literatur und kunst - Neue Zürcher Zeitung

3lnic ^iirrfjcr Mtn%
Leonard Cohen
Hinweis mil seine Songs
Wh. Das gibt es immer wieder: man hört jemanden reden oder singen, nimmt Wörter wahr
und erfaßt Satzordnungen und weiß noch nicht,
was ausgedruckt werden soll - und versteht doch
das Ganze. Man versteht, bevor man weiß, und
macht sich nuf, um dus Wissen an die Seite des
Verstehcns zu bringen; die deutsche Umgangssprache sagt dafür: einer Sache nnchgehn».
Das
ist vielleicht eine Umschreibung für «menschlich
leben». Und die Begegnung mit Kunst wäre
glcichnishaft, wäre Modell für ein allgemeineres
Der Sache nachgehn
So auch bei diesem «Sony'
.
SU
/AN NT
Suiannv lukcs von down in her place nein ihe rlvei
)
oii um hear tltc boats vo hy
You vnii spend ihr night beslde her
crai
Ami you know Ihm she's hall y
Hm ihat's why you wanl to bc liiere
lud \/k feeds you lea und oranges
I Ittil conic all ihr woy hont China
And lusl when you mean tt> teil her
Thal \<m Inn i- im love in glve hei
Fiten \he vets you an her wavelenglh
And sin- lets ihr rivei tmswer
/hat you've atways been her tover
hui \nu wanl lo Havel wilh her
And von wanl to Havel blind
And you hin» thai she will iru.il you
I oi voit've touched her per/eel body uith youi wind
And Jesus was a suilot
When h
e wulked upon ihe walei
iml In \penl ii h'in: iiine walcliing
I mm bis Iniieh »linden Iowei
\nd when he kni'W tot' ccrlaill
Onlv drowning inen coitld see hui)
lle sind <AII inen will he snilors
I niil e
i h seil \ludl free ihent»
00
LITERATUR UND KUNST
llten
Hut he Idmself was hinken
l.onn before ihe sky wonld open
loisaken. almost human
lle sank henealh your wisdom Itke a stoin
And von wanl lo Havel wilh him
And von wanl lo Havel blind
lud von lliink tnavhe you'll trnsl htm
Im he\ iiiiiiliid sonr perleil bod\ Willi Ins nu'nd
S'ow Suziinnc takes your Ittind
\nd she leads von lo tltc river
Site is weorlng rags and fealhers
I rom Snlvniioit Ariny cotimeis
\nd ihe snn ponrs down like hone\
On um lady ol ihe hinhoui
And \lic s/unvs von wliete to look
Among tlte garbage and ihe flo\ver\
I here nre herot's in ihe seaweed
I here aii' i luldrcn in ihe morilillg
I hey are letming out for love
\nd ihe\ will lean that way forevei
WMle Snzattne hotds ihe mlrror
\on wanl lo Havel wilh her
And you wanl lo trnvel blind
And you know you can trtist hei
I in she's toiuhed your peifeet bod\ wilh her inind.
Der erste Teil des Songs ist ein Irritierendes
Gewebe banaler Sprache in mythischer Tönung.
Nichts Erlesenes; doch huscht Erlesenheit über das
Gewöhnliche hin und rückt zusammen im Schluß:
«And you wallt lo Havel wlth her
.»
.
.
Dort steht: «You can hear Ihe boats go In.
An der entsprechenden Stelle im /weiten Teil des
Sonys heißt es: When he walked upon
the water.
Die Gegenwart des ersten Teils ruft einer Vergangenheit. Die Erfahrungen in rd e Gegenwart
Vergangenheit
Ösen
aus: e
S c h u l ziehen im Wasser
ii n
Jesus wandelte aul dem Wasser. Die
Stimme im «Du» verstummt. Das Erziihlcn rückt
ib in die drille Person, ins «Er» (-You can spend».
he spent»; «you know . <he knew>). Jesus
schaute in die lW e l vom hölzernen Turm herab:
vom Kreuz, vom Ort der Erniedrigung, der ein
Drl der Erhebung ist. Und da Jesus erkannte, dtlß
ihn nur die Ertrinkenden zu sehen vermögen, da
pracll er: «All men will he sailors then Until the
sea shall Iree them»
die Menschen gehen über
Wasser, sinken und weiden im Sinken erfahren.
daß es Befreiung gibt
letzt rücken die Worte wieder zur näheren
Sphäre des «Du» heran. Der Lrlöseitrosi
wird
dadurch, daß der Erhobene auch die
nenschlich
Tiefen kennt, den Ort rd e Vorlüufigkcitcn; Gcbrochenscin unter geschlossenem Himmelsgewölbe.
Der Erlöser wurde Nachbar; «almosi human
He
sank henealh vom wisdom like u stono I i hat
den Menschen angerührt; Vertrauen ist möglich
And you wanl lo Iravcl wilh him And von wanl
lo travel blind
Det drille Peil des Songs gehl wieder aul die
egenwart des ersten
leih zurück. Suzannc
nimmt dich bei der Hand um\ führt dich zum
Strom
aus dem Zwischcnbcrcich fort an den
Rand ihres Elements. Und die Nacht wird ein
helles l.ehensmeer. Sonne strömt in honigfarbener
Flut auf unsere Lady ol the harhour . auf unsere
ehe I rau
aul Maria, die Heilige, die Schiitzerin aller Hinfahrt und Ausfahrt. Suzanne? Sie
geht in Lumpen, in ledern
vom Heilsarmee-Drok<
:
1250 Jahre St.
Ein
Sonntag, 21. Dezember l%9 Nr.
kenhaus. Ist sie Maria? Ist Maria auch Suzanne?
Göttliches und Menschliches glühen Jetzt mystisch,
eins im andern. Der Blick in einer Well von
Ablall und Hlumen wird fähig für Bilder des
Erhabenen («hcrocs in the seuweed», Helden im
lang), für werdendes
Leben im werdenden Tag:
Kinder im Morgen: sie lehnen nach Liebe, und
so weiden sie hinauslehnen, immer. Sie erkennen
sich in Su/anne-Maria. im Spiegel der lieben
Iran. Die Einstimmung ist erreicht:
Im/ you iw»» in um i/ ii ah hei
l/irf roii ».»ii io Havel blind
\ml you kiiuu um can /ihm hei
I or she\ tonehed yotn perfeel bod) nilh hei nninl.
-
«Suzannc»: ein Song von Leonard Cohen.
(
ohen ist 93-1 geboren, in Montreal. Er studierte
an d
n e Universitäten McCiill und Columbia. 1955
M sein erstei Gedichthand erschienen. «Lei us
1
compare Mythologics : ll'M
fhc Spice-Box ol
Earth ; 1964 «Flowers for Hitler: die vierte
Sammlung. 1966, heißt
Parnsites ol Heaven
Neben den Gedichten stehen die erzählenden
Werke: Ihe favouritc Game (1963) und Bcou.
tiful
1
osers
(
1966).
Mythologies kann
.ils ein Kennwort lüi I eontircl Cohens Dichten
gelten, in welchem antike, jüdische, christliche
Mylhcnströnic ineinander geführt werden
mit
einet Einbildungskraft, die das Phantastische in
dci Banalität unterzubringen vermag: Eros und
Agape, gefärbt von ntzücken und Iraner: frosl
und Verlorenheil. durchwittert \on einem Lächeln,
das plötzlich wcgschmilzt, dem bitteren Tragen
Platz macht und wieder auftaucht.
Vielleicht am unmittelbarsten ist dies alles zu
erfahren in den Songs: aul der Schallplatte «The
Songs ol Leonard Cohen
(mit den Stücken:
«Suzannc»; «Masler Song : Wintei I ndj
The
Siranger Song . Sistcrs ol Mcrcy»; So long,
Marianne : llev. fhat's no way to saj Goodbye»;
Stories ol the Street' : Teaehcis : One ol us
Dichten aus Whitmuncannot bc Wrong»).
sehem Erbe und in symbolistischen I rnditionen
mit unverwechselbarem Ton. Cohens Von.
Dei
lud
I
ei us eompare
1
:
Galler Bildungstradition
\praehgcschichtllchei Hin
k
nul die Ui länge des Klon er s Sl. Gallen
Von Sie/an Sondereggcr
1969 sind es 125(1 Jahre seil der Gründung
lies Klosters St. Gallen her. ohne daß dieses Ereiglis irgend festlich begangen worden wäre.
loch bcdcutcl der Name St. Gallen vor allein
international gesehen unendlich viel
weit mehr
ais in der kleinen Schweiz, selbst, vor allem im
Rahmen von Wissenschaft und Bildung, als Sammelpunkt verschiedenster Forschungszweige geislesgeschiehtlicher Richtung, als eines der ersten
Handschriftenzentren antiker und mittelalterlicher
Ucbcrlicfcrung, als alpcnländischcr Angelpunkt
/wischen germanisch-deutschem Norden und antik-romanischem Süden, wenn wir es mit den
Der Mann, der das singend erzählt, Überliefert
seinen Ion und sein Wort dem Zauber einer Lita- Kulturbcgriffcn des Frühmittclaltcrs betrachten,
nei /wischen Wachen und Träumen, zwischen als südlichster alemannischer Grcnzpunkl
im MisNüchternheit und Entrückung. In dem. was er sionsbistum Konstanz außerdem, doch in fruchtsagt, sind prii/ise Hegebenheiten. Orte und Dinge
barer Beziehung zum romanischen Chur seit den
.reale Verhältnisse . nach denen man
heiligen Gallus im frühen 7. Jahrversteckt
Iragen möchte (wer ist Suzannc, welcher «river . Zeilen des
hundert.
was lüi ein harbout
welche Stadt'.'). Und da
Anfänge St. Gallens gehen aul
Gewiß,
die
man fragt, den Realitäten nachfragt, gibt dci
Song die Antwort, daß er selbst Realität ist: eine den irischen Glaubensboten Gallm oder Gall zurück, den Bcglcitci Kolumbans, der
wenn
eigene:
neue, in sich
mit einer unverwechselbaren
r e Vita Sei. Galli folgen
lieberkrank in
Aura; mit nichts /u tauschen. Litanei in einem wir d
/wischenreich, aus einem Zwischenreich, wo nicht Bregenz zurückblicb und (>I2 alsbald im Voralpengebiet der fischreichen Steinach die Einsiedelei
Ich redet und nicht »Er», sondern eine Stimme
und damit den Keim zur später nach ihm be.ins «Du», aus /weiter Person, an welcher Ich
nannten Siedlung St. Gallen mitten im gewaltigen
und «Er> teilhaben
in welcher alle sind, beiArbonerforsl begründet hat
wie es die lateininahe das Man
schen Quellen sagen in solitudinc silvarmn. in
Suzannc takes you down to her place near the heremo aspero ei aquoso, Itabens inontes excelsos
by.»
go
You can hear the boats
angustas vulles et beslias diversax.
rivei
Man ist
hinuntergeführt, in die Nähe des Stroms. Du hörst et
Solche Beschreibung erfüllt nicht allein das
die Schiffe vorüber/iehn. Du hörst sie
und die
Maß
mittelalterlicher Topik, sondern einspricht,
Nacht ist da. ehe sie durch dieses Wort gegeben
siedlungsgeschichtlicher und namenwird: 'You can spend ihe night beside her.» Du wie wir ausForschung
erkennen können, durchaus
kundlicher
kannst die Nacht hin hei ihr sein. Und du weißt:
noch bis ins 9. und
Suzanne denkt und fühlt nicht ganz gegenwärtig, dem tatsächlichen Befund
10.
Jahrhundert
hinein.
Es war keine günstige
ganz
aber auch nicht
entrückt: sie denkt und fühlt
spätere Stadt, kein Zentrum des
.ml der Schwelle /wischen Dasein und Hinüber- .Statte für eine
Verkehrs, kein natürlicher Knotenpunkt. Um so
sein
she's halt crazy». Sie ist ein Doppelwesen,
erstaunlicher, wie sich hier etwas Europäisches,
aul dem Grenzstreifen /wischen Festland und
etwas von Weltgeltung entwickeln konnte. St. GalW .issei : sie gehört ins Geschlecht der Melusinen.
Anfänge liegen in der Verehrung, die man
der Wasserfcen. Und das ger.ide lockt einen, bei lens
dem sprachgewaltigen und wirkungsvollen Glauihr /u sein, /wischen Tester Erde und Mut.
bensbolcn Gallus entgegengebracht hat.
Mythos
mythiSo sintert der
herein. Unter
Von einer geschlossenen Bildungstradition
schem Schimmer wird die Zärtlichkeit rd e Nähe in
die Erfahrung der lerne und der Weite gewoben: St. Gallens kann man aber erst seit der Klosterdie Frau vom Strom, Frau vom Meer, gibt dir gründung durch den Alemannen Otmar im Jahr
Tee und Orangen, und das kommt von weit, «from 719 sprechen. Während man früher den Ausbau
der Gallus-Zelle zum Kloster durch Otmar in
C hina . Jet/t müßte die Liebe als eine Gegengabe
möglich werden. Und eben wo du der Frau sagen die Zeit um 720 setzte, können wir seit den
willst, daß du keine Liebe hast, welche du geben weitreichenden Eorsehungen von Prälat Professor
konntest
da holt sie dich aul ihre Wellenlänge Johannes Duft. Stiftsbibliothekar, St. Gallen, dem
und antwortet dir im Strom: daß du immer ihr wir so viel für die Wiederbelebung von St. Gallen
als mediävistischer Forschungsstättc verdanken,
Liebender gewesen.
Ereignis mit Sicherheil auf das Jahr 719 festDie Sprache arbeitet zwischen Gewöhnlichkeit, das
Technisch-Alltäglichem und poetischer Verrük- setzen. Von der losen und nicht sicher völlig konkung. «Wavelength . Wellenlänge: ein technischer tinuierlichen Klausnerzeit der Einsiedelei gelangte
weitblickende, freilich in
aber auch an- St. Gallen durch die
Terminus und auch so gemeint
spielend, hinühei spielend /um Reden der Wellen die Schwierigkeiten der Zeit verstrickte Tätigkeit
Abtes
seines
ersten
Olniar
Sequenz
/u einer geschlossenen
Wasserfee,
Strom,
die
deren
im
das
Grenzwesen, nicht nur versteht. Hindern ebenso und mit Gütern ausgestatteten Klosterorganisation.
die
747
seit
etwa
sich
als
jetzt
Andern,
Gemeinschalt unter
macht,
dir. Und
dem
möch
verstehen
Benediktinerregcl stellte.
test du mit ihr gehen: und es ist nicht nötig, daß die
Mit dem frühen Neuansatz von 719 stehen
du wachst und rechnest: du kannst blindlings
gehen, denn ihr Vertrauen hält dich: du bist an wir vor einer der ältesten Kloslergründungen im
ihr Wesen herangekommen, durch das Vermögen deutschen Raum: die nachmals so berühmten
des Fühlens. des Denkens und durch Neigung und Klöster aul der Reichenau (724). in Fulda (744).
Verlangen.
in Murbach (727), in Lorsch (764) oder im bayri.
-
ichen Raum liegen spater, wenn sie auch lür
Jic Sprachbildung des Deutschen von ähnlicher
Bedeutung wie St. Gallen sind. Ferner dar! hier
betont werden, daß schon bald nach den ersten
Anfängen des Klosters St. Gallen
im 8. Jahrhundert eine Schrifttradition einsetzt, eine Schreibschule entsteht, Codices und Urkunden ab- oder
neugeschrieben weiden, ja selbst Volkssprachlichcs
zur Aufzeichnung gelangt.
Das ist keinsewegs selbstverständlich
eine
größere, reichere althochdeutsche Ucbcrlicfcrung
setzt eigentlich erst seit dem Anlang des 9. Jahrhunderts ein. last gleichzeitig dann an verschiedenen Orten des karolingischen Reiches, gefördert
und mitbestimmt von Karl dem Großen selbst.
Alles, was vor 800 in deutscher Sprache aufgczcichnci worden ist, trägt den Stempel höchster
Altertümlichkeit und verdient besondere Aufmerksamkeit. Es ist -- soweit es alemannisches Sprachgul bildet
auch noch last völlig frei von den
späiei immci deutlicher werdenden fränkischen
F.inflUsscn. So auch das Althochdeutsche von
St.
Gallen, dessen schriftlich überlieferte Anlange
ins 8. Jahrhundert zurückweisen, wenn man auch
hier bis zu einem gewissen Grade an Gallus selbst
anknüpfen kann.
Zunächst führt uns der Name St. Gallen noch
einmal zum Begründer der Einsiedelei zurück.
Daß dieser Name in frühalthochdeutsche Zeit
zurückreicht, darl nicht nur aus dem natürlicherweise vorauszusetzenden Gebrauch einer althochdeutschen gesprochenen Sprache der Klausner.
Mönche un<\ Anwohner von Einsiedelei und späterem Kloster geschlossen werden, sondern auch
aus dem Reflex einer althochdeutschen Namensfügung in der Latinität der Urkunden. Die irische
Form (iall. die als Beiname «Gallier, von gallischer Herkunft»1 bedeutet, erscheint nämlich in
der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts im Namen
für die Stätte des Glaubensboten zunächst ausschließlich in der Latinisicrungsform Gallo, Gallonis. Erst seit 74.S tritt die Form Gallus, Ciulli
daneben.
Wir erblicken in der ersten und zunächst
allein herrschenden Latinisicrungsform des 8. Jahrhunderts den direkten Reflex der althochdeutsch
anzusetzenden Lautung Gallo, Genitiv Dativ Ciullin
(alemannisch). Gallen (fränkisch), wie sie Otfrid
von Weißenburg im Widmungsgedicht seiner
Evangelienharmonie an die mit ihm befreundeten
St. Galler Mönche Hartmuat und Werinber
um
t
870 als sanete Gallen (Dativ) verwendet.
Wir fassen hier einen sprachlichen Ueherheferungsvorgang in seiner frühmittelalterlichen dreistufigen Uebersetzungsproblematik. wie er für die
Sprach- und Geistesbeziehungen der Zeil nicht
typischer sein könnte: irischer Name Gall, althochdeutsche Einverleibung nach dem Muster der
üblichen Kurznamcn {Gallo), Einbettung in die
Urkunden- und Kanzlcilatinilät {Gallo. Gallonis
später Colins). Die deutsche Torrn, obwohl älter
als ihre klosterlateimsehen Umsetzungen, erscheint
zunächst noch kaum in schriftlichem Gewand,
doch leuchtet sie durch die Latinitäl der Irühalthochdeutschen Zeit schon deutlich hervor, um
in der Namens- und Mundartform St. Gallen.
Gallentag und ähnlich erst recht ihre alte, schwach
Neue Zürcher Zeitung vom 21.12.1969
7!<R
(FernBUsgabc Nr. 350)
49
flektierte Form althochdeutscher Sprachgcbung zu
bestätigen.
Auch über den Namen St. Gallen hinaus erscheint der Glaubensbole Gallus mil dem Althochdeutsehen seiner Zeit, seines Wirkungsiaumes und
der späteren Jahrhunderte eng verbunden Wil
wollen hier nur aul zu ei Bereiche hinweisen.
Das erste Zeugnis einer deutschen, also Volksprachlichcn Predigt schon im 7 lahrhundcri mitten untei noch heidnischen Alemannen liegt bei
Gallus. Die verschiedenen lassungen der laleinichen Vita berichten davon, dal.' der spruchmitchlige Glaubensbote vor der Zerstörung der heidnischen Heiligtümer in Bregenz. vielleicht auch
schon in Tuggen. gepredigt habe. Eine an die
alemannischen Heiden gerichtete Missionsprcdigl
leitete die Zerstörung des Heidentums ein. Die
neuere wissenschaftliche Forschung über dieses
Problem ist sich mindestens darüber einig, daß
Gallus des Alemannischen mächtig war.
Erst recht müssen wir dies lür die spätere Zeit
seines Wirkens in dci von ihm M2 auserkorenen
Einsiedelei St. Gallen bis zu seinem Tod um
650 annehmen. Nicht nin bildet et dort eine
kleine Klausnergenieinscb.il l .ins
inheiniisehen
mögen sie auch teilweise aus der galloheran
romanischen Chiistensicdlung Arbon am Bodcnscc
entstammt sein, sondern ei tritt wenn auch sehr
zurückhaltend in eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem benachbarten alemannischen Raum
untet dem Herzog Kunzo, dessen Sitz sich in
Ucbcrlingcn befand.
Auch in Konstanz hat Gallus gepredigt, bei
der Ernennung seines Schülers Johannes zum Bischol im Jahr 615: hier freilich lateinisch, während der eben geweihte Bischol Johannes d.tnw
zum Volk alemannisch sprach. Ausdrücklich aul
des heiligen Gallus Sprachv ermögen nehmen drei
Verse in Notkers I. des Dichters bruchstückhafl
in Dialogform erhaltener Bearbeitung dei Vita
saneti Galli aus dem späten l) Jahrhundert Bezug.
wo es vom Glaubensmann heißt:
1
Post evangeltuni petuni
l t veihuni faeiul
Gallus in aurlhus
Cunclorum, qula seil
Romulee (Glosse: laline) et
Teiitonlce loqui.
Das heißt: nach dem Evangelium verlangen
Gallus das Wort erhebe für die Ohren
aller, denn er versteht Lateinisch und Deutsch zu
sprechen
sie. aul daß
Schon mit dem Hinweis aul Notkei I. Balbulus
oder poeta (um 840 bis 912) ist der zueile Bereich gegeben, auf den wir aufmerksam machen
wollen: die dichterische Verherrlichung des Gründers Gallus stellt auch in St. Gallen und selbst
aul der Reichenau ein Stück Literatur- und Bildungslradition dar. Sie reicht /u den großen
Dichtei gestallen Sl. Gallens. neben Nolkei I. /n
Ratperl von Sl. Gallen (gestorben bald nach JS.S4).
zu Ekkehart IV. (um 980 bis etwa 1060) und
zu Walahliid Slrabo. Mönch und später Abi aul
der Reichenau (N0N/N09-S49).
Bemerkenswert ist dabei, daß Ratpcrt einen
Lobgesang auf den heiligen Gallus in althochdeutschen Reimversen gedichtet hat. doch besitzen
wir das Denkmal nur mehr in der lateinischen
Umdichtung \on Ekkehart IV. Als Zeugnis einer
volkssprachlichen christlichen Preisdichtung schon
im 9. Jahrhundert isl es jedoch unbestritten, wenn
auch nur indirekt bezeugt.
So haben sich in Sl. Gallen seit den Anfängen
im 7. und S. Jahrhundert mannigfachste Ströme
geistiger Gesittung zu einer europäischen
Bildungsstätte verwoben, wie sie das hochmittelalteiliche Kloster strahlend erfüllen sollte: irische
Gründung
asketischer Strenge, doch mit einer
Kunst begabt, die zur Blüte der Buchillustration
in den sogenannten irischen Miniaturen führte
aul dem Hintergrund eines insularen Bewußtseins
sozusagen sind diese Verbindungen lange nach
Gallus erst recht zum Tragen gekommen: lateinische Bildungstradition mit vielen Verbindungen
nach Oberitalien, nach Westfranken und in die
Rhcinlande; alemannisches .Sprachleben mit den
ältesten Zeugnissen deutscher Sprache seit dem
M. Jahrhundert
St. Gallen als Sammelpunkt
der vornehmen Grundbesitzerfamilien, deren begabteste Sprößlinge sich im Kloster entfallet haben: romanische Nachbarschalt mit engstem Kulturaustausch zur Raelia prima. Das wel (offene
es ist keineswegs erst die Schöpfung
St. Gallen
der berühmten Sl. Galler Humanisten, sie haben
die Verbindungen vor allem nach Wien eröffnet
und nach Deutschland verstärkt: auch nicht erst
des blühenden St. Galler Fernhandels, der von
einer diplomatisch klugen Bürgerschaft seit dem
Spätmittelalter ausgegangen isl. Weltoffen sind
schon die Anfänge St. Gallens. weltoffcn ist seine
Bildungstradition.
Es gehört zur Sonderstellung St. Gallens im
der früh- und hochmittelalterlichen
Ueberlicfcrung, daß hier lateinisches und deutsches Schrifttum fast gleichzeitig zur Entfaltung
kommen, daß Kirchen- und Gclehrtensprache neben Volkssprache sieht, daß zumal mit Notkei III.
Tcutonicus (um 950 bis 1022) das Deutsche selbst
Rahmen
Stück weit Wissenschaf Issprache werden
konnte, vor allem in rd e Vereinigung von Antike.
Christentum und volkstümlicher Sprachgcbung.
Die Voraussetzungen für ein althochdeutsches
.Sprachleben in Sl. Gallen liegen auf zwei Grundgegebenheiten: aul dem siedlungsgeschichtlichen
Hintergrund alemannischer Landnahme im Bodenseegebiet seit dem 3./4. Jahrhundert, in der Nordostschweiz seil dem S./6. Jahrhundert: aul den
glauberis- und kirchcngeschichtlichcn Vorgängen
um die Gründung des Klosters, wie wir sie bereits
skizzenhaft geschildert haben Am Anlang der
deutschen Ueberlieterung stehen die Namen
Ihnen folgen die Glossen /u lateinischen Schriften
Beide Gruppen setzen in originalei Ueberliefcrung
schon im 8. Jahrhundert ein und bleiben die
ein