie das für Künstler gelegentlich tat.
ROWINSKI (row_10): Und dazu kamen wenige choreographische Skizzen, Zeichnungen
und Tanzschritte, die zwar symbolisch, aber doch mit Kostümen, wo man es erkennen
kann: Aha, hier ist Bertchen, da ist die Tote Frau, hier haben wir Toboggan, und so weiter,
welche Schritte und welche Haltung die hatten.
A
Es gibt noch eine weitere Quelle. Lavinia Schulz hat eine Art grafisches Notationssystem
entwickelt, um ihre Choreografien zu Papier zu bringen. Frank Böhme:
BÖHME (boehme_09)
Diese Zeichnungen sind alle sehr gegenständlich, das sind alles so kleine Figuren, die sie
gezeichnet hat, und es gibt davon zwei unterschiedliche Varianten, einmal die bezeichnet
man für den Alltag, die sind säuberlich mit Lineal und mit Kästchen gezeichnet, und es
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Maskentänzer
gibt eine Ausgabe, die anscheinend hergestellt worden ist für den Verkauf, um ein wenig
Geld einzunehmen. Die sind etwas aufwendiger gezeichnet.
ROWINSKI (row_04)
Auf einem der Vollmaskenkostüme steht auf der Mundpartie der Spruch „Du bist manoli“.
Erstmal wusste es keiner.
A
Gemeint ist die männliche Version der Masken mit dem Namen „Technik“. Stanislaw
Rowinski:
ROWINSKI (row_04)
Ich habe nachgeforscht und festgestellt, dass Walter Holdt war Kettenraucher, und er
hatte auch Nicknames, zum Beispiel „Kippelfips“. Das hat eine Verbindung mit einer
Comicfigur aus der Berliner 20er-Jahre-Zeit und führt zu einer damals berühmten und
bekannten Zigarettenfabrik: Manoli, also so bestimmte persönliche Akzente wurden auch
auf die Kostüme übertragen oder mindestens ansatzweise sehr dezent visualisiert.
Atmo Kellerwohnung, werkeln
A
Die beiden „Technik“-Masken gehören zum Schönsten, was Lavinia Schulz und Walter
Holdt sich ausgedacht haben. Der Rumpf aus gestreiftem Matratzenstoff, behängt mit
Garnrollen, Untertassen, Reiben, Bestecken, bunten Bändern und Stäben, der Kopf ein
prismenförmiges, nach oben spitz zulaufendes hölzernes Dreieck, auf dessen Spitze
wippenartig montiert eine Holzkonstruktion, deren Vorbild die Hamburger Elbbrücken
sind. Wenn der Tänzer den Kopf hin und her bewegt, kippen diese Holzbrücken von einer
Seite zur anderen und erzeugen dabei ein Klappgeräusch. Einen Haken allerdings haben
fast alle Kostüme. Frank Böhme:
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Maskentänzer
BÖHME (boehme_06)
Man kann nichts sehen. Also diese Masken sind ja Ganzkörpermasken, und auch im Kopf
sind sie ja komplett zu. Das heißt, beim „Springvieh“ kann ich sagen: Ich tanze das blind.
Und das ist bei den anderen Masken ähnlich. Es gibt auch nur eine Maske, diese
Gazemasken, da kann man alles sehen, aber alle anderen sieht man einfach nichts. Und
man muss einfach, man hat ein sehr eingeschränktes Blickfeld, und in diesem Blickfeld,
man muss es auswendig tanzen und einfach zusehen, dass man nicht gegen die Wand
läuft.
KLAVIER (Josef M. Hauer)
A
Nach der Geburt ihres Sohnes im August 1923 freunden sich die beiden mit der Idee an,
volkstümlichere Tanznummern zu entwickeln und damit gegen Gage in Varietés
aufzutreten. Aber was sie anbieten, ist für das Publikum immer noch zu weit draußen.
Lavinia Schulz versucht es mit Modeentwürfen. Sie sind originell, aber realisiert wird
keiner. Vergeblich denken die beiden auch über ein Marionettentheater nach. Lavinia
zeichnet ein Storyboard für einen Tanzfilm. Aber niemand will den Film machen.
HS
LAVINIA: Wir, Walter Holdt und ich, zwei Schauspieler – Schauspieler im ernsten Sinne –
Spieler der Schau, des Gesehenen, wir stecken am tiefsten im Wurstkessel. Uns
verschont das Schicksal vor keiner Frage, geistig und körperlich. Seit dem 17. Jahre
empfinde ich mein Leben nur wie ein Fegefeuer, wann werde ich durch sein?
Klavier weg
A
Anfang 1924 treten die Maskentänzer noch einmal bei einem Künstlerfest im Curiohaus
auf. Nach dem Auftritt brechen sie zusammen. Es bleibt ihr letzter.
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Maskentänzer
Die Entkräftung und ständige Ebbe in der Kasse haben Folgen. Walter fällt mehr und
mehr in eine Depression und bewegt sich bald nur noch zwischen Hängematte und
Kneipe. Lavinia vergräbt sich immer tiefer in immer sinnloserer Arbeit und entwickelt
obendrein Anzeichen von Verfolgungswahn.
Musik: Endresen
A
Im Sommer stehen Lavinia Schulz und Walter Holdt akut vor dem Verhungern. Am 18.
Juli 1924 gegen 7 Uhr morgens: die Schüsse. Es gibt keinen Abschiedsbrief, keine
Erklärungen. Der Revolver gehört Walter Holdt, er stammt aus dem 1. Weltkrieg. Sie
haben ihn mal in einer Tanznummer verwendet, in der eine Figur sich tötet, um
anschließend in neuer Gestalt aufzuerstehen.
JOCKEL (jockel_21)
Ich glaube, sie waren überhaupt dem Tod nahe, dem Tod näher als wir uns das so in
unserer heutigen heilen, versorgten Welt so vorstellen.
….der Hunger war so groß, die Kunst war so dominierend, bestimmend für ihr Leben, dass
es dann möglicherweise nur noch ein Kleines, Letztes war, irgendwann abzudrücken, so
merkwürdig das klingt. Außerdem war es auch eine Konsequenz aus den fünf Jahren, in
denen die beiden eigentlich ja ihr Dasein als ein bedrückendes, trauriges, trostloses
Dasein beschrieben, wie der gesamte Expressionismus, der ja auf den neuen Menschen
wartete, den neuen Menschen schaffen wollte, eine neue Welt. Aber die Welt, in der sie
lebten, war eigentlich ohnehin nicht in dem Sinne lebenswert, sondern es war die Kunst
war das lebenswerte.
Musik weg
A
In den Künstlerkreisen löst der Tod der Beiden große Betroffenheit aus. Gleichwohl
scheint niemand wirklich überrascht zu sein. Lothar Schreyer:
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Maskentänzer
HS
SCHREYER: Noch heute fühlen wir, die wir alles aus der Ferne und zugleich aus ungreifbarer
Nähe miterlebt haben, uns von schwer lastender Schuld belastet.
JOCKEL (jockel_18)
Ich muss gestehen, dass manche der Nachrufe, die ich auf die beiden gelesen habe, nicht
zuletzt auch Bemerkungen, die später dann Lothar Schreyer in den 60er Jahren über sie
gemacht hat, mir ehrlich gestanden – das ist eine sehr persönliche Meinung, sehr
persönlicher Eindruck – auch ein bisschen heuchlerisch vorkommen. Also man hat sie
eigentlich für talentiert befunden, man hat sie offenbar mit großer Aufmerksamkeit
gesehen, und dennoch wohl eben auch gesehen, dass sie zunehmend sich psychisch in
einer schwierigen Situation befanden, und scheint wenig unternommen zu haben, mit
ihnen zu sprechen oder sie zu unterstützen oder sie aus dieser Gefahrenzone vielleicht
herauszubewegen.
A
Lavinia Schulz und Walter Holdt werden am 22. Juni 1924 gemeinsam beerdigt – ein Tag
vor Lavinias 28. Geburtstag. Walter wird später exhumiert und anderenorts beigesetzt.
Seine Angehörigen ertragen die Vorstellung nicht, dass er neben seiner Mörderin liegt.
Hans Heinz, der knapp einjährige Sohn der beiden, der nach dem Freund und
Komponisten Stuckenschmidt benannt ist, wächst bei Verwandten in Dänemark und
England auf. Erst als Erwachsener erfährt er, wer seine wirklichen Eltern sind.
MUSIK
LETZTE TAKTE aus „Marsch Alexanders des Großen“
Auf der Musik:
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Maskentänzer
Zehn Ganzkörpermasken von Lavinia Schulz und Walter Holdt stehen heute restauriert
im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe als Gruppe auf einer Bühne in einem
eigens für sie eingerichteten Raum.
JOCKEL (jockel_22)
Allesamt beschäftigen mich eigentlich seit Jahren und sind eigentlich, seit ich diesen
Maskenfund vor jetzt fast 30 Jahren gemacht habe, überhaupt aus meinem Leben gar
nicht mehr wegzudenken. Ich bin mit dieser ganzen Geschichte noch immer nicht fertig.
Absage auf MUSIK
Maskentänzer
Das Künstlerpaar Lavinia Schulz und Walther Holdt
Feature von Jan Reetze
Mit: Fabian Busch, Meriam Abbas, Lisa Hrdina, Karim Cherif, Lasse Myhr und Martin Engler.
Ton: Andreas Meinetsberger
Regie: Friederike Wigger
Redaktion: Barbara Schäfer
Musik weg
Produktion: Deutschlandfunk 2016
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