Dokumentation der ConSozial 2016

ConSozial
www.consozial.de
18. Fachmesse und Congress des Sozialmarktes
26. – 27. Oktober 2016
Messezentrum Nürnberg
Soziale Marktwirtschaft 4.0
Dokumentation November 2016
Herausgeber
Joachim König
Christian Oerthel
Hans-Joachim Puch
Inhalt
Visionär und Brückenbauer – zum Gedenken an Dr. Dr. Christoph Hölzel ............................. 4
Soziale Marktwirtschaft 4.0 ....................................................................................................... 8
Bildung 4.0 – Der lange Weg zur Chancengleichheit .......................................................... 12
Wenn die Welle rollt – Herausforderungen für das Management
am Beispiel der Migration .................................................................................................... 16
Sozial + digital = phänomenal? – Digitalisierung aktiv gestalten ........................................ 21
Wettbewerb in der Deutschen Kinder- und Jugendhilfe ...................................................... 27
Social Media – Die digitalen Spielregeln in der Kommunikation
von Mensch zu Mensch ........................................................................................................ 31
Wertschöpfendes Qualitätsmanagement als Innovationsmotor ........................................... 34
Wie Menschen zusammen die Zukunft bestimmen ............................................................. 37
Motivation nutzen – Nachhaltiges Personalmanagement Ehrenamtlicher .......................... 39
Partizipation ohne Wenn und Aber – Kinder bewerten ihren Kindergarten ....................... 43
Ein Dorf kümmert sich – Pflege und Betreuung älterer Menschen ..................................... 46
Bilder und Impressionen der ConSozial 2016.......................................................................... 50
Nachruf
Visionär und Brückenbauer –
zum Gedenken an Dr. Dr. Christoph Hölzel
Am 24.12.2015 verstarb für uns alle plötzlich und unerwartet der Gründervater der ConSozial
Christoph Hölzel. Mit großer Betroffenheit hat die ConSozial-Familie diese Nachricht
aufgenommen.
Der Visionär – Am Buß- und Bettag 1998 hatte Dr. Dr. Hölzel zu einem Abstimmungsgespräch ins Sozialministerium eingeladen. Es ging ihm darum, ein Dialogforum zu schaffen,
das die verantwortlichen Akteure in der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege und der
Sozialpolitik regelmäßig zusammenbringt. Die Veränderungen in der sozialen Landschaft, der
immer deutlicher sichtbar werdende Graben zwischen Fachlichkeit und Wirtschaftlichkeit,
zwischen ethischem Anspruch und erlebter Realität machten eine Neuausrichtung der Sozialwirtschaft notwendig. Die Einführung und Auswirkungen der neuen Steuerungsmodelle, die
Konsequenzen aus der Deutschen Einheit und die wirtschaftliche Krise Deutschlands in den
90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren Anlass für ihn darüber nachzudenken, ob es
nicht so etwas wie die „Deutschen Sozialtage“ bräuchte. Eine Brücke, die aus den Pfeilern
Information, Diskussion, Dialog und Begegnung besteht - die ConSozial eben.
Der Brückenbauer – Den ersten Anlauf hierzu hatte er bereits im April 1998 mit dem
„Münchener Qualitätskongress“ genommen, den er gemeinsam mit Prof. Dr. Speck und Prof.
Dr. Peterander organisierte und durchführte. Eine der wesentlichen Erkenntnisse aus dieser
Veranstaltung war: Ein solcher Kongress darf keine Eintagsfliege bleiben. Und eine
Ausstellung die sichtbar macht, welche Potentiale im Sozialen liegen sollten den Kongress
gleichwertig ergänzen. Hierfür bedurfte es einer eigenständigen Organisationsform, die die
Umsetzung seiner Vision sicherstellte. Mit KI-Consult, Helmut Kreidenweis, den Rummelsberger Anstalten, dem Landescaritasverband Bayern und der NürnbergMesse gelang es ihm,
Partner zu finden, die seine Vision teilten. Mit Weitblick, der notwendigen Zähigkeit und der
entsprechenden Durchsetzungsfähigkeit gelang es ihm, in einem zweiten Schritt auch die
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Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege für die Mitwirkung zu gewinnen und mit „seinen
Mitarbeitenden“ im Sozialministerium Bayern in der Programmkommission zu vereinen.
Die Gründung des Kuratoriums der ConSozial rundete „politisch“ dieses Vorgehen ab und
macht bis heute den bundesweiten Anspruch der ConSozial als größte KongressMesse für
Fach- und Führungskräfte des Sozialmarktes in Deutschland sichtbar.
Wir haben einige Weggefährten von Dr. Dr. Hölzel um ein Statement zu seinem Wirken für
die ConSozial gebeten: Barbara Stamm, Präsidentin des Bayerischen Landtages und
ehemalige bayerische Sozialministerin, Burkhard Rappl, Ministerialdirigent, Leiter der
Abteilung Teilhabe von Menschen mit Behinderung, soziale Hilfen im Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration und Willi Haas, ehemaliger
Pressesprecher der Rummelsberger Anstalten.
Barbara Stamm, Präsidentin des Bayerischen Landtages – „Eine Gemeinschaft ist wie ein
Schiff: Jeder sollte bereit sein, das Ruder zu übernehmen.“ – So hat der Schriftsteller Henrik
Ibsen einmal treffend festgestellt. Damit Gemeinschaft in diesem Sinne gelingen kann,
brauchen wir Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu tragen und aktiv zu werden. Diese
Bereitschaft hat kaum jemand so vorbildlich gezeigt wie Christoph Hölzel, der im
vergangenen Jahr verstorbene Gründungsvater der ConSozial. Mit seinem Tode ist ein
Mensch von uns gegangen, dem der soziale Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zeit seines
Lebens ein Herzensanliegen war. Unermüdlich, mit großer Sachkompetenz und besonderer
Empathiefähigkeit setzte er sich für alle ein, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.
Wenn es um Menschen mit Behinderung, wenn es um Krankheit und Alter ging, war
Christoph Hölzel immer ein wichtiger Ansprechpartner. Während unserer gemeinsamen
Arbeit im Sozialministerium war er stets einer, dem ich vertraute, einer, dessen Rat mir
wichtig war. Sein enormes Fachwissen und seine reiche Erfahrung hat er auch in zahlreichen
ehrenamtlichen Funktionen in den Dienst des Allgemeinwohls gestellt. So hat er sich auch in
verschiedenen Stiftungen und Wohlfahrtsorganisationen der katholischen Kirche immer für
seine Mitmenschen stark gemacht und gezeigt, was gelebte christliche Nächstenliebe ist.
Durch die Gründung der ConSozial im Jahre 1999 rief er die größte Fachmesse für die
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Sozialwirtschaft im deutschsprachigen Raum ins Leben. Die jährlich über 5000 Besucher der
ConSozial verdanken letztlich seiner Initiative, dass sie hier ein großartiges Forum zur
Fortbildung, zum Austausch und zur Vernetzung haben. So konnte er in vielfältiger Weise
segensreich wirken.
Christoph Hölzels herausragendes soziales Engagement, das über die Grenzen Bayerns hinaus
bis in die Ukraine reichte, wurde unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse
gewürdigt. Mehr noch dürfte aber das zählen, was als Vermächtnis seiner Arbeit bestehen
bleibt: sein Einfühlungsvermögen und seine Hilfsbereitschaft. Christoph Hölzel hat uns
vorgelebt, was „sozial“ in seinem Kern bedeutet. Ich bin dankbar dafür, dass ich ihn kennenlernen und mit ihm zusammenarbeiten durfte.
Burkhard Rappl, Ministerialdirigent, Leiter der Abteilung Teilhabe von Menschen mit
Behinderung, soziale Hilfen im Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales,
Familie und Integration – Tief betroffen habe ich am 30.12.2015 im Namen des Bayerischen
Sozialministeriums, insbesondere auch im Namen von Frau Sozialministerin Emilia Müller
bei der Trauerfeier meinen Vorgänger, Herrn Ministerialdirigent Dr. Dr. Christoph Hölzel für
seine herausragenden sozialen Leistungen gewürdigt. Seine erfolgreiche Arbeit war geprägt
durch eine Besonderheit: Herr Dr. Dr. Hölzel war ein Jurist, der gleichzeitig ein Philosoph
war. Sein philosophisches Wissen gepaart mit brillantem juristischem Sachverstand und der
ihm ganz besonders eigenen Art, Herausforderungen anzugehen, waren ein Glücksfall für die
soziale Landschaft, nicht nur in Bayern. Mit seiner Sensibilität und seinem Einfallsreichtum
hat er 1999 auch die bundesweit erfolgreiche Kongressmesse für das Sozialwesen, die
ConSozial, aus der Taufe gehoben. „Eine solidarische Gesellschaft zu erhalten, die lebenswert
ist“ war eines seiner Hauptanliegen. Dazu gehört auch das nötige Rüstzeug für die Führungskräfte im Sozialmarkt und das soll auf der ConSozial ausgetauscht und vermittelt werden. Bis
heute ist die ConSozial eine – seine – Erfolgsstory. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken
bewahren.
Willi Haas, Diakon, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der Rummelsberger Anstalten bis 2009 –
Die Erfolgsgeschichte der ConSozial, die in diesem Jahr zum 18. Mal stattfand, beruht auf
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einer vertrauensvollen und gewinnbringenden Zusammenarbeit zwischen Staat, freier und
öffentlicher Wohlfahrtspflege sowie Wirtschaftsunternehmen. Einer der Väter dieser
Veranstaltung war Dr. Dr. Christoph Hölzel vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit
und Soziales in München. Vielleicht hatte er, als wir 1998 die ersten Gespräche über eine
solche Veranstaltung, gemeinsam getragen von Ministerium, freier und öffentlicher
Wohlfahrtspflege und Unternehmen der Wirtschaft, führten, schon die Vision, dass daraus
„Die Veranstaltung im Sozialmarkt in Deutschland“ werden könnte. Zielstrebig, vorausschauend und mit Weitblick in die Zukunft steuerte er das ConSozial-Schiff mit auf dieses
Ziel zu und das in einer Partnerschaft aller Beteiligten auf Augenhöhe. Neues wurde geprüft
und wenn es dem gemeinsamen Ziel diente, aufgenommen und in den Kongress und die
Messe eingebaut. Was mich besonders beeindruckte war, dass er auch im Ruhestand immer
auf der Höhe der sozialen Entwicklungen in unserem Land war und weiterhin für eine Weiterentwicklung der ConSozial eingetreten ist. Dafür gebührt ihm ein herzliches „Vergelts Gott“.
Auch über die Zeit seines aktiven Dienstes hinaus hat Dr. Dr. Hölzel die Entwicklung der
ConSozial mit Rat und Tat begleitet. In der Programmkommission, in den strategischen
Besprechungen der Durchführungspartner und wenn Not am Mann war auch als Botschafter
der ConSozial! Dankbar blicken wir auf die Zeit die wir mit ihm verbringen durften – wir
vermissen ihn.
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Joachim König, Christian Oerthel & Hans-Joachim Puch
Soziale Marktwirtschaft 4.0
Die Digitalisierung ist eine mächtige Triebkraft für Wirtschaft und Gesellschaft geworden.
Die Folgen dieser Entwicklung umfassen alle Bereiche des Lebens. Mit dem Begriff Soziale
Marktwirtschaft 4.0 wird der Fokus auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen
dieses technologischen Umwälzungsprozesses gelegt. Als Antwort auf die Veränderungen
sind Konzepte und Ideen für eine ökonomische und humanitäre Zukunftsentwicklung zu
entwerfen und die Eckpunkte einer neuen Sozialen Marktwirtschaft zu diskutieren. Die
Sozialwirtschaft ist von dieser Aufgabe nicht ausgeschlossen. 1 Die ConSozial 2016 hat sich
deshalb das Ziel gesetzt, ein Forum für diese überfällige Debatte in der Sozial- und
Gesundheitswirtschaft zu bieten.
Wofür steht der vielschichtige Begriff der Digitalisierung? Zunächst wird darunter die
„intelligente Fabrik“ verstanden, in der die Produktion von Gütern global-digital vernetzt ist.
Zentrale Merkmale sind u.a. eine starke Individualisierung der Produkte unter den
Bedingungen einer hoch flexibilisierten Serienproduktion und die Einbindung von Kunden
und Geschäftspartner direkt in die Geschäfts- und Wertschöpfungsprozesse. Das, was auf den
ersten Blick lediglich als eine Veränderung der Produktionsweise wahrgenommen wird, geht
in seinen gesellschaftlichen Folgen jedoch weit darüber hinaus. Klaus Schwab, der Vorsitzende des Weltwirtschaftsforums 2, sieht in den technologischen Veränderungen den Beginn einer
Vierten Industriellen Revolution von enormer Tragweite. War die Erste Industrielle
Revolution mit der Mechanisierung der Produktion und der Erleichterung der Handarbeit
verbunden, stand bei der Zweiten Industriellen Revolution die Fließbandarbeit mit den
Möglichkeiten der Massenproduktion und dem Massenkonsum im Zentrum. Die Dritte
Industrielle Revolution wird auch als digitale Revolution beschrieben und ist mit der
Entwicklung der Computertechnologie und der Einführung des Internets charakterisiert.
Inzwischen stehen wir aber längst am Beginn der Vierten Industriellen Revolution, die zwar
1
Vgl.: Dokumentation der ConSozial 2014: Mission Sozialwirtschaft – produktiv und menschlich. S. 5f.
Die in Genf ansässige Organisation ist eine internationale Stiftung zur Förderung der Zusammenarbeit von
Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaften. Bekannt ist sie u.a. für das jährlich stattfindende Treffen in Davos.
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auf der Digitalisierung aufbaut aber durch die „intelligente“ Vernetzung von Maschinen und
Menschen, durch Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen eine eigene und umwälzende Dynamik in allen Lebensbereichen entwickelt.
Klaus Schwab unterteilt die Megatrends dieser Entwicklung in drei Bereiche, den physischen,
den digitalen und den biologischen. 3 Ein kurzer Überblick soll hier genügen:
− Der physische Bereich umfasst beispielsweise selbstfahrende Kraftfahrzeuge, die fast
unbegrenzten Möglichkeiten des 3D-Drucks und die fortschreitende Robotik.
− Im Bereich der Digitalisierung ist die Verbindung zwischen Produkten, Dienstleistungen und Orten auf der einen Seite und menschliche Gewohnheiten und Profile
auf der anderen Seite zu nennen. Die personalisierte bzw. individualisierte
Preisgestaltung ist nur eines von vielen Beispielen.
− Die Forschungen in der Biologie und insbesondere die Entwicklungen der Genetik
schaffen Voraussetzungen, um in die biologischen Grundlagen des Lebens gravierend
einzugreifen und diese zu verändern. Personalisierte und zielgenaue Therapien sind
ein Szenario dieser Entwicklung, gentechnische Veränderungen an Mensch und Natur
ein weiteres.
Die Vierte Industrielle Revolution hat Auswirkungen in alle Lebensbereiche. Exemplarisch
greifen wir kurz einige heraus. Für die wirtschaftliche Entwicklung sind die Prognosen noch
widersprüchlich. Wird es gelingen, durch ein zusätzliches Wachstum die volkswirtschaftliche
Produktion zu steigern und damit die Voraussetzungen für mehr Wohlstand und eine gerechte
soziale Verteilung (auch im globalen Sinne) zu schaffen? Die führenden Ökonomen sind sich
noch uneins, ob ein möglicher Rückgang auf der Nachfrageseite zu wirtschaftlicher Stagnation und sinkender Lebensqualität führt oder ob neue Nachfragetrends induziert werden
können. Relativ eindeutig ist der Befund in Bezug auf die Beschäftigung. Wie die Geschichte
zeigt, gehen Innovationen auch immer mit „schöpferischen Zerstörungen“ (Josef Schumpeter)
einher. Diese zeigen sich besonders in dem Bereich der Beschäftigung. Schon jetzt lässt sich
vorhersagen, dass Digitalisierung und Automatisierung in bestimmten Berufsgruppen und
Branchen Beschäftigte freisetzen werden. Andererseits werden durch neue Güter und Dienst3
Vgl. Schwab, Klaus (2016), S. 28ff.
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leistungen auch neue Berufe und Branchen entstehen. Entscheidend wird dabei die Frage sein,
wie dieser Substitutionsprozess sozial abgefedert und begleitet werden kann. Darüber hinaus
wird sich das Wesen der Arbeit grundlegend verändern. Die lange, tragfähige Bindung
zwischen Arbeitskraft und Unternehmen wird zunehmend brüchig – mit weitreichenden
Folgen für den Arbeitsmarkt und die soziale Absicherung. Aktuell sind die Tendenzen eines
flexibilisierten Arbeitsverhältnisses deutlich erkennbar. Um den Anforderungen einer „OnDemand-Wirtschaft“ zu genügen, zerfällt der Arbeitsmarkt schon heute in mindestens zwei
Segmente: Zum einen den Niedriglohnsektor mit gering qualifizierten Arbeitskräften oder
selbständigen Dienstleistern mit geringer sozialer Absicherung, zum anderen den
Hochlohnsektor von hochqualifizierten Fachkräften mit entsprechenden Privilegien und
Einkommenssicherheiten.
Es lassen sich noch viele weitere Auswirkungen der Vierten Industriellen Revolution
benennen. Schon jetzt ist aber deutlich geworden, dass die Soziale Marktwirtschaft in ihren
Grundfesten berührt ist. Der Prozess wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Innovation ist
kein determinierter, der ausschließlich der Logik technologischer Entwicklung unterliegt. Er
ist von Menschen initiiert und kann von Menschen gestaltet werden. Das ist der eigentliche
Sinn des Begriffs „Soziale Marktwirtschaft 4.0“.
Die Sozialwirtschaft ist dabei in doppelter Weise gefordert: als Teil des Wohlfahrtssystems
und als Wirtschaftsbranche. Als Teil des Wohlfahrtssystems ist sie von der Überprüfung und
Neujustierung des Sozialstaats betroffen. Dies betrifft u.a. direkt das Verhältnis von Kostenträgern zu Leistungserbringern und damit die Finanzierung, den Umfang und die Qualität der
Leistungserbringung. Die Sozialwirtschaft ist aber auch als Wirtschaftsbranche und das heißt
als Wirtschaftsunternehmen betroffen. Die Digitalisierung und Vernetzung, die Individualisierung der Dienstleistungen, die Verknüpfungen zwischen Mensch und Robotik, beispielsweise in der Pflege, fordern neue strategische und operative Weichenstellungen durch das
Management der Sozialwirtschaft. Dafür will die ConSozial sensibilisieren.
Die ConSozial 2016 greift diese hier nur kurz angesprochenen Themen (und noch weitere) in
ihrem Kongress auf und differenziert sie auf verschiedenen Ebenen. Wir haben die folgenden
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Beiträge – zunächst den Plenumsvortrag und dann verschiedene Fachvorträge – ausgewählt,
um in gebotener Kürze einen Einblick in die aktuelle Debatte zu geben. Stellvertretend sollen
die Beiträge Aspekte einer aktuellen Gesellschaftsanalyse, das Spektrum der in der Debatte
vertretenen Positionen und mögliche Lösungsperspektiven aufzeigen.
Literatur:
König J., Oerthel C. & Puch H.-J. (2014): Mission Sozialwirtschaft - produktiv und menschlich. Dokumentation der ConSozial 2014.
Schumpeter, Joseph, A. (1993): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Stuttgart. UTB.
(Erstausgabe 1942).
Schwab, Klaus (2016): Die Vierte Industrielle Revolution. München. Pantheon.
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Bildung 4.0 – Der lange Weg zur Chancengleichheit
Der Plenumsvortrag von Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, der als Sozialisationsforscher und
Mitautor der Shell Jugendstudien bundesweite und internationale Aufmerksamkeit genießt,
griff das Motto der ConSozial auf und konkretisierte es für den Bildungsbereich. Die Digitalisierung aller Gesellschaftsbereiche, die auch als „vierte industrielle Revolution“ bezeichnet
wird, hat gravierende Auswirkungen auf die heranwachsende Generation. In seinem Vortrag
arbeitete er deshalb zunächst die zentralen sozialisationstheoretischen Bedingungen heraus,
um darauf aufbauend die pädagogischen Herausforderungen im digitalen Zeitalter zu
entfalten.
Die Sozialisationsforschung hat gezeigt, dass Kinder und Jugendliche in entscheidenden
Phasen der Persönlichkeitsentwicklung durch die jeweils vorherrschenden sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und technischen Bedingungen geprägt werden. Dies gilt
für die individuelle Entwicklung aber auch für die Formung der „Sozialcharaktere“ einer
ganzen Generation von jungen Menschen. Darauf weist der Begriff der „Generation“ hin. Die
Sozialwissenschaften haben nach dem Zweiten Weltkrieg fünf aufeinander folgende
Generationen identifiziert:
− Die skeptische Nachkriegsgeneration (die 1925 bis 1940 Geborenen)
− Die 68-er Generation (die 1940 bis 1955 Geborenen)
− Die Babyboomer (die 1955 bis 1970 Geborenen)
− Die Generation X (die 1970 bis 1985 Geborenen)
− Die Generation Y (die 1985 bis 2000 Geborenen)
Die nach dem Jahr 2000 Geborenen (manchmal als Generation „Z“ bezeichnet), deren
Konturen sich erst schemenhaft abzeichnen, stehen vor einer Reihe komplexer Entwicklungsaufgaben. Prof. Hurrelmann sieht diese in folgenden Bereichen:
− Binden: Hier steht im Fokus der Aufbau eines Selbstbildes von Körper und Psyche,
um eine eigene Identität zu erlangen. Eine enge Anbindung an die Eltern, die bereits
bei den vorangegangenen Generationen erkennbar war, besteht hier fort oder verstärkt
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sich sogar noch. Allerdings besteht dabei die Gefahr, dass es den Eltern schwerfällt,
loszulassen.
− Qualifizieren: Der enorme Leistungsdruck vorangegangener Generationen scheint hier
schwächer zu werden. Die panische Jagd nach 1a-Bildungszertifikaten wird etwas
abflauen. Im Bereich der Digitalisierung sind bereits erhebliche Unterschiede erkennbar. Gegenüber der Elterngeneration verfügt diese Generation („digitale Eingeborene“) über einen Vorsprung. Welche Folgen dies für die Verarbeitung der inneren
und äußeren Realität, z.B. für die Wahrung von Geduld oder den Aufschub von
Wünschen hat, kann noch nicht voll abgeschätzt werden.
− Konsumieren: Das „natürliche“ Hineinwachsen in die Digitalisierung sichert der
Generation einen souveränen Umgang mit dem technischen Fortschritt. Diejenigen,
die sich bewusst damit auseinandersetzen, werden kritisch und souverän mit den
Gefahren umgehen und die Vorteile nutzen. Darin steckt aber auch ein Dilemma: Der
Kompetenz im Umgang mit den Medien steht ein Mangel an realer Lebenserfahrung
gegenüber.
− Partizipieren: Digitalisierung ist global und weltumspannend angelegt. Durch die
Möglichkeit, sich mit der ganzen Welt zu vernetzen, finden politische Spannungen
und Gewalthandlungen Eingang in das alltägliche Bewusstsein. Ängste und Zukunftsunsicherheiten werden deshalb zunehmen. Dennoch zeigt diese Generation eine
höhere Bereitschaft für ein soziales und politisches Engagement.
Aus den Jugendstudien ist bekannt, dass etwa 80 % der Kinder und Jugendlichen mit den
Herausforderungen sehr gut bis befriedigend klarkommen. Bei 20 % sind größere Schwierigkeiten zu erwarten und – was erschwerend dazu kommt – der Abstand wird noch zunehmen,
wenn nicht gegengesteuert wird. Insbesondere Familien, die im Bereich Bildung, Einkommen
und sozialer Integration in prekären Lebenssituationen leben, sind von den gesellschaftlichen
und wirtschaften Umbrüchen schnell überfordert. Deshalb ist erforderlich, diese Familien mit
ihrer Verantwortung für die Entwicklung der Kinder nicht allein zu lassen. Durch mehr
Unterstützung können die vorhandenen Potenziale für die Gesellschaft so auch besser genutzt
werden.
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In seinem abschließenden Teil des Vortrags ging Prof. Dr. Klaus Hurrelmann auf die pädagogischen Antworten im digitalen Zeitalter näher ein.
In der Verbesserung der Bildungspartnerschaft von Elternhaus, Kitas und Grundschulen sieht
er ein grundlegendes Anliegen. Eltern sollten besser in das Gesamtkonzept der Bildung
einbezogen werden. Bei manchen Eltern müssen dafür aber erst die Voraussetzungen
geschaffen werden. Angebote zur Förderung der Erziehungskompetenz gibt es viele, die
Hemmschwellen sind aber gerade für Familien mit einem geringen Bildungsgrad hoch.
Diesem „Präventionsdilemma“ kann dadurch begegnet werden, dass eine „Komm-Struktur“,
die Eltern aus den sozialen Mittel- und Oberschichten privilegiert, durch eine „ZugehStruktur“, die den Zugang für bildungsferne Eltern ermöglicht, ergänzt wird. Hier sind
besonders Kinderkrippen, Kitas und die Grundschule gefordert, um die Erziehungs- und
Bildungspartnerschaft zwischen Elternhaus und Bildungseinrichtung zu intensivieren.
Um die angesprochene Kluft zwischen dem Informationsstand der Kinder im digitalen
Zeitalter und der Handlungskompetenz zu verkleinern, damit deren persönliche Stabilität sich
entwickeln und wachsen kann, sollten Kinder darin unterstützt werden, möglichst viele reale
und authentische Erfahrungen zu machen. Der Komplexität der Alltagswelt der Kinder kann
nicht durch Überbehütung und Einschränkung der Erfahrungswelt des Kindes begegnet
werden. Wenn jeder Schritt des Kindes von den Eltern im Voraus geplant und begleitet wird,
können die Kinder nicht lernen, selbst Verantwortung zu übernehmen und Selbstkontrolle
aufzubauen.
Im Grundsatz ist die Bildungspolitik aufgefordert, ihre Familienfixierung zu überprüfen.
Staatliche und öffentliche Einrichtungen sollen nach dem bisherigen Verständnis erst dann in
den Bildungsprozess eingreifen, wenn es zu Versäumnissen und Schwierigkeiten im Elternhaus kommt. Diese Ausgangslage trägt mit dazu bei, dass die Bildungsunterschiede in
Deutschland, wie in kaum einem anderen europäischen Land, auf die soziale Herkunft
zurückzuführen sind.
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Drei strukturelle Maßnahmen könnten dazu beitragen, mehr Bildungsgerechtigkeit in einer
komplexen und digitalen Welt zu erreichen:
− Integration von einem möglichst hohen Anteil von Kindern in vorschulische Bildungseinrichtungen.
− Der tägliche Aufenthalt der Kinder sollte möglichst lange in diesen Einrichtungen sein
(Rhythmisierte Ganztagsschule sowie Vernetzung von Schulpädagogik mit der Sozialpädagogik bzw. Sozialen Arbeit).
− Die Aufteilung der Kinder in verschiedene Schultypen sollte möglichst spät nach
ihrem bis dahin erreichten Leistungsstand erfolgen.
Literatur
Hurrelmann, Klaus (2016): Kita-Bildung 4.0. Der lange Weg zur Chancengleichheit. Skript
zum Plenumsvortrag.
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Wenn die Welle rollt – Herausforderungen für das Management am
Beispiel der Migration
Die Idee zu diesem Beitrag im Rahmen der ConSozial kam von Karl Schulz, Mitglied des
Vorstands der Rummelsberger Diakonie in Zusammenarbeit mit Dr. Bernd Schuberth,
Geschäftsführer der AWO Schleswig-Holstein. Sie entstand im Januar 2016, als die
Flüchtlingszahlen noch fast ihren Höchststand hatten. Täglich kamen Tausende neue
Flüchtlinge nach Deutschland. Ziel war der Erfahrungsaustausch und die Diskussion des
Spannungsbogens zwischen einer norddeutschen Arbeiterwohlfahrt und einer Bayrischen
Diakonie als dem geografischen Rahmen dafür.
Dr. Schuberth veranschaulicht die Welle der Flüchtlinge für Schleswig-Holstein durch die
folgende Grafik:
Entwicklung in Schleswig-Holstein
Kiel, Juli 2012
(Quelle: Wöchentlicher Bericht des Ministeriums für Inneres und Bundesangelegenheiten Schleswig-Holstein über die aktuellen
Flüchtlingszahlen, Stand: 04.10.2016)
Die AWO Schleswig-Holstein ist bereits seit vielen Jahren in der Flüchtlingsarbeit aktiv und
genießt regional auch einen sehr guten Ruf auf Grund der hohen Kompetenz und des
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nachhaltigen Engagements. Der Unternehmensbereich ‚AWO Interkulturell‘ der AWO
Schleswig-Holstein ist aktiv mit Angeboten der Beratung, der Sprach- und Kulturvermittlung,
der Integrationsbegleitung und der Koordination ehrenamtlichen Engagements.
Die AWO Schleswig-Holstein betreibt keine Infrastruktur für Erst- oder Folgeunterbringung
und hat auch angesichts der anwachsenden Flüchtlingszahlen frühzeitig entschieden, bei ihren
Kernkompetenzen, d.h. der beratenden Begleitung, zu bleiben. Trotzdem ist der Unternehmensbereich ‚AWO Interkulturell‘ von 2014 bis 2016 auf 200 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter und damit auf die dreifache Größe angewachsen. Daneben konnte eine Reihe von
unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe
aufgenommen werden.
Dieser Welle der Flüchtlinge folgte eine zweite Welle des ehrenamtlichen Engagements und
eine dritte Welle der Mittelbereitstellung durch die öffentlichen Kostenträger. Die vorhandene
Infrastruktur und hauptamtlichen Mitarbeiter für die Flüchtlingsarbeit gingen in der ersten
Welle unter. Ohne das vielerorts beispiellose Engagement der ehrenamtlichen Helfer wäre die
Situation mit Sicherheit eskaliert. Aber wir haben auch feststellen müssen, wie das Ehrenamt
an seine Leistungsgrenzen kam und wie die Helfenden selbst Hilfe benötigten.
Anfangs versuchten einige Kommunen noch „Billig-Lösungen“ zu schaffen oder die
bereitgestellten Mittel restriktiv zu verwalten. Dies änderte sich aber unter dem zunehmenden
Handlungsdruck durch die weiter ansteigenden Zahlen. Mit der Flüchtlingswelle einher ging
auch eine gewisse Goldgräberstimmung auf verschiedenen Ebenen. Die Preise für Wohncontainer, Feldbetten oder auch einfache Hotels explodierten. Dieser Entwicklung haben wir
uns bewusst nicht angeschlossen.
Die Flüchtlingswelle führte letztlich dazu, dass hauptamtliche Strukturen aus dem Boden
gestampft wurden, die dann im weiteren Betrieb aber begleitet, professionalisiert und auch
geschützt werden mussten. Das hohe Maß an persönlichem Einsatz und die notwendigen
Improvisationen würden auf Dauer die handelnden Personen schnell verschleißen.
Wir haben erlebt, dass öffentliche Genehmigungsverfahren verschlankt wurden und dass
Zugangsvoraussetzungen für Angebote gesenkt wurden. Daneben wurden Auflagen für den
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Einsatz finanzieller Mittel reduziert. All dies führte zu einer erheblich schnelleren und
flexibleren Entwicklung von Angeboten.
Konzepte und Programme wurden aus verschiedenen Richtungen auf den Weg gebracht,
wobei gelegentlich eine bessere Koordination und Abstimmung der Angebote sinnvoller
gewesen wäre. Gerade auch kreisgrenzen-überschreitende Programme hätten dem Aufbau
redundanter Strukturen entgegenwirken können. Zum Teil überschneiden sich die Angebote
und kannibalisieren sich gegenseitig – bis heute. Dies wird insbesondere unter den aktuellen
Bedingungen der rückläufigen Flüchtlingszahlen deutlich und führt zum Teil um ein Ringen
der Anbieter um die Kunden.
Die Flüchtlingswelle hat zudem einen Integrationsschub für Zuwanderer ausgelöst, die schon
länger bei uns leben. Ihre Erfahrungen waren eine gesuchte Qualifikation.
Mittlerweile stellen wir fest, dass die Auflagen und Vorschriften wieder anziehen und der
Formalisierungsgrad wie auch der damit verbundene bürokratische Aufwand wieder
zunehmen. Dies führt teilweise auch zu Gefahren für die funktionierenden Strukturen und
erfordert Fingerspitzengefühl, um nicht die weiterhin erforderlichen Angebotsstrukturen zu
beschädigen.
Die Flüchtlingszahlen sind zwar erheblich gesunken, aber die Integration der Menschen ist
bei Weitem noch nicht abgeschlossen. In der akuten Welle drehte sich alles zunächst um die
Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge. In der nun anschließenden Phase geht es um
Wohnraum, Spracherwerb, Bildungs- und Arbeitsmarktzugang.
Ein Zwischenfazit: Die Flüchtlingswelle war für die Wohlfahrtspflege eine der größten
Herausforderungen der Neuzeit. Die öffentliche Hand war mehr denn je auf Partner
angewiesen und hat gerne auf die bestehenden Beziehungen zur Wohlfahrtspflege zurückgegriffen. Gleichzeitig haben auch die Kostenträger lösungsorientiert gehandelt. Auch die
Wohlfahrtspflege hat ungeahnte Potenziale mobilisiert. Gerade die großen, traditionellen
Anbieter stehen ja gelegentlich in dem Ruf der nur schwachen Innovationsfähigkeit. Hier
waren viele von uns überrascht, zu welchen Leistungen wir fähig sind. Der Geschäftsbetrieb
wird wieder in geordnete Bahnen zurückgeführt.
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In Bayern – aus der Sicht von Karl Schulz – stellt sich die Lage so dar: Der erste Zustrom
von Flüchtlingen hatte zunächst nur partiell Auswirkungen auf unsere strategischen
Planungen. Die mittel- und langfristigen Planungen, die wir für die bestmögliche Unterstützung von Kindern und deren Familien in Angriff genommen haben, sind in Arbeit oder
bereits abgeschlossen. Hierzu zählen insbesondere die fachlichen und damit einhergehenden
baulichen Maßnahmen an unseren bisherigen traditionellen Standorten in Nordbayern. Der
dann rasch folgende und zahlenmäßig hohe Zustrom von Menschen auf der Flucht hat zu
einer signifikanten Anpassung unserer Strategie in Form von Aufbau und Ausbau neuer und
der bestehenden Regionen und damit zu einer deutlichen Erweiterung unserer Arbeit geführt.
Zuerst war uns Hilfe für Kinder und Jugendliche, die alleine ihre Flucht überstehen mussten,
wichtig. Hierbei haben wir Jugendämter auch an Orten, an denen wir bisher nicht tätig waren,
unterstützt.
Im zweiten Jahr dieser raschen Lösungen wurde deutlich, dass wir diese neuen Aufgaben
auch strategisch bewerten wollen. Allein die Zahl von 15.000 unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingen, die im Jahr 2015 nach Bayern kamen, macht deutlich, dass wir schnell reagieren
mussten und sich die Platzzahlen unserer stationären Jugendhilfe verdoppelt haben (aktuell
ca. 1.300).
Neben dem einvernehmlichen und partnerschaftlichen Aufbau mit den bayerischen Jugendämtern und den staatlichen Fachbehörden lag unser größtes Augenmerk auf der Gewinnung
von qualifiziertem Personal. Hier konnten wir durch unsere bisherige Arbeit rasch neue
Mitarbeitende gewinnen ohne die bisherige Arbeit zu schwächen. Aus diesen Erfahrungen
heraus werden wir auch unsere Strategie hinsichtlich Personalgewinnung und vor allem
Personalpflege weiterentwickeln. Schnelles Wachstum geht für uns auch immer mit qualitativer Entwicklung einher – ehrlicherweise und sicher verstehbar etwas zeitversetzt.
Die aktuellen Rahmenbedingungen (bundesweite Verteilung und Zurückhalten der letztjährigen Flüchtlingsströme) zwingt uns nun kritisch auf das bisherige Wachstum zu schauen
und die Notwendigkeit der Angebote zu prüfen. Die Kinder- und Jugendhilfe hat in einer
historisch einmaligen Geschwindigkeit ihre gesetzlichen Aufgaben angegangen und – so
meinen wir – das Beste getan. Die Herausforderung liegt nun in den benachbarten Leistungskatalogen der Sozialgesetzbücher. Integration durch schulische Bildung, Möglichkeiten von
Arbeit und Ausbildung liegen uns nun am Herzen, damit für diese jungen Menschen und
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Familien Perspektiven entstehen können. In vielen Regionen, in denen wir tätig sind, ist auch
die Wohnraumsituation angespannt.
Bund und Länder sind in vielen dieser Fragen aktiv, Fördertöpfe sind aufgelegt und
Programme werden entwickelt. Auf der operativen Ebene setzen wir zusätzlich auf
schnellstmögliche Vernetzung und pragmatische Lösungen. Dies vor allem, weil aktuell im
Übergang zur Volljährigkeit sehr kritisch auf die Gewährung von weiteren Unterstützungsleistungen geblickt wird. Wir sehen uns auch hier unserem Grundimpuls verpflichtet, jeden
jungen Menschen individuell zu sehen, zu begleiten, zu fördern und somit Teilhabe und
Integration in unsere Gesellschaft gelingen zu lassen.
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Sozial + digital = phänomenal? – Digitalisierung aktiv gestalten
Soziale Arbeit und Pflege, so die Eingangsthese von Helmut Kreidenweis, Professor für
Sozialinformatik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Mitglied des Vorstandes von FINSOZ e.V. und Inhaber von KI Consult, IT-Beratung für soziale Organisationen, sind rein menschliche Tätigkeiten und werden es immer bleiben.
Noch mehr ewige Gewissheiten gefällig? Autos werden von Automobilkonzernen gebaut,
Armbanduhren von der Schweizer Uhrenindustrie. Und plötzlich bekommt die stolze
Ingenieurskunst bei Audi und BWM Angst vor Suchmaschinen-Programmierern und selbstbewusste Traditionsschmieden wie Rolex & Co zittern vor Telefonbauern. Es gilt also,
vorsichtiger zu werden, was die „ewigen Gewissheiten“ betrifft. Die Digitalisierung entfaltet
mittlerweile eine Dynamik, die (nicht nur) in der Sozialbranche oft unterschätzt wird. Dieser
Beitrag zeigt grundlegende Merkmale dieses Phänomens auf, wagt den einen oder anderen
Blick in die Glaskugel und stellt strategische Ansätze vor, um den digitalen Wandel aktiv zu
gestalten.
Was ist Digitalisierung und was bedeutet sie für die Gesellschaft?
Mit Digitalisierung wird ein durch technische Innovationen getriebener Wandel aller
gesellschaftlicher Bereiche bezeichnet: Von der Arbeit über Freizeit und Konsum bis zu den
sozialen Beziehungen lässt sie kaum eine Nische des Lebens aus. Dabei hat sich das Tempo,
in dem diese Innovationen von der Gesellschaft adaptiert werden, enorm gesteigert. Doch
damit nicht genug: viele dieser Technologien sind schon heute oder in naher Zukunft dazu in
der Lage, menschliche Denk- und Kommunikationsleistungen sowie komplexe Handlungen
teilweise oder ganz zu übernehmen. Solche Systeme sammeln und bewerten eigenständig
Informationen, treffen Entscheidungen und setzen diese auch um. Dabei optimieren sie ihre
Handlungsstrategien autonom, so dass auch ihre Entwickler nicht mehr genau vorhersagen
können, wie sie agieren werden. Vom Input-Output-Prinzip der klassischen IT, wie wir sie
seit über 30 Jahren kennen, unterscheiden sie sich fundamental: herkömmliche Rechner und
Programme verarbeiten lediglich die von Menschen eingegebenen Daten nach exakt
programmierten Regeln und geben sie am Bildschirm oder Drucker wieder aus.
21
Mit diesen neuen Dimensionen der Technisierung geht einher, dass tradierte Denk- und
Handlungsmuster binnen kurzer Zeit ihre Gültigkeit verlieren, sich neue menschliche
Verhaltensweisen entwickeln sowie radikal neuartige, „disruptive“ Geschäftsmodelle
entstehen. Beispiele dafür sind in der Social Media Welt etwa Facebook oder Twitter, im
Beherbergungsgewerbe Airbnb oder im Beförderungsbereich Uber.
Was bedeutet Digitalisierung für soziale Dienste?
Unter Digitalisierung wird in der Branche oft noch die Nutzung von Office- oder
Fachsoftware an Stelle von Papier oder Telefon verstanden. Doch das ist klassische IT nach
dem oben benannten Input-Output-Prinzip. Bei weiterreichenden Technologien gehen viele
Verantwortliche im Sozialen davon aus, dass es sich um Phänomene im Industrie- oder
Unterhaltungs-Sektor handelt, von denen personenbezogene Dienstleistungen bestenfalls am
Rande betroffen sind. Folgende Gegenüberstellung von Merkmalen klassischer IT und neuer
digitaler Technologien soll den Unterschied aus Perspektive sozialer Organisationen
verdeutlichen (vgl. Schöttler 2016): Klassische IT
− unterstützt bereits existierende Hilfeprozesse punktuell, etwa bei der Koordination von
Terminen, der Dokumentation von Beratungsgesprächen oder der Abrechnung von
Leistungen
− bewegt sich ausschließlich innerhalb vorhandener Geschäftsmodelle, passt sich also
den vorhandenen Hilfestrukturen möglichst gut an
− arbeitet überwiegend mit den herkömmlichen Datentypen Text und Zahlen, die schon
vor dem Einsatz von IT im Einsatz waren
− kommt in der Regel nicht in direkten Kontakt mit Klienten, wird also von Fach-,
Verwaltungs- und Leitungskräften im „Backoffice“ genutzt.
Die neuen Technologien, die unter unterschiedlichen Schlagworten wie Robotik, Embedded
Systems, Arbeit 4.0 oder Internet der Dinge verhandelt werden,
− verändern vorhandene oder gestalten neue Hilfeprozesse, indem etwa bislang
menschliche Tätigkeiten wie haushaltsnahe Dienstleistungen, Diagnostik oder sogar
22
manche Formen der Beratung ganz oder teilweise von Maschinen übernommen
werden
− ermöglichen damit auch die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, etwa im betreuten
Wohnen, der Beratung oder Arbeitsassistenz
− arbeiten vielfach mit neuen Datentypen wie Sensor-, Audio- oder Bildinformation, die
sie aus ihrer menschlichen Umgebung gewinnen, etwa in Gestalt von Robotern,
Sturzdetektoren oder Sensoren in Kleidung, Brille, Uhr usw.
− werden primär im direkten Klientenkontakt eingesetzt, etwa in Gestalt von
technischen Assistenzsystemen, Pflegerobotern oder natürlichsprachigen Dialogsystemen.
Dabei können schon heute Merkmale dieser Technologien identifiziert werden, die ihnen eine
hohe Attraktivität verleihen: Aufgrund ihrer einfachen Bedienbarkeit über Touchscreens,
Gesten- oder Sprachsteuerung sind sie gleichermaßen für Menschen mit und ohne Einschränkungen geeignet. Sie sind damit auch konsequent vom Makel der Hilfsbedürftigkeit
befreit. Es gilt im Gegenteil als schick, sie im Alltag zu nutzen. In der Folge sind auch
Geschäftsmodelle, die auf Basis dieser Technologien entwickelt werden, gleichermaßen für
Menschen mit und ohne Hilfebedarf (im Sinne der Sozialgesetze) geeignet und werden
zunehmend in den Wettbewerb zu klassisch sozialwirtschaftlichen Geschäftsmodellen treten.
Erste Beispiele dafür sind Essensversorgung und Reinigung. Die Globalisierung und
Industrialisierung solcher Services machen es wahrscheinlich möglich, sie deutlich attraktiver
anzubieten, als dies klassische Sozialträger vermögen. Damit kann auch der Weg für eine
Parallelwelt privat finanzierter Sozialdienste jenseits der staatlich reglementierten
Versorgungsstrukturen weiter geebnet werden.
In welchem Zeitraum und Umfang sich solche Angebote durchsetzen werden, ist aktuell
schwer zu prognostizieren. Eine andere Entwicklung ist dagegen heute schon massiv zu
beobachten: Die „Verplattformung“ der Kunden-Lieferanten-Beziehungen (vgl. Eisenreich
2016) in nahezu allen Geschäftsfeldern. So wie es heute für viele selbstverständlich ist, vor
der Buchung einer Flugreise oder dem Kauf eines Fernsehers über entsprechende Portale das
günstigste Angebot zu suchen, wird es dies mit großer Wahrscheinlichkeit auch bei sozialen
Dienstleistungen so werden – Sternchen-Bewertung inklusive. Auch hier gilt das Diktum der
23
Globalisierung: Das Unternehmen care.com hat nach eigenen Angaben bereits knapp 21
Millionen Mitglieder in 18 Ländern und sein deutscher Ableger betreut.de führt mit 4 Klicks
zu einer Betreuungsperson (vgl. betreut.de, 2016). Auffällig auch hier: Senioren- und Kinderbetreuung steht mit bunten Bildern gleich neben Gartenpflege und Haustierbetreuung. Eben
alles, was der Mensch so braucht – ohne den Geruch von Wohlfahrt oder Hinfälligkeit, ohne
Rücksicht auf eingeschliffene Zuständigkeiten und gesetzliche Leistungsansprüche.
Was lernen wir daraus? Die Sozialwirtschaft kann sich nicht darauf verlassen, dass die
Grundstrukturen der Wohlfahrtslandschaft so bleiben werden, wie sie heute sind. Andere
Branchen – siehe Autoindustrie – lehren uns, dass komplexe Veränderungsprozesse in
etablierten Organisationen viel Zeit kosten. Wer also rechtzeitig fertig werden will, muss
frühzeitig beginnen. Diese Weitsicht ist ureigenste Aufgabe von Führung. Die Entwicklung
digitaler Strategien gehört also zweifelsohne in die (möglichst digitale) To-Do-Liste von
Geschäftsführung oder Vorstand.
Welche Handlungsstrategien sind sinnvoll?
„Man darf natürlich nicht das Chaos automatisieren. Einfach ein IT-Tool auf die bestehende
Organisation aufsetzen – das funktioniert nicht und wird teuer.“ Dieser Erkenntnis von Dr.
Markus Horneber (2015), Vorstand des diakonischen Gesundheits- und Sozialdienstleisters
agaplesion ist vorbehaltlos zuzustimmen. Doch wie in allen strategischen Prozessen, stellt
sich auch hier die Frage, ob es sinnvoller ist, von unten (Bottom Up) oder von oben her (Top
Down) zu beginnen. Sicherlich ist es richtig, dieses Thema in der (hoffentlich vorhandenen)
Unternehmensstrategie zu verankern. Hier muss die Führungsebene die Frage beantworten,
wohin die Reise gehen soll und auf welche Weise man vorzugehen gedenkt. Die Gefahr,
dabei Papiertiger zu züchten, ist freilich groß. Empfehlenswert erscheint deshalb eine Top
Down getriebene Bottom Up Strategie, also die Verbindung möglichst klarer Visionen und
Ziele mit einem Start in kleinen Schritten, um Erfahrungen zu sammeln und Angebote,
Mitarbeiter, Klienten und Angehörige an neue Formen sozialer Dienstleistungen heranzuführen. Die Warnung von Horneber sollte jedoch immer im Ohr behalten werden. Unverzichtbare Grundlage für einen Einstieg in die neue Welt sind zum einen ein hoher Reifegrad der
IT-Architektur und des IT-Managements in der Organisation, zum anderen eine prozessbewusste Organisation.
24
Indikatoren für eine hohe IT-Reife sind etwa eine strategisch denkende IT-Leitung, eine
bereinigte und moderne Software-Landschaft, kundenorientierte IT-Serviceprozesse und eine
performante und hochverfügbare Systemarchitektur. Die Mitarbeiter sollten IT nicht als
Hemmschuh, sondern als nutzbringend für die eigene Arbeit erleben. Neue Anforderungen
etwa im Bereich der mobilen IT-Nutzung müssen zügig und anwenderorientiert bereitgestellt
werden. Eine hohe Prozessreife ist daran zu erkennen, dass fachliche und administrative
Prozesse organisationsweit einheitlich definiert sind und auch so gelebt werden. Dabei sind
sie medienbruchfrei in Fach- oder betriebswirtschaftlicher Software abgebildet und werden im
Idealfall mit Hilfe von ebenfalls aus den Systemen gewonnenen Prozesskennzahlen laufend
verbessert. Mit der Standardisierung von Prozessen ist hier keineswegs die mechanische
Verrichtung Sozialer Arbeit gemeint. Die Frage ist vielmehr, ob etwa Abwesenheiten noch
per Telefon weitergegeben, Arbeitszeiten auf Papier und Excel erfasst oder eingehende
Rechnungen mehrfach kopiert und abgelegt werden – oder ob solche Daten direkt am
Entstehungsort digital erfasst und in einen Workflow eingespeist werden können. Um diese
Prozessreife zu erreichen, ist häufig ein neues Verständnis von IT- und Qualitätsmanagement
erforderlich: die IT muss die Prozesse verstehen und das QM muss sich aktiv in die Auswahl,
Einführung und Optimierung der Software-Systeme einbringen. In vielen Sozialorganisationen ist das im Jahr 2016 noch alles andere als selbstverständlich.
Als Einstieg in die Digitalisierung jenseits der Binnenorganisation bietet es sich an, gezielt
digitale Elemente in vorhandene Prozesse mit Klientenbezug zu integrieren. Ansatzpunkte
sind etwa eine Online-Terminvereinbarung in der Beratungsstelle oder eine smartphonegestützte, partizipative Dokumentation für jugendliche Klienten. Hier sollte jedoch
konsequent vom Kunden her gedacht werden, also der Bedarf mit allen Beteiligten – auch
Angehörigen oder Klienten – vorab genau definiert werden. Und es nutzt nichts – siehe
Horneber – wenn die Prozesskette schon hinter der Website wieder abbricht, wenn also die
Verwaltungs- oder gar Fachkraft die Termine anschließend manuell in den Wandkalender, in
Outlook und die Fachsoftware einpflegen muss. Es gilt vielmehr, die Prozesse zu Ende zu
denken und bei Bedarf auch die notwendigen Anforderungen an die Software-Lieferanten zu
formulieren oder das Programm-Portfolio zu modernisieren.
Werden schließlich neue Hilfeformen oder Angebote geplant, sollten die digitalen Potenziale
von Anfang an mitgedacht werden. Auch hierfür erweist sich die Prozessmodellierung als
25
hilfreiches Werkzeug. Aus ihr lassen sich im Anschluss präzise Anforderungen an neu zu
beschaffende IT-Systeme ableiten.
Wichtig ist es dabei natürlich, dass die beteiligten Fach- und Führungskräfte eine gewisse
digitale Phantasie mitbringen oder sich während des Prozesses aneignen. Bei der Auswahl
neuer Mitarbeiter könnte daher auch die Affinität zur Informationstechnologie eine stärkere
Rolle als bisher spielen. Input von außen, etwa durch studentische Projekte, Workshops mit
Ehrenamtlichen oder professionelle Beratung können hier ebenso von Nutzen sein.
Fazit
Die Digitalisierung wird, wie eingangs gezeigt, keine Ecke der sozialwirtschaftlichen und
sozial-pflegerischen Aktivitäten auslassen. Klar ist aber auch: angesichts vieler anderer
Baustellen im Sozialsektor – neue Gesetze, neue Organisationsformen, neue Klientengruppen
usw. – ist es weder sinnvoll, noch machbar, überall gleichzeitig zu beginnen.
Vielmehr gilt es zunächst, mit vertretbarem Aufwand und begrenzten Zielhorizonten erste
Leuchttürme zu bauen, an denen der Nutzen der Digitalisierung für alle Beteiligten praktisch
erfahrbar wird. Die möglichen Handlungsfelder reichen dabei von der Klienten- und
Angehörigenkommunikation über die Personalakquise sowie Gewinnung und Koordination
von Ehrenamtlichen bis hin zum Spendenmarketing.
Literatur
betreut.de/unternehmen/ueber-uns, Abruf 24.10.2016
Eisenreich, Thomas (2016): Digitale Geschäftsmodelle: Konzepte entwickeln, Prozesse
planen. In: Sozialwirtschaft Nr. 1, S. 16-17
Horneber, Markus (2015): Nicht das Chaos automatisieren. In: Diakonie Unternehmen Nr. 2,
S. 11-12.
Schöttler, Roland (2016): unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, FINSOZ-Mitgliederversammlung, Nürnberg, 25.10.2016
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Wettbewerb in der Deutschen Kinder- und Jugendhilfe
Die Vorwürfe, in der Wohlfahrtspflege in Deutschland hätten sich „neokorporatistische
Strukturen“ herausgebildet und die öffentlichen und frei-gemeinnützigen Träger bildeten ein
„bilaterales Kartell“, das den Wettbewerb einschränke, war das zentrale Ergebnis des XII.
Hauptgutachtens der Monopolkommission 1998. Die Strukturen der Finanzierung in der
Wohlfahrtspflege änderten sich in der Folge grundlegend: Vom Selbstkostendeckungsprinzip
zur prospektiven Leistungsfinanzierung. Sechzehn Jahre später hat die Monopolkommission,
die als Beratungsgremium der Bundesregierung zwar nicht die Hüterin des Wettbewerbs ist,
sich aber als Mahnerin versteht, nachgelegt. Im Jahr 2014 wurde das XX. Hauptgutachten der
Monopolkommission vorgelegt. Der Generalsekretär und Leiter des wissenschaftlichen Stabs
der Monopolkommission, Dr. Klaus Holthoff-Frank, stellte unter der Überschrift
„Wettbewerb in der Deutschen Kinder- und Jugendhilfe“ die zentralen Ergebnisse des
Gutachtens in Bezug auf die Kinder- und Jugendhilfe vor.
Die Monopolkommission identifiziert in ihrem XX. Hauptgutachten zwar erhebliche
wettbewerbliche Fortschritte seit Erscheinen des XII. Hauptgutachtens 1998, dennoch bebzw. verhindern die Privilegien weniger großer etablierter Anbieter den Wettbewerb. Als
Folge daraus entstünden Überbürokratisierung, geringe Innovationen oder eine geringe
Kosteneffizienz in der Kinder- und Jugendhilfe. Aus der Sicht der Monopolkommission
kommt es in der Zukunft deshalb darauf an, die Freiheit auf Anbieterseite (keine Diskriminierung privatwirtschaftlicher Träger) und die Freiheit auf Nachfragerseite (Wahlfreiheit der
Nutzer) zu stärken.
Die Kinder- und Jugendhilfe (KJH) weist einige Besonderheiten bezüglich des Wettbewerbs
auf. Insbesondere ist hier das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis zu nennen. So sind die
Kostenträger der KJH vor allem die Kommunen, zu einem geringeren Anteil aber auch
Länder und der Bund. Ein Leistungsanspruch durch die Nutzer der Hilfe besteht gegenüber
einem öffentlichen Träger, der wiederum vorrangig einen freien Träger als Leistungserbringer
beauftragt. Die Frage des Wettbewerbs in der KJH hängt eng damit zusammen, inwieweit die
27
sozialen Dienstleistungen den Erfordernissen des Marktes entsprechen. Soziale Dienstleistungen sind Vertrauensgüter. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass ihre Qualität selbst
nach dem Kauf nur eingeschränkt festgestellt werden kann. Dazu kommt, dass Kinder und
Eltern in der Jugendhilfe häufig nicht in der Lage sind, die umfassende Wirkung der Leistung
einzuschätzen. So müssen sie darauf vertrauen, dass Qualität und zu erzielende Effekte durch
den Leistungsanbieter kompetent angeboten werden. Die Monopolkommission zieht daraus
die Schlussfolgerung, dass die Qualität der Leistung am besten durch regelmäßige flächendeckende Leistungsevaluationen geprüft werden sollen.
Die KJH wird durch die Monopolkommission aus einer volkswirtschaftlichen Perspektive
betrachtet. Dabei kommen u.a. Veränderungen bei den Gesamtausgaben aber auch Verschiebungen in der „Marktstellung“ der Leistungserbringer in das Blickfeld. So sind die Gesamtausgaben zwischen 2001 und 2014 von gut 19 Mrd. Euro auf knapp 37,8 Mrd. Euro angestiegen. Mit knapp 90 % entfallen die größten Ausgaben auf die Bereiche Kindertagesbetreuung
sowie auf die Eingliederungshilfe (zusammen 33,9 Mrd. Euro). Der Marktanteil der freigemeinnützigen Träger in der KJH ist seit 1990 deutlich auf eine Größenordnung zwischen
65 % und 70 % gestiegen, der Anteil der öffentlichen Träger auf 30 % zurückgegangen. Der
Marktanteil der privatwirtschaftlichen Träger liegt in der KJH zwischen 1 % und 2 %.
Die Monopolkommission weist insbesondere darauf hin, dass die frei-gemeinnützigen Träger
der Kinder- und Jugendhilfe auch weiterhin über etliche Privilegien verfügen, die zu
erheblichen Wettbewerbsverzerrungen zulasten privatwirtschaftlicher Träger führen. Dies
betrifft in besonderem Maße den Status der Gemeinnützigkeit. Zu den Privilegien gehören
u.a. steuerrechtliche Privilegien, die Bevorzugung bei den Fördermitteln für Kindertageseinrichtungen sowie das Mitwirkungsrecht in der Jugendhilfeplanung über den Jugendhilfeausschuss:
− Unmittelbare Steuerprivilegien ergeben sich aus der Befreiung der gemeinnützigen
Einrichtungen von der Körperschaftssteuer, sowie von der Gewerbe- und Grundsteuer.
Zwar werden rein gewerbliche Tätigkeiten gemeinnütziger Einrichtungen nicht
steuerlich begünstigt, unter bestimmten Voraussetzungen können Betreuungs-
28
einrichtungen der KJH aber von der Körperschafts- und Gewerbesteuer befreit
werden. Die Monopolkommission fordert, dass Betreuungsangebote in der KJH
unabhängig von der Art der Trägerschaft gefördert werden.
− Die Finanzierung der Kindertagesbetreuung ist durch Landesrecht geregelt. Hier zeigt
sich, dass in den einzelnen Bundesländern die privatwirtschaftlichen Träger von der
Förderung ausgeklammert sind. Diese Ländergesetzgebung diskriminiert nach
Auffassung der Monopolkommission privatwirtschaftliche Einrichtungen. Sie schlägt
deshalb vor, Fördermaßnahmen unabhängig von der Trägerschaft zu gewähren, um
Innovationen in den Einrichtungen zu forcieren und Nutzerinteressen zu stärken.
− Der Jugendhilfeausschuss setzt sich zu 60 % aus der Vertretungskörperschaft des
Trägers der öffentlichen Jugendhilfe und zu 40 % aus den anerkannten Trägern der
frei-gemeinnützigen Kinder- und Jugendhilfe zusammen. Privatwirtschaftliche Träger
haben keinen Anspruch auf Sitz und Stimme. Die Monopolkommission sieht hier
einen Interessenkonflikt und eine Minderung der Entscheidungsqualität und schlägt
deshalb vor, dass das Stimmrecht ausschließlich den politisch legitimierten
Mitgliedern der Vertretungskörperschaft vorbehalten sein soll. Andere Akteure im
Jugendhilfeausschuss sollten nur eine beratende Funktion erhalten.
Die Monopolkommission zieht am Ende ihres Berichts eine Bilanz in Bezug auf die
wettbewerbliche Orientierung in der Kinder- und Jugendhilfe. Positiv gesehen wird die
Leistungsfinanzierung durch Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsvereinbarungen. Kritisch wird
jedoch angemerkt, dass die Umsetzung der Entgeltreform nur schleppend vorankommt. Die
Monopolkommission ermuntert die Kommunen deshalb ausdrücklich, die Umsetzung der
Entgeltreform weiter voranzutreiben. Darüber hinaus lässt sich nach Auffassung der
Monopolkommission eine stärkere Wettbewerbsorientierung durch den Ausbau der subjektbezogenen Förderung erreichen. Ein besonderes Handlungsfeld bietet das Vergaberecht.
Wenn die Kommune Leistungen fremd vergibt, dann sollten ab einem bestimmten
Schwellenwert die Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge nach
dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) und der Vergabeverordnung (VO)
gelten. In der Neufassung der Vergabeordnung vom 12.04.2016 sind spezielle Vorschriften
29
im Hinblick auf die Vergabe von sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen
enthalten. Die Monopolkommission begrüßt die Neuregelung ausdrücklich.
Literatur
AGJ (2014): Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zum
XX. Hauptgutachten der Monopolkommission. Kapitel 1 „Wettbewerb in der Kinderund Jugendhilfe“.
Monopolkommission (2014): Kapitel I. Aktuelle Probleme der Wettbewerbspolitik.
Wettbewerb in der deutschen Kinder- und Jugendhilfe. S. 126-157.
Deutscher Bundestag (2015): Stellungnahme der Bundesregierung zum Zwanzigesten
Hauptgutachten der Monopolkommission 2012/2013. Drucksache 18/4721. S. 8f.
30
Social Media – Die digitalen Spielregeln in der Kommunikation von
Mensch zu Mensch
Die gute Nachricht zuerst: Wir haben die Digitalisierung selbst in der Hand. Der zweite Blick
aber zeigt: Wir sind in unserem Denken, Fühlen und Wollen schon mehr digitalisiert, als wir
es möglicherweise selbst wahrnehmen. Ibrahim Evsan, Unternehmer, Speaker, Autor und
Gastdozent nahm die Zuhörer und Zuhörerinnen mit in eine digitale Zeitreise und führte ihnen
vor Augen, wie stark wir alle bereits von der „digitalen Revolution“ erfasst sind.
Würde man die letzten 1.000 Jahre in 24 Stunden darstellen, so Ibrahim Evsan, ergibt sich
folgendes Bild in Bezug auf bahnbrechende Erfindungen:
− Vor ca.13,5 Stunden ermöglicht der Buchdruck eine rasche Informationsverbreitung.
− Vor ca. 3 Stunden entstehen neue Formen der Kommunikation durch Telefon und
Radio.
− Vor ca. 1 Stunde revolutionieren Computer und Handy die Informationsverarbeitung.
− Vor ca. 20 Minuten vernetzen SMS, Google und Breitband das Wissen.
− Vor ca. 1 Minute entgrenzt die Digitalisierung die Beziehung zwischen Mensch und
Technik beispielsweise durch Social VR (Social-Virtual-Reality), selbstfahrende
Autos und 3D-Drucker.
Die Botschaft ist eindeutig. Wir haben das Zeitalter der Digitalisierung erreicht. Diese
durchdringt alle unserer Lebensbereiche. Es entsteht das Internet der Dinge, das in einem nie
gekannten Ausmaß Produkte, Dienstleistungen und Orte (Dinge) durch vernetzte
Technologien mit den Menschen verbindet.
Die neuen Entwicklungen verdeutlichen, dass die Grenze zwischen einem „technischen
Medium“ und dem Individuum fließend geworden ist. Befindet sich das Radio noch in
Hörweite, der Fernseher noch in Sichtweite, kommen wir dem Computer beim Schreiben und
Lesen schon sehr nahe. Das Smartphone überspringt auch diese Grenze – es pflanzt sich quasi
in unsere Gedankenwelt. Es wird, oder es ist bereits, die Fernbedienung unseres Lebens!
31
Möglicherweise kann man die Entwicklung bedauern und kritisieren, fahrlässig wäre es
allerdings, die Digitalisierung und deren gesellschaftliche Konsequenzen zu leugnen.
Notwendig sind deshalb Strategien, die Antworten auf die neu entstandenen Fragen und
Herausforderungen geben, um damit die Chancen der Digitalisierung nutzen zu können.
Ibrahim Evsan plädiert deshalb dafür, die entstandene neue Realität zur Kenntnis zu nehmen
und sie als Bestandteil unserer gegenwärtigen sowie zukünftigen Lebenswelt zu begreifen.
Dies gilt aber nicht nur für die technischen Entwicklungen, sondern gleichermaßen für die
damit verbundenen sozialen Phänomene. Damit eröffnet sich ein weites neues Handlungsfeld.
Wie kann dieses Handlungsfeld bearbeitet werden? Bezogen auf Unternehmen ergibt sich
daraus das Problem, dass das Wissen über und insbesondere die Nutzung von Social Media
bei Führungskräften und Mitarbeitern noch nicht ausreichend vorhanden ist. Ibrahim Evsan ist
davon überzeugt, dass Unternehmen auf Social Media schlichtweg nicht vorbereitet sind. Was
also tun? In Angst erstarren, wie das Kaninchen vor der Schlange? Sein Tipp: Machen Sie
sich in Ihrer Organisation zum Social Media Leader – denn der vernetzte Kunde erwartet eine
vernetzte Organisation. Neben der technischen Infrastruktur bedarf es einer entsprechenden
Social-Media Strategie. Und es braucht Zeit, diese auch zielgerichtet umzusetzen. Die damit
verbundenen Aufgaben können nicht zusätzlich zu den bestehenden Aufgaben, nebenbei und
nebenher erledigt werden. Die hierfür notwendige Kompetenz wird sich schon bald in neuen
Berufsbildern spiegeln.
Als Beispiele nennt Ibrahim Evsan: Den Chef Digital Officer (CDO), den Digital ConTent /
Story Marketing Manager, Data Strategist, Digital Culture Manager, Mobile Developer,
Digitale Netzplaner, Big Data Scientist um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Eng
verbunden damit sind neue Formen der Arbeit und der Arbeitswelt. Diese fordern uns
heraus – vor allem im Hinblick auf
− Selbstständigkeit
− Eigenverantwortlichkeit
− Flexibilität
− Teilhabe
32
− Gemeinschaft und
− Interaktion (Social Media)
Was könnte nun der nächste Schritt sein? Dazu schlägt Ibrahim Evsan vor: Verbinden,
befähigen und erneuern Sie ihr Unternehmen, indem
− Sie sich mit Vordenkern, Machern und Talenten vernetzen, um gegenseitige
Wertschätzung aufzubauen und um sich zu inspirieren,
− Sie interne Teilaufgaben an eine Menge von freiwilligen Usern, z.B. über das Internet
auslagern (Crowdsourcing),
− Sie Innovationsprozesse mit der Außenwelt teilen,
− Sie die digitale Landkarte wahrnehmen und erforschen (Was machen die digitalen
Supermächte? Verstehen Sie alle wichtigen Tools (Data Analyse und API
Management), damit Sie die Welt aktiv gestalten und verbessern können?),
− Sie Ihre Mitarbeiter ausbilden, damit sie vom großen Ganzen profitieren.
Literatur
Evsan, Ibrahim (2016): Digital Leadership. Präsentation im Rahmen der ConSozial am
27.10.2016.
33
Wertschöpfendes Qualitätsmanagement als Innovationsmotor
Paul Brandl, Professor für Organisation und Prozessmanagement an der FH-Oberösterreich in
Linz, und Irmtraud Ehrenmüller, Geschäftsführerin der Alten- und Pflegeheime der
Kreuzschwestern in Oberösterreich stellen das prozessorientierte QualitätsmanagementModell „QMS 2.0“ vor. Es erhebt den Anspruch, in Pflegeheimen einen messbaren
Zusatznutzen im Bereich der Personalentwicklung zu schaffen.
Die Kreuzschwestern-Betriebe „Wohnen & Pflege“ waren auf der Suche nach einem QMSystem, das die Ergebnisqualität für Heim-Bewohner im Blick hat und effizient (ein)geführt
werden kann. Im Ergebnis wurden diese Erwartungen deshalb sogar übertroffen, weil mit
QMS 2.0 eine ungeplante, aber effektive Führungskräfteentwicklung mitgeliefert wurde.
Ausgangspunkt der Überlegungen war, dass sich im Zuge des demografischen Wandels und
der veränderten Ansprüche des Klientels Veränderungen am Markt ergeben müssen. Verstärkt
wird der Druck zum Wandel durch die weitere Verknappung der öffentlichen Ressourcen
sowie durch den technologischen Fortschritt. Darauf müssen Betreiber von Alten- und
Pflegeheimen reagieren: Einerseits geht es um das Optimieren der Prozesse, andererseits aber
auch um das Neugestalten von Dienstleistungen. Der Schwerpunkt der Arbeit lag und liegt
beim Optimieren von Arbeitsabläufen vor dem Hintergrund von zwei gleichberechtigten
Zielen: Die Qualität für die Bewohner muss mindestens gleichbleiben, gleichzeitig muss der
Ressourceneinsatz optimiert werden. Am Anfang des Projekts stehen zwei leitende
Gedanken:
− Auf der einen Seite ein Standard für Prozesse, der ökonomisch optimiert, juristisch
einwandfrei, am Stand der Wissenschaft und an den Werten des Unternehmens
orientiert ist.
− Auf der anderen Seite ein Managementsystem, das von einem Leitbild ausgeht,
Strategien auf dem St. Gallener Management-Modell aufbaut und in das der ProzessLebenszyklus mit seinen vier Phasen „Prozesslandkarte – Prozessbibliothek –
Kennzahlen – strategische Weiterentwicklung“ eingebettet ist.
Ausgangspunkt dafür waren die Anforderungen der Prozessorganisation sowie die Aufgabenfelder einer Führungskraft (vgl. Weiss, M., 2003: Marktwirksame Prozessorganisation,
34
Frankfurt). Dabei zeigt sich sehr deutlich, dass das Thema „Prozesse“ und „Prozessorganisation“ ein in der Führungskräfteentwicklung bisher wenig beachtetes Thema ist. Die
wichtigsten Schritte des Projektes waren:
− Prozesslandkarte: Zusammen mit den Führungskräften der Häuser für Wohnen &
Pflege der Kreuzschwestern haben wir nach einer Information zum Prozessmanagement das Unternehmen mit dem Instrument der Prozesslandkarte auf den
Kunden ausgerichtet dargestellt und dazu Kern-, Unterstützungs- und Steuerungsprozesse identifiziert.
− Standard für die Prozessdarstellung: Zudem haben wir zu Beginn einen Standard für
die Darstellung und Dokumentation der optimierten Prozesse entwickelt, um eine
leichtere Lesbarkeit und Vergleichbarkeit der Prozessbeschreibungen zu entwickeln.
Eine Prozessbeschreibung enthält somit ein Flussdiagramm mit Zuständigkeiten und
der Darstellung von Hilfsmitteln, eine strukturierte Prozessbeschreibung und Muster
aller Hilfsmittel (Checklisten, Formulare, Anweisungen, etc.). Ziel ist die
elektronische Verfügbarkeit dieser Prozessbeschreibung im gesamten Unternehmen –
tagaktuell. Dies soll zudem neuen MitarbeiterInnen als Einschulungsunterlage und
allen anderen als Nachschlagewerk dienen.
− Prozessanalysen: Im nächsten Schritt haben die Akteure in den Einrichtungen bzw.
auf Trägerebene jeweils einen Prozess erhoben und grafisch dargestellt:
o die Aufnahme in eine Einrichtung (Kernprozess)
o der Auszug aus einer Einrichtung (Kernprozess)
o das Personalmanagement inklusive Personalentwicklung (Lenkungsprozess)
o der Kontakt mit Angehörigen (Kernprozess)
o die Essensversorgung (Unterstützungsprozess)
− Prozessverbesserungen: Gemeinsam wurden Ideen für einen Soll-Prozess entlang den
Verschwendungskategorien des Kaizen gesucht und die Lösungen in Form eines
Musterprozesses dargestellt. Zentraler Gedanke dabei ist die durchgehende Nutzung
der Software und die Abbildung der optimierten Prozesse in der Software, womit
weniger Papier aufgewendet und weniger Fehler im Tagesgeschäft entstehen sollten.
Entsprechend der so genannten Vier-Schritte-Methode folgte anschließend die
Erarbeitung einer Todo-Liste, an deren Abarbeitung noch gearbeitet wird.
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Anschließend wird deutlich, wie Führungskräfteentwicklung „abseits“ des Seminarlernens an
Hand von Live-Projekten funktioniert hat, etwa durch die Anwendung von Instrumenten des
Projektmanagements (z.B. Balkenplan). Ebenso stellt sich der Nutzen von sogenannten
Referenzprozessen für weitere Alten- und Pflegeheime dar:
− Jede Organisationseinheit kann sich am „State of The Art“ orientieren.
− Referenzprozesse können als Ideenpool für weitere Optimierungsprojekte herangezogen werden.
− Die Anwendung der Standards erspart die Erarbeitung eigener Lösungen.
− Es bietet sich an, diese Prozesse in Qualitäts-Audits einzubauen.
− Die Abbildung in der Standardsoftware schafft Zusatznutzen.
Ziel sollte insgesamt sein, für Alten- und Pflegeheime eine Art überbetriebliche
Prozessbibliothek mit den relevanten, optimierten Standardprozessen zu entwickeln sowie
Referenzprozesse in interne und externe Audits zu integrieren. In Österreich wäre dies im
Rahmen des NQZ (Nationales Qualitätszertifikat) möglich. Dies sollte zu einer schnelleren
Umsetzung von Innovationen bzw. Neuerungen im Bereich der Alten- und Pflegeheime sowie
in der Sozialwirtschaft führen.
36
Wie Menschen zusammen die Zukunft bestimmen
Dieser Fragestellung widmete sich Kathelijne Drenth aus Amsterdam in ihrem Vortrag. Die
Ausgangsfragen sind: Was unterscheidet ihre Organisation grundlegend von anderen? Und
wie können die Mitarbeitenden in einer Organisation einen Weg finden, um in einer
erneuerten Form der Zusammenarbeit einen Schritt in Richtung zum Kunden zu machen?
Das von ihr entwickelte Führungskonzept „Core-Purpose-Traction“ hilft dem Anwender
herauszufinden: „Was ist eine Marke“? Es unterstützt sowohl Profit- wie auch Non-Profitunternehmen dabei, Klarheit über folgende Fragen zu bekommen: Wer bin ich? Was macht
mich als Unternehmen für meinen Kunden einzigartig? Das Modell wurde in über 100
Beratungsprojekten entwickelt. Mittels zwölf Fragen bietet Drenth einen Handlungsrahmen,
das eigene Unternehmen neu zu gestalten und auszurichten.
1. Produkt / Dienstleistung: Welches sind die unverwechselbaren Qualitäten und
Prinzipien, die wir in allen unseren Produkten und Dienstleistungen verwirklichen?
2. Einzigartige Kompetenz: Was ist die einzigartige Expertise und fachliche Kompetenz,
mit der wir unser Produkt oder unsere Dienstleistung gestalten?
3. Kundenbedürfnisse: Welches sind die spezifischen Kundenbedürfnisse, die wir mit
unserem Produkt oder unseren Dienstleistungen befriedigen?
4. Leitende Idee: Welche Aussage fasst zusammen, was unser Produkt oder unsere
Dienstleistung für unsere Kunden tut, wie sie ihnen dient?
5. Markenpersönlichkeit: Welches ist die überzeugende konsistente Markenwelt, die wir
um unsere Produkte und Dienstleistungen herum kommunizieren?
6. Organisation / Markenkern: Welches ist die einzigartige Qualität unsere Produkte oder
Dienstleistungen, die unseren Kunden ein begeisterndes Erlebnis verschafft?
7. Wesentlicher Daseinszweck: Was ist der Unterschied, den wir für die Welt schaffen
wollen und der uns motiviert, unabhängig vom Profit?
8. Positionierung: Welches Segment besetzten wir aus der Sicht des Marktes? Wer sind
wir aus ihrer Sicht und was tun wir?
37
9. Kulturelle Werte: Welches ist die Art, in der wir miteinander umgehen, um unsere
Unternehmungen bestmöglich zu unterstützen?
10. Geschäftsmodell: Welches sind die strategischen Prinzipien, die unsere nachhaltige
Entwicklung sichern?
11. Vision: Welches Zukunftsbild stellen wir uns vor, was kann aus uns in 5-10 Jahren
werden?
12. Kennwerte: Welches sind die Leistungskennzahlen KPIs (Key Performance
Indikators) und Qualitätsmerkmale, mit denen wir unsere Wertschöpfungsstrategien
optimal steuern können?
(Quelle: The Twelve B.V. / www.thetwelve.eu)
Das Neue „Core Purpose“ Führungsmodell fordert in letzter Konsequenz die Beteiligung aller
Mitarbeitenden an der Neu-Ausrichtung des Unternehmens. Dies erfordert die Einrichtung
eines Führungsdialoges innerhalb des jeweiligen Unternehmens, der konsequent auf den
Kunden ausgerichtet ist. Innerhalb einer Organisation stellt dies also eine Bewegung von
einem „vertikalen“ zu einem „horizontalen“ Führungsmodell dar. Es geht immer wieder um
die Frage: Wie bringen wir die Bedürfnisse unserer Kunden in Einklang mit dem
Unternehmensimpuls?
Dass dies in der Theorie leichter gelingt als in der Praxis, machte die an den Vortrag
anschließende Diskussion deutlich. Bereits bei der Frage „Wer ist eigentlich mein Kunde?“
kann man schon mal hängen bleiben und es scheiden sich die Geister. Aber diese Klärung, so
Drenth, ist der Schritt auf dem Weg vom „Solo zum Ganzen“. Ein Weg, der sich lohnt - für
die Kunden, für die Mitarbeitenden und das Unternehmen als Ganzes.
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Motivation nutzen –
Nachhaltiges Personalmanagement Ehrenamtlicher
Der Strukturwandel des Ehrenamtes hat zu einer Veränderung bei der Beratung, Betreuung
und der Motivation von Ehrenamtlichen geführt. Prof. Dr. Gerhard V. Krönes ging in
seinem Fachvortrag der Frage nach, wie das Personalmanagement von NonprofitOrganisationen beschaffen sein muss, um Ehrenamtliche nachhaltig zu führen. Dabei wurden
zwei Ansätze konkretisiert: Zum einen, wie intrapersonale Konflikte bzgl. der Vereinbarkeit
von Berufstätigkeit und Ehrenamt geringgehalten werden können. Zum anderen, wie mit
Hilfe von motivationstheoretischen Überlegungen das Engagement von Ehrenamtlichen
erhalten werden kann.
Die Idee der Nachhaltigkeit wurde bereits im 18. Jahrhundert in Bezug auf die
Substanzerhaltung der Forstwirtschaft entwickelt. Seit vielen Jahren wird der Begriff auch für
den Umgang mit ökonomischen, ökologischen und sozialen Ressourcen verwendet. Bezogen
auf das Personalmanagement bedeutet der Begriff den dauerhaften Erhalt der Leistungsfähigkeit und der Leistungsbereitschaft ehrenamtlicher Mitarbeiter. Die Leistungsfähigkeit
bezieht sich dabei auf das Können der Ehrenamtlichen, die Leistungsbereitschaft auf deren
Wollen oder Motivation. Ein nachhaltiger Umgang mit Personal vermeidet körperlichen und
psychischen „Verschleiß“, bringt Qualifikationen auf den neuesten Stand und hält das
Motivationsniveau hoch.
Die Tätigkeit von Ehrenamtlichen ist produktiv, sie findet freiwillig und ohne Bezahlung statt
und ist in eine Organisation integriert. In dem Vortrag legte Prof. Dr. Gerhard V. Krönes den
Fokus außerdem auf die Art der Motivation und die Ausübung des Ehrenamtes neben einer
Erwerbsarbeit. Auf der Basis des Freiwilligensurvey lässt sich die Engagementquote
derjenigen Ehrenamtlichen errechnen, die berufstätig sind. Demnach kann davon ausgegangen
werden, dass gut 60 % der Ehrenamtlichen berufstätig sind. Die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und ehrenamtlichem Engagement ist u.a. abhängig von dem vorhandenen Zeitbudget,
von der Planbarkeit der Freizeit und außerdem von der räumlichen Disponibilität. Im
Freiwilligensurvey von 2009 geben immerhin 57 % der Befragten an, dass ihre Freizeit gut
39
planbar sei. Dazu kommt, dass die Arbeitszeitflexibilität zugenommen hat. Waren es 1999
noch 36 %, die wegen flexibler Arbeitszeiten freinehmen konnten, so stieg die Zahl im Jahre
2011 auf 69,5 %. Dem entgegen steht die räumliche Disponibilität. So erschweren eine
Zunahme von Dienstreisen und wechselnde Einsatzorte die Ausübung einer ehrenamtlichen
Tätigkeit.
Die dargelegten Ergebnisse verweisen auf einen erhöhten Individualisierungsbedarf bei der
Übernahme eines Ehrenamtes. Vier Überlegungen schließen daran an:
− Das Ehrenamt benötigt eine Ausrichtung der Organisation an den Gegebenheiten der
Ehrenamtlichen. Für das Eigenschaftsprofil der Ehrenamtlichen und deren Möglichkeiten bzgl. Zeitumfang, Zeitlage, Ort etc. sind Aufgaben zu suchen und nicht
umgekehrt.
− Damit diese Umkehrung der Perspektive erfolgreich ist, sind Beratungs-,
Sondierungs-, Selektions- und Einstellungsgespräche im Vorfeld erforderlich.
− Während des freiwilligen Engagements der Ehrenamtlichen ist eine Begleitung der
Akteure sinnvoll. Besondere Beachtung kann dabei die Stressprävention finden,
insbesondere um „Züge einer distanzlosen Verausgabungsneigung“ vorzubeugen.
− Damit die vorangegangenen Überlegungen greifen können, bedarf es hinreichender
quantitativer und qualitativer personeller Kapazitäten.
Neben den Bedingungen der Vereinbarkeit von Ehrenamt und Beruf spielt die Motivation
Ehrenamtlicher beim freiwilligen Engagement eine große Rolle. Prof. Dr. Gerhard V. Krönes
greift dazu auf die Unterscheidung zwischen „extrinsischer“ und „intrinsischer“ Motivation
zurück. Bei ersterer ist das Verhalten ein Mittel zum Zweck. Ziel ist es, Belohnungen zu
erhalten (Geld, Macht, Prestige) und Bestrafungen zu vermeiden. Bei letzterer ist das
selbstgewählte Verhalten Zweck des Tuns; Interesse und Freude an der Tätigkeit stehen hier
im Vordergrund. Die in dem Freiwilligensurvey beschriebenen Motive lassen sich nun
dahingehend untersuchen, welche Arten von Motiven vorherrschend sind. Dabei zeigt sich,
dass ehrenamtliches Engagement maßgeblich intrinsisch motiviert ist. Ein motivationsorientiertes und nachhaltiges Führungsverhalten im Umgang mit Ehrenamtlichen versucht
40
deshalb intrinsische Motive zu erhalten, eventuell diese sogar noch zu stärken. Dabei sind
einige Grundsätze zu beachten.
− Der Grundsatz der Glaubwürdigkeit: Die Grundlage von Glaubwürdigkeit besteht
darin, dass die Leitungsperson in ihrer Rolle legitimiert ist und dass sie vertrauenswürdig und loyal ist. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass zentrale Funktionen
von Leitung die Initiierung von zielgerichteten Aktivitäten einerseits (Lokomotion)
und die Schaffung bzw. der Erhalt von Zusammenhalt (Kohäsion) darstellen.
− Der Grundsatz der Wertschätzung und Anerkennung: Kern aller Motivation ist es,
zwischenmenschliche Anerkennung und Wertschätzung zu finden und zu geben.
Diesen Zusammenhang bestätigen auch die Ergebnisse der neueren neurobiologischen
Forschung. Aber auch der Zusammenhang von Anerkennungsdefiziten und Mitarbeitererkrankungen sind signifikant.
− Der Grundsatz der Transparenz: Transparenz und Wertschätzung hängen eng zusammen. Führung schafft Transparenz für Mitarbeiter, indem sie u.a. Informationen weiter
gibt.
Neben den genannten Grundsätzen unterstützen folgende Überlegungen den Erhalt der
intrinsischen Motivation: a) Schaffung von Möglichkeiten der Beteiligung (Partizipation).
Dies wirkt sich auf den sozialen Zusammenhalt und die Motivation günstig aus und stärkt die
Chance, dass Entscheidungen von Mitarbeiter mitgetragen werden. b) Um das Verhalten von
Mitarbeitern und das freiwillige Engagement zielorientiert zu unterstützen sind konstruktive
Rückmeldungen (Feedback) eine gute Hilfe. Dabei ist zwischen der Sachebene (konstruktiv)
und der Personenebene (wertschätzend) zu unterscheiden. c) Schließlich sollte das Verhalten
der Führungskraft an den Regeln der Fairness orientiert sein. Gerade hier kann davon
ausgegangen werden, dass Ehrenamtliche besonders sensibel sind.
Wie lassen sich die gewonnenen Erkenntnisse nun hinsichtlich einer nachhaltigen Führung
Ehrenamtlicher bilanzieren? In dem Vortrag wurde gezeigt, dass eine nachhaltige Führung
individualisierte und situative Aspekte umfasst. Führung in diesem Sinne verstanden,
erfordert eine Reihe von Kompetenzen bei den Führungskräften, um die individuellen
41
Gegebenheiten und Möglichkeit von Ehrenamtlichen zu erfassen und um darauf angemessen
zu reagieren. Dazu müssen Führungskräfte besser in der Arbeit mit Ehrenamtlichen unterstützt und qualifiziert werden.
Literatur
Krönes, Gerhard V. (2016): Motivation nutzen – Nachhaltiges Personalmanagement
Ehrenamtlicher. Weingartener Arbeitspapiere zur Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre,
zum Personalmanagement und Nonprofit-Management. Nr. 12. Weingarten.
42
Partizipation ohne Wenn und Aber –
Kinder bewerten ihren Kindergarten
„Gehst du gerne in den Kindergarten? Nein, ich fahre lieber mit dem Fahrrad!“ Wer Kinder
befragt, muss damit rechnen, dass er eine Antwort bekommt, mit der er oder sie nicht
gerechnet hat. In ihrem Vortrag berichteten Elke Wuthe, Fachbereichsleitung DIE KITA
gGmbH sowie Prof. Dr. Roswitha Sommer-Himmel und Prof. Dr. Karl Titze von der
Evangelischen Hochschule in Nürnberg über das von ihnen gemeinsam durchgeführte
Projekt. DIE KITA steht für: Diakonische Evangelische Kindertagesstätten in und um
Kulmbach.
Die Ausgangsfrage, die Elke Wuthe und ihre KollegInnen geleitet hat, war: „Wie geht es
unseren Kindergartenkindern in den Einrichtungen? Aus den 13 Einrichtungen der DIE KITA
gGmbH wurden 53 Kindern in einer repräsentativen Untersuchung befragt. Die Evangelische
Hochschule Nürnberg wurde hierzu beauftragt und entwickelte ein Verfahren, mit dem die
Sicht von 4- bis 6-jährigen Kindern auf ihren Kindergartenalltag mit Blick auf die subjektive
soziale und psychische Passung erfasst werden kann. Eine wesentliche Zielsetzung war und
ist die Verbesserung der pädagogischen Arbeit in den Kindergärten unter dem Fokus der
Partizipation. Der Auftrag: Gestaltung von Partizipationsprozessen so, dass Kinder gemäß
ihrer Entwicklung und ihren Bedürfnissen daran teilnehmen können.
Warum Kinder überhaupt befragen? Warum Partizipation in der Kita? Vereinfacht gesagt:
Weil es sich lohnt! Es lohnt sich, dass Kinder mitüberlegen, mitdiskutieren, mitentscheiden
und schließlich auch die sich daraus ergebenden Konsequenzen mittragen. Die Referenten
weisen in dem Zusammenhang auf folgenden, scheinbar paradox anmutenden Umstand hin:
„Das Recht auf Beteiligung beinhaltet sogar das Recht, sich nicht zu beteiligen. Partizipation
kann nur als freiwillige Beteiligung erfolgen, genauso wie politisches Engagement sich in
einer Demokratie nur als freiwilliges Engagement entfalten kann.“ 4
4
Hansen, R., Knauer, R. & Friedrich, B. (2006). Die Kinderstube der Demokratie. Schleswig-Holstein - Land für
Kinder, 3. Aufl. Kiel: Ministerium für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren des Landes
Schleswig-Holstein, S. 50.
43
Empirisch gesehen schließt sich daran dann die Frage an: Können Vorschulkinder valide
Auskunft geben? Ja, so die Experten, sie können. Sie können Auskunft geben über
persönliche Erfahrungen, über ihr unmittelbares Lebensumfeld, über subjektives Empfinden.
Aber, auch das zeigen die Referenten deutlich auf, die Antworten sind von vielen
Umgebungsbedingungen noch leicht beeinflussbar und deswegen kommt es im Wesentlichen
darauf an, wie und mit welcher Haltung gefragt wird.
Über die folgenden sieben Kategorien nähern sich die Forscher dem Wohlbefinden der
Kinder:
Freispiel,
Morgenkreis,
Bildungsangebote,
Garten
als
Spielraum,
Soziale
Beziehungen, Wohlbefinden allgemein, kindliche Kriterien für einen guten Kindergarten. Sie
machen dadurch den Alltag von Kindern in einer Kindertageseinrichtung beschreib- und
bewertbar, nehmen sowohl Angebotsstrukturen als auch Interaktionen in ihre Beobachtungen
mit auf.
Was sind nun die wesentlichen Erkenntnisse aus der Befragung? Partizipation im Alltag
braucht Transparenz bei Entscheidungen und eine kulturelle Veränderung. Es geht darum,
eine nachvollziehbare, zu beobachtende Kultur von Teilhabe und Aushandlung im Alltag zu
entwickeln. Die bedeutet letztlich, dass die pädagogischen Fachkräfte ihre Haltung und ihre
pädagogischen Konzepte einer objektiven Überprüfung unterziehen. Auf die Haltung kommt
es an.
Für Elke Wuthe geben die Ergebnisse der Untersuchung wertvolle Hinweise für die
Weiterentwicklung des pädagogischen Konzeptes und somit auch für die Personal- und
Organisationsentwicklung. Und es wird innerhalb der Einrichtungen ein Entwicklungsdialog
in Gang gesetzt – eine Auseinandersetzung mit den bewussten und unbewussten Haltungen
und Einstellungen der Mitarbeitenden – von der Leitung bis zu den Fachkräften in den
Kindergärten. Ein Dialog aus der Praxis für die Praxis.
Bleibt die Frage nach der Wirkung auf die pädagogischen Fachkräfte? Stellvertretend zwei
Feedbacks von Erzieherinnen:
− „Ich bin von der Idee begeistert, die Kinder zu befragen. Sie setzt ein wichtiges Signal
nach außen (auch für die Eltern), das die Grundhaltung im Kindergarten widerspiegelt.
44
Ich hatte auch keine Angst vor negativen Antworten, sondern werde mir
Verbesserungsmöglichkeiten herausziehen.“
− „Ich kann mir sehr gut vorstellen, die Kinderbefragung weiterzuführen und als festen
Punkt im Ablauf aufzunehmen. Diese vier Stunden, die ich in der Einrichtung
verbracht habe, waren so wertschätzend für die Kinder, gleichzeitig war dieses „mir
Zeit nehmen für das Kind“ so wertvoll für mich als Erzieherin.“
Fazit: Die Beteiligung auch von Vorschulkindern lohnt sich! Fortsetzung folgt!
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Ein Dorf kümmert sich – Pflege und Betreuung älterer Menschen
Mit den Herausforderungen des demografischen Wandels befasst sich Bürgermeister a.D.
Gerhard Kiechle: Die immer älter werdende Bevölkerung betrifft vor allem den ländlichen
Raum, da dort in der Regel – wegen fehlender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit – die
notwendigen Versorgungsstrukturen im Betreuungs- und Pflegebereich für hilfebedürftige
Menschen fehlen. Hinzu kommt, dass es der große Wunsch vieler Menschen ist, in gewohnter
Umgebung alt zu werden und in vertrauter Umgebung im ‚eigenen Dorf‘ bleiben zu können.
Eichstetten, ein Dorf mit damals ca. 2800 Einwohnern, hat sich Mitte der 90iger Jahre auf den
Weg gemacht, in bürgerschaftlicher Verantwortung Strukturen und Einrichtungen zu
schaffen, die das Verbleiben im Dorf auch bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit ermöglichen.
Auslöser für diesen neuen Weg waren der Wunsch älterer Dorfbewohner zum Bau einer
Seniorenwohnanlage und die darauf erfolgte Ablehnung der angefragten Institutionen wegen
der zu geringen Einwohnerzahl.
Mit interessierten Bürgern, dem Bürgermeister und Gemeinderäten sowie unter Einbeziehung
sozialer Organisationen, den Kirchen und sachkundiger Fachleute wurde ein Arbeitskreis
gegründet. Grundidee und Ziele wurden eingehend diskutiert und es entstand die Vision: ‚Das
Dorf übernimmt den Generationenvertrag‘. Ein ‚bürgerschaftlicher Weg‘, der eng verbunden
ist mit der in Eichstetten gelebten kommunalpolitischen Philosophie der ‚Bürgerkommune‘:
Bewusste Einbeziehung der Bürger als Beteiligte und Mitverantwortliche – nicht als Lückenbüßer, sondern als Mitgestalter, auch von öffentlichen Aufgaben.
Als Rechtsform für die Aufgabenerfüllung wurde nach Abwägung anderer Alternativen der
eingetragene Verein mit dem Namen ‚Bürgergemeinschaft Eichstetten e.V.‘ von 272 (aktuell
520) Gründungsmitgliedern ins Leben gerufen.
Gemeinsam mit allen Beteiligten wurden die Vereinsziele formuliert:
− Alt werden im Dorf ermöglichen in gewohnter Umgebung.
46
− Betriebsträgerschaft
der
Seniorenwohnanlage
Schwanenhof
und
später
der
Pflegewohngruppe Adlergarten übernehmen.
− In den Häusern und Wohnungen des Dorfes die hilfebedürftigen Menschen pflegen
und betreuen.
− Ein Bürgerbüro für soziale Anliegen und Bürgertreffräume einrichten.
− Soziales Miteinander aus dem ganzen Dorf generationsübergreifend gestalten und
dabei auch Menschen die eine psychische oder physische Behinderung haben, als
Dorfgemeinschaft in ein förderliches Umfeld einbinden.
Die Hilfe für unterstützungsbedürftige Menschen sollte wieder in der Mitte unserer
Gesellschaft als eine bewusste Aufgabe der Dorfgemeinschaft organisiert werden durch einen
Hilfemix von Ehrenamtlichen, semiprofessionellen, geschulten BürgerInnen und Pflegefachkräften.
Trotz aller positiver Ideen und großem Engagement der beteiligten BürgerInnen waren doch
viele Widerstände zu überwinden. Verschiedene Fachleute waren sehr kritisch im Hinblick
auf die Fachlichkeit und die Nachhaltigkeit eines solchen bürgerschaftlichen Weges ohne
ausdrückliche Leitung durch examiniertes Fachpersonal. Auch das Leistungsrecht tut sich
noch schwer mit bürgerschaftlichen Initiativen als Empfänger von Geld- oder Unterstützungsleistungen. Verbesserungen enthalten die aktuellen Pflegestärkungsgesetze. In Schulungs- und
Fortbildungskursen wurden und werden interessierte BürgerInnen auf die Aufgaben in der
Betreuung, der Pflege und in der Einsatzleitung vorbereitet. Geleitet und koordiniert wird der
gesamte Einsatz- und Tätigkeitsbereich durch drei engagierte Frauen im Bürgerbüro, die auch
Ansprechpartner für die Bürger sind. Darüber steht der von den Mitgliedern gewählte
Verwaltungsrat mit dem Vorstand.
Das Engagement in der Bürgergemeinschaft erfolgte zunächst in den Anfangsjahren grundsätzlich ehrenamtlich z.T. mit Aufwandsentschädigungen. Durch die starke Aufwärtsentwicklung und die Ausweitung der Tätigkeitsfelder wurden immer mehr Mitarbeiterverhältnisse, zunächst im Bereich von 450 €-Jobs geschaffen. Später, bei der Inbetriebnahme
der Pflegewohngruppe mit 24stündiger Betreuung erfolgten auch Festanstellungen. Die rein
ehrenamtliche Tätigkeit ist zwar immer noch wichtig und vorhanden, aber steht prozentual
47
nicht mehr im Vordergrund. Die Bürgergemeinschaft hat sich in den 18 Jahren zu einem
dörflichen Sozialunternehmen mit vielen qualifizierten Bürgerinnen und Bürgern darunter ca.
20 Personen mit Festanstellung entwickelt. Es besteht gute Kooperation, vor allem mit der
regionalen Sozialstation mit den Schwerpunkten Alltagsbegleitung durch die Bürgergemeinschaft und Fachpflege durch die Sozialtstation.
Aktuelle Aktivitäten in der Trägerschaft der Bürgergemeinschaft in Eichstetten sind:
− Das Bürgerbüro im Schwanenhof (ab 1998) dient der Bevölkerung als Anlaufstelle.
Hilfesuchende
Menschen
werden
dort
beraten,
Aufgaben
koordiniert
und
angemessene Unterstützung vermittelt.
− Betreuung und Pflege im Dorf in der eigenen Häuslichkeit („betreutes Wohnen zu
Hause“) durch qualifizierte Frauen aus dem Dorf werden hauswirtschaftliche und
pflegerische Hilfen angeboten (ab 1998)
− Betreutes Wohnen im Schwanenhof (ab 1998)
− Der Schwanenhof ist eine Wohnanlage für Betreutes Wohnen mit 16 barrierefreien
Wohnungen im Ortskern von Eichstetten.
− Tagesbetreuungsgruppe
(ab
2003)
und
Tagespflege
ab
1.1.2017:
In
den
Bürgertreffräumen im Schwanenhof werden in Kooperation mit der Sozialstation an
zwei Tagen in der Woche demente und hilfebedürftige Menschen zu Entlastung der
pflegenden Angehörigen betreut. Ab 1.1.2017 erfolgt die Erweiterung zu einer
ganzwöchigen Tagespflege.
− Pflegewohngruppe „Adlergarten“ (ab 2008): Elf pflegebedürftige oder an Demenz
erkrankte Menschen haben dort ihr neues Zuhause. Der Schwerpunkt der Pflegewohngruppe liegt auf der gemeinsamen Gestaltung des Alltags und der permanenten
Betreuung und Versorgung durch fortgebildete Bürgerinnen als Alltagsbegleiterinnen.
Die fachpflegerischen Leistungen übernimmt die Sozialstation. Im Vordergrund steht
dabei die Alltagsbegleitung mit den Bewohnern und nicht die medizinische
Fachpflege.
− Café ‚Mitnander‘ (ab 2012): Im Schwanenhof gibt es das integrative ‚Café
Mitnander‘. Menschen mit Handicap erhalten hier in Zusammenarbeit mit Nichtbehinderten einen Arbeitsplatz (erster Arbeitsmarkt).
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− Kernzeitenbetreuung an der Grundschule mit Mittagessen für die Schüler
Bei der Finanzierung gibt es folgende Aufgabenverteilung: Die Gemeinde ist zuständig für
die Gebäude (Hardware) und die Steuerung der Vermietung – vorrangig an Eichstetter
BürgerInnen – und die Bürgergemeinschaft für den Betrieb (Software). Die Bürgergemeinschaft finanziert sich selbst und erhält keine kommunalen Zuschüsse. Durch das
Projekt, das seit 18 Jahren durchaus erfolgreich läuft, entstanden nicht nur viele flexible
Arbeitsplätze insbesondere für Frauen, sondern auch eine dörfliche Sozialkultur und ein
Miteinander von BürgerInnen insbesondere auch von Alt- und Neubürgern. Es gibt eine neue
Rollenverteilung von Professionellen (MitarbeiterInnen der Sozialstation) und den Alltagsbegleitern als ‚bürgerschaftlich Engagierte‘ – sie agieren beide auf Augenhöhe. Ganz
wesentlich ist aber, dass es durch dieses Projekt gelungen ist, vor allem den älteren und
hilfebedürftigen Menschen ‚das Altwerden in ihrer gewohnten Umgebung‘ auch im Pflegefall
zu ermöglichen.
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Bilder und Impressionen der ConSozial 2016
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