Lehrvertragsauflösungen «Die Berufsbildung ist kein Spezialfall» Ein neuer Trendbericht und eine erste nationale Längsschnittstudie bringen neue Erkenntnisse zum Thema Lehrvertragsauflösungen. Irene Kriesi, Bildungsexpertin am Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung EHB, ordnet diese im Gespräch ein. nötige Korrekturen, die nicht zu vermeiden sind. Wichtig ist, dass es weitergeht. Zurzeit führen Sie die erste nationale Längsschnittstudie zum Thema Lehrvertragsauflösungen durch. Die Ergebnisse der zweijährigen beruflichen Grundbildung (EBA) liegen vor. Was lässt sich dazu sagen? Kriesi: Positiv überrascht hat uns, dass die Auflösungsquote bei dieser Zielgruppe nicht wirklich höher ist. Wenn man in Betracht zieht, dass es hier im Durchschnitt um die leistungsschwächsten Jugendlichen geht, ist das ein schönes Ergebnis. Ebenfalls positiv ist, dass fast 50 Prozent der Lernenden nach einer Auflösung wieder einsteigen. Ein beträchtlicher Teil davon macht zusätzlich einen Wechsel in die dreijährige berufliche Grundbildung. PETER BRAND Frau Kriesi, gemäss Trendbericht des EHB werden in der Schweiz 20 bis 25 Prozent aller Lehrverträge frühzeitig aufgelöst. Wie beurteilen Sie diese Zahl? Kriesi: Die auf den ersten Blick hohe Zahl muss insofern relativiert werden, als eine Lehrvertragsauflösung nicht zwingend einen Lehrabbruch bedeutet. Gut die Hälfte der Jugendlichen setzt nämlich ihre Ausbildung innerhalb von zwei bis drei Jahren fort. Wir reden erst dann von einem Lehrabbruch, wenn Jugendliche den Lehrvertrag auflösen und in keine neue berufliche Grundbildung einsteigen. Vor diesem Hintergrund finde ich die Zahl überhaupt nicht dramatisch. Die Berufsbildung ist kein Spezialfall. Wie meinen Sie das? Kriesi: Lehrvertragsauflösungen haben zurzeit viel politische Aufmerksamkeit – im Gegensatz zu unregelmässigen Bildungsverläufen in der Allgemeinbildung. Genaue vergleichende Zahlen gibt es zwar nicht, aber wir wissen, dass auch viele Mittelschülerinnen und Mittelschüler repetieren oder die Ausbildung abbrechen. Was können Lehrbetriebe tun, damit es gar nicht erst zur Lehrvertragsauflösung kommt? Kriesi: Sie können sicher die Selektion optimieren. Dies bedeutet auch, dass sie die Jugendlichen genügend über den Lehrberuf und den Betrieb informieren. Weiter sollten sie für gute Ausbildungsbedingungen und sorgfältige Betreuung der Lernenden sorgen. Wir wissen aus der Forschung, dass Betriebe, die grossen Wert auf die Ausbildung legen und viel in die Ausbildungsqualität investieren, we- Relativiert die hohe Zahl an Lehrvertragsauflösungen: Bildungsexpertin Irene Kriesi. niger von Lehrverstragauflösungen betroffen sind. Was ist wichtig, falls eine Auflösung trotz allen Bemühungen unumgänglich ist? Kriesi: Entscheidend ist, dass die Jugendlichen Unterstützung erhalten und nicht allein gelassen werden. Es braucht jemanden, der sich um sie kümmert und sie ermutigt. Das kann der bisherige Lehrbetrieb sein, aber auch die kantonale Ausbildungsberatung, die Berufsfachschule, das BIZ oder natürlich die Eltern. Es gilt, den Anteil an Jugendlichen zu minimieren, der vollständig ohne berufliche Lösung bleibt. Jeder Neubeginn ist auch eine Chance. Was lässt sich über den Bildungserfolg der «Wiedereinsteigerinnen und Wiedereinsteiger» sagen? Kriesi: Sie sind im Durchschnitt viel zufriedener mit der neuen Lösung und schliessen die Lehre oft ohne Probleme ab. Häufig ist eine Auflösung nötig, um sich neu zu orientieren. Die Jugendlichen müssen sich früh für einen Beruf entscheiden. Man muss ihnen auch ein wenig zugestehen, dass gerade in einer schwierigen Lebensphase nicht jede Berufswahl gelingen kann. Zum Teil sind Auflösungen Gelten diese Resultate auch für den Kanton Bern? Kriesi: Mit Abstrichen. Die Auflösungsquote bei den EBA-Berufen ist überdurchschnittlich und liegt bei knapp 30 Prozent. Man muss allerdings insofern relativieren, als erst die Resultate des ersten Jahrgangs vorliegen. Ob sich das Bild mit den nächsten Jahrgängen erhärtet, wissen wir noch nicht. Es wird darum gehen, die Situation längerfristig zu beobachten und nach möglichen Verbesserungen zu suchen. Was wird die Studie als Nächstes beleuchten? Kriesi: In einem nächsten Schritt wertet das Bundesamt für Statistik den ersten Jahrgang der dreijährigen Ausbildungen und den zweiten Jahrgang der zweijährigen aus. Ein Jahr später sind der erste Jahrgang der vierjährigen Ausbildungen, der zweite Jahrgang der dreijährigen und der dritte Jahrgang der zweijährigen an der Reihe. Der grosse Vorteil der Studie: Es wird das erste Mal über alle Kantone hinweg mit der gleichen Methode gearbeitet. Die Ergebnisse sind dadurch vergleichbar. Trendbericht und Studie: www.ehb.swiss/obs-lva 3 / November 2016 Seite 2
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