Europäische Kommission - Rede - [Es gilt das gesprochene Wort] Rede von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker an der Freien Universität Bozen zum 70. Jahrestag der Pariser Friedenskonferenz zum Thema "Autonomy and Federalism in Europe" Brüssel, 18. November 2016 Meine Herren Landeshauptleute, Herr Altlandeshauptmann, Meine sehr verehrten Damen und Herren, Minister und Abgeordnete, Meine Damen und Herren Bürgermeister, Ich höre, dass von den 116 Bürgermeistern Südtirols, 100 heute hier sind. Das schafft nicht einmal Herr Renzi, wenn er auftritt, hier 100 Bürgermeister auf den Plan zu bringen. Und deshalb bin ich froh, dass Sie hier sind. Ich bin gerne hier – sagt man immer, stimmt meistens nicht; heute stimmt es – weil ich mich auf diesen Besuch gefreut hatte, den ich dem Landeshauptmann auch versprochen hatte. Und ich bin auch froh, dass die beiden anderen Landeshauptleute hier sind, die ich auch sehr herzlich hier begrüße, und die ich mag und die ich treffe, wann immer es geht. Wir haben uns alle drei erst im August in Alpbach getroffen und das nächste Mal müssen wir uns beim Kollegen Rossi treffen, weil da war ich noch nicht. Ich höre, auch dort ist das Essen gut, nicht nur hier – und ich mag Regionalprodukte, insofern bin ich um die Vermehrung meines kulinarischen Wissens sehr bemüht. Ich war so begeistert, heute nach Südtirol zu kommen, dass ich meine Rede im Flugzeug habe liegen lassen. Und Gott sei Dank haben meine Vorredner lange genug geredet, damit ich mir noch eine Rede schnell vorbereiten konnte. Ich bin also dankbar für den generösen Umgang mit der Redezeit, die hier gebraucht wurde. Ich bin gerne hier, weil ich die Tiroler, die Südtiroler mag. Ich verbringe meinen Sommerurlaub im Platter-Land gerne. Und ich mag die Menschen dort, ich mag die Menschen hier, weil die Tiroler und die Südtiroler ein unwahrscheinliches Maß an Hausverstand erkennen lassen, wenn sie sich zu Wort melden. Und ich melde mich gerne zu Wort hier in der Universität Bozen, weil diese die einzige dreisprachige Universität ist, die es in Europa gibt – ganz so sicher bin ich mir nicht, weil ich glaube, an der Luxemburgischen Universität werden vier Sprachen gesprochen, aber nicht fachübergreifend. Hier reden alle drei Sprachen. In Luxemburg reden einige auch noch Luxemburgisch, aber es hat nicht dazu gereicht, dass unsere Nachbarländer Frankreich und Deutschland sich des Luxemburgischen mächtig machen wollten, was zur Folge hat, dass wir Deutsch und Französisch lernen mussten. Das wird dann zu dieser typischen Viersprachigkeit Luxemburgs, aber das hat die akademische Welt noch nicht in vollem Umfang erreicht. Ich bin gerne hier, weil ich ein Mensch bin, der sich gerne mit anderen Menschen unterhält, die Grenzerfahrung haben. Und hier hat man Grenzerfahrung. Man hat die Grenze hier erlebt, mit allen Freuden, die Grenzen bringen, und mit allen Schmerzen, die sie sehr oft zur Folge haben; und deshalb ist es den Anlass wert, den 70. Jahrestag des Pariser Abkommens zu feiern. Es war zwar '46 im September, aber heute begehen wir diesen Tag in besonderer Weise, wobei ich darauf aufmerksam machen muss, dass das Foto, das Sie hinter mir sehen, nicht am 4. September '46 entstanden ist. Man tut so, als ob das so wäre; es ist aber nicht so. Es entstand später, bei der Unterzeichnung eines Kulturabkommens in Rom. Das wollte ich nur zur Vermehrung des lokalpolitischen Wissens hier einmal beigetragen haben. Dieser Pariser Vertrag wurde eingebettet in einen europäischen Kontext, und europäischen Kontext gibt es hier in Südtirol in viererlei Weisen zu besichtigen. De Gasperi hat diesen Pariser Vertrag zusammen mit Gruber unterschrieben, und weil De Gasperi ein Sohn dieser Region ist, wollte ich daran erinnern – obwohl alle dies hier wissen, aber einige, die mich begleitet haben, wahrscheinlich nicht –, dass De Gasperi ein Europäer der ersten Stunde war. Und deshalb ist es von besonderer Bedeutung, dass man an einen Vertrag heute erinnert, der von De Gasperi unterschrieben wurde. Aber das ist nicht der einzige große Vertrag, der von De Gasperi unterschrieben wurde; auch die Römischen Verträge tragen seine Unterschrift. Wer über Südtirol redet, der redet über eine Modellregion in Europa, weil hier vieles zusammenläuft und nach Kriegsende zwischen Österreich und Südtirol, Österreich und Italien, Nordtirol und Südtirol eine lange Versöhnungsgeschichte ihren Anlauf nahm, und daran gilt es auch heute zu erinnern. Ich mag diesen Identitätsdreiklang, den es hier gibt: Sie sind Südtiroler, Sie sind Italiener, und Sie sind Europäer und können zwischen diesen drei Dimensionen keinen Unterschied entdecken, leben diese drei Wirklichkeiten und das ist gut so. Man wünschte anderen Europäern so viel Begeisterung letztendlich für sich selbst und für die anderen in Europa. Wir wissen ja als Europäer über andere Europäer relativ wenig; wir interessieren uns nicht genug für einander – daher viele Missverständnisse, daher viele Fehleinschätzungen. Was wissen die Südtiroler von den Nordlappen? Einiges. Aber die Nordlappen wissen überhaupt nichts über Südtirol. Ich würde eine große Reisebewegung von Südtirol nach Nordlappland in Bewegung setzen, damit man sich besser kennenlernt. Es lohnt sich – jedenfalls was die Südtiroler anbelangt. Wer Region sagt, sagt Subsidiarität. Ohne Subsidiarität funktioniert das regionale Geflecht nicht und funktioniert auch nicht das richtige Verständnis für die Art und Weise, wie die Europäische Union funktioniert, funktionieren müsste, funktionieren sollte. Regionen sind wichtig. In Brüssel streiten wir darüber, wie viele Regionen es eigentlich in Europa gibt: Die einen sagen 170, die anderen sagen 190; es sind jedenfalls viele. Das zeigt, dass in den Regionen Europas die Musik spielt, dass etwas los ist in den Regionen, dass es diese drei Ebenen gibt – Staaten, Regionen, Gemeinden und Kommunen – die miteinander atmen müssen, und die sich gegenseitigen Respekt schulden, vor allem gehört es sich auch, dass man den Kommunen, den Gemeinden, den notwendigen Respekt entgegenbringt, weil es sind ja die Gemeinden, die Bürgermeister in specie [besonders], die am nächsten am Bürger dran sind, und die sich nicht in alle möglichen Phantasierereien verlieren, sondern dafür sorgen, dass die Kirche im Dorf bleibt, wenn ich mich so ausdrücken darf. Die Katholische Kirche müsste eigentlich die Hauptverbündete der Gemeinden sein, weil dort bleibt die Kirche im Dorf. Als diese Kommission, der ich die Ehre habe vorzustehen, ihr Amt antrat, haben wir uns, weil viele auch regionalpolitisch tätig waren – im Ausschuss der Regionen, Regierungschefs, Finanzminister und derartiges – sehr schnell darauf verständigt, dass wir den Hauptfehler der Europäischen Konstruktion beseitigen müssen. Und der besteht darin, dass eine täglich wachsende Kluft zwischen europäischer Politik und europäischen Bürgern unverkennbar am anwachsen war. Dies hat damit zu tun, dass man als Europäische Union, vor allem als Europäische Kommission, unter Dauerbeschuss steht. Ich frage mich manchmal: wieso haben De Gasperi und seine Kollegen eigentlich die Europäische Kommission erfunden? Ich weiß das inzwischen. Man braucht jeden Tag einen Sündenbock, und wenn es die Kommission nicht gäbe, dann könnten auch die italienischen Zeitungen weniger Überschriften zu dem Thema produzieren, als dies normalerweise der Fall wäre. Es macht keinen Sinn, die Europäische Kommission per se zu kritisieren. Dass man auf die Kommission einprügelt, das gehört zur Aufgabe und ein Teil meines Lohnes ist der Tatsache geschuldet, dass man dauernd Prügel bezieht. Aber falsch ist es, die Europäische Union und die Europäische Kommission für alles und jedes in Haft und in Verantwortung zu nehmen. Und das sollte man tunlichst unterlassen. Man sollte sich eigentlich darauf beschränken, nicht zu sagen, dass die Kommission eine tolle Mannschaft ist – ist sie zum Teil auch – sondern, dass die Kommission ihrer Aufgabe gerecht werden muss. Und dass man eigentlich das Spiel einstellen sollte, das darin besteht zu erklären: wenn etwas klappt, wenn etwas gut geht, dass das der Staatskunst der eigenen Regierung zuzuschreiben war; wenn etwas schief geht, dann ist dies die Schuld der Europäischen Union oder die Schuld der Europäischen Kommission. Ich war über dreißig Jahre lang Minister und Premierminister, habe an über 130 Europäischen Räten teilgenommen. Aber ich habe nur den Eindruck ich hätte an 130 Räten teilgenommen, weil wenn ich nach einer Sitzung des Europäischen Rates die Presse 28 Mal lese, dann war ich bei 130 Mal 28 Europäischen Räten. Weil jeder erzählt nicht das, was er im Saal gesagt hat, sondern das, was er, bevor er nach Brüssel fuhr, vor Ort in der Pressekonferenz nach dem Europäischen Rat gesagt hat. Und deshalb entsteht ein Bild, das die Menschen kaum noch verstehen. Genauso wie sie auch eigentlich massiv ablehnen, dass die Europäische Union und mithin die Europäische Kommission ihre Nase in alles hineinstecken, was sie eigentlich nichts angeht. Wir haben gesagt, als wir antraten – ich habe das auch während des Europawahlkampfes gesagt –, dass wir uns mit den großen Themen unserer Zeit beschäftigen sollten: to be big on big und sehr zurückhaltend sein sollten, wenn es um kleinere Angelegenheiten geht. Bislang war es so, dass die Europäische Kommission sehr groß war in kleinen Dingen und sehr klein in großen Dingen. Ich hätte gerne, dass sich das ändert, ohne dass das vollumfänglich gelingen wird. Wir haben bei Amtsantritt 400 dem Doppelgesetzgeber vorliegende Gesetzesentwürfe überprüft, – ob sie gebraucht werden; ob sie nicht gebraucht werden; wie viel Subsidiarität man eigentlich über diese Texte gießen könnte, damit sie verschwinden. Wir haben viele Texte zurückgezogen, die Vorgängerkommission hat 130 neue Initiativen pro Jahr ergriffen und meine Kommission – wenn Sie mir diesen exzessiven Gebrauch des Possessivpronomens erlauben – 23 im Jahr; und das reicht auch. Wir sollten zuerst einmal das abarbeiten, was vorliegt und uns dann wirklich auf die großen Probleme unserer Zeit konzentrieren. Ich gebe Ihnen einmal ein Beispiel, damit Sie sehen, dass das Amt des Kommissionspräsidenten nicht vergnügungssteuerpflichtig ist. Wir haben vor zwei Wochen über die Ökodesignrichtlinie diskutiert. Wie viel Energieeffizienz können wir dadurch erreichen, dass wir alle möglichen Produkte, die es auf dem europäischen Binnenmarkt gibt, normieren, regeln. Sie können sich vielleicht noch an die Diskussion über Duschköpfe und Olivenkännchen erinnern. Jetzt hatte meine Kommission eigentlich vor, auch die Toilettenspülung neu zu regeln. Und mit dem Hinweis darauf, dass die Wirte –– ich sage das in einer fremdenverkehrsgetriebenen Region –– ihre Angestellten in Sonderkursen darüber zu informieren hätten, wie denn mit dieser normierten europäischen Toilettenspülung umzugehen wäre. Das haben wir nicht gemacht; aber wir stehen in der Kritik vieler in der Industrie, einiger im Europäischen Parlament, dass wir vor dieser Riesenaufgabe zurückgeschreckt sind. Ist aber richtig so, weil man darf die Menschen nicht auf Dauer ärgern mit kleinsten Vorschriften und zu den kleinsten Vorgängen – wenn auch wichtigen Vorgängen – des Lebens. Europa – das ist der permanente Dialog zwischen Souveränität und Solidarität. Souveränität – damit sie noch Sinn macht, nicht nur staatsrechtlich, sondern auch einflussmäßig – muss in Europa geteilt werden, damit die Einzelstaaten mit ihrer Souveränität einen Umgang finden, der sie durch Teilen steigert. Souveränität muss geteilt werden. Das ist wichtig im Bereich der Außenpolitik – dort wird sie nicht sehr geteilt. Die Europäische Außenpolitik ist ein krankes Kind, wächst nicht richtig, müsste aber wachsen. Die Welt schaut auf uns, wir schauen zurück, die Welt spricht mit uns und wir reden nicht viel mit der Welt. Ich bin ein großer Anhänger einer intensiver sich gestaltenden Europäischen Außenpolitik, weil wir in der Welt gebraucht werden, und wir auch die Welt brauchen. Ähnliches trifft zu, in noch stärkerem Maße, für die Europäische Verteidigungspolitik. Ich rede jetzt hier nicht der Schaffung einer Europäischen Armee das Wort. Das sage ich immer, da man mich fragt: sind Sie für oder gegen eine Europäische Armee? Dann sagt ein normaler Mensch: ich bin dafür; Österreicher sagen, wir sind dagegen. Aber darum geht es nicht. Das ist ein Langzeitentwurf. Es geht darum, dass wir unsere Verteidigungskräfte in Europa bündeln, weil wir sind nicht von Feinden umzingelt, aber von Konfliktzonen umgeben, die es erfordern, dass wir uns um unsere eigene Sicherheit selbst kümmern. Die Amerikaner – von dieser Vorstellung sollte man sich verabschieden, und nicht erst seit Trump gewählt ist – werden nicht auf ewige Zeit für die europäische Sicherheit garantieren. Das müssen wir selbst in die Hand nehmen, und deshalb braucht es eine gemeinsame Kommandozentrale in Brüssel – nicht unter der Hoheit der Europäischen Kommission anzusiedeln –, weil so wie ich einige unserer Mitarbeiter kenne, fangen sie am nächsten Morgen schon einen Krieg an; nein, man soll das in Händen belassen, die wirklich etwas davon verstehen. Das betrifft nicht die Regionen, das betrifft die Nationen. Nationen, gegen die man die Europäische Union nicht wird ausbauen können. Es braucht ein Miteinander von Nationen, Regionen und Europäischer Union. Die Nationen sind keine provisorische Erfindung, provisorische Laune der Geschichte – sie sind auf Dauer eingerichtet. Und das ist gut so, weil die Menschen brauchen das Gefühl der direkten Nähe. Und das Gefühl vermitteln Regionen, Kommunen und Nationen. Europa tut das viel weniger. Wir geben in Europa viel Geld aus für Rüstung. Die Militärhaushalte der Europäischen Union, das sind EUR 200 Milliarden. Die Amerikaner geben genau das Gleiche aus. Aber unsere Effizienz beträgt nur 15% der Effizienz der Amerikaner. Wenigstens im Beschaffungswesen müssen wir unsere Kräfte bündeln. Es macht ja keinen Sinn, dass die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union – viele davon sind auch NATO-Mitglieder – anstatt ihre Waffen gemeinsam zu beschaffen, das heißt einzukaufen – dies auf Sonderwegen, und manchmal an den komischsten Stellen, tun. Deshalb ist auch die Schlagkraft der europäischen Abwehr, wenn ich das so sagen darf, nicht gut. Ich scherze immer: ein Hühnerhaufen ist eine geschlossene Kampfformation gegen die Verteidigung der Europäischen Union. Und deshalb sollte man das im Rahmen dessen, was in der Welt passiert, nach Möglichkeit ändern. Klimaschutz:–das kann kein Land alleine betreiben. Müssen wir zusammen tun; haben wir in Paris gezeigt, wo die Europäer doch ursächlich daran beteiligt waren, dass es zu diesem Weltklimaschutzabkommen kam. Und das gilt auch für die Handelspolitik. Das wird auch Herr Trump noch in mühsamer Arbeit erfahren müssen, dass man Handelspolitik international und global denken muss, und sie nicht lokal und national in den Griff bekommt. Und Handelspolitik hat einen schlechten Ruf – CETA, TTIP, derartiges. Ich bin kein verrückter, blinder, tauber 'free trader' [Freihändler], der sonst nichts im Schilde führt als möglichst große Handelsvolumina durch Vertragsabschlüsse zu provozieren. Aber ich bin jemand, der weiß, dass internationale Handelspolitik beschäftigungswirksam ist. Jede Milliarde Euro, die die Europäische Union im Handel mit den anderen Teilen der Welt verdient, das bringt uns exakt 14 000 netto Arbeitsplätze. Das Handelsabkommen mit Kanada wird 200 000 Arbeitsplätze generieren, so wie auch das Handelsabkommen mit Südkorea, das erst fünf Jahre alt ist und 200 000 netto Arbeitsplätze in Europa zur Folge gehabt hat. Also wir machen nicht Handelspolitik wegen der schönen Augen des internationalen Großkapitals – wir machen dies, um europäisches Wachstum zu generieren, um Arbeitsplätze in Europa zu schaffen, und um Einfluss zu haben, auf die Normensetzung auf internationaler Ebene. Wenn wir es den Chinesen und den Amerikanern überlassen, Normen festzulegen, die sich letztendlich auch auf Europa übertragen werden und dann dort nolens volens auch nachgeäfft werden müssen, dann geht Europa einen schweren Weg. Ich bin für Handelsabkommen, aber ich bin auch dafür, dass die Europäer sich so wehren gegen unlautere Konkurrenz wie andere. Der Handel muss free and fair [frei und fair] sein. Die Amerikaner erheben Strafzölle auf chinesische Flachstahlprodukte von 260% – die Europäer von 20%. Deshalb ist es dazu gekommen, dass große Teile der chinesischen Überproduktion im Stahlbereich – die chinesische Überproduktion im Stahlbereich entspricht dem Doppelten der europäischen gesamten Stahlproduktion – sich nach Europa verschieben. Ich hätte gerne, dass sich das ändert. Man kann Menschen nicht erklären, dass man Handelsverträge macht; man kann Arbeitgebern – die es sowieso mit Europa nicht mehr so sehr haben wie das früher der Fall war – nicht erklären, dass dies alles sein muss. Und man tut nichts, um die europäische Industrie gegen den unlauteren Wettbewerb, der aus anderen Teilen der Welt kommt, zu schützen. Wir müssen uns auch schützen. Wir sind es wert, dass wir uns selbst schützen. Geteilte Souveränität, die ist auch verlangt, wenn es um die Europäische Wirtschafts- und Währungspolitik geht. Ich kann mich jetzt nicht in allen Details Europäischer Wirtschafts- und Währungspolitik verlaufen, das sind der Wege zu viel. Aber dies ist ein typisches Beispiel dafür, wie viel Kraft man aus geteilter Souveränität schöpfen kann, anstatt dass man auf exklusive nationale Souveränität setzt. Stellen Sie sich eine Sekunde vor, wir hätten den Euro nicht gehabt – erstmals für die Menschen diesseits und jenseits der Grenze wäre dies eine Katastrophe, wenn wir beim Schilling und bei der Lira geblieben wären. Mit all diesen Verwerfungen, die ungeregelte Wechselkurse – und wenn geregelt, dann sehr oft revidiert – zur Folge haben; sondern auch, weil wir während des IrakKrieges, während der Attentate in Washington und New York, während der Wirtschafts- und Finanzkrise, die uns aus den USA nach Europa importiert wurde – wenn wir dann in dem System geblieben wären, das wir vorher hatten, nämlich dem Europäischen Währungssystem, mit festgelegten Bandbreiten – wurden sehr oft Brandbreiten, sind aber Bandbreiten. Aber Brandbreiten gefällt mir sehr gut, weil es war eigentlich so, dann hätte die Deutsche Bundesbank, die österreichische Nationalbank, die Banca d'Italia, und die Regierungen, jeder das getan, was für sein eigenes Land wichtig gewesen wäre, mit dem Ergebnis, dass wir einen regelrechten Währungskrieg in Europa gehabt hätten. So aber wurde die Geldpolitik einheitlich von der EZB in Frankfurt gestaltet und die Wirtschaftspolitik wurde koordiniert von den Finanzministern und auf Ebene des Europäischen Rates, damit es kein Auseinanderdividieren gab, sondern ein Konzentrieren auf das direkt notwendigerweise zu Machende. Das heißt der Euro schützt uns; er bringt Ordnung in die Unordnung, die wir bis dahin hatten. Und deshalb sollte man auch nicht so tun, als ob es besser wäre, wir kämen wieder zu nationalen Währungen zurück – das führte absolut in die Katastrophe. Und weil wir in Sachen Euro zusammenarbeiten müssen – auch wenn wir manchmal über Stabilitätskriterien uns kontrovers unterhalten –, und weil die Briten nicht beim Euro dabei sind, sondern sich mit einer regionalen Währung in die Zukunft hineinplagen müssen, möchte ich auch hier sagen, weil dies ein Thema ist, das ins Haus steht – Brexit und die Folgen –, dass ich gerne hätte, dass die Europäische Union ein geordnetes Verhältnis zu dem Vereinigten Königreich definiert, und verhandelt, und herbeiführt; dass dies aber nicht zu dessen Bedingungen, aber zu europäischen Bedingungen geschehen muss. Es kann nicht sein, dass die britische Wirtschaft freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt hat und sich nicht an die Grundregeln des Europäischen Binnenmarktes – vornehmlich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer – zu halten bereit ist. Das geht nicht. Man kann nicht Vollzeiteuropäer sein, wenn es ums Nehmen geht, und Teilzeiteuropäer sein, wenn es ums Geben geht. Und genau das sage ich auch in Sachen Flüchtlingsströme und -bewegungen. Auch dort brauchen wir geteilte Solidarität. Seit Jahren versuche ich zu erklären, mit wachsendem, aber wechselndem Erfolg, dass man es nicht Italien und Griechenland überlassen kann, mit dem Flüchtlingsproblem alleine fertig zu werden; nur weil die zufällig an der falschen – und das heißt an der richtigen sonnigen Stelle – des Kontinentes liegen. Nein. Italien unternimmt enorme Anstrengungen, um sich seiner Verantwortung den Flüchtlingen gegenüber zu stellen, und tut das gut. Und es kann nicht sein, dass die Europäer montags in die Zeitungen schreiben: in Europa werden jedes Jahr 400 000 Menschen aus den Fluten gerettet; dann bringt man sie nach Lampedusa, nach Sizilien oder sonstwo. Und dann sagen die anderen Europäer: dann macht einmal, zeigt was ihr könnt. So geht das nicht. Man muss solidarisch mit Italien sein, wenn es um die Flüchtlingskrise geht. Das Gleiche gilt im Übrigen wenn wir über Erdbeben reden. Da muss auch die Europäische Union Geld in die Hand nehmen, um den italienischen Freunden zu helfen, die Konsequenzen der Erdbeben zu überwinden. Das ist auch eine europäische Aufgabe. Und sei es auch nur – aber es geht mir vor allem um die Menschen –, weil so viele Kulturgüter zerstört wurden bei den letzten Erdbeben. Und dort gibt es die schöne Kathedrale [in Norcia] – Sie kennen die Bilder. Ich hätte gerne, dass die Europäische Union diese wieder aufbaut. Das soll die Europäische Union tun, um zu zeigen – den Menschen dort – wir sind da, wenn es euch schlecht geht. Das sollten wir machen und das werden wir auch machen. Nun geht es vor allem darum, europäische Glaubwürdigkeit wieder dadurch zurück zu gewinnen, dass wir das, was wir beschließen, auch zur Anwendung bringen. Man kann nicht Beschlüsse in Sachen Flüchtlingsproblematik treffen, und dann diese Beschlüsse nicht umsetzen. Das geht nicht und das wird auch nicht geduldet werden. Obwohl ich der Meinung bin, dass wir den Brückenschlag versuchen müssen zwischen den Regierungen und den Menschen in West- und Südeuropa, und den etwas zögerlich daherkommenden Kollegen aus einigen Teilen Mittel- und Osteuropas. Mich stört es sehr, wenn ein Ministerpräsident, ein christdemokratischer Ministerpräsident, erklärt, er wolle keine Schwarzen und keine Moslems in seinem Land sehen. Das hat mit Europa nichts zu tun und es muss so sein, dass jeder alle aufnimmt, unabhängig von Glauben und von Hautfarbe. Das eigentliche Problem Europas – neben den vielen, die ich hier nur kurz ansprechen konnte – ist das Thema Wachstum und Beschäftigung. Wir haben ein zu schwaches Wachstum in Europa und eine Beschäftigungslage mit dementsprechend hohen Arbeitslosenständen, die unserem Kontinent keine Ehre machen. Und deshalb haben wir als Kommission zu Amtsbeginn die europäische Investitionspanne feststellend – noch heute haben wir 15% weniger Investitionen als im Vorkrisenjahr 2007 – einen Investitionsplan auf den Weg geschickt, der EUR 315 Milliarden mobilisieren soll an privaten Investitionen. Wir verdoppeln diesen Betrag – bis heute wurden annähernd EUR 150 Milliarden schon mobilisiert, auch in Italien und auch hier in Südtirol. Und wir machen damit weiter, verdoppeln das auf EUR 630 Milliarden, und geben dem Ganzen eine Laufdauer von statt drei, sechs Jahren. Und dieser Investitionsplan wird gut angenommen –– auch von Süd- und Platter-Tirol. Ja, weil ich mich mit Günther auch über diese Dinge unterhalte und auch hoffentlich die richtige Entscheidung – Autobahnmaut und ähnliches betreffend – getroffen habe. Also ich wirke ja für alle in Tirol, nicht nur für die Südtiroler. Und weil ich keine Lust habe, jeden August mich von dem Landeshauptmann aus Innsbruck beschimpfen zu lassen, weil ich dieses oder jenes nicht getan habe, tue ich einfach das, was er will. Aber er findet immer etwas Neues. Dieser Investitionsplan, der hieß, als er beschlossen wurde, überall Juncker-Plan. Viele dachten: das wird sowieso nichts. Und dann wollten sie den präidentifizieren, dem man die Schuld geben könnte, dass es nicht gelang. Jetzt gelingt es aber und jetzt heißt das auch dementsprechend Europäischer Fonds für strategische Investitionen – aber es ist dasselbe. Ich kann nur dafür werben, dass wir den europäischen Binnenmarkt weiter ausbauen: Digitaler Binnenmarkt, Energieunion, Kapitalmarktunion – all dies brauchen wir. Souveränität teilen, damit wir alle mehr Souveränität zurückempfangen. Und wir dürfen nicht vergessen – meine Damen und Herren, liebe Freunde – wer wir eigentlich sind, wissen wir ja nicht. Wir denken immer: Europa – das ist der größte Kontinent, das sind tolle Kerle. Europa ist der kleinste Kontinent – wissen wir nur nicht. Alle anderen wissen das, wir wissen das nicht. Europa stellt heute rund – je nach Sach- und Sektorenlage – 25% der globalen Wertschöpfung, wobei man wissen muss, dass 80% der globalen Wertschöpfung schon heute außerhalb von der Europäischen Union generiert werden. Das werden in fünfzehn, zwanzig Jahren noch 10-15% sein. Wir werden also wirtschaftlich, relativ betrachtet, schwächer. Und wir sind demografisch nicht in Höchstform. Am Beginn des 20. Jahrhunderts waren 20% Prozent der Menschen Europäer, jetzt noch 11%, Mitte des Jahrhunderts 7%, Ende des Jahrhunderts sind auf zehn Milliarden Menschen 4% Europäer. Man muss daraus erkennen, dass man die Europäische Union, ihr Tun und Lassen, vollständiger begründen muss, als wir dies bislang getan haben. Wir haben immer das ewige europäische Drama und Trauma behandelt bei der Ursachenbeschreibung: Krieg und Frieden – dieses Thema bleibt. Es bleibt mir unverständlich wieso eigentlich die Menschen in Europa glauben, der Frieden wäre Dauer gesichert. Ist er nicht. Es reicht ein Blick über unsere Grenzen hinaus, um das festzustellen. Syrien ist ein Nachbarland der Europäischen Union. Zypern liegt auf fünfzig Seemeilen von den syrischen Küsten entfernt. Der Krieg ist unter anderer Form auch – Stichwort Terrorismus – bei uns angekommen. Dagegen setzen wir uns zur Wehr, wie ich hoffe mit Erfolg. Aber diese Sachen werden sich nicht ändern. Europa ist der kleinste Kontinent, wir werden wirtschaftlich schwächer und wir werden demographisch so wenige sein, dass wir als solche, als einzelne Nationen in der Welt nicht mehr ins Gewicht fallen. Und dann stelle ich fest, dass überall in Europa die Mähr und die Rede davon geht: Nationen, Staat – wir können das alles besser, wir können das alles allein. Nichts können wir alleine, wir müssen zusammenarbeiten. Wäre ich nicht Luxemburger, würde ich vor Kleinstaaterei warnen; weil Kleinstaaterei führt ins Abseits. Wir müssen den Kontinent so gestalten, dass wir noch Gehör in der Welt finden; weil, wir haben der Welt ja auch etwas mitzuteilen. Und die Welt ist ja nicht in Ordnung. Solange jeden Tag 25 000 Kinder sterben, weil sie nichts zu essen haben, solange ist Europa nicht am Ende seiner Aufgaben angelangt. Ich bedanke mich fürs Zuhören. SPEECH/16/3843
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