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BUNDESGERICHTSURTEIL ZUR «RINGLING»-SIEDLUNG IN ZÜRICH
Gericht als Architekturjury?
Das Bundesgericht in Lausanne hat dem Zürcher Projekt «Ringling»
die für Arealüberbauungen erforderliche «besonders gute Gestaltung»
abgesprochen. Die Baubewilligung ist damit aufgehoben.
Architekten wittern einen Skandal. Zu Recht?
D
ie Siedlung «Ringling» in
Zürich wird nicht gebaut.
Das Bundesgericht in Lau­
sanne hat die Baubewilligung für
die 277 Wohnungen im Stadtkreis
Höngg aufgehoben. Es gibt damit
den 80 Personen Recht, die in Lau­
sanne Beschwerde eingelegt hatten.
Das Projekt sei nicht besonders gut
gestaltet. Die Baugesetze des Kantons Zürich verlangen dies jedoch
für eine Arealüberbauung. Die geplante Siedlung ordne sich auch
nicht in die Umgebung ein.
Die Enttäuschung bei den
Projektinitianten ist gross. Die Gegner jubeln. Einige ­Architekten sind
empört. Aus Solidarität oder Überzeugung? Die Fachwelt diskutiert
den Fall zwar insgeheim, hält sich
aber überraschend bedeckt.
Bundesrichter als Juroren
Ein Fall wie viele andere? Sicher
nicht. Denn das Bundesgericht hat
in diesem Fall über die gute Gestaltung eines Bauprojekts entschieden.
Das ist ungewöhnlich. Und genau
hier setzt die Kritik der Architektenschaft an. Ein Bundesgericht könne
doch nicht über gute oder schlechte
Gestaltung entscheiden, heisst es.
Dafür fehle ihm die Kompetenz.
Dem möchte man spontan
zustimmen. Bei genauerem Hinsehen greift diese Kritik aber zu kurz.
Denn folgte man dieser Logik, würde man unsere Gerichtsbarkeit per
se infrage stellen. Denn Richter können in der Mehrzahl der Fälle gar
keine Fachexperten sein. Vielmehr
wägen sie zwischen den Interessen
der Öffentlichkeit und denen Einzelner ab. Das erfordert Neutralität und
Distanz zur Sache. Richter machen
sich kundig, holen Expertenmeinungen ein. Sie verschaffen sich ein Gesamtbild, betrachten die Rechtslage
und fällen dann ein Urteil.
So weit die Theorie. Nun zur
Praxis. Im vorliegenden Fall haben
sich die Richter die ihrem Urteil zugrunde liegende Expertise in Zürich
geholt, paradoxerweise bei jenen
Vorinstanzen, die das Projekt uni­
sono als bewilligungsfähig bezeichnet haben: die Zürcher Bausektion
sowie das kantonale Baurekursgericht und das Verwaltungsgericht.
Was haben sie zum Projekt gesagt?
«Kein Störfaktor» reicht
nicht
Interessant ist das Urteil des Baurekursgerichts. Immerhin besteht
es zur grossen Mehrheit aus Architekten und Ingenieuren – Fachleuten
also. Der «Ringling» sei «kein Störfaktor», urteilt dieses und weist die
Klage der Projektgegner ab. Genau
an dieser Einschätzung werden sich
die Bundesrichter später stossen.
«Kein Störfaktor» sei eben zu wenig
für eine Arealüberbauung, werden
sie sagen. Und damit das Projekt zu
Fall bringen.
Wollte das Baurekursgericht mit dieser Wortwahl lediglich
den Vorwurf der Gegner des Projekts
zurückweisen? Oder zeigt sich darin
leiser Zweifel an der guten städtebaulichen Eingliederung? Die Bundesrichter werden es in letzterem
Sinn interpretiert haben.
Qualität der städte­
baulichen Einordnung
David Leuthold von den Zürcher
pool Architekten, Mitglied im Ausschuss der Berufsgruppe Architektur des SIA, hat dazu eine klare Meinung: «Das Projekt ist eine sehr
überzeugende Antwort auf die Problemstellung. In einem kontextlosen
Siedlungsgebiet gelingt es den
Situationsmodell der Bebauung « Ringling» in Zürich Höngg nach Plänen von
Schneider Studer Primas Architekten.
Foto: Schneider Studer Primas GmbH
Text: Mike Siering
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­ erfassern, überzeugende neue RäuV
me zu entwerfen. Sie beobachten die
Topografie genau, modellieren das
vorgegebene Raumprogramm und
die Rahmenbedingungen geschickt
und schaffen eine überzeugende
Siedlung mit hoher Identifikationskraft. – Ich wäre gern stolzer Verfasser dieses Projekts.»
Der «Ringling» bildet als
Blockrandbebauung eine eigenständige Raumfigur. Seine Typologie wie
auch die Dimension wären neu gewesen im Quartier. Aber macht ihn
das automatisch zu einem schlecht
eingegliederten Projekt? Das Rüti­
hofquartier ist geprägt von einer
heterogenen Bebauungsstruktur.
Eine vorherrschende Bauform, an
die anzuknüpfen wäre, gibt es nicht.
Die Verfasser des «Ringling» wählen
daher eine mutige Lösung. Sie versuchen Identität zu schaffen in einem identitätsschwachen Umfeld.
Schiessen sie damit über das
Ziel hinaus? David Leuthold meint:
nein. Darüber werden Fachleute
wohl noch eine Weile diskutieren.
Leuthold stört noch etwas anderes:
«Dass die Interessen von Einzelpersonen aufgrund von unglücklichen
juristischen Formulierungen die
übergeordneten Interessen übersteuern, die anhand eines vorbild­
lichen Verfahrens erarbeitet wurden,
ist aus meiner Sicht massiv verfahrensschädigend.»
auch in Zukunft ihre vornehmliche
Aufgabe. Der Rechte betroffener
Minderheiten sollte sie sich dabei
bewusst sein.
Erkenntnis Nummer drei:
Die Instanzen, die über Projekte und
Rekurse entscheiden, müssen mit
ihrer Urteilsbegründung Klarheit
schaffen. Klarheit in den Argumenten und Klarheit in der Wortwahl.
Erkenntnisse und
Das gilt insbesondere für RekursgeErnüchterung
richte, die mit Baufachleuten besetzt
sind. Gelingt ihnen dies nicht, spieDer «Ringling» wird schon bald ver- len sie nachfolgenden Instanzen in
gessen sein. Und mit ihm eine zehn- die Hände. Damit erweisen sie dem
jährige Planungsgeschichte. Was öffentlichen Interesse womöglich
bleibt? Erkenntnis Nummer eins: einen Bärendienst. Ob das Urteil des
Anwohner haben das Recht, ihre Bundesgerichts ohne die ungeInteressen notfalls vor Gericht schickte Formulierung des Bau­
durchzusetzen. Diese Möglichkeit rekursgerichts – «kein Störfaktor» –
garantiert ihnen unser Rechtsstaat. aber wirklich anders ausgefallen
Das ist richtig und gut so. Sie hätten wäre? Zweifel daran sind angedie Pflicht, dieses Recht umsichtig bracht. •
einzufordern.
Erkenntnis Nummer zwei: Mike Siering, Dipl. Ing. Arch. RWTH/SIA,
Eine Stadt, eine Gemeinde, ein Kan- Dipl. Wirt.-Ing. ist Stellvertretender
SIA-Geschäftsführer und Leiter Kommuton hat die Pflicht, für übergeordne- nikation; [email protected]
te Interessen einzustehen. Das ist
Fall sinnvoll und legitim ist, die
fachlichen Gremien zu übersteuern.
Zähneknirschend müssen wir hinnehmen, dass viele Kultur- und
­qualitätslose Bauten ohne jegliche
öffentliche Debatten gebaut werden,
während dieses mutige und weg­
Auf Anregung der Redaktion formu- weisende Projekt, vorbildlich ent­
liert David Leuthold das folgende wickelt nach den Prinzipien der hoergänzende Statement zum Beitrag hen Standesregeln, von der obersten
von Mike Siering: «Aus meiner Sicht demokra­tischen Instanz gestoppt
ist die zitierte Aussage des Rekurs- wird.» •
gerichts, das Projekt sei ‹kein Störfaktor›, in diesem Fall eine Replik David Leuthold ist Partner des Zürcher
Büros Pool Architekten und Mitglied im
auf die Behauptung, das Projekt sei Ausschuss der SIA-Berufsgruppe Archiein Störfaktor – und somit sehr wohl tektur
positiv zu werten und in einer ju­
ristischen Auseinandersetzung als
Qualitätszeugnis vollkommen ausreichend.
Dementsprechend braucht
es hier nicht nur eine juristische,
sondern auch eine inhaltliche Klärung; insbesondere muss die Frage
erlaubt sein, ob das Bundesgericht
in der Lage ist, diesen Sachverhalt Die Zeitschrift «Hochparterre» widstädtebaulich zu beurteilen, bezie- met ihren kommenden Städtebau-­
hungsweise ob es in einem solchen Stammtisch am 7. November dem
«Kein Stör­
faktor» reicht
sehr wohl
Diskussion
zum Thema
Ringling
Thema der gescheiterten Arealüberbauung «Ringling» in Zürich Höngg:
«Warum überstimmt das Bundes­
gericht frühere Urteile, auch von
Expertenjurys? Inwieweit bedroht
das Urteil künftige städtebauliche
und architektonische Mass­stabs­
sprünge?» Dies sind zwei der Fragen
aus der Ankündigung des Podiumsgesprächs, an dem Ursula Müller,
Direktorin des Amts für Hochbauten
der Stadt Zürich, Alt-Bundesrichter
und Baurechtsexperte Heinz Aemis­
egger, Raumplaner Jakob Maurer
(ETH) sowie Architekt Adrian
Streich (Jurymitglied des Projektwettbewerbs) teilnehmen werden. •
STÄDTEBAU-STAMMTISCH ZUM
THEMA «RINGLING»
Wo: Restaurant Desperado,
­L immattalstrasse 215, Zürich Höngg
Wann: Montag, 7. Nov. 2016, 19 Uhr
Infos und Anmeldung via:
www.hochparterre.ch/veranstaltungen