18 TEC21 44/2016 BUNDESGERICHTSURTEIL ZUR «RINGLING»-SIEDLUNG IN ZÜRICH Gericht als Architekturjury? Das Bundesgericht in Lausanne hat dem Zürcher Projekt «Ringling» die für Arealüberbauungen erforderliche «besonders gute Gestaltung» abgesprochen. Die Baubewilligung ist damit aufgehoben. Architekten wittern einen Skandal. Zu Recht? D ie Siedlung «Ringling» in Zürich wird nicht gebaut. Das Bundesgericht in Lau sanne hat die Baubewilligung für die 277 Wohnungen im Stadtkreis Höngg aufgehoben. Es gibt damit den 80 Personen Recht, die in Lau sanne Beschwerde eingelegt hatten. Das Projekt sei nicht besonders gut gestaltet. Die Baugesetze des Kantons Zürich verlangen dies jedoch für eine Arealüberbauung. Die geplante Siedlung ordne sich auch nicht in die Umgebung ein. Die Enttäuschung bei den Projektinitianten ist gross. Die Gegner jubeln. Einige Architekten sind empört. Aus Solidarität oder Überzeugung? Die Fachwelt diskutiert den Fall zwar insgeheim, hält sich aber überraschend bedeckt. Bundesrichter als Juroren Ein Fall wie viele andere? Sicher nicht. Denn das Bundesgericht hat in diesem Fall über die gute Gestaltung eines Bauprojekts entschieden. Das ist ungewöhnlich. Und genau hier setzt die Kritik der Architektenschaft an. Ein Bundesgericht könne doch nicht über gute oder schlechte Gestaltung entscheiden, heisst es. Dafür fehle ihm die Kompetenz. Dem möchte man spontan zustimmen. Bei genauerem Hinsehen greift diese Kritik aber zu kurz. Denn folgte man dieser Logik, würde man unsere Gerichtsbarkeit per se infrage stellen. Denn Richter können in der Mehrzahl der Fälle gar keine Fachexperten sein. Vielmehr wägen sie zwischen den Interessen der Öffentlichkeit und denen Einzelner ab. Das erfordert Neutralität und Distanz zur Sache. Richter machen sich kundig, holen Expertenmeinungen ein. Sie verschaffen sich ein Gesamtbild, betrachten die Rechtslage und fällen dann ein Urteil. So weit die Theorie. Nun zur Praxis. Im vorliegenden Fall haben sich die Richter die ihrem Urteil zugrunde liegende Expertise in Zürich geholt, paradoxerweise bei jenen Vorinstanzen, die das Projekt uni sono als bewilligungsfähig bezeichnet haben: die Zürcher Bausektion sowie das kantonale Baurekursgericht und das Verwaltungsgericht. Was haben sie zum Projekt gesagt? «Kein Störfaktor» reicht nicht Interessant ist das Urteil des Baurekursgerichts. Immerhin besteht es zur grossen Mehrheit aus Architekten und Ingenieuren – Fachleuten also. Der «Ringling» sei «kein Störfaktor», urteilt dieses und weist die Klage der Projektgegner ab. Genau an dieser Einschätzung werden sich die Bundesrichter später stossen. «Kein Störfaktor» sei eben zu wenig für eine Arealüberbauung, werden sie sagen. Und damit das Projekt zu Fall bringen. Wollte das Baurekursgericht mit dieser Wortwahl lediglich den Vorwurf der Gegner des Projekts zurückweisen? Oder zeigt sich darin leiser Zweifel an der guten städtebaulichen Eingliederung? Die Bundesrichter werden es in letzterem Sinn interpretiert haben. Qualität der städte baulichen Einordnung David Leuthold von den Zürcher pool Architekten, Mitglied im Ausschuss der Berufsgruppe Architektur des SIA, hat dazu eine klare Meinung: «Das Projekt ist eine sehr überzeugende Antwort auf die Problemstellung. In einem kontextlosen Siedlungsgebiet gelingt es den Situationsmodell der Bebauung « Ringling» in Zürich Höngg nach Plänen von Schneider Studer Primas Architekten. Foto: Schneider Studer Primas GmbH Text: Mike Siering 19 TEC21 44/2016 erfassern, überzeugende neue RäuV me zu entwerfen. Sie beobachten die Topografie genau, modellieren das vorgegebene Raumprogramm und die Rahmenbedingungen geschickt und schaffen eine überzeugende Siedlung mit hoher Identifikationskraft. – Ich wäre gern stolzer Verfasser dieses Projekts.» Der «Ringling» bildet als Blockrandbebauung eine eigenständige Raumfigur. Seine Typologie wie auch die Dimension wären neu gewesen im Quartier. Aber macht ihn das automatisch zu einem schlecht eingegliederten Projekt? Das Rüti hofquartier ist geprägt von einer heterogenen Bebauungsstruktur. Eine vorherrschende Bauform, an die anzuknüpfen wäre, gibt es nicht. Die Verfasser des «Ringling» wählen daher eine mutige Lösung. Sie versuchen Identität zu schaffen in einem identitätsschwachen Umfeld. Schiessen sie damit über das Ziel hinaus? David Leuthold meint: nein. Darüber werden Fachleute wohl noch eine Weile diskutieren. Leuthold stört noch etwas anderes: «Dass die Interessen von Einzelpersonen aufgrund von unglücklichen juristischen Formulierungen die übergeordneten Interessen übersteuern, die anhand eines vorbild lichen Verfahrens erarbeitet wurden, ist aus meiner Sicht massiv verfahrensschädigend.» auch in Zukunft ihre vornehmliche Aufgabe. Der Rechte betroffener Minderheiten sollte sie sich dabei bewusst sein. Erkenntnis Nummer drei: Die Instanzen, die über Projekte und Rekurse entscheiden, müssen mit ihrer Urteilsbegründung Klarheit schaffen. Klarheit in den Argumenten und Klarheit in der Wortwahl. Erkenntnisse und Das gilt insbesondere für RekursgeErnüchterung richte, die mit Baufachleuten besetzt sind. Gelingt ihnen dies nicht, spieDer «Ringling» wird schon bald ver- len sie nachfolgenden Instanzen in gessen sein. Und mit ihm eine zehn- die Hände. Damit erweisen sie dem jährige Planungsgeschichte. Was öffentlichen Interesse womöglich bleibt? Erkenntnis Nummer eins: einen Bärendienst. Ob das Urteil des Anwohner haben das Recht, ihre Bundesgerichts ohne die ungeInteressen notfalls vor Gericht schickte Formulierung des Bau durchzusetzen. Diese Möglichkeit rekursgerichts – «kein Störfaktor» – garantiert ihnen unser Rechtsstaat. aber wirklich anders ausgefallen Das ist richtig und gut so. Sie hätten wäre? Zweifel daran sind angedie Pflicht, dieses Recht umsichtig bracht. • einzufordern. Erkenntnis Nummer zwei: Mike Siering, Dipl. Ing. Arch. RWTH/SIA, Eine Stadt, eine Gemeinde, ein Kan- Dipl. Wirt.-Ing. ist Stellvertretender SIA-Geschäftsführer und Leiter Kommuton hat die Pflicht, für übergeordne- nikation; [email protected] te Interessen einzustehen. Das ist Fall sinnvoll und legitim ist, die fachlichen Gremien zu übersteuern. Zähneknirschend müssen wir hinnehmen, dass viele Kultur- und qualitätslose Bauten ohne jegliche öffentliche Debatten gebaut werden, während dieses mutige und weg Auf Anregung der Redaktion formu- weisende Projekt, vorbildlich ent liert David Leuthold das folgende wickelt nach den Prinzipien der hoergänzende Statement zum Beitrag hen Standesregeln, von der obersten von Mike Siering: «Aus meiner Sicht demokratischen Instanz gestoppt ist die zitierte Aussage des Rekurs- wird.» • gerichts, das Projekt sei ‹kein Störfaktor›, in diesem Fall eine Replik David Leuthold ist Partner des Zürcher Büros Pool Architekten und Mitglied im auf die Behauptung, das Projekt sei Ausschuss der SIA-Berufsgruppe Archiein Störfaktor – und somit sehr wohl tektur positiv zu werten und in einer ju ristischen Auseinandersetzung als Qualitätszeugnis vollkommen ausreichend. Dementsprechend braucht es hier nicht nur eine juristische, sondern auch eine inhaltliche Klärung; insbesondere muss die Frage erlaubt sein, ob das Bundesgericht in der Lage ist, diesen Sachverhalt Die Zeitschrift «Hochparterre» widstädtebaulich zu beurteilen, bezie- met ihren kommenden Städtebau- hungsweise ob es in einem solchen Stammtisch am 7. November dem «Kein Stör faktor» reicht sehr wohl Diskussion zum Thema Ringling Thema der gescheiterten Arealüberbauung «Ringling» in Zürich Höngg: «Warum überstimmt das Bundes gericht frühere Urteile, auch von Expertenjurys? Inwieweit bedroht das Urteil künftige städtebauliche und architektonische Massstabs sprünge?» Dies sind zwei der Fragen aus der Ankündigung des Podiumsgesprächs, an dem Ursula Müller, Direktorin des Amts für Hochbauten der Stadt Zürich, Alt-Bundesrichter und Baurechtsexperte Heinz Aemis egger, Raumplaner Jakob Maurer (ETH) sowie Architekt Adrian Streich (Jurymitglied des Projektwettbewerbs) teilnehmen werden. • STÄDTEBAU-STAMMTISCH ZUM THEMA «RINGLING» Wo: Restaurant Desperado, L immattalstrasse 215, Zürich Höngg Wann: Montag, 7. Nov. 2016, 19 Uhr Infos und Anmeldung via: www.hochparterre.ch/veranstaltungen
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