Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen Die Ministerin MGEPA Nordrhein-Westfalen ·40190 Düsseldorf An die Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen Frau Carina Gödecke MdL Platz des Landtags 1 40221 Düsseldorf Für den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales Strukturen und Risiken bei der Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten vor dem Hintergrund der Ergebnisse aus dem Forschungsbericht: "Die Haltung des Landes NordrheinWestfalen zu Contergan und den Folgen" .November 2016 Anlage: Bericht über die Veranstaltung und Ergebnisse der Studie Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin, mit Schreiben vom 22.09.2016 hat die Fraktion der CDU für die Sitzung des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales am 23.11.2016 um einen Bericht über die Ergebnisse der Conterganstudie und der Conterganinformationsveranstaltung gebeten. Dieser Bitte entsprechend übersende ich den beigefügten Bericht. Für die Weiterleitung an die Mitglieder des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales wäre ich dankbar. Mit freundlichen Grüßen Horionplatz 1 40213 Düsseldorf www.mgepa.nrw.de Telefon +49211 8618-4300 Telefax +49211 8618-4550 [email protected] Barbara Steffens Öffentliche Verkehrsmittel: Rheinbahn Linien 706, 708 und 709 bis Haltestelle Landtag/Kniebrücke Bericht über die Strukturen bei der Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten vor dem Hintergrund der Ergebnisse aus dem Forschungsbericht: "Die Haltung des Landes Nordrhein . .Westfalen zu Contergan und seinen Folgen" Am 03. Juli 2012 hat die Landesregierung die Absicht der Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter gebilligt, dem zeitgeschichtlichen Lehrstuhl einer nordrhein-westfälischen Hochschule einen Forschungsauftrag zur Aufarbeitung der Haltung des Landes zu Contergan und den Folgen zu erteilen. Allein in Deutschland wurden durch das Medikament Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid, das im Jahr 1957 als Schlaf- und Beruhigungsmittel auf den Markt gebracht und Ende 1961 von der Herstellerfirma zurückgezogen wurde, etwa 5000 Menschen geschädigt. Von ihnen leben heute noch etwa 2400, davon rund 800 in Nordrhein-Westfalen. 1. Gründe für den Auftrag: Die seit Jahrzehnten andauernde Diskussion um Contergan hat starken Bezug zum Land Nordrhein-Westfalen: Die Herstellerfirma hat ihren Sitz in NRW, Gesundheitsbehörden und die Justiz des Landes waren an den Vorgängen beteiligt. Über die Rolle der Landesbehörden bestanden zum Zeitpunkt der Auftragserteilung aber nur sehr rudimentäre Erkenntnisse. Wissenschaftliche Ausarbeitungen, soweit seinerzeit vorhanden, beschäftigten sich primär mit der Herstellerfirma Grünenthai und mit medizinisch-pharmazeutischen Fragen. Andere Darstellungen (Spielfilm des WDR, Wikipedia, Darstellungen der Opferverbände) waren eher populär gehalten und nicht wissenschaftlich fundiert. Immer mehr Institutionen arbeiteten in dieser Zeit ihre Geschichte auf. Für das Land sollte der Forschungsauftrag einen wichtigen Beitrag hierzu leisten, da eine wissenschaftliche Forschungsarbeit die Diskussion inhaltlich anreichern und möglicherweise versachlichen kann. Das Gutachten wurde auch beauftragt, um dem Interesse der Betroffenen und ihrer Angehörigen an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschehnisse gerecht zu werden. Zugleich hat das Land einen Beitrag zur Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte geleistet. Nicht zuletzt sollte diese Forschungsarbeit den Respekt des 1 Landes vor dem Schicksal und der Lebensleistung von Conterganopfern zum Ausdruck bringen. 2. Verfahren: Der Forschungsauftrag wurde aufgrund einer beschränkten Ausschreibung an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster erteilt. Ausführende Stelle war das Historische Seminar, Prof. Dr. phil. Thomas GrQßbölting, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte. Der Forschungsbericht sollte ursprünglich zum 31.12.2015 vorliegen. Die tatsächliche Durchführung konnte in vollem Umfang erst im September 2013 beginnen, da der ursprünglich vorgesehene Bearbeiter nicht mehr zur Verfügung stand. Diese Aufgabe übernahm Herr Niklas Lenhard-Schramm. Aufgrund der Fülle des aufgefundenen Archivmaterials (mehr als 3000 Aktenbände), der Notwendigkeit zusätzlicher Recherchen, wie z.B. Gespräche mit Zeitzeugen und Auswirkungen des Umzugs des Landesarchivs stimmte MGEPA der Verlängerung der Vertragslaufzeit bis 30.06.2016 (Abgabe der Forschungsarbeit zum 30.03.2016) zu. Der fristgerecht vorgelegte Forschungsbericht hat einen Umfang von etwa 690 Seiten. Vereinbarungsgemäß wurde eine Kurzfassung von rund 50 Seiten durch Herrn Lenhard-Schramm vorgelegt. Seide Texte sind auf der Internetseite des MGEPA veröffentlicht. Auch zur Vermeidung von Fehldeutungen konnte unter Beteiligung der zuständigen Stellen der Universität erreicht werden, dass Inhalt und Text der Forschungsarbeit mit dem der Dissertation von Herrn Lenhard-Schramm identisch ist. Die Dissertation liegt nunmehr als gebundene Buchausgabe vor. 3. Der wissenschaftliche Beirat: Der wissenschaftliche Beirat wurde - zu Beginn des Forschungsvorhabens im November 2013 berufen. Hierdurch wurde die wissenschaftliche Unabhängigkeit des Vorhabens betont. Der Beirat hat die Auftragnehmerin in wissenschaftlichen Fragen beraten und das Projekt kontinuierlich begleitet. Folgende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehörten dem wissenschaftlichen Beirat an: • Prof. Dr. Willibald Steinmetz als Beiratsvorsitzender, Fakultät Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld, • Prof. Dr. Hans-Peter Haferkamp, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Neuere Privatrechtsgeschichte und Deutsche Rechtsgeschichte, Universität zu Köln, 2 für 6) Prof. Dr.med. Bettina Schöne-Seifert, Institut für Ethik, Geschichte und Theorie 'der Medizin, Universität Münster, • Dr. Katrin Grüber, Leiterin des Institutes Mensch, Ethik und Wissenschaft, • Dr. Frank Bischoff, Präsident des Landesarchivs NRW mit beratender Stimme. Mit diesem Personenkreis waren die Sachgebiete Geschichte, Recht, Medizin, Ethik sowie das Archivwesen umfassend im wissenschaftlichen Beirat vertreten. MGEPA war als Auftraggeber im Beirat vertreten, allerdings ohne Stimmrecht. Die Bestände des Landesarchivs bildeten die wesentliche Grundlage des Forschungsvorhabens. Der wissenschaftliche Beirat war für die Begleitung des Forschungsprojekts sehr wertvoll. Die fachliche Einschätzung erfolgte aus unterschiedlichen Professionen. Korrekturen erfolgten für den ,Forschungsnehmer, wenn die Bewertung der vorgefundenen Quellen der weiteren Überprüfung bedurfte. Der Entwurf der Forschungsarbeit wurde seitens des Beirats als weit überdurchschnittlich bewertet, gegen Methodik und Darstellung bestanden keine Bedenken. 4. Wesentliche Inhalte und Ergebnisse der Forschungsarbeit: Maßgebliche wissenschaftliche Grundlage für die Arbeit ist die Aussage, dass das Handeln des Landes NRW nur innerhalb der zeitgenössischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verständlich ist, die sich von den heutigen wesentlich unterscheiden. Der Verfasser kommt zu der Bewertung, dass charakteristisch für die fragliche Zeit der späten 1950er Jahre bis zu den frühen 1970er Jahren die konfliktbehaftete Überlagerung von traditionellen und neuartigen Sozialstrukturen, Denkformen und Handlungsmustern war. Diese Überlagerung wird in allen Feldern der Arbeit deutlich. Im ersten Hauptteil wird das Verhalten der staatlichen Arzneimittelaufsicht hinsichtlich Contergan im Zeitraum 1954 bis 1961 behandelt. Hierin wird deutlich, dass zwischen dem medizinisch-pharmazeutischen Bereich einerseits und der staatlichen Sphäre andererseits ein großer Abstand vorlag. Wesentliche Kompetenzen waren in den vorstaatlichen Raum verlagert. Der Staat handelte nur in Ausnahmefällen ("Nachtwächterstaat"), zudem gab es erhebliche rechtliche Probleme bei der Anwendung der (wenigen) Normen. Als die ersten Probleme mit Contergan wegen Nervenschäden auftraten, erfuhren die Behörden erst spät davon, reagierten aber lediglich "business as usual". Das Verhalten des 3 Contergan herstellers Grünenthai gegenüber Dritten, insbesondere auch der Verwaltung, war stark von wirtschaftlichen Interessen geprägt und reichte bis zu evidenten Versuchen der Irreführung. Diese grundsätzlich bekannte Tatsache wird durch die gründliche Untersuchung der Verwaltungsvorgänge konkretisiert und verdeutlicht. Contergan wurde für die Verwaltung erst zum Sonderfall, als im November 1961 der Verdacht auf die fruchtschädigende Wirkung bekannt wurde. Der zweite Teil befasst sich mit dem gesundheits- und sozialpolitischen Handeln der Verwaltung hinsichtlich der Vielzahl geschädigter Kinder. Die Verwaltung reagierte mit Maßnahmen zur Informationsbeschaffung, die aber auf große Probleme trafen. Es gab kommunikative Probleme mit Medien und besonders mit 'Betroffenen. Die medizinischen Probleme sollten insbesondere mit einer prothetischen Versorgung der Kinder gelöst werden, die sozialen Probleme mit dem neuen Bundessozialhilfegesetz und durch die Leistung von Sozialhilfe. Gegenstand des letzten Teils sind die zivil- und insbesondere strafrechtlichen Folgen. Die Geschädigten konnten zivilrechtliehe Ansprüche aufgrund der' Rechtslage, insbesondere der zivilrechtlichen BevJeislast, nicht durchsetzen. Nachdem die strafrechtlichen Ermittlungen zunächst "behäbig" durchgeführt wurden, forcierte Staatsanwalt Havertz diese ab 1962. Kurz nach dem Amtsantritt von Justizminister Neuberger wurde Anklage erhoben. Es folgte der bis dahin umfangreichste Strafprozess der neueren deutschen Rechtsgeschichte. Die Dauer des gesamten Verfahrens war aber nicht nur dessen Umfang, sondern auch großen prozessualen und materiellrechtlichen Problemen geschuldet; umfassende Berichtspflichten sowie Dienstaufsichtsbeschwerden kamen hinzu. Infolge von Verhandlungen, an denen auch die Staatsanwaltschaft beteiligt war, kam es zu der Einstellung des Strafverfahrens, verbunden mit einer Entschädigungszahlung Grünenthais von 100 Millionen DM, ergänzt durch 100 Millionen DM durch den Bund, die aufgrund Bundesgesetz an die Stiftung "Hilfswerk für das behinderte Kind" (heute Conterganstiftung) flossen. Hinsichtlich des Strafverfahrens und der vorhergehenden Aktivitäten der Arzneimittelaufsicht stand dem Doktoranden Lenhard-Schramm eine sehr gute Quellenlage zur Verfügung. Die Überlieferungslage hinsichtlich der anschließenden Handlungen der Gesundheitsverwaltung ist - wie auch in ähnlich gelagerten Fällen deutlich lückenhafter. Durch Beiziehung anderer Quellen konnten diese Überlieferungslücken teilweise geschlossen werden. Der Umfang der Arbeit ergibt sich insbesondere aus einer detaillierten Beschreibung der Geschehensabläufe. Die. Vorgänge um Contergan waren immer schon Skandalisierungstendenzen ausgesetzt. Um diesen Tendenzen entgegenzuwirken, ist eine umfassende wissenschaftliche Darstellung notwendig. 4 5. Heutige Rechtslage: Bis 1961 hatte es in Deutschland kein Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln gegeben. Das erste Arzneimittelgesetz in Deutschland wurde am 16. Mai 1961 ausgefertigt, am 19. Mai im Bundesgesetzblatt verkündet und trat im Wesentlichen am 01. August 1961 in Kraft. Das Gesetz schrieb keine Zulassungsverfahren für neue Arzneimittel vor. Auch aus diesem Grund wurde das Arzneimittelwesen einer grundlegenden Neuregelung unterworfen. Am 01. Januar 1978 trat das im Juni 1976 verabschiedete Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (AMG) in Kraft. Es wurde durch mehrere Änderungsgesetzes (AMG-Novellen) den erhöhten Anforderungen an die Arzneimittelsicherheit angepasst. Aktuell bedürfen Fertigarzneimittel einer behördlichen Zulassung, es muss der Nachweis erbracht werden, dass der Hersteller berechtigt ist, das Arzneimittel herzustellen (behördliche Herstellungserlaubnis) und mit einer klinischen Prüfung eines Arzneimittels darf nur begonnen werden, wenn die zuständige Ethik-Kommission diese zustimmend bewertet und die ~uständige Bundesoberhörde diese genehmigt hat. Im Deutschen Bundestag wird derzeit - (November 2016) über ein "Viertes Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften" beraten. 6. Informations- und Diskussionsveranstaltung für Contergan-Geschädigte und Ihre Angehörigen am 22. Juni 2016 in Düsseldorf: Rund 150 Contergangeschädigte und Angehörige kamen auf Einladung des Gesundheitsministeriums NRW in das Congresszentrum der Messe Düsseldorf, um sich über den Forschungsbericht zur Haltung des Landes im Contergan-Skandal der 60er-Jahre zu informieren und hierüber zu diskutieren. Die Anwesenden nutzten die Gelegenheit, ihre Fragen an Gesundheitsministerin Barbara Steffens, Prof. Dr. Großbölting, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Niklas LenhardSchramm, Verfasser der Studie, Prof. Dr. Willibald Steinmetz, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld und Dr. Katrin Grüber, Leiterin des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft Berlin, zu richten. Die Veranstaltung war in drei Hauptthemen gegliedert, in die der Verfasser der Arbeit, Herr Lenhard-Schramm, jeweils kurz eingeführt hat: 1. Die Rolle der staatlichen Arzneimittelaufsicht 2. Die gesundheits- und sozialpolitischen Reaktionen des Landes 5 3. Die rechtlichen Folgen, insbesondere die strafrechtliche Aufklärung Zum Abschluss der Veranstaltung gab Frau Ministerin Steffens eine Erklärung ab, die hier im Wortlaut wiedergegeben wird: "Wir haben in der Studie gehört und gesehen, dass kein rechtliches vo/Werfbares Handeln beim Land vorliegt. Dass alsp die damalige Rechtsgrundlage im Grunde genommen, zumindest mit dem, was an Dokumenten geprüft worden ist, mit dem Handeln übereinstimmt. Aber das bedeutet nicht, dass das Land NordrheinWestfalen und dass alle - und da will ich nicht immer nur den Fokus auf Ve/Waltung stellen, sondern Ve/Waltung und Politik - dass sie alle fehlerfrei gehandelt haben. Das kann die Studie nicht belegen und das belegt sie auch nicht. Deswegen finde ich, dass wir uns klarmachen müssen, dass die Ve/Waltung gegenüber den Contergan-Opfern und den Eltern, den Familien schneller, effektiver, angemessener, mutiger, hartnäckiger und aktiver hätte handeln müssen. Dass das Land NordrheinWestfalen das nicht getan hat, dafür möchte ich mich hier bei den Eltern und bei den Betroffenen entschuldigen. Ich beschäftige mich schon so lange damit, dass mir der Schmerz und das Leid, was Ihnen da zuteil geworden ist, wirklich nahegeht, dass es mich berührt und dass es mich beschämt, was letztendlich in diesem Land mit Opfern und Betroffenen über all die Jahre geschehen ist. (( 7. ResÜmee der Veranstaltung: Die Anwesenden haben sich übereinstimmend positiv darüber geäußert, dass die Forschungsarbeit beauftragt und erstellt wurde und dass eine derartige Veranstaltung durchgeführt wurde. In inhaltlicher Hinsicht gab es überwiegend Zustimmung, aber auch Kritik an den Ergebnissen der Arbeit. Dies ist schon deshalb nicht erstaunlich, da zum Thema Contergan schon seit vielen Jahren unterschiedliche Auffassungen bis hin zu ausgesprochenen Verschwörungstheorien vertreten werden. Derartige Wertungsdifferenzen können durch eine Forschungsarbeit nicht beseitigt werden. In einigen wenigen Stellungnahmen wurden auch Schadensersatzforderungen gegen das Land Nordrhein-Westfalen geltend gemacht. Dies blieb jedoch ohne faktische Auswirkungen, da eine Rechtsgrundlage hierfür eindeutig nicht besteht. Zu der Veranstaltung erfolgte eine umfangreiche mediale Berichterstattung. 8. Informationen für Landtag und Öffentlichkeit: MGEPA hat umfassend über die Forschungsarbeit und die Veranstaltung informiert. Wie bereits erwähnt sind Kurz- und Langfassung der Arbeit sowie ein Wortprotokoll der Veranstaltung im Internet des MGEPA zugänglich. Mit Schreiben vom 31. Mai 6 2016 ist die Kurzfassung dem Vorsitzendem des Ausschusses gesundheitspolitischen Sprechern der Fraktionen übersandt worden. und den Dem Ausschuss wurde am 26. Oktober 2016 zu dem Tagesordnungspunkt 1 , "Medikamentenversuche und Medikamentengabe in Einrichtungen der Behindertenhilfe, der Jugendhilfe und in Einrichtungen des Gesundheitswesens in NRW" ,ein Auszug aus der Langfassung des Forschungsberichts zur Verfügung gestellt. Dieser Auszug enthielt das Kapitel 1.1 "Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen" . Weitere Ausdrucke der Kurz- und Langfassung werden in der Sitzung des Ausschusses am 23. November 2016 bereitgehalten. Diesem Bericht ist die Presseerklärung des MGEPA vom 13. Mai 2016 zur Information beigefügt. 9. Aktueller Sachstan~ zur Versorgungsstudie: Als Konsequenz des vom Land in Auftrag gegebenen Gutachtens "Gesundheitsschäden, psychosoziale Beeinträchtigungen und Versorgungsbedarf in der von contergangeschädigten Menschen aus Nordrhein-Westfalen Langzeitperspektive" hat das MGEPA gemeinsam mit den Kostenträgern und Leistungserbringern im Zeitraum Juni 2015 bis September 2016 Lösungen für eine verbesserte gesundheitliche Versorgung der contergangeschädigten Menschen in Nordrhein-Westfalen diskutiert und ein umfassendes Konzept für die Einrichtung eines Schwerpunktzentrums zur Behandlung von contergangeschädigten Menschen erarbeitet. Den Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung haben die Kassenärztlichen Vereinigungen, das MGEPA hatte insoweit in diesem Verfahren eine rein moderierende Funktion. Im Mittelpunkt der Gespräche stand die möglichst zugige Einrichtung eines Behandlungszentrums, um die Versorgung der Betroffenen schnell zu verbessern. Betroffenen soll die Erwerbstätigkeit und soziale Teilhabe und damit auch die wichtige gesellschaftliche Anerkennung möglich bleiben, ihre Lebensqualität soll verbessert und präventiv weitere Folgeschäden verhindert bzw. gemildert werden. Durch die Einbindung des Interessenverbandes Contergangeschädigter wurde sichergestellt, dass sich die Planungen an den Bedürfnissen und Bedarfen der Betroffenen orientieren. Die Moderationsgespräche wurden im September 2016 erfolgreich abgeschlossen und ein Zulassungsverfahren für ein ambulantes medizinisches Behandlungszentrum nach § 119 c SGB V eingeleitet. Das Land hat keinen Einfluss auf die Dauer des Zulassungsverfahrens und die daran anschließenden Vergütungsverhandlungen. Das MGEPA hofft jedoch auf einen zeitnahen Abschluss der .Verhandlungen und auf Eröffnung des Kompetenzzentrums im 1. Halbjahr 2017. 7 13.05.2016 I Gesundheit: Ministerin Steffens: Contergan und seine Folgen Unabhängiger Forschungsbericht zur Haltung des Landes im Skandal der 60er Jahre veröffentlicht Das Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen teilt mit: Das Land hat heute einen 690 Seiten starken Forschungsbericht zur eigenen Rolle im Contergan-Skandal der 60er Jahre veröffentlicht. Die Studie unter dem Titel "Die Haltung des Landes Nordrhein-Westfalen zum Contergan-Skandal und den Folgen" stmnmt vom Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhehns-Universität Münster, der Ende Mai 2013 VOln Gesundheitsministerium den Auftrag zu der historischen Aufarbeitung erhalten hatte. Verfasser ist unter Projektleitung von Lehrstuhl-Inhaber Prof. Dr. Thomas Großbölting und zusätzlicher Begleitung durch einen unabhängigen wissenschaftlichen Beirat Niklas Lenhard-Schrmnln. "Mit der historischen Aufarbeitung legen wir gegenüber den Opfern von Contergap, ihren Angehörigen und der gesan1ten Öffentlichkeit das dmnalige Handeln des Landes durch unabhängige Forscher offen", erklärte Gesundheitsministerin Barbara Steffens. "Auf diese Informationen haben die Opfer und ihre Eltern, die bis heute unter den Folgen von Contergan leiden, ein Recht. Der Contergan-Skandal ist immer wieder Thelna öffentlicher Diskussionen und Darstellungen. Eine wissenschaftlich-fundierte Darstellung der Rolle des Landes fehlte jedoch bisher", so Steffens weiter. Allein in Deutschland wurden durch das Medikmnent Contergan mit deIn Wirkstoff Thalidolnid, das in1 Jahr 1957 als Schlaf- und Beruhigungsmittel auf den Markt gebracht und Ende 1961 von der HersteIlerfinna zurückgezogen wurde, etWa 5000 Menschen geschädigt. Von ihnen leben heute noch etwa 2400, davon rund 800 in Nordrhein-Westfalen. Nordrhein-Westfalen spielte ün Contergan-Verfahren in zweifacher Hinsicht eine zentrale Rolle: ZUln einen fiel das Präparat des Herstellers Chelnie Grünenthal mit seineIn Firmensitz in Stolberg bei Aachen hauptsächlich in die Zuständigkeit der nordrhein-westfälischen Gesundheitsaufsicht, die seinerzeit beün Innenministeriuln lag. ZUln anderen oblag die Strafverfolgung und Aufklärung des Contergan-Skandals den nordrhein-westfälischen Justizbehörden. Insoweit hat die Studie, zugleich Doktorarbeit des Verfassers, bezogen auf die dmnalige Rolle des Landes drei Schvv'erpunkte: G!I EIl EIl die Rolle der staatlichen Arzneimittelaufsicht vor und während der Vertriebsphase Contergans, die gesundheits- und sozialpolitischen Reaktionen des Landes, die strafrechtliche Aufklärung, die sich zu dem bis dahin umfangreichsten Strafrechtsverfahren der neueren deutschen Geschichte auswuchs. Niklas Lenhard-Schramm: "Ein arzneünittelrechtliches staatliches Zulassungsverfahren ün heutigen Sinne existierte seinerzeit noch nicht. Die Unbedenklichkeit von Medikamenten wurde dan1als durch die Herstellerfirmen in eigener Verantwortung geprüft. Zwischen dem luedizinisch-pharn1azeutischen Bereich auf der einen und der staatlichen Sphäre auf der anderen Seite bestand eine große Distanz. Wesentliche I(0111petenzen waren in den vorstaatlichen RaUlu verlagert. So wandten sich Ärzte bei beobachteten Arzneimittelschäden an den jeweiligen Hersteller, vereinzelt vorsichtig an eine Fachöffentlichkeit, nur in absoluten Ausnahmefällen an die Behörden. Die staatliche Arzneimittelaufsicht war damals von einem passiven Amtsverständnis geleitet, nach dem sie beispielsweise nur zu reagieren hatte, wenn entsprech~nde Anträge gestellt oder offizielle Informationen an sie geleitet wurden. Eine rechtliche Handhabe, Arzneimittelfirmen die Herstellung und den Vertrieb von Medikamenten zu untersagen, bestand von 1959 bis zum Inkrafttreten des Arzneimittelgesetzes 1961 nicht. Von dem Verdacht auf embryonale Schäden durch Thalidomid-Einnahme erfuhren die obersten Gesundheitsbehörden der Länder erst sechs Tage vor der Marktrücknahlue von Contergan durch die Firma GrÜnenthal." Zudelu sei ein relativ unkritisches Verhalten zu Medikamenten in der bundesrepublikanischen Gesellschaft bis in die 1960er Jahre vorherrschend gewesen. Als in Fachkreisen erste luögliche schwere Nebenwirkungen (Nervenschädigungen) von Contergan beobachtet wurden, habe der Contergan-Hersteller Iuit gezielter Desinfonuation, deIU Verschweigen u.a. von Nebenwirkungserkenntnissen und Verzögerungstaktiken bis hin zur angedrohten Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegenüber dem Staat so lange wie möglich versucht, das Medikament Iuit hohen Verkaufszahlen mu Markt zu halten. "Der Hersteller hätte vielen Menschen großes Leid ersparen können, wellli er nach den zahlreichen Hinweisen auf schädliche Nebenwirkungen Contergan früher vom Markt genolumen hätte", betont Ministerin Steffens. "Ich hätte Iuir aber auch Iuehr Mut von Seiten der Verwaltung gegenüber Grünenthai gewünscht, weiß aber, dass heutiges Wissen und heutige Eingriffslnöglichkeiten nicht auf die dmualige Zeit übertragen werden können", so die Ministerin weiter. Auch nach der Marktrücknahme zeigte sich der Staat überfordert. Es bereitete den Landesbehörden Inassive Schwierigkeiten, die Wirkung Contergans klären zu lassen, die Zahl der Betroffenen festzustellen und Contergan zu verbieten. Geschädigte und Hilfesuchende stießen auf eine Gesundheitsverwaltung in Abwehrhaltung. Eine Aufklärung der Bevölkerung erfolgte nicht und die staatlichen HilfsIuaßnahmen erwiesen sich vielfach als unzureichend. Gegenstand der Studie sind auch die zivil- und insbesondere strafrechtlichen Folgen. Die Geschädigten konnten zivilrechtliche Ansprüche aufgrund der Rechtslage, insbesondere der individuellen Beweislast, nicht durchsetzen. Da Grünenthai jedwede Kausalität und jedwedes Verschulden bestritt, lag die Beweislast in den Zivilverfahren voll und ganz bei der klagenden Seite. Diese Last war ohne die Feststellung der Schuld im Strafverfahren kaUln zu bewältigen. Nachdelu die strafrechtlichen Ennittlungen zunächst "behäbig" durchgeführt wurden, forcierte Staatsanwalt Dr, losef Havertz diese ab 1962. Kurz nach deIn Amtsantritt von Justizminister losefNeubergex in NRW wurde Anklage erhoben. Es folgte der bis dahin ulnfangreichste Strafprozess der neueren deutschen Rechtsgeschichte. Die lange Dauer des gesanlten Verfahrens war aber nicht nur dessen Umfang, sondern auch großen prozessualen und materiellrechtlichen Problenlen geschuldet; ulnfassende Berichtspflichten sowie Dienstaufsichtsbeschwerden kanlen hinzu. Infolge von Verhandlungen, an denen auch die Staatsanwaltschaft beteiligt war, kam es zur Einstellung des Strafverfahrens genau neun Jahre nach Einleitung des Ermittlungsverfahrens verbunden Init einer Entschädigungszahlung. 100 Mio. DM der Finna Grünenthal, ergänzt durch 100 Mio. DM durch den Bund, flossen aufgrund eines Bundesgesetzes in die heutige Contergan-Stiftung zur finariziellen Unterstützung der Opfer. An der viel kritisielien Einstellung des Verfahrens, die Grünenthal zur Voraussetzung für ihre Entschädigungszahlung machte, waren die Verteidigung, Nebenkläger, Staatsanwaltschaft und Gericht beteiligt. Sie wurde von den drei zeichnenden Staatsanwälten so gewertet: "Die Unterzeic1mer sind nach wie vor der Auffassung, dass eine Erledigung des Verfahrens gemäß § 153 StPO unter den bekamlten Voraussetzungen zwar eine schlechte, derzeit gleichvvohl die beste Lösung darstellt." (Forschungsbericht, S. 604). Hintergrund war die ünmer drängendere Notwendigkeit von nlateriellen Unterstützungsleistungen für die Contergan-Opfer sowie der nicht absehbare inhaltliche und zeitliche Verlauf des Strafverfahrens und die damit verbundene Gefährdung etwaiger zivilrechtlicher Ansprüche. Zu der langen Verfahrensdauer trugen die Unerfahrenheit in Großverfahren, aber auch die völlig defizitäre Gesetzeslage wesentlich bei. Evident wird, so Lenhard-SchrmnIn, in allen Thelnenbereichen der Arbeit die Bedeutung der zentralen Rolle von Einzelpersonen, die sich gegen etablierte Normen und Erwartungen stellten, dafür aber oft nlassive Kritik einstecken nlussten. Erdrückend deutlich wird die strukturelle Unterlegenheit aller Behörden gegenüber der Firma GrÜnenthal. Diese konnte erheblich schneller größere Ressourcen mobilisieren, etwa kostspielige Gutachter und Fachkräfte. Die Stolberger Firma engagierte iIn Strafverfahren die absolute Elite der deutschen Strafverteidiger und nutzte die Presselandschaft mithilfe einer eigenen Presseabteilung, während den Bemnten allzu weitgehende Erklärungen gegenüber der Presse verwehrt blieben, ja denen auch hier mit Dienstaufsichtsbeschwerden und Schadensersatzdrohungen begegnet wurde. Ministerin Steffens: "So, wie die Behörden damals aufgestellt waren, waren sie nicht imstande, auf die katastrophalen Folgen von Contergan in einer Weise zu reagieren, wie man es heute erwarten würde. Aus heutiger Sicht waren sowohl die Rahlnenbedingungen, nach denen Medikmnente auf den Markt komlnen kOllilten, als auch der Umgang der Verwaltung mit deIn Contergan-Skandal verheerend. Das ist und bleibt aus heutiger Sicht zutiefst bedauerlich. " Die Contergan-Geschädigten und ihre Angehörigen hat Ministerin Steffens für den 22. Juni 2016, Einlass: 09:30 Uhr, Beginn: 10:00 Uhr zur Vorstellung und Diskussion der Ergebnisse in die Messe Düsseldorf eingeladen.
© Copyright 2024 ExpyDoc