Im Strudel Meetings, Mitarbeiter der Mails Zeit: und Ich sitze gerade in einem Café in dem Städtchen Regensburg. Neben mir steht der wahrscheinlich schlechteste Cappuccino der Welt: Bereits nach fünf Minuten ist der Milchschaum passé. Und ich habe noch nicht einmal davon getrunken. Tatjana B. Während der fünf Minuten ist einiges passiert: Ich habe meine Zwetschgennudel gegessen, meine Mails gelesen, Facebook zum 20. Mal durchgesehen. Und dann fällt mir dieser Mann neben mir auf. Ein kleiner, älterer Herr, circa 70 Jahre alt, mit schütterem weißen Haar, das er sorgfältig zur Seite nach unten gekämmt hat. Er trägt eine schwarze Jacke und eine helle Jeans, dazu graue Turnschuhe. Was mir aber sofort aufgefallen ist, ist sein Blick. Er schaut nervös von links nach rechts und wieder zurück. Wie bei einem Tennisspiel. Bei genauerem Betrachten fällt mir auf, dass er mit beiden Beinen wippt. Unregelmäßig. Er hat die Arme schlapp in den Schoß fallen lassen und sitzt einfach nur da und starrt ins Leere. Von links nach rechts. Wenn ich seinem Blick nachgehe, kann ich dort leider nichts sehen. Ich sehe ein paar Menschen, die sich beim Bäcker ihre Semmeln holen. Ich sehe ein paar Leuchtreklameschilder anderer Läden. Aber ich kann nichts erkennen, was seinen Blick so fesselt. Ich bemerke, wie der Mann beginnt, auch mich zu mustern. Ein junges Mädchen, Anfang 20. Dunkle, zerrissene Jeans – wahrscheinlich ein absolutes Tabu für den Herrn. Helle, glitzernde Turnschuhe. Bei dem Gedanken daran fällt mir wieder ein, dass ich eigentlich gar nicht wissen möchte, wie diese Schuhe hergestellt wurden. Laut Hersteller ist alles in Ordnung – aber wer weiß das schon. Dazu trage ich einen schwarzen, dünnen Pullover und einen grauen Blazer. Um meinen Hals trage ich einen dicken, hellbraunen Schal mit Karomuster. Meine Haare trage ich offen, sie fallen mir wellig über die Schultern. Dazu braune Augen, die den Herrn ansehen – und er mich. Nach ein paar Augenblicken fängt der Mann an, sich aufrecht hinzusetzen. Er faltet die Hände, die immer noch auf seinen Oberschenkeln ruhen. Sein Blick geht geradeaus. Dann blickt er wieder nach links, nach rechts und lässt sich wieder zurückfallen. Ich beobachte dies schon seit einiger Zeit. Wo wir wieder am Anfang der Geschichte wären – fünf Minuten. Der Herr hat mittlerweile eine leere Kaffeetasse vor sich, bleibt aber dennoch sitzen, als würde er auf jemanden warten. Er scheint immer nervöser und ungeduldiger zu werden. Er lehnt sich abwechselnd nach vorne, lässt sich wieder zurückfallen, blickt nervös von links nach rechts und spielt mit den Händen. Ich beobachte andere Menschen in dem Café. Einige unterhalten sich. Ein junges Pärchen schweigt sich an, starrt lieber auf kleine Bildschirme. Ein anderer Herr, mittleres Alter, liest Zeitung. Eine ältere Frau sitzt mit einem kleinen Mädchen am Tisch und lächelt entzückt, als sich das kleine Mädchen mit ihrem Schokoladenkuchen das Gesicht verschmiert. Jeder geht irgendeiner Tätigkeit nach, nur der Herr nicht. Plötzlich fällt mir ein Gespräch zwischen mir und meiner Mutter heute Morgen beim Verabschieden im Treppenhaus ein. Ein Gespräch über die Zeit. „Mama, ich hätte gerne mehr Zeit“, habe ich gesagt. Meine Mama hat mir mütterliche Ratschläge gegeben. Leider ändert dies nichts an der Tatsache, dass der Tag nur 24 Stunden hat. Zehn davon schlafe ich. Als ich meine Tasche für die Uni gepackt habe, war ich noch ein bisschen in Gedanken. Ich habe mir ausgemalt, wie ich ab jetzt jeden Morgen pünktlich aufstehe und nicht jedes Mal den Wecker neu stelle. Wie ich mich morgens auf die Uni vorbereite und die Stunde schlaftrunkend durch die Wohnung torkelnd nutze. Wie ich jeden Tag eine Stunde für meinen Haushalt hernehme, um das Wochenende frei zu haben. Ich stelle mir vor, wie ich nach meinem Studium endlich Routine in meinen Alltag bringe. Wie endlich alles geregelt und getaktet läuft. (Man muss hierzu wissen, dass ich ein sehr strukturierter Mensch mit To-doListen und zehn Lebensplänen bin. Mich kann keine Situation schocken, da ich vorbereitet bin.) Ich freue mich insgeheim über das Leben „danach“. Mir fallen wieder meine ganzen Ideen ein, die ich beruflich umsetzen möchte. Natürlich will ich auch schulisch nicht stehen bleiben. Ich möchte Kurse besuchen und mich fort- und weiterbilden. Hinfort ist die Idylle von einem geregelten Tagesablauf, Ruhe, Struktur. Es ist nicht so, als wäre ich nicht flexibel. Ich wünsche mir einfach nur Zeit für die Arbeit, Zeit für meine Interessen, Zeit für meinen Partner, Zeit für meine Familie und Zeit für meinen Haushalt. Dann brauche ich noch Zeit für mich selbst. Einfach mal in einem Café sitzen, entspannen, nichts tun. Und ich bin wieder bei dem alten Herrn. Er hat diese Zeit – nehme ich an. Ich weiß nicht, woher er kam, wohin er geht, wer er ist. Ich nehme einfach an, er hat Zeit. Er kann sich setzen, bei einer Tasse Kaffee und nachdenken. Über sein Leben, seine Familie, Freunde, was er heute noch tun kann. Er muss keine Facharbeit fertigstellen, von der er sich aus Bequemlichkeit stets ablenken lässt. Aber ich kann nicht verstehen, wieso dieser Mensch so nervös ist. Worin seine Unruhe begründet ist. Ich mache mir Gedanken darüber, ob es ihm gut geht. Ob er vielleicht Hilfe braucht. Ich schenke ihm ein Lächeln, zurück kommt nichts. Der Mann tut mir irgendwie leid. Ich finde es schade, dass er aus irgendwelchen Gründen nicht zur Ruhe kommt und den Moment nicht genießen kann. Und wieder bin ich bei meinem Leben. Ich stelle mir vor, wie ich mein ganzes Leben lang arbeite. Wie ich hin und her hetze zwischen Meetings, Mails und Mitarbeitern. Wie ich versuche, meine Familie dazwischenzuschieben. Wie ich mich selbst über meine Faulheit aufrege, wenn ich vergessen habe, die Wäsche aufzuräumen. Und dann denke ich an Weihnachten. Frei. Eine Woche. Nichts. Ich muss nicht arbeiten, ich muss nicht lernen, ich muss nicht aufstehen. Ich darf mich entspannen, die Zeit mit meinen Liebsten verbringen, essen, mich über Geschenktes und Verschenktes freuen, essen, schlafen, essen. Da ich mich selbst sehr gut kenne, weiß ich, dass spätestens an Tag drei ein seltsames Gefühl hochkommt. Ich werde unruhig. Es interessiert mich kein Fernseher, kein Handy, auch nicht die Geschichten in irgendwelchen Büchern. Ich muss raus. Dies Gefühl wird irgendwann so stark, bis daraus ein Drang wird. Man muss irgendwas tun, irgendwas sehen, irgendwie raus. Dann blicke ich wieder zu dem Herrn. Irgendwie raus. Irgendwas tun. Vielleicht ist das auch bei ihm so? Vielleicht sucht er auch nach Beschäftigung? Seine Kinder – sollte er welche haben – müssen bestimmt arbeiten. Und er ist den ganzen Tag alleine und wartet, bis etwas passiert. Ich denke an meinen Ruhestand. Was passiert mit mir? Was mache ich den ganzen Tag, wenn von heute auf morgen alles ganz ruhig wird? Sitze ich dann in einem Café, mache Selfies, scrolle durch Facebook? Oder sitze ich da, wie der alte Herr – unruhig, nervös – mit dem Drang, etwas zu tun?
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