Glaubenssachen -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Sonntag, 6. November 2016, 08.40 Uhr ARD-Themenwoche „Zukunft der Arbeit“ Was ist der Mensch ohne Arbeit? Theologische Gedanken im Zeitalter der Automation Von Mathias Greffrath Redaktion: Florian Breitmeier Norddeutscher Rundfunk Religion und Gesellschaft Rudolf-von-Bennigsen-Ufer 22 30169 Hannover Tel.: 0511/988-2395 www.ndr.de/ndrkultur - Unkorrigiertes Manuskript Zur Verfügung gestellt vom NDR Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für private Zwecke des Empfängers benutzt werden. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors zulässig. Die Verwendung für Rundfunkzwecke bedarf der Genehmigung des NDR. 2 Er scheint wieder einmal näher gerückt. Der Traum von einer Welt, in der Roboter und Algorithmen uns von so ziemlich allem entlasten, was körperliche oder geistige Anstrengung ist. Internet der Dinge - so heißt der jüngste Traum des technologieverliebten Teils der Menschheit. Aber die Delegation von Beschäftigungen wie Kochen, Gärtnern, Einkaufen, Rasenmähen an Automaten und die aberwitzige Produktenschwemme, die sich da ankündigt, sie ist nur das Nebenprodukt der anderen, der großen Automatisierungswelle. Industrie 4.0, so heisst die konsequente Fortsetzung der industriellen Tendenz zur Ersetzung von menschlicher Arbeit durch Automaten. Werkstücke suchen selbsttätig ihre Weg durch Produktionsanlagen; in logistischen Zentren stellen selbstfahrende Transportvehikel Lieferungen und Ladungen zusammen, die von Drohnen ausgeliefert werden; unsere Ernährung wird sichergestellt von Landwirten, die nicht mehr aufs Feld gehen, sondern vom häuslichen Computer aus GPS-gestützte Säh- und Erntemaschinen über quadratkilometergroße Felder fahren lassen. Längst haben wir die historische Epoche hinter uns gelassen, in der nur körperliche Arbeiten automatisiert wurden. Schon verfassen Textmaschinen juristische Urteile, Zeitungsartikel und Geschäftsbriefe; demnächst schon könnten Behörden aller Art auf die Größe von interaktiven Websites schrumpfen und rollende Roboter in den Krankenhäusern Medikamente und Mahlzeiten verteilen. Wieder einmal verändert sich die Arbeitswelt - und die Denkschrift des Bundesverbands der Arbeitgeber liest sich wie ein Drohbrief: es müsse noch mehr Werkverträge, Zeitarbeit und befristete Beschäftigung geben, Arbeitnehmer flexibel und rund um die Uhr verfügbar sein, damit im Produktionsprozess auch auf kurzfristige Schwankungen reagiert werden könne , und der Acht-Stunden-Tag, die regelmäßigen Ruhezeiten sowie die Feier- und Sonntagsruhe passten ohnehin nicht mehr in diese neue Zeit. Hinter diesen Drohungen wächst die große Furcht vor einer neuen Welle der Arbeitslosigkeit. Aktuelle Prognosen von Sozialwissenschaftlern sagen voraus, dass in den nächsten Jahrzehnten jeder zweite Beruf verschwinden könnte. Aber nicht nur Arbeitsplätze schrumpfen, sondern auch die Menschen und ihre Fähigkeiten. „Backen, Schuhe machen, Drucken, kann ich alles...“ – es klang nicht stolz, was die Angestellte einer Großbäckerei dem Soziologen Richard Sennett vor zwanzig Jahren sagte. Es klang eher elend, denn in Wirklichkeit bediente sie, was immer sie tat, nur die Benutzeroberfläche einer Computeranlage. In seinem Essay über den „flexiblen Menschen“ drückte Sennett die Furcht aus, dass Menschen, die nur noch „beschäftigt“ werden, innerlich immer kleiner werden, (weil sie wissen, auch diesen Schrumpfjob werden sie nur behalten, solange ihre Arbeitskraft billiger ist als die Maschinen,) weil sie keine Fähigkeiten mehr haben, die sie unverwechselbar machen. Krass und klar resümiert die Philosophin Hannah Arendt: „Wenn Arbeit und die in ihr erreichbare Lebenserfahrung zunehmend aus dem menschlichen Erfahrungsbereich 3 ausgeschaltet (wird)..., wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, entwickeln wir uns zurück. In eine Tiergattung.“ Der Mensch als Arbeitender, als „das Werkzeug produzierende Tier“ - das war eine wesentliche, vielleicht sogar die entscheidende Grundlage des sogenannten judäochristlichen Menschenbildes. Denn in der Bibel spielt die Arbeit von Beginn eine zentrale Rolle. Eigentlich schon im Ursprung, in der Schöpfung der Welt durch Gott: nicht im Rausch entsteht die Welt, wie wir es bei orientalischen Gottheiten finden, nicht als Hervorgehen aus dem Chaos, sondern durch göttliche Arbeit. Gott wird von den Schreibern des Alten Testaments wie ein Arbeiter vorgestellt, der planmäßig ein Stück nach dem anderen produziert, am Ende alles der Qualitätskontrolle unterwirft, für gut befindet und ins Wochenende geht. Und auch die ersten Menschen werden gleichsam zur Arbeit angestellt. Als Gott die Erde geschaffen hatte, mit allem, was drauf war, da bemerkte er, „dass kein Mensch da war, der das Land bebaute“, also schuf er den Menschen und „setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte“. Arbeit, das ist die erste biblische Aussage über den Menschen, ist die Fortsetzung des göttlichen Schöpfungswerkes mit irdischen Mitteln, und mit der Geschichte von Kains Söhnen, die die erste Stadt gründen, beginnt die Geschichte der Arbeitsteilung. Und die zweite Botschaft des Alten Testamentes lautet: Arbeit soll frei sein. Der Auszug aus der ägyptischen Gefangenschaft wird bejubelt als einer aus dem Regime der Sklaven-, und Zwangsarbeit. Die Erzählung vom Tempelbau des Salomon hingegen die Arbeit der befreiten Israeliten - enthält eine überaus detaillierte Beschreibung von Bautechniken und handwerklichen Fähigkeiten, - eine wahre Vergöttlichung der schöpferischen Arbeit. (1. Könige 5, 15 ff.) Arbeit ist mühselig, davon berichten die Psalmen und die Sprüche Salomos, aber sie soll frei sein - und wo das noch nicht erreicht ist, sollen Herren und Knechte wenigstens am Sabbat aus ihren Rollen fallen. In der Gemeinschaft sollen die Unterschiede nicht zu groß werden: das ist die Botschaft des Jesaja, wie sie sich im Gebot des periodischen Schuldenerlasses ausdrückt, und des Jubeljahres, in dem das Land neu verteilt werden sollte. Tief in der jüdischen Tradition steckt der Gedanke dieser Gleichheit in der Arbeit und durch die Arbeit. Das gute Leben findet in der Arbeit statt, nicht jenseits von ihr. Und auch, wenn das Neue Testament keine ausformulierte Ethik der Arbeit enthält: die Jünger Jesu, ja Jesus selbst, sie sind Handwerker - zum Erstaunen der theologischen Eliten: Interessant was er da sagt, rufen sie sich zu - aber ist er nicht ein Zimmermann? Viele der Gleichnisse entstammen der Welt der Arbeit: der Weinbauern, der Fischer, der Zöllner, der Baumeister, der Hirten - und das arbeitslose Einkommen der Geldhändler ist ein Skandal. Schließlich: die Attraktivität der neuen Religion verdankte sich der Tatsache, dass sie keine Rangordnung der Menschen, keine Klassen kennt, keinen Unterschied zwischen den Menschen machte - jedenfalls in ihrer Lehre. 4 Und auch wenn die christliche Welt des Mittelalter herrschaftlich durchsetzt war und Menschen als Leibeigene schuften mußten, oder als feudale Pächter einen Teil ihrer Arbeitskraft abgeben mußten: in den Klöstern wurde die Arbeit, jegliche Arbeit, ob nun körperlich oder geistig, aufgewertet. „Ora et labora“ hieß Benedikts Ordensregel, Gott dienen, durch Gebet - und durch Arbeit. Franz von Assisi sagte; „Ich will arbeiten und es ist mein fester Wille, dass alle anderen Brüder eine Handarbeit verrichten, die anständig ist“ - wobei anständig hieß: ein nützliches, womöglich künstlerisches Handwerk auszuüben. Und in den Klöstern wurden die wissenschaftlichen und technischen Techniken dann auch entworfen, die der neuzeitliche Kapitalismus später so dynamisch ausbauen sollte. Mit der Reformation wurde das Arbeitsethos dann noch einmal radikalisiert. Im agrarisch-feudalen Mittelalter war die produktive Tätigkeit von den Wechselfällen der Natur abhängig, die Arbeit der Bauern hart und elend: das war der biblische Fluch, und die Erbsünde musste unter der Knute der Herren abgearbeitet werden auf dem Weg zum Heil. Nun aber werden Arbeit, Fleiß und Kaufmannsehre zu theologischen Themen. Im Protestantismus wird der Beruf - die qualifizierte Tätigkeit - geheiligt, im Calvinismus der Erwerb zum Zeichen göttlicher Erwähltheit erklärt. Das sind die religiösen Untergründe des frühen Kapitalismus, und seine Protagonisten sind arbeitsam und investieren den Gewinn, den sie machen, in immer neue Maschinen, Fabriken, Techniken. Was immer sie sonst noch treibt: Gier, Bereicherungstrieb, Herrschsucht - die Theologie der Arbeit und ihre Pastoren attestieren ihnen Gottgefälligkeit. Das abendländische Aktivitätskommando, das den Siegeszug der Menschen über die Natur und über andere Menschen antritt, braucht ein gutes Gewissen. Arbeit, das ist der Heilige Gral des Bürgertums - jedenfalls in seiner Idealvorstellung. In der Frontstellung der frühen Bürger gegen die alten, feudalen Herren wird die Arbeit zur Legitimationsquelle. Nur Arbeit gibt den Dingen Wert und begründet ein Recht auf Eigentum, sagt John Locke. Die Arbeit schafft den Reichtum der Nationen und ist die Quelle des Wohlstands in der Theorie Adam Smiths. Und das Kapital, das die Arbeit anstellt, ist nichts anderes als vorgetane Arbeit, schreibt David Ricardo - und ihm folgend Karl Marx, für den die Geschichte der Werkzeuge das „aufgeschlagene Buch der menschlichen Psychologie“ ist und die „ganze Weltgeschichte nichts anderes als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit“. Oder eben seine Verformung, Ausbeutung und Pervertierung durch die kapitalistischen Exzesse seiner Zeit. Die Heiligsprechung der Arbeit und die Rechtfertigung des Eigentums durch Arbeit fand freilich - trotz der Gleichheitsparolen der Französischen Revolution, trotz der schönen Lehre des Thomas von Aquin, nach der „die Güter der Erde für alle da sind“ eine Schranke an eben diesem bürgerlichen Eigentum. „Ich habe“, so sagte es der Jesuit Oswald von Nell-Breuning, einer der großen Vertreter der katholischen Soziallehre im 20. Jahrhundert, „mein ganzes Leben versucht, das Unrecht wettzumachen, das die Kirche den Arbeitern im 19. Jahrhundert angetan hat.“ Das Unrecht, nur das kapitalistische Eigentum zu verteidigen. „Der Ausspruch: Das 5 Eigentum ist Diebstahl, enthält neben einer großen Lüge zugleich eine furchtbare Wahrheit“ - wer so sprach, wie etwa Wilhelm von Kettler, der Bischof von Mainz, der war ein Jahrhundert lang in einer furchbaren Minderheit in der katholischen Kirche und bei den Protestanten war es nicht anders. Das ist sehr vereinfacht, es ignoriert die karitative Tätigkeit der Kirchen und die Rebellen in ihrem Inneren, aber aufs Ganze gesehen, verpassten die Kirchen das historische Rendezvous mit der entstehenden Arbeiterbewegung, und die reagierte mit einer Verschärfung ihres Atheismus. Springen wir zurück in die Gegenwart - und die beginnende neue Welle der Automation. Was kann die Theologie dazu sagen? „Seit unserer Erschaffung sind wir zur Arbeit berufen“, schreibt Papst Franziskus in seiner jüngsten Enzyklika, Laudato Si. Und weiter: „(...) Die Arbeit ist eine Notwendigkeit, sie ist Teil des Sinns des Lebens auf dieser Erde, Weg der Reifung, der menschlichen Entwicklung und der persönlichen Verwirklichung.“(128) Ähnliche Bestimmungen der Arbeit finden sich auch bei den Protestanten. Und im gemeinsamen Sozialwort der großen Kirchen von 1997 heisst es: „Der Mensch ist für ein tätiges Leben geschaffen und erfährt dessen Sinnhaftigkeit im Austausch mit seinen Mitmenschen.“ Aus christlicher Sicht sei daher „das Menschenrecht auf Arbeit unmittelbarer Ausdruck der Menschenwürde“. Die Bibel, die Enzykliken und theologischen Orientierungshilfen - das ist eine. Das andere ist das konkrete Handeln der Kirchen. Und dass dieses durchaus von dieser Welt ist, kann man zum Beispiel an der Redaktionsgeschichte dieses Sozialworts von 1997 verfolgen. Die Feststellung, „dass der Mensch und seine Arbeit mehr sind als das Kapital“ - der Vorrang der Arbeit vor dem Kapital also - findet sich zwar in drei Vorstufen des Sozialworts, aber nicht im veröffentlichten Dokument selbst. Und mit dem Wort Kapitalismus tun sich fast alle Denkschriften bis heute schwer - eine Ausnahme war der polnische Papst, der im Jahre 1981 in seiner Enzyklika Laborem exercens zum ersten Mal weniger das Verhältnis von Kapital und Arbeit - also den sozialen Ausgleich - in den Vordergrund gestellt hatte, sondern die Arbeit selbst - und ihren Vorrang vor dem Kapital, und zwar auf allen Ebenen, von der einfachen Arbeit einfacher Menschen bis zur Sozial- und Wirtschaftspolitik. Vorrang der Arbeit das klingt gut. Aber was bedeutet das nun im Hinblick auf die unmittelbare Zukunft der Arbeit also auf den nächsten zu erwartenden Automatisierungsschub? „Man darf nicht danach trachten, dass der technologische Fortschritt immer mehr die menschliche Arbeit verdränge“, schreibt Papst Franziskus, und, da er aus jenem Teil der Welt kommt, in dem immer häufiger kleine Landwirte von Großgrundbesitzern vertrieben werden, und immer mehr Natur zerstört wird, um des Profits willen, fordert er nicht nur mehr ökologisches Handeln, sondern auch einen Schutz der Kleinproduzenten. Aber wie ist es mit den Industrien? Wäre es nicht kontraproduktiv, und ohnehin aussichtslos, Arbeitsplätze auf einem überholten technologischen Niveau zu erhalten? 6 Nicht nur das, es würde uns wiederum um etwas berauben, das für den Papst auf der Positivliste der menschlichen Eigenschaften steht. Um die Freude am Fortschritt. „Es ist recht“, so heisst es in Laudato Si, „sich über diese Fortschritte zu freuen (...) da „Wissenschaft und Technologie ein großartiges Produkt gottgeschenkter Kreativität“ sind. Und dann gerät der Papst ins Schwärmen, wie einst Karl Marx, wenn er die Bourgeoisie für die Entwicklung der Produktivkräfte lobte. Dampfmaschine, Eisenbahn, Telegraph, Elektrizität, Automobil, chemische Industrien, moderne Medizin, Informatik, digitale Revolution, Robotertechnik, Bio- und Nanotechnologien - all das habe, so Franziskus, die Lebensqualität der Menschen verbessert. Und, so schließt die Eloge, die Technik hat Schönheit in die Welt gebracht, menschliche Schönheit. „Kann man denn“, schreibt Franziskus und verstört damit die Kulturkonservativen, „die Schönheit eines Flugzeuges oder mancher Wolkenkratzer leugnen? Es gibt wunderschöne Werke der Malerei und der Musik, die durch die Verwendung neuer technischer Mittel erzielt wurden. So vollzieht sich (...) ein Sprung in eine gewisse echt menschliche Fülle.“ Fülle und Schönheit – sind vielleicht ungewohnte Worte, wenn es um HiTec geht. Fülle und Schönheit - können wir sie auch der Automation finden? Und genau hier sind wir an einem Scheideweg. Hier entscheidet es sich, ob die Digitalisierung uns bereichert, oder ob sie uns noch weiter entfernt vom homo sapiens, vom „werkzeugmachenden Tier“. „Irgendwann“, so hatte der Philosoph und Ökonom Karl Marx vor hundertfünfzig Jahren gespottet, würde der Hi-Tec-Kapitalismus die Arbeiter ernähren müssen, weil er sie nicht mehr alle ausbeuten kann. Diesem Zeitpunkt scheinen wir uns - hierzulande derzeit zu nähern. Und das führt in eine Zukunft, in der die Gesellschaft auf Dauer gespalten wäre: in eine hochproduktive, Kernbelegschaft mit Premium-Konsum, und eine mit Rationen zum physischen Überleben und virtuellen Genüssen stillgestellte Unterschicht ohne Perspektiven - diejenigen, die der Fortschritt nicht mehr braucht. Die Alternative - das wäre die Vollendung der europäischen Geschichte der Arbeit. Deren Fluchtpunkt - in den Schriften der bürgerlichen Aufklärer und Ökonomen - war immer die Verkürzung der Arbeitszeit. Irgendwann, so schrieb es der Liberale John Stuart Mill im 19. Jahrhundert, würden die nicht endenden Fortschritte der Produktivität „statt nur dem einen Zweck zu dienen, den Reichtum zu vermehren, seine einzig legitime Wirkung entfalten könnten: die Arbeitszeit zu verkürzen (...) mehr Menschen als heute, der mühseligsten Arbeit (entheben und) genug Mußezeit (verschafften) damit sie in aller Freiheit die anmutigen Seiten des Lebens kultivieren können“. Damit wäre auch eine Automation beschrieben, die uns wahre Fülle schenkt: Fülle an Leben, Fülle an Muße und Genuß, Fülle an freier Zeit. Und in den Dreissiger Jahren des vorigen Jahrhunderts rechnete John Maynard Keynes damit, dass seine Enkel - also wir - aufgrund des technischen Fortschritts vielleicht nur noch drei Stunden am Tag, 15 Stunden in der Woche arbeiten müßten. 7 Ein Tag in der Woche werde bald reichen, sagte vor einer Generation Oswald NellBreuning, der Nestor der katholischen Soziallehre in Deutschland. Wegen der immer weiter steigenden Produktivität, aber auch, weil wir aus ökologischen Gründen und um vorausschauend mit den Ressourcen der Menschheit zu wirtschaften das Wachstum in den reichen Ländern drosseln müssten. Vollbeschäftigung, das ist nichts statisches, sondern beruht auf einer jeweils auszuhandelnden und historisch wandelbaren Arbeitszeit. So hat sich die Zahl der Arbeitsstunden pro Jahr und Kopf der Bevölkerung hat sich von 1900 bis zum Jahr 2000 halbiert. Und es ist gar nicht einzusehen, dass dieser Trend am Ende ist, und warum eine Gesellschaft unmöglich sein soll, in der jeder in fünf Tagen à fünf Arbeitsstunden seinen materiellen Bedarf erarbeiten kann. Rein rechnerisch ginge diese Gleichung schon heute auf. Die Voraussetzung dafür wäre freilich ein Bildungssystem, das keine funktionalen Analphabeten mehr produziert, sondern gesellschaftlich denkende Wesen mit nützlichen Fähigkeiten – und, schon aus ökologischen Gründen, eine Änderung der Konsumansprüche. Vieles im europäischen Nachdenken über Arbeit läuft auf eine Art Gesellschaft zu, in der jeder zum einen am System der Erwerbsarbeit teilnimmt – weil er hier Teilhaber und Teilnehmer an der notwendigen Arbeit der Gesellschaft ist. Zum anderen aber jeder ausreichend Muße hat, um sich kulturell zu betätigen, weiterzubilden, an der Politik teilzunehmen. Und schließlich: über ein drittes Zeitsegment verfügt, in dem er und sie Arbeiten verrichten kann, die eigentlich gar nicht für Geld getan werden sollten: Kinder groß ziehen zum Beispiel, Alte pflegen, die eigene Umwelt gestalten, Gemeinschaft bilden, künstlerisch kreativ sein. Nach 200 Jahren industriellen Fleisses verdiente diese Idee einer „Dreizeitgesellschaft“ den Namen einer realistischen Utopie. „Den Armen mit Geld zu helfen“, schreibt Papst Franziskus, „muss in diesem Sinn immer eine provisorische Lösung sein, um den Dringlichkeiten abzuhelfen. Das große Ziel muss immer sein, (...) allen Zugang zur Arbeit zu verschaffen“. Denn solange die Armen bloß Empfänger von Leistungen und Zuwendungen bleiben, werden sie arm bleiben. Unter ihren Möglichkeiten, an Gesellschaft mitzuwirken. Es gibt keinen rechtlichen Anspruch auf eine Politik, die dieses Ziel verfolgt. Wohl aber einen historischen. Denn, so Johannes Paul II: das KAPITAL ist „das geschichtlich gewachsene Erbe menschlicher Arbeit. Alle Produktionsmittel, von den primitivsten bis zu den ultramodernen, sind nach und nach vom Menschen erarbeitet worden, von seiner Erfahrung und seiner Intelligenz. (...) Alles, was beim heutigen Stand der Technik ihr immer vollkommeneres »Werkzeug« darstellt, (ist) eine Frucht der Arbeit. Die Automatisierung steht deshalb auf den Schultern der gesamten Geschichte der Arbeit. Denn was sind die die Algorithmen der Produktion 4.0 anderes als die geronnene Arbeit der Geschichte? Künstliche Intelligenz und Informationstechnologien 8 erfinden keine neue Welt; sie verarbeiten den in Algorithmen verwandelten historisch erworbenen Schatz an Erkenntnissen, Fähigkeiten, Erfahrungen und Methoden ganzer Berufe und Technologien. Wissen, das an Erfahrung und deshalb an Personen gebunden war, wird nun als Software - zum Eigentum derer, die es kaufen und anwenden. Wissen wird von einer Eigenschaft der Arbeit zum Eigentum des Kapitals. „Wir sind die Erben von zwei Jahrhunderten enormer Veränderungswellen“, schreibt Franziskus - und solange dieses Bewusstsein nicht wächst, solange werden die einen sich mehr oder fast alles vom Menschheitserbe an Arbeit aneignen und die anderen gerade soviel, dass sie über die Runden kommen. Solange wir diese Erkenntnis ignorieren, werden die einen über die Richtung, das Tempo und die Gegenstände der Arbeit bestimmen, und die anderen es erdulden. *** Zum Autor: Mathias Greffrath, Soziologe und Autor; schreibt u.a. Essays für den Norddeutschen Rundfunk, Zeit und Süddeutsche Zeitung, die deutsche Ausgabe von le monde diplomatique und die tageszeitung
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