Grundlagen der Psychotraumatologie Pflegefachtag 11.15.2016 Fliednerkrankenhaus Ratingen Dr. Nina Becher-Dortschy Leitende Ärztin Psychosomatik-Abteilung [email protected] Gliederung • • • • • • Der Traumabegriff Einteilung und Verlaufsmodelle Die Traumafolgestörungen Trauma und Bindung Behandlungsmöglichkeiten In der Psychosomatik des Fliedner Krankenhauses [email protected] 2 Fallbeispiele A • Frau P (32 Jahre), verheiratet, 1 Sohn (8 Jahre) • Ein Jahr zuvor Halbseitenlähmung, bis heute linkes Bein und linker Arm betroffen, die Neurologen finden nichts organisches • Depressiv, schreckhaft, konfliktvermeidend, verleugnend, zeitweise wie weggetreten, man selber wird aggressiv, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, nicht mehr leistungsfähig, mit Alltag überfordert • In der Kindheit von der Mutter schwer und wiederholt geschlagen, nichtige Anlässe, auch in der Öffentlichkeit oder vor Bekannten • Sohn wegen dissozialem Verhalten (Familientyrann) in psychosozialer Tagesstätte (seit einem Jahr), Mutter ständig in der Nähe, (finanzielles) Aufeinanderangewiesensein [email protected] 2 Fallbeispiele B • Herr R (57 Jahre) erleidet einen Verkehrsunfall, bei dem er einem entgegen kommenden, einen LKW überholenden Fahrzeug ausweichen muss und mit seinem Auto fast in einen Abgrund stürzt • Akut Kopfverletzungen, Sehstörungen, Kopfschmerzen, Defizite im nichtverbalen Kurzzeitgedächtnis • In der Folge Ängste (im Straßenverkehr, auf Leitern oder sonstigen Erhöhungen), verminderte Konzentrations- und Leistungsfähigkeit, Schlafstörungen mit Alpträumen und Schreckerwachen, Depression • Schließlich dauerhafte Arbeitsunfähigkeit und dadurch behinderte Teilhabe am (bisherigen) alltäglichen und sozialen Leben [email protected] Trauma (griechisch: Wunde) • Somatisch: Wunde, Verletzung, durch Gewalt von außen • Traumatologie = Unfallchirurgie • Und psychisch?!? [email protected] Psychisches Trauma: „Ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbstund Weltverständnis bewirkt.“ (Fischer u. Riedesser 1998, s. 79) [email protected] Oder auch nach Reddemann: „Verschiedene Ereignisse können traumatisierend wirken; bezeichnend sind extreme Angst- und Ohnmachtsgefühle. Nicht nur Krieg, Folter oder Missbrauch können traumatisieren, sondern auch Unfälle oder Schicksalsschläge. Kinder sind besonders verletzlich und können auch durch Vernachlässigung oder medizinische Eingriffe traumatisiert werden. (Reddemann & Dehner-Rau in „Trauma heilen“, TRIAS, 2012 [email protected] Einteilung: • Apersonal: z.B. Naturkatastrophen, Verkehrsunfälle, etc. • Typ-1-Trauma: plötzliche, überraschend einsetzende, einmalige Traumatisierung (hier auch plötzliche Trennungen, unerwartete Todesfälle, etc.) • Personal: z.B. Überfälle, Vergewaltigung, physische Gewalt, Kindesmisshandlung, Folter, etc. • Typ-2-Trauma: wiederholte, chronischkumulative Traumatisierung im Sinne einer Dauerbelastung [email protected] Verlaufsmodelle a) nach Horowitz (1986): • „Normal“: • Aufschrei, Angst, Wut, Trauer • Vermeidung der Erinnerung • Rückkehr der Bilder und Gedanken • Auseinandersetzung und Durcharbeiten • Abschluss und Integration • „Pathologisch“: • überwältigende Überflutung durch Emotionen • Verleugnung und Vermeidungsverhalten • Intrusionen und Verleugnung/Vermeidung im Wechsel • PTBS ohne Abschluss [email protected] b) Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung nach Fischer und Riedesser: • Traumatische Situation: objektive Bedingungen und subjektive Bedeutungszuschreibungen • Traumatische Reaktion: (analog zu Horowitz) komplexer psychophysischer Abwehrvorgang analog Immunreaktion • Traumatischer Prozess als lebenslanger Versuch der Bewältigung und Integration mit Traumaschema (abgespeicherte traumatische Situation) und/oder traumakompensatorischem Schema (Bewältigungsversuche) • Kann an jedem Punkt entgleisen oder „einfrieren“. Dann entsteht eine posttraumatische Belastungsstörung [email protected] Gesundheitsstörungen in Folge psychischer Traumatisierung a) • Akute Belastungsreaktion • posttraumatische Belastungsstörung • (Verwandt: Anpassungsstörung) [email protected] b) • • • • • • Depressionen Angsterkrankungen Somatisierungsstörungen Sucht Dissoziative Störungen Etc. [email protected] Die akute Belastungsreaktion (ICD 10 F 43.0) (unmittelbarer Beginn und Dauer bis höchstens einige Wochen nach dem Trauma): • Emotionale Abgestumptfheit, Entfremdung (Depersonalisation, Derealisation), Erinnerungslücken (Amnesie, Dissoziation) • Vermeiden von Situationen und Reizen, die an das Trauma erinnern • Angst und Übererregbarkeit [email protected] Die (chronische) posttraumatische Belastungsstörung (ICD 10 F 43.1) • (frühestens nach vier Wochen Beschwerdedauer und Monate nach dem Trauma): • A) Ein traumatisches Ereignis mit entsprechender subjektiver Belastung wurde erlebt • B) Wiedererleben (Intrusionen, Flashbacks) • C) Vermeidungsverhalten • D) erhöhtes psychophysisches Erregungsniveau (Hyperarousal) oder Amnesie und Dissoziation [email protected] (Die Anpassungsstörung) (ICD 10 F 43.2) • (= psychische Belastungsreaktionen nach Stressoren, die nicht den Kriterien eines Traumas entsprechen • Beginn im engen zeitlichen Zusammenhang mit psychosozialen Belastungen • Unspezifische Symptome wie Depressionen, Ängste, sozialer Rückzug, somatoforme Symptome, etc.) [email protected] Häufigkeit von Traumafolgestörungen • • • • • 50 – 60 % nach sexualisierter Gewalt 25 – 40 % nach Kriegseinwirkungen 15 – 20 % nach körperlicher Gewalt 2 – 10 % nach schweren Verkehrsunfällen 10 % nach schweren körperlichen Erkrankungen und nach Natur- oder technischen Katastrophen [email protected] Risikofaktoren (Bsp.) • • • • • • • • • Niedriger sozioökonomischer Status Psychische Störungen eines Elternteils Unsicheres Bindungsverhalten Verlust der Mutter Autoritäres Verhalten des Vaters Häufig wechselnde Bezugspersonen Gewalterfahrungen (auch sexualisierte) Große Familien, wenig Wohnraum Etc. [email protected] Schutzfaktoren (auch Bsp.) • Dauerhafte Beziehung zu einer Bezugsperson (auch im Erwachsenenalter, aber nicht zu früh) • Kompensatorische Beziehungen nach Verlust • Überdurchschnittliche Intelligenz • Robustes, kontaktfreudiges, aktives Temperament • Sicheres Bindungsverhalten • Soziale Förderung (z. B. Jungendgruppe, Sport) • Etc. (nach Egle et al. 1996 in Fischer/Riedesser, „Lehrbuch der Psychotraumatologie, Reinhardt Verlag, 2009) [email protected] Zusammenfassung 1 • Ein Trauma ist eine Gewalteinwirkung von außen mit körperlichen und/oder psychischen Auswirkungen • Es gibt personale und apersonale, sowie einmalige (Typ-1) und wiederholte (Typ-2) Traumatisierungen • Die psychische Traumatisierung löst unmittelbar ein vitales Bedrohungserleben, Gefühle von Angst und Hilflosigkeit sowie eine Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses aus [email protected] Zusammenfassung 2 • Nach dem Trauma kommt es zu einem charakteristischen Prozess mit heftigen Gefühlen, Vermeiden von Erinnerungen, dann Wiederkehren von Bildern, Durcharbeiten und Integration des Traumas • Aufgrund verschiedener Risikofaktoren kann dieser Prozess misslingen, und es entsteht eine Traumafolgestörung [email protected] Zusammenfassung 3 • In der Frühphase nach dem Trauma (wenige Stunden bis einige Wochen) kann es zur „akuten Belastungsreaktion“ kommen • Bei anhaltenden oder zusätzlichen Symptomen drei Monate oder länger nach dem Trauma spricht man von der „posttraumatischen Belastungsstörung“ [email protected] Zusammenfassung 4 Die posttraumatische Belastungsstörung ist gekennzeichnet durch: • Intrusionen (Wiedererleben) • Vermeidungsverhalten • Hyperarousal (psychophysische Übererregung) und/oder Dissoziation (Abspaltung vom bewussten Erleben) [email protected] Behandlung der (chronischen) posttraumatischen Belastungsstörung • Psychodynamische Ansätze • Verhaltenstherapeutische Ansätze • Traumaspezifische Verfahren [email protected] Exkurs: Trauma und Bindung Besonderheit bei den psychodynamischen (=tiefenpsychologischen) Ansätzen: Die „heilende Beziehung“ [email protected] Trauma und Bindung I • Bindung ist ein menschliches Grundbedürfnis (wie Kontrolle, Selbstwerterleben und Lustgewinn/Unlustvermeidung) • Eine sichere Bindung setzt ausreichende „Verfügbarkeit, Responsivität und Feinfühligkeit früher Bezugspersonen“ voraus (s. Wöller, „Trauma und Bindung“ in Trauma und Persönlichkeitsstörung, Schattauer Verlag, 2006) • Aus den frühen Bindungserfahrungen werden so genannte „Arbeitsmodelle von Bindung“ gespeichert (eben da, nach Bowlby) [email protected] Trauma und Bindung II • Die inneren Arbeitsmodelle der Eltern beeinflussen die inneren Arbeitsmodelle der Kinder • Der Verlust der sicheren Basis muss als das früheste und wahrscheinlich auch schädlichste psychische Trauma angesehen werden • Das Kind kommt in den unlösbaren Konflikt, gleichzeitig bei der Bezugsperson Schutz suchen und sich vor ihr schützen zu müssen [email protected] Trauma und Bindung III • Bindung an misshandelnde Bezugspersonen (auch im Erwachsenenleben) als Notfallreaktion • Äußere Bedrohung erhöht das Bindungsbedürfnis und schränkt die Urteilsfähigkeit ein • Alternierendes Verhalten der Bezugspersonen lehrt: Schmerz ist auszuhalten, um die Bindung zu sichern • Es entsteht ein inneres Arbeitsmodell von Bindung, das untrennbar mit Gewalt und Aggression verknüpft ist [email protected] Grundsätze Psychodynamischer Traumatherapie • Keine Entfaltung der Pathologie in der therapeutischen Beziehung • Förderung der Selbstheilungskräfte durch ressourcenaktivierende Techniken • Nutzung von Techniken verschiedener Therapieschulen • Besondere Bedeutung imaginativer Techniken • Und immer: die therapeutische Beziehung heilt [email protected] Exkurs: die PsychosomatikAbteilung des Fliedner Krankenhaus • Tiefenpsychologischer Ansatz = Beziehungsmedizin • Gruppentherapeutisches Setting, „Zusammenleben in der therapeutischen Gemeinschaft“ • Gesprächsgruppe, Kunst-, Bewegungs- und Milieutherapie für alle • Indikativ zusätzlich: Sport, Achtsamkeit, Depressionsgruppe, Angstbewältigungstherapie, Schmerzpsychoedukation, Essstörungsgruppe [email protected] Psychosomatik im Fliedner Krankenhaus • Beziehung von Anfang an: Vorgespräch, Aufnahme, Bezugstherapiegespräche, Therapiezielvereinbarung, Zwischenbilanzen, Abschied und Überleitung, ggf. Intervallbehandlung • Individuelle und institutionelle Trauma-Expertise • Einflechtung traumatherapeutischer Elemente in allen Behandlungsbereichen [email protected] Psychosomatik im Fliedner Krankenhaus • Beispielsweise die „Psychodynamisch imaginative Traumatherapie“ nach Reddemann • Aber auch Ansätze von Ego State Therapie, Hypnotherapie, innere Konferenzen, etc. • Überwiegend so genannte „komplex Traumatisierte“ in Behandlung • Spezifisch aus- und weitergebildetes Personal in allen Berufsgruppen (Ärztinnen, PsychologInnen, Kunst- und BewegungstherapeutInnen, Pflegekräfte) [email protected] Die Psychodynamisch imaginative Traumatherapie [email protected] PITT 1: Stabilisierung • Aufbau einer stabilen therapeutischen Arbeitsbeziehung • Ggf. pharmakologische Behandlung • Aufklärung und Information • Stressmanagement (statt „Entspannung“) • Ressourcenaktivierung • Imaginative Übungen (sicherer Ort, innere Helfer, Tresor, Baum- und Lichtübung, Arbeit mit dem inneren Kind, etc.) • Dient der Symptomkontrolle, Ich-Stärkung und Affektregulation [email protected] Psychopharmakotherapie • • • • • Antidepressiva bei depressiven Zuständen Niederpotente Neuroleptika bei Unruhe Atypische Neuroleptika zum Reizschutz Ggf. Stimmungsstabilisatoren Cave! Suchtgefahr bei Valium-artigen Beruhigungsmitteln oder Schlafmitteln [email protected] PITT 1-2: Vorbereitung der Traumaexposition • Schutz vor weiterer Traumatisierung (z.B. Unterbindung des Täterkontaktes, aber auch Kontrolle der eigenen Gegenübertragung, etc.) • Flashback-Management (Dissoziationsstopp) • Erlernen der „Bildschirmtechnik“ [email protected] PITT 2: Traumaexposition • Voraussetzungen: hinreichende Stabilität, ausreichende traumaspezifische Kenntnisse der Therapeutin/des Therapeuten, kein Täterkontakt • (relative) Kontraindikationen: schwere dissoziative Zustände, Suchtverhalten, sonstige ausgeprägte psychopathologische Zustände • Expositionsmethoden: Bildschirmtechnik, EMDR • Am Ende jeder Sitzung: Patientin tröstet das verletzte Kind • Patientin behält jederzeit die Kontrolle über den Prozess [email protected] PITT 3: Reintegration • Verbesserung der aktuellen interpersonellen Beziehungen (Abgrenzungsfähigkeit, Wahrung eigener Interessen) • Stärkung des Selbstwertgefühls • Entlastung von Schuldgefühlen • Förderung vorher defizitärer Ich-Funktionen (Selbst- und Objektwahrnehmung, Selbstfürsorge, Affektregulation, Beziehungsgestaltung, etc.) • Ressourcenstärkung (Selbstheilungskräfte!) [email protected] Zusammenfassung • Ein Trauma ist eine Verletzung aufgrund äußerer Gewalteinwirkung • Beim psychischen Trauma wird die Seele verletzt • Wenn die äußere Verletzung die inneren Bewältigungsfähigkeiten übersteigt, kann es zu einer Traumafolgestörung kommen • Diese kann sein: PTBS, Depression, Angst, somatoforme (Schmerz-)Störungen, Persönlichkeitsstörung, Essstörung, Substanzmissbrauch, etc. [email protected] Zusammenfassung II • Behandlung der Wahl ist die Psychotherapie • Es gibt tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutische und traumaspezifische Ansätze • In der Psychosomatik im Fliedner Krankenhaus bieten wir auf tiefenpsychologischer Basis traumaspezifische Behandlung an [email protected] Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!!! Dr. med. Nina Becher-Dortschy Fachärztin für Innere Medizin Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Leitende Ärztin der Psychosomatik-Abteilung Fliedner Krankenhaus Ratingen [email protected]
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