Integration, für eine Debatte ohne ideologische Scheuklappen

Erschienen am 18. November 2016 in:
Freies Wort Suhl, Seite 4 und
Südthüringer Zeitung, Seite 4
Integration, für eine Debatte ohne ideologische
Scheuklappen
Von Landtagspräsident Christian Carius
Was ist Heimat und wie wichtig ist sie den Menschen? Diese Fragen stellte der
Thüringer Landtag unlängst mehr als 1.000 Thüringerinnen und Thüringern im
Rahmen einer repräsentativen Befragung durch das Meinungsforschungsinstitut
dimap. Die Antworten lassen Rückschlüsse auf ein gesamtdeutsches Stimmungsbild
zu und geben Denkanstöße für die Bewältigung des zurückliegenden
Flüchtlingszuzugs.
Der Begriff „Heimat“ hat Hochkonjunktur, trotz oder vielleicht sogar wegen der
Globalisierung, ihrer Errungenschaften und Herausforderungen. So gaben 94
Prozent der Befragten an, dass ihnen Heimat „sehr wichtig“ oder „wichtig“ ist. In einer
bundesweiten dimap-Umfrage aus dem letzten Jahr lag dieser Wert bei 90 Prozent.
Für eine positive Entwicklung ihrer Heimat sehen die Thüringerinnen und Thüringer
mit 87 Prozent an erster Stelle sich selbst verantwortlich. Das ist ein erfreulicher
Ausdruck einer aktiven Bürgergesellschaft, in der die Menschen sich selbst etwas
zutrauen und proaktiv an den Belangen des Gemeinwesens mitwirken. Immerhin 42
Prozent halten für eine positive Entwicklung ihrer Heimat Kirchen und
Religionsgemeinschaften für wichtig. Auf den ersten Blick scheint dies ein schlechter
Wert zu sein. Ich sage aber: Es sind immerhin 42 Prozent - und damit weit mehr als
es im Freistaat Thüringen Getaufte gibt.
Der jüngste Zuzug von hunderttausenden Muslimen nach Deutschland stellt die
Integrationsfähigkeit unseres Landes vor neue Herausforderungen. Das gilt
insbesondere für Regionen wie Thüringen, in denen Muslime bisher eine
verschwindend kleine Minderheit ausmachten. Denn - so zeigt es unsere Umfrage nicht einfach irgendwelche Menschen konstituieren Heimat, sondern die, die man
kennt, die man mag, denen man vertraut. Menschliches Zusammensein kommt eben
nicht aus, ohne das notwendige Maß an Vertrautheit.
Die neuen Länder konnten bisher nur wenig Erfahrung mit der Integration von
Muslimen machen. Den Islam empfinden daher die allermeisten Menschen hier
bisher nicht als konstitutives Element dessen, was für sie Heimat ausmacht. Er ist
nicht Teil unserer christlich-jüdischen Traditionen und war auch nicht Vorbedingung
für die Kernthese unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist
unantastbar.“ Es mag sein, dass Muslime nun auch hier eine neue Heimat finden.
Der Islam gehört hier jedoch nicht zur Heimat.
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Klar ist: Wer vor Krieg und Verfolgung flüchtet hat ein Anrecht auf unseren
Schutz. Ganz abgesehen von der Frage, wer hier auf Dauer bleiben darf und wer
nicht. Sie muss an anderer Stelle beantwortet werden. Wir müssen aber darauf
achten, dass es nicht zu Überforderungen durch ein Zuviel an Fremdheit kommt. Die
Politik wird noch stärker darauf hinwirken müssen, dass Balance gelingt. Nur dann
wird unser Gemeinwesen auch in Zukunft über jene Bindungskräfte verfügen, die für
ein friedliches Zusammenleben und ein erfolgreiches Zusammenwirken notwendig
sind. Das erfordert Bemühungen auf beiden Seiten.
Fast überall, wo der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund bislang gering
ist, besteht die Sorge, dass die Integration so vieler Menschen mit einer anderen
kulturellen Prägung misslingen könnte. Diese Bedenken kann man den Menschen
nehmen, indem wir unsere eigene kulturelle Identität positiv bewahren. Fehler, wie
sie bei der Integration der muslimischen Gastarbeiter in den alten Ländern begangen
wurden, dürfen sich nicht wiederholen. Dazu gehört auch, dass wir nicht aus falsch
verstandener Toleranz jede Ausprägung einer fremden Religion, wie des Islam, als
Bereicherung unserer Kultur begreifen können. Beispiele wie die Debatte um die
Vollverschleierung verdeutlichen dies. Unser kulturelles Selbstverständnis lebt von
der Auseinandersetzung von Angesicht zu Angesicht. Das macht unsere spezifische
Ordnung der Freiheit aus. Es ist damit auch Voraussetzung für die
Gleichberechtigung von Mann und Frau. Eine Vollverschleierung von Frauen läuft
dem kategorisch zuwider.
Das Beispiel belegt, dass wir auch eine Debatte darüber benötigen, welche
Identifikation- und Integrationsleistungen wir von Menschen, die zu uns kommen,
erwarten. Darauf gibt es gewiss keine statische und einfache Antwort. In dem Maße
wie sich unsere Gesellschaft verändert, werden sich gewiss auch die Anforderungen
verändern. Doch für den Islam folgt daraus meines Erachtens: Der in Deutschland
gelebte Islam muss sich notwendigerweise unterscheiden von einem Islam, wie er in
traditionell muslimisch geprägten Gesellschaften vorherrscht. Islam in Deutschland
kann nur ein deutscher Islam sein. Das bedeutet keineswegs, dass er damit seine
aus der Religionsfreiheit fließende Eigenheit verliert. Doch er muss sich den
zentralen Werten unserer Gesellschaft und Rechtsordnung stellen.
Auch in praktischer Hinsicht sollten wir uns die Integration von Menschen anderer
Kulturkreise in unsere Gesellschaft nicht unnötig erschweren.
Dazu zwei Beispiele:
1. Die Debatte über die Wiedereinführung der Residenzpflicht von Flüchtlingen steht
dafür symptomatisch. Im hohen Ton der moralischen Überlegenheit wird für die
Bewegungsfreiheit der Menschen argumentiert.
Sie sollen sich aussuchen können, wo sie leben möchten. Würden wir uns nicht
auch wünschen, in der Nähe von Bekannten leben zu können? Wer sollte schon
dagegen sein? Zu schnell wird so der Status eines Flüchtlings mit dem Recht
eines Staatsbürgers gleichgesetzt.
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Fest steht aber, dass die erfolgreiche Integration eines Fremden in unsere
Mehrheitsgesellschaft nur schwerlich möglich ist, wenn er nur unter
Seinesgleichen lebt.
2. Das Erlernen von Deutsch wird oft und zu Recht als der Schlüssel für eine
gelingende Integration bezeichnet. Über nur mäßige Erfolge in dieser
Schlüsselfrage sollten wir uns allerdings nicht beklagen, wenn wir Schulklassen
mit einem über 60 Prozent liegenden Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund
zulassen, wie es in einigen deutschen Großstädten der Fall ist. Beispiele wie diese
sind es, welche die Grundlagen für die Angst vor dem Entstehen von sogenannten
Parallelgesellschaften schaffen.
Vielmehr brauchen wir in diesen, wie in vielen anderen Fragen, ein pragmatisches
Herangehen zur Lösung der Herausforderungen, anstelle des
erhobenen
Zeigefingers. So wie die Residenzpflicht nicht nur die sozialen Kosten regional
gerechter verteilt, sondern vielfach Integration erst ermöglicht. So könnte ein
Höchstquote von Kindern mit Migrationshintergrund in Schulklassen, das Erlernen
der deutschen Sprache vereinfachen und Überfremdungsängste erst gar nicht
entstehen lassen.
Die Thüringer sind besonders heimatbewusst und dennoch grundsätzlich offen
gegenüber Fremden. So stimmen 84 Prozent der von uns Befragten dem Satz zu:
„Thüringer ist, wer sich als Thüringer fühlt“. Die Abstammung halten nur 34
Prozent für wichtig. Der vorherrschende Heimatbegriff schließt niemanden aus, er
ist offen und integrativ. Er enthält aber auch die Erwartung, dass Fremde sich mit
unserem Land und seinen Gepflogenheiten vertraut machen und sich anpassen.
Über das Ausmaß der Anpassungsregeln müssen wir sprechen, dringend und
ohne ideologische Scheuklappen.
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