Open Minds mit Open Science

Psychologie aktuell: Hirnforschung mit Kino: Was macht das Hirn in Alltagssituationen? Open Minds mit Open Science
17-11-16
Hirnforschung mit Kino: Was macht das Hirn in Alltagssituationen? Open Minds mit Open Science
Michael Hanke von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und Jörg Stadler vom LIN
Magdeburg haben sich der Idee von Open Science verschrieben. Statt wie viele andere
Wissenschaftler ihre aufwändig und teuer erhobenen Forschungsdaten unter Verschluss zu
halten und allein auszuwerten, beleben sie mit ihrem weltweit einzigartigen Hirn-Datensatz für
Alltagskognition, dem studyforrest-Projekt , die internationale Hirnforschung.
Open Data im Fokus: Michael
Hanke (links), Falko Kaule (Mitte)
und Alexander Waite (rechts)
nutzen Open Science in
Forschung und Lehre. (Center for
Behavioral Brain Sciences,
OVGU Magdeburg, Foto: D.
Mahler)
Kino im Kernspin: Jörg Stadler
(r.) im MRT-Kontrollraum,
während der Proband für die
Messung vorbereitet wird.
(Center for Behavioral Brain
Sciences, OVGU Magdeburg,
Foto: D. Mahler Speziallabor
Nicht-Invasive Bildgebung im LIN
Magdeburg)
Echte Cineasten verbringen einen Filmabend natürlich lieber entspannt im Kino oder auf dem
heimischen Sofa als in einem Magnetresonanztomographen (MRT). Die Magdeburger Forscher
Michael Hanke und Jörg Stadler haben dennoch 15 junge Leute zu einem Filmbesuch in der Röhre
eingeladen, um mit diesem ungewöhnlichen Experiment während jeder einzelnen Filmszene
komplexe Daten über die Hirnaktivität, Blickbewegungen, Puls und Atemfrequenz aufzuzeichnen.
Anders als in üblichen psychologischen Experimenten, bei denen die Probanden zumeist nur sehr
simple und oft abstrakte Reize präsentiert bekommen, muss das Gehirn hier gleichzeitig Gesehenes
und Gehörtes, Gefühle und Affekte verarbeiten, Personen wiedererkennen und Filmschnitte verstehen
also eine komplexe Alltagsleistung. Der Clou dabei: die Wissenschaftler stellten den von ihnen in
aufwändigen Messungen erhobenen neurowissenschaftlichen Datensatz offen ins Netz.
Aus der Forschung kennen wir die Praxis des Teilens bisher kaum. Der Wissenschaftsbereich ist eher
für Konkurrenz und closed circles bekannt. Wissenschaftler müssen sich an der Zahl eigener
Publikationen messen und vergleichen lassen. Das hielt Michael Hanke, Michael Hanke,
Nachwuchswissenschaftler am Center for Behavioral Brain Sciences, und Jörg Stadler jedoch nicht
davon ab, ihre Erhebungen einfach zu teilen. Wir wissen, dass im Alltag viele Prozesse im Gehirn
gleichzeitig ablaufen und sich dabei gegenseitig beeinflussen. Eine einzelne Arbeitsgruppe kann
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einen solchen Datensatz kaum umfassend auswerten. Dafür ist die Bandbreite der Fragestellungen
einfach viel zu groß sagt Michael Hanke. Die Forscher setzen darauf, internationale Kollegen für ihre
Daten zu begeistern und so die wichtige Grundlagenforschung um das menschliche Gehirn schneller
voranzubringen. Der komplexe Datensatz kann Antworten auf viele Fragen der Neurowissenschaften
zur Funktionsweise des Hirns im Alltag geben. Arbeitsgruppen unterschiedlicher Disziplinen aus den
USA, Großbritannien und Australien haben die Daten bereits erfolgreich für ihre Studien verwendet.
Für eine Vorstudie, die aus einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten
Kooperation im Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience entstand, begannen sie bereits 2013
mit den ersten Untersuchungen. Damals wurden 20 Probanden im Magnetresonanztomographen
(MRT) untersucht. Während sie in dem Gerät lagen, spielten die Wissenschaftler ihnen die Tonspur
des Filmklassikers Forrest Gump in einer Version für Sehbehinderte vor und erfassten dabei über
zwei Stunden lang die Hirnaktivitätsmuster der Probanden. Im Zentrum der neuen Datenerhebungen,
an denen 15 Probanden beteiligt waren, stand diesmal die gleichzeitige Messung von Hirnaktivität und
Augenbewegungen sowie weiterer physiologischer Parameter über die gesamte Dauer des Spielfilms,
diesmal mit Bild und Ton. Dadurch können Aktivitätszustände des Gehirns zu einer großen Zahl
paralleler kognitiver Prozesse erfasst werden. Der erhobene Datensatz spiegelt besser wider, wie das
menschliche Gehirn im Alltag arbeitet und nicht, wie es sich in einer einzelnen
künstlich-experimentellen Situation verhält. Die gleichzeitige Messung der Blickbewegung im
Tomographen erlaubt uns, nun auch zu untersuchen, welche Aspekte des Films für die einzelne
Versuchsperson interessant sind, worauf sie ihr Augenmerk legt und welche Hirnprozesse den
Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Probanden zugrunde liegen , erklärt Hanke. Die
umfangreichen erweiterten Datensätze der studyforrest Studie stellten Hanke und Stadler nun
wiederum als Open Data der internationalen Forschergemeinde zur Verfügung.
Auch in Lehrveranstaltungen setzt Michael Hanke die Daten ein, um Magdeburger
Psychologiestudenten die Realität von Forschung und Veröffentlichung der Ergebnisse zu vermitteln.
Studierende absolvierten Praktika zur wissenschaftlichen Beobachtung, in denen sie bestimmte
Facetten des Films untersuchten. Eine Gruppe beschrieb beispielsweise Zeitpunkt und Art aller von
den Filmfiguren dargestellten Emotionen und veröffentlichte diese Daten noch während des
Semesters in einem eigenen Artikel.
Bis Open Science zur gängigen Praxis wird, braucht es noch die nötige technische Infrastruktur und
die Bereitschaft der Wissenschaftler, ihre Daten miteinander zu teilen, um den Fortschritt zu
beschleunigen und bessere Schlussfolgerungen aus der Forschung für die Anwendung ziehen zu
können. Mittlerweile ist die ursprüngliche Publikation zum studyforrest Projekt eines der meist
zitierten Paper der Nature-Zeitschrift Scientific Data . Damit zeigen Hanke und Stadler auch: Das
Teilen von Daten und wissenschaftlicher Erfolg schließen sich nicht aus.
Weitere Informationen finden Sie in den Originalpublikationen:
A studyforrest extension, simultaneous fMRI and eye gaze recordings during prolonged
natural stimulation Scientific Data 3, Article number: 160093 (2016) und
A studyforrest extension, retinotopic mapping and localization of higher visual areas
Scientific Data 3, Article number: 160092 (2016)
Den frei verfügbaren Datensatz finden Sie online unter:
http://studyforrest.org/
https://idw-online.de/de/news663385
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