Kapitel 1 - Bookshouse

Sara Hill
Im Fadenkreuz des Killers
Das Buch:
Als Kind wurde Sienna Nolan Zeuge, wie Unbekannte ihre Eltern
ermordeten. Sie kam niemals darüber hinweg, dass die Täter nicht
gefasst wurden.
Zwanzig Jahre später kehrt sie nach Sizilien zurück, um endlich
mit ihrer Vergangenheit abzuschließen. Vor dem Restaurant, in dem
die schreckliche Tat geschehen war, begegnet sie Luca De Angelis,
dessen eisgraue Augen sie bis heute in ihren Albträumen verfolgen.
Sie ist sich sicher, er war einer der Täter und sieht die Chance gekommen, ihren Eltern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Unter falschem Namen beginnt sie, in seinem Restaurant zu arbeiten und muss schnell feststellen, dass sie es mit gefährlichen Leuten zu tun hat. Was genau verbindet den charismatischen De Angelis
mit der Mafia? Und wie ist seine Verbindung zu den Todesschützen?
Fragen, deren Beantwortung sie das Leben kosten könnte. Doch sie
kann nicht aufhören, nach Beweisen zu suchen, und gerät so immer
tiefer in einen Strudel aus Leidenschaft und Gewalt.
Die Autorin:
Sara Hill wurde am 05.02.1971 geboren und lebt mit ihrem Mann,
zwei Söhnen und einer Vielzahl von
Haustieren in einer kleinen beschaulichen Ortschaft in der Nähe von
Nürnberg.
www.sandra-baeumler.de
Außerdem erschienen:
Teufelsblut – Demon Chaser 1 (12/2014)
Engelszorn – Demon Chaser 2 (08/2015)
Menschenseele – Demon Chaser 3 (03/2016)
Sara Hill
Roman
®
www.fsc.org
MIX
Papier aus verantwortungsvollen
Quellen
FSC® C083411
Kostenlose XXL-Leseprobe
Besonders langes Lesevergnügen zum Reinschnuppern:
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Im Fadenkreuz des Killers
Sara Hill
Copyright © 2016 at Bookshouse Ltd.,
Villa Niki, 8722 Pano Akourdaleia, Cyprus
Umschlaggestaltung: © at Bookshouse Ltd.
Coverfotos: www.shutterstock.com
Satz: at Bookshouse Ltd.
Druck und Bindung: CPI books
Printed in Germany
ISBNs: 978-9963-53-565-1 (Paperback)
978-9963-53-566-8 (E-Book .pdf)
978-9963-53-567-5 (E-Book .epub)
978-9963-53-568-2 (E-Book Kindle)
www.bookshouse.de
Urheberrechtlich geschütztes Material
Kapitel 1
leib ganz still liegen, Liebes, beweg dich nicht. Es
wird alles gut«, hauchte Mom in mein Ohr. Ich spürte
ihren Atem auf der Wange, unter meiner anderen den
»
kalten Fliesenboden, auf dem ich kauerte. Mom hatte mir
den Arm über die Brust gelegt, um zu verhindern, dass ich
mich bewegte. Tränen quollen aus meinen geschlossenen
Augen, ein stummer Schluchzer durchfuhr mich.
»Bitte nicht weinen, lass die Augen zu«, flüsterte Mom.
Mein Herz schlug panisch gegen den Rippenkäfig, trotzdem schaffte ich es, regungslos zu bleiben. Moms Leib bedeckte meinen zur Hälfte. Ich spürte, dass ihr Herz genauso aufgeregt wie meines in ihrer Brust schlug.
»Verdammt, Dario, lass uns gehen«, zischte einer der
Männer, die der Grund dafür waren, dass wir voller Angst
auf dem Boden des Restaurants lagen.
»Das hier sind alles verfluchte Zeugen, kein Einziger
von ihnen darf überleben«, brüllte das Monster, das geschossen hatte. Etwas klickte, ich schluchzte.
»Da, die lebt noch!«
Ein ohrenbetäubender Knall folgte, meine Mom stöhnte auf, dann folgte Stille. Ich spürte ihren Herzschlag nicht
mehr, ihr Körper erschlaffte. Tränen liefen über meine Wangen, neben mir blieb jemand stehen und ich hob die Lider,
obwohl ich es nicht wollte, es war ein Reflex, blickte in stahlgraue Augen, die auf mich herabsahen. Sie waren so kalt und
unbarmherzig, dass ich erschauderte. Mein Herz drohte aus
dem Brustkorb zu springen. Mom wurde immer schwerer.
»Es sind alle tot, lass uns gehen, bald werden die Bullen
da sein«, sagte der Grauäugige, ohne mich aus den Augen
zu lassen.
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Ich kniff hastig die Lider zusammen.
»Die Bullen interessieren mich nicht, die meisten sind
sowieso korrupt«, schrie der andere Mann.
»Aber nicht alle«, erwiderte der Grauäugige, der noch
immer neben mir stand. »Dario, es gibt hier nichts mehr
für uns zu tun.«
Schritte entfernten sich, der Grauäugige ging, dann
hörte ich, wie ihm das Monster folgte, kurz darauf verließen die beiden das Restaurant. Es wurde totenstill,
trotzdem traute ich mich nicht, mich zu bewegen, obwohl meine Mom so schwer auf mir lag, dass ich nur noch
stoßweise atmen konnte. Ich spürte etwas Feuchtwarmes
durch mein Sommerkleid. Nach einer Weile hob ich vorsichtig die Lider, um mich herrschte Chaos. Umgestoßene
Tische und Stühle, neben meinen Kopf lagen die Spaghetti,
die ich gegessen hatte. Ich hielt den Atem an, lauschte. Es
war nichts zu hören.
»Mom, sie sind weg«, flüsterte ich, rüttelte an ihr, doch
sie reagierte nicht.
»Dad, wo bist du? Mom sagt nichts.« Ich weinte, versuchte mich umzudrehen, denn irgendwo hinter mir musste Dad liegen.
»Mom, du bist so schwer. Bitte steh auf«, bettelte ich verzweifelt. »Bitte Mom, die Männer sind weg. Bitte.« Schluchzer erstickten meine Stimme. Wie durch Watte hörte ich
Sirenen, kurz darauf stürmten Menschen in das Restaurant.
»Gibt es Überlebende?«, fragte einer.
Jemand leuchtete mit einer Taschenlampe in mein Gesicht, ich drehte den Kopf weg.
»Da ist ein Kind, ungefähr elf Jahre.« Im nächsten Moment zog ein anderer meine Mom von mir.
»Bist du verletzt? Tut dir etwas weh?«, fragte der Polizist.
Ich schüttelte den Kopf, und er hob mich hoch. Über
seine Schulter sah ich Mom regungslos auf dem Boden
liegen, ihr Kleid rot durchtränkt.
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»Wieso bewegt sich meine Mom nicht?«, schluchzte ich.
»Schau weg, mach deine Augen zu. Ein Kind sollte so
etwas keinesfalls sehen«, erwiderte der Beamte, der mich
trug.
Doch ich konnte nicht wegsehen. Ich entdeckte meinen
Dad, auch er regte sich nicht. Seine Augen starrten mich
leer an, Tränen verschleierten meinen Blick. In diesem
Moment wurde es mir bewusst, dass er und Mom mich
für immer verlassen hatten.
Ich saß kerzengerade im Bett, das Herz trommelte gegen
meine Handfläche, die ich auf das Dekolleté presste. Der
leichte Seidenstoff des Nachthemds klebte an der verschwitzten Haut. Zart berührte ich meine Wange, spürte,
dass sie nass war. Ich hatte im Schlaf geweint. So intensiv
war dieser Albtraum schon lange nicht mehr gewesen.
Eine leichte Brise streifte meinen Arm, ich erschauderte,
blickte zur offenen Balkontür. Luft, ja, das war, was ich
dringend brauchte. Frische Luft. Damit schwang ich meine
Beine aus dem Bett. Im ersten Moment zuckte ich zurück,
denn die Fliesen waren kalt. Ich stand auf, durchquerte
den Raum und trat auf den Balkon, sog die kühle Nachtluft tief in meine Lungen, der Herzschlag normalisierte
sich wieder. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper,
doch ich war noch nicht gewillt, wieder in mein Zimmer
zurückzukehren. Mein Blick glitt zur gegenüberliegenden
Straßenseite. Das Meer glitzerte ruhig im Mondlicht. Nur
wenige Baumwipfel störten die Aussicht auf die rauschende Unendlichkeit. Mein Zimmer lag glücklicherweise im
obersten Stock des Hotels. Ich lauschte den Wellen, hing
meinen Gedanken nach.
Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, hierherzukommen. Wahrscheinlich hatte Tante Karen recht, und
ich sollte die Geister ruhen lassen. Vor genau zwanzig
Jahren waren meine Eltern in dieser kleinen Ortschaft auf
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der Insel Sizilien ermordet worden und ich hatte endlich
den Mut gefunden, hierher zurückzukehren. Portocitta
schmiegte sich an den Fuß eines Berges, dessen Namen
ich schon mal gehört, aber wieder vergessen hatte, unweit
vom Ätna. Den Vulkan konnte man bei schönem Wetter
sogar sehen. Portocitta, ein Name, der Menschen an Meer,
wundervolle Landschaften und antike Ruinen denken
lässt, doch in mir das Grauen weckte.
Sollte ich Tante Karen anrufen? Wie spät war es wohl?
Wenn es hier ungefähr zwei oder drei Uhr in der Früh war,
würde es bei ihr so acht, neun Uhr abends sein. Sie war mit
Sicherheit noch wach. Wäre es klug, mit ihr zu telefonieren? Sie war von Beginn an von meinen Plänen nicht sehr
begeistert gewesen, sie würde es mir ausreden wollen.
Ich umklammerte die eiserne Balkonbrüstung so fest,
dass sich das Metall schmerzhaft in meine Handflächen
grub. Nein, ich wollte es durchziehen! Morgen würde ich
an den Ort gehen, an dem meine Eltern gestorben, genauer gesagt, von diesen Bastarden feige ermordet worden
waren. Deswegen war ich hier, um meine Dämonen zu
bekämpfen. Entschlossen hob ich das Kinn dem kühlen
Nachtwind entgegen und starrte auf das Meer. Ich war
kein kleines Kind mehr, sondern eine erwachsene Frau.
Schlimm genug, dass die Täter bis heute nicht gefasst
und bestraft werden konnten. Zum Teufel, Italien war das
Heimatland meiner Mutter, deshalb beherrschte ich schon
von Kindesbeinen an diese Sprache, lange genug hatte
ich dieses Land gemieden, damit würde Schluss sein. Ich
wollte morgen meinem schlimmsten Albtraum begegnen
und mir so meine Wurzeln zurückerobern. Wenn ich das
gemeistert hatte, würde ich nach Norditalien weiterreisen,
zur Familie meiner Mutter.
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Kapitel 2
arme Sonnenstrahlen berührten meine Haut, blinzelnd hob ich die Augen, konnte es nicht glauben,
dass ich doch noch eingeschlafen war. Ich streckte
den Arm, nahm mein Handy vom Nachttisch, zehn Uhr,
oje, bald würde es kein Frühstück mehr geben. Verschlafen setzte ich mich auf, legte das Handy zurück. Eigentlich
hatte ich keinen Hunger, doch etwas Kaffee wäre nicht
schlecht. Schwerfällig rutschte ich an den Bettrand und
stand seufzend auf. Mein heutiges Vorhaben kam mir in
den Sinn, ich hatte das Gefühl, in der Magengegend von
Fäusten traktiert zu werden. Mir wurde übel, Galle stieg
meine Kehle hoch, und ich stürzte ins Bad.
Nach einer erfrischenden Dusche und dem Zähneputzen fühlte ich mich besser. Na ja, ein bisschen.
Ich zog das Badetuch hoch, das ich um meine Körpermitte gewickelt hatte, und ging zur Balkontür. Heiße Luft,
die nach Meer schmeckte, schlug mir entgegen. Heute gab
die Sonne wieder alles und das schon Anfang Juni. Um die
Kühle, die heute Nacht das Zimmer erobert hatte, daran
zu hindern, gänzlich zu verschwinden, schloss ich die Tür
und zog die dicken Vorhänge zu. Dann befasste ich mich
mit meiner Garderobe, griff zu dem leichten Chiffonkleid,
dessen zartes Mintgrün gut zu meiner sonnengebräunten
Haut passte. Glücklicherweise wurde ich aufgrund meiner italienischen Gene schnell braun. Nur die paar Tage,
die ich jetzt hier war, hatten gereicht und ich sah aus, als
würde ich schon seit Wochen ins Solarium gehen. Das und
mein schokoladenfarbenes Haar ließen mich zwischen den
Einheimischen nicht auffallen, ganz im Gegenteil zu englischen Touristen, die in der größten Mittagshitze krebsrot
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in der prallen Sonne am Strand lagen. Jetzt musste ich nur
noch mein Haar in eine ausgehfeine Form bringen, dann
war es soweit. Im nächsten Moment hatte ich das Gefühl,
meine Beine würden mein Gewicht nicht tragen wollen.
Ich wankte, hielt mich am Waschbecken, die Bürste fiel
krachend zu Boden. Ich sah in den Spiegel, schob eine
Haarsträhne hinter das Ohr, die sich aus meinem Pferdschwanz gelöst hatte.
»Stell dich nicht so an, wer A sagt, muss auch B sagen«, fuhr ich mein Gegenüber an. In dessen Augen sah
ich Angst. Bevor ich auch nur noch eine weitere Minute
darüber nachdenken konnte, stürmte ich aus dem Bad und
verließ das Zimmer, anschließend das Hotel. Nicht einmal
die Zeit für einen Kaffee nahm ich mir.
Ich schritt durch die Gassen der kleinen Stadt an der Ostküste Siziliens, die sich an sanfte Hänge schmiegte und auf
der anderen Seite vom Mittelmeer flankiert wurde. Dabei
passierte ich kleine Konditoreien, die mit bunten Marzipanfrüchten in den Schaufenstern lockten, Boutiquen
mit italienischem Chic und bog in eine schattige Gasse ein.
Keines der Gebäude war höher als drei Stockwerke. Eiserne Balkone zierten die Fassaden, durch deren Brüstungen
üppige Pflanzen quollen. Nur mit Mühe konnte ich meine
Angst davon abhalten, mich zur Umkehr zu zwingen. Die
ganze Schönheit, die mich umgab, vermochte mich nicht
von dem Grauen abzulenken, dem ich heute begegnen
wollte. Es war die Stadt, in der meine Eltern ihren Tod
gefunden hatten. In der ich meine Kindheit verloren hatte.
Trotzdem ging ich weiter, setzte einen Fuß vor den anderen und erreichte irgendwann den Marktplatz mit dem
barocken Brunnen im Mittelpunkt, dahinter stand eine
Kirche, gebaut aus grobem Stein. Alles war nahezu wie
vor zwanzig Jahren, es war nicht viel verändert worden.
Wie damals hatte man von dem im Schachbrettmuster
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gefliesten Platz eine herrliche Aussicht auf das Meer. Es
herrschte eine unglaubliche Idylle, doch die trog. Mir lief
ein eisiger Schauder den Rücken hinunter, mein Blick glitt
die stuckverzierten Fassaden entlang.
Ein paar Gebäude von der Kirche entfernt lag das Restaurant, in dem meine Eltern mit vielen anderen Menschen
ihr Leben gelassen hatten. Tief in mir hatte ich gehofft, dass
es nicht mehr da wäre. Insgesamt starben damals dreiundzwanzig Menschen, dreiundzwanzig zerstörte Leben und
kein einziger Zeuge. Ich musterte die Häuser, die den Platz
säumten, mein Blick blieb an den Fenstern hängen, die
Sonne brannte in meinem Nacken. Es konnte nicht sein,
dass damals kein einziger Mensch aus einem der unzähligen Fenster gesehen hatte, als die Schüsse fielen.
Mir wurde plötzlich heiß, und das lag nicht nur an der
Hitze. Zorn quoll durch meine Adern, Wut auf die Feiglinge, die damals geschwiegen hatten und dies bis heute
taten. Ich schaute zu den rot-weiß gestreiften Schirmen
vor dem Restaurant, das für mich der schlimmste Ort
auf der Welt war. Ich wollte darauf zulaufen, doch meine
Beine streikten, weigerten sich, auch nur einen Schritt zu
machen. Meine Hände zitterten, die Kehle war trocken, als
wäre ich tagelang ohne Wasser durch die Sahara geirrt.
»Du Feigling«, flüsterte ich, straffte die Schultern und
hob das Kinn. Ich war so weit gekommen, da würde ich
keinen Rückzieher machen. Es war nur ein verfluchtes
Restaurant. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte bestimmt unzählige Male dessen Besitzer gewechselt. Schon
allein der Außenbereich sah anders aus, als ich es in Erinnerung hatte. Im Lokal würde es genauso sein. Ich lief
los, auf die grauen Metallstühle und Tische zu, die unter
den Schirmen standen. Plötzlich war ich wieder das Kind,
das fröhlich an der Hand seiner Mutter herumhüpfte,
sich auf das versprochene Eis zum Nachtisch freute.
Ich roch Moms Parfüm, spürte ihre warme Hand, die
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meine festhielt, und Dads Finger, die sanft über mein Haar
strichen.
»Signora, geht es Ihnen nicht gut?«, fragte mich eine
Männerstimme.
»Doch, es ist alles gut.« Verwirrt schaute ich zu dem
älteren Herrn, der mich angesprochen hatte.
»Sie weinen.« Mit einem sanften Lächeln hielt er mir
ein Stofftaschentuch entgegen.
»Mir ist nur etwas ins Auge gekommen.« Eilig öffnete
ich meine Handtasche und zerrte ein Papiertaschentuch
hervor. »Ich danke Ihnen für Ihre Liebenswürdigkeit«,
erwiderte ich, während ich vorsichtig mit dem Tuch über
mein Gesicht tupfte.
»Dann bleibt mir nichts anderes, als Ihnen noch einen
schönen Tag zu wünschen.« Damit schob er das Stofftuch
in seine Hemdtasche zurück, nickte und ging weiter.
Ich schnäuzte mich, jetzt nur keinen Weinkrampf bekommen, setzte meine Sonnenbrille auf und nahm an
einem freien Tisch Platz, von dem aus man den Eingang
zum Restaurant sehen konnte. Nur wenige Minuten später
kam schon die Bedienung, bei der ich ein Wasser bestellte.
Es dauerte nicht lange, bis sie mit dem Getränk zurückkehrte, zudem legte sie mir eine Speisekarte auf den Tisch
und schwärmte von der Fischplatte, die der Koch namens
Evalto unvergleichlich zubereitete. Ich hatte meine Mühe,
sie davon zu überzeugen, dass ich nichts essen wollte. Erst,
als ein anderer Gast nach ihr rief, ließ sie von mir ab, nahm
aber die Karte nicht mit, da ich ihrer Meinung zufolge
vielleicht doch noch Hunger bekommen könnte. Obwohl
mir nicht nach Essen zumute war, blätterte ich die Karte
durch, ohne wahrzunehmen, was genau darinstand. Immer wieder ging mein Blick zum Eingang des Restaurants.
Ich nahm einen Schluck Wasser, in dieser Sekunde trat ein
Mann aus dem Lokal. Die Flüssigkeit verfehlte die Speiseröhre, und ich bekam einen Hustenanfall. Beim Versuch,
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ihn zu unterdrücken, wurde er noch heftiger, graue Augen
fixierten mich. Die Karte landete auf dem Boden, ich stellte
das Glas ab, bückte mich, doch jemand war schneller und
hob sie auf. Jetzt waren die stahlgrauen Augen direkt vor
mir, nur eine Armlänge entfernt.
»Danke«, sagte ich, schob mit dem Zeigefinger die Brille den Nasenrücken hoch.
»Ich empfehle die Fischplatte«, sagte der Mann, dessen
Anblick mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Diese Augen hatte ich immer wieder in meinen Albträumen gesehen. Ich würde sie niemals vergessen. Er
war einer der beiden Täter, die für den Tod meiner Eltern
verantwortlich waren. Wie konnte das sein? Warum lief er
hier frei herum und hatte seinem maßgeschneiderten Anzug nach zu urteilen Geld, führte offensichtlich ein sorgloses Leben?
»Mögen Sie keinen Fisch?«, holte mich seine Stimme in
die Gegenwart zurück.
Sie war sanft, leicht rau, passte nicht zu einem Mörder,
sein ganzes Äußeres passte nicht zu einem Mörder. Wie
konnte der verdammte Mistkerl nur so verflucht attraktiv
sein? Monster sollten auch wie Monster aussehen. Wenn
ich nicht wüsste, was er damals meinen Eltern angetan
hatte, wäre er genau mein Typ. Die feinen Nackenhärchen
stellten sich auf, mein Puls verdoppelte seinen Schlag.
»Ich hab keinen Hunger«, erwiderte ich knapp, fast schon
patzig. In diesem Moment knurrte mein Magen, und der
Mann lächelte, was ihn noch attraktiver machte, zu gut
aussehend für einen Mörder, zum Teufel. Am liebsten
hätte ich ihm das Gesicht zerkratzt oder das Lächeln aus
der Visage geschlagen, stattdessen nahm ich meine Hände
vom Tisch und ballte sie darunter zu Fäusten.
»Ihr Magen scheint dies anders zu sehen.« Er legte die
Karte auf den Tisch und drehte sich um. »Gina, eine Fischplatte für die Dame.«
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Die Bedienung, die zwei Tische weiter Getränke brachte, richtete sich auf und nickte.
»Aber …«
»Bitte keine Widerrede, das geht auf Kosten des Hauses«, unterbrach er mich in einem Ton, der trotz vordergründiger Höflichkeit keinen Protest duldete.
Seine herrische Arroganz raubte mir die Worte. Ich
starrte ihn wie ein verschrecktes Kaninchen an.
Der Mann nahm eine Sonnenbrille aus seiner Anzugtasche und setzte sie auf. »Ciao«, sagte er, und bevor mir
die passenden Worte einfielen, die ich ihn an den Kopf
werfen konnte, ging er. Er stoppte kurz bei der Bedienung,
flüsterte ihr etwas ins Ohr. Anschließend überquerte er
den Platz und stieg in eine schwarze Limousine, die auf
ihn wartete.
»Arschloch«, murmelte ich, starrte ihm nach, sogar
noch, als der Wagen nicht mehr zu sehen war. Was sollte ich tun? Zur Polizei gehen? Warten, ob er zurückkam?
Ich schnappte nach Luft, erst jetzt merkte ich, dass ich den
Atem angehalten hatte. Die Wut verrauchte, die Panik
übernahm. Was, wenn er wirklich zurückkam? Mich womöglich wiedererkannte? Unsichtbare Ketten schnürten
mir die Kehle zu. Schnell nahm ich meine Handtasche,
kramte mit zittrigen Fingern die Geldbörse hervor. Ich
wollte die Rechnung für das Wasser begleichen und gehen. Diesem Kerl würde ich nichts schuldig bleiben. Doch
er würde für alles, was er mir angetan hatte, bezahlen.
Ein Foto fiel aus dem Portemonnaie zu Boden, ich hob
es auf. Mom, Dad und mein elfjähriges Ich lachten mich
an. Es war das letzte Bild, das meine Eltern lebend zeigte.
Ein fremder Mann hatte es damals mit der Kamera meines Vaters gemacht. Das war am Stand gewesen, kurz vor
unserer Rückkehr ins Hotel. Mein Dad hatte die Kamera
im Hotel gelassen, als wir anschließend zum Essen gingen.
Sanft strich ich über das Foto.
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»Entschuldigung Signora«, riss mich die Bedienung
aus meinen Gedanken. Hastig drückte ich das Bild an die
Brust und sah zu ihr auf. Sie lächelte mich verlegen an,
räusperte sich.
»Ihr Essen wird, wie alles hier, frisch zubereitet werden. Leider dauert es noch eine halbe Stunde. Wissen Sie,
wir sind total unterbesetzt, ein Koch fehlt und dazu eine
Bedienung.« Gina senkte verschwörerisch die Stimme.
»Die Letzte ist mit dem Beikoch abgehauen. Ich hoffe Signore De Angelis findet bald Ersatz für die beiden.«
»De Angelis?«, wiederholte ich.
»Ja, das ist unser Boss, Luca De Angelis, Sie haben gerade mit ihm gesprochen. Ich dachte, Sie kennen sich, er
sagte, Sie sind sein Gast.«
»Nein, nein …, äh …, ich habe ihn heute zum ersten
Mal gesehen«, log ich.
»Und da belästige ich Sie mit internen Geschäftsproblemen. Normalerweise bin ich nicht so indiskret.«
»Bestellen Sie das Essen ab, mir geht es im Moment nicht
so gut.« Damit stand ich auf, warf fünf Euro auf den Tisch.
»Sie müssen nicht bezahlen«, lehnte die Bedienung ab,
doch ich ließ den Schein liegen.
»Ich muss wirklich gehen«, sagte ich und hastete davon. Wie ein von Jägern verfolgtes Reh hetzte ich über den
Platz, die Gassen entlang, prallte bei meiner Flucht gegen
andere Körper. Doch ich ignorierte das Gezeter und den
Schmerz. Erst vor dem Hotel stoppte ich und setzte die
Sonnenbrille ab. Nach Luft schnappend stand ich da, hielt
meine stechende Seite. Nachdem ich ein paar Mal durchgeatmet hatte, betrat ich noch immer schwer atmend die
Halle. Mit schnellen Schritten eilte ich zum Fahrstuhl,
grüßte knapp im Vorbeigehen den Hotelangestellten hinter dem Tresen.
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Kapitel 3
ch warf die Zimmertür hinter mir zu, lehnte mich zitternd
dagegen. Tränen quollen aus meinen Augen. Schluchzend rutschte ich nach unten, ließ ihnen freien Lauf.
Irgendwann kamen keine Tränen mehr, und ich starrte
wie hypnotisiert zur Decke. Ich hatte das Gefühl, in einem
Kokon aus Watte zu sitzen, nahm alles nur noch gedämpft
wahr. Die Gedanken kreisten in meinem Kopf. Was zur
Hölle sollte ich tun? Zur Polizei gehen? Was würde die
wohl sagen, wenn eine dahergelaufene Frau einen ortsansässigen Geschäftsmann des Mordes beschuldigte, eines
Verbrechens, das vor zwanzig Jahren geschehen war? Ich
schnaubte verächtlich. Sie würden behaupten, dass ich
damals zu jung gewesen war, um eine zuverlässige Zeugin abzugeben und die Tatsachen mit der Fantasie einer
Elfjährigen vermischte.
Lange Zeit hatte ich überall Monster gesehen, konnte
als Teenager mit meinen Freundinnen niemals in Horrorfilme gehen oder Spaß an Halloween haben. Wenn einer
ein blutbesudeltes Kostüm trug, hatte ich Weinkrämpfe
bekommen. Schon zu lange vergrub ich die Bilder tief in
meinem Inneren. Wollte mit keinem darüber sprechen,
nicht einmal mit der Psychologin, die mich als Kind betreut
hatte. Ich verdrängte jeden noch so winzigen Gedanken
daran. Aus diesem Grund schlichen sich die Bilder meistens nachts an, wenn ich wehrlos war, mein Bewusstsein
schlief. Jetzt musste es aber sein, ich musste mich erinnern.
Ich schloss die Augen, sah das Lokal vor mir, versuchte
die Geschehnisse im Geiste zu rekonstruieren. Alles lag
im Schatten. So sehr ich mich anstrengte, es wollte nicht
klappen. Es war, als würde ein schwarzer Vorhang alles
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verdecken und ich konnte ihn einfach nicht lüften. Mein
Verstand versuchte, mich vor mir selbst zu schützen. Tränen liefen über meine Wangen. Es hatte keinen Sinn, ich
erhob mich, warf die Handtasche aufs Bett und ging ins
Bad, wusch mir das tränennasse Gesicht.
Als ich herauskam, stand ich unschlüssig in meinem
Zimmer, fühlte mich so unendlich einsam. Was hätte ich
darum gegeben, wenn Tante Karen bei mir wäre. Hier
war es früher Nachmittag, damit in New York Vormittag.
Meine Tante würde wahrscheinlich gerade unterwegs zu
ihrem Laden sein, und natürlich besaß sie kein Handy, wie
sie auch keinen Computer benutzen wollte. Die Mikrowelle, die sie hatte, war ihr größtes Zugeständnis an die
moderne Technik. Auch wenn sie diese nur äußerst selten
in Anspruch nahm.
Mir wurde das Zimmer zu eng, und ich beschloss in
die Altstadt zu gehen, mich abzulenken. Ich nahm meine
Handtasche, setzte die Sonnenbrille wieder auf und verließ das Zimmer.
Ziellos schlenderte ich durch die Gassen, nahm dabei so
gut wie nichts wahr. Zu sehr beschäftigte mich das heute
Erlebte, was ich tun sollte und plötzlich fand ich mich auf
dem Platz vor der Kirche wieder. Im ersten Impuls wollte ich flüchten wie eine Gazelle, die in den Fokus eines
Löwen geraten war, doch aus irgendeinem Grund, den
ich selbst nicht benennen konnte, blieb ich. Langsam ging
ich zum Brunnen, mein Blick huschte immer wieder zum
Restaurant. Am Mittelpunkt des Platzes angekommen,
setzte ich mich auf die Brunnenstufen in den Schatten, den
der steinerne Neptun warf, und starrte zum Restaurant.
Was, wenn ich doch zur Polizei ging oder vielleicht zur
amerikanischen Botschaft? Ob De Angelis wieder zurückgekommen war? Vielleicht sollte ich ihn einfach mit meinem Wissen konfrontieren. Ich spielte mit dem Riemen
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meiner Tasche, ging in Gedanken meine Optionen durch,
doch keine schien mir Erfolg versprechend. Aber irgendetwas musste ich tun. Ich beobachtete Gina, die Bedienung,
sie eilte von Tisch zu Tisch und brachte den Menschen
Getränken. Ob ich wohl etwas aus ihr herausbringen
konnte? Ich hatte nur noch wenige Tage, dann musste ich
mein Hotelzimmer räumen, denn eigentlich wollte ich zu
meinen Verwandten weiterreisen. Konnte ich überhaupt
in der kurzen Zeit etwas ausrichten oder war es besser, das
alles hinter sich zu lassen? Ich verkrampfte meine Hände,
würgte den Gurt meiner Tasche. Der Gedanke, zu wissen,
dass es vielleicht eine Spur zum Mörder meiner Eltern gab
und nichts zu tun, machte mich wütend. Ich könnte einen
Privatdetektiv engagieren, der weiterermittelte, wenn ich
abgereist war.
»Der wird nur dein Geld kassieren und nichts tun.
Außerdem, wer weiß, was das kostet, ich hab auch keinen
Goldesel im Keller stehen«, sagte ich laut und lachte bitter.
Eine Frau schaute mich verwirrt an, ging aber weiter.
Ich saß auf den Brunnenstufen, bis die Nacht hereinbrach, beobachtete das Lokal, doch von De Angelis fehlte
jede Spur, auch sonst ging niemand hinein, der mir bekannt vorkam. Es wäre aber zu einfach gewesen, wenn
der Mörder aufgetaucht wäre. Irgendwann begann mein
Hinterteil zu schmerzen und meine Augen brannten. Ich
beschloss, ins Hotel zurückzukehren. Unterwegs besorgte ich mir einen kleinen Snack, obwohl mir nicht nach
Essen zumute war, doch wenn ich umkippte, nutzte das
keinem was. Meine aufgesprungenen Lippen und die trockene Kehle sagten mir, dass ich unbedingt mehr trinken
sollte. Außerdem schmerzte mein Kopf, als würde er in
einem Schraubstock langsam zerquetscht werden, was
wahrscheinlich an zu viel Sonne lag. Diese spontane Überwachungsaktion war keine gute Idee gewesen und außerdem nur verschwendete Zeit.
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Nachdem ich ein paar Bissen gegessen hatte, fühlte ich
mich etwas besser. Der Tag saß mir trotzdem sehr in den
Knochen, und ich entschied, ins Bett zu gehen.
Unruhig wälzte ich mich hin und her, fand einfach
keinen Schlaf.
Plötzlich war ich im Lokal, sah De Angelis den Raum
betreten, der Mann an seiner Seite hatte die Fratze eines
Monsters. Das Monster schrie herum, ich konnte nicht verstehen, was. Im nächsten Moment knallte es laut, als würde jemand Silvesterkracher zünden, doch es waren keine.
Menschliche Körper klatschten zu Boden, um mich herum
waren Geschrei und Panik. Teller krachten auf die Fliesen.
Angst quetschte meine Lungen zusammen. Der Geruch
von Blut stieg mir in die Nase. Mir wurde übel, ich fing
zu weinen an. Meine Mutter versuchte flüsternd, mich zu
beruhigen.
Eine laute Männerstimme neben mir sagte etwas, es
war De Angelis. »Verdammt Dario, lass uns gehen.«
Ich sah zu ihm, seine eisgrauen Augen fixierten mich.
Aufrecht saß ich im Bett, mein Herz sprang gegen
seinen Rippenkäfig. Mit beiden Armen umklammerte
ich meine hämmernde Brust, das Blut rauschte durch die
Adern. De Angelis, er hatte gesehen, dass ich nicht tot war,
aber er verriet mich nicht, sonst wäre ich an diesem Tag
ebenfalls gestorben wie meine …
Der spärliche Inhalt meines Magens schoss die Kehle
hoch. Hastig rappelte ich mich auf, stürmte ins Bad und
schaffte es noch, mich über die Kloschüssel zu beugen.
Mein Hals brannte, ich machte das Licht an und trat
ans Waschbecken. Dort füllte ich das Zahnputzglas mit
Wasser und gurgelte damit. Ein paar Mal spuckte ich aus,
dann trank ich noch einen Schluck. Der Geschmack nach
Erbrochenem klebte auf meiner Zunge.
Klappernd stellte ich das Glas am Beckenrand ab und
erschreckte mich damit selbst. Ich nahm ein Handtuch,
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wischte damit über mein Gesicht, klappte anschließend
den Klodeckel herunter und setzte mich drauf. Mein Puls
raste, wenn ich ihn messen würde, läge er mit Sicherheit
bei Zweihundert, und obwohl das meinen Puls noch weiter
in die Höhe trieb, weil die Angst ihre schmierigen Finger
nach mir ausstreckte, versuchte ich das gerade Geträumte
zu rekapitulieren. Ich probierte die Atemübungen, die mir
die Therapeutin gezeigt hatte, um die Angst in den Griff
zu bekommen, und wirklich, langsam normalisierten sich
meine Körperfunktionen.
Eines war mir klar geworden: De Angelis hatte damals
keine einzige Kugel abgefeuert, im Gegenteil, er hatte versucht, den Täter zurückzuhalten. Er war nicht der Mörder,
nur sein Helfershelfer. Verächtlich verzog ich den Mund.
Er kannte den Bastard, nannte ihn beim Vornamen,
war mit ihm wahrscheinlich sogar befreundet gewesen,
denn er hatte den verfluchten Mistkerl all die Jahre gedeckt. Es konnte kein Zufall sein, dass De Angelis heute
der Inhaber des Restaurants war. Nur über ihn kam ich an
den Mörder meiner Eltern heran. Ich wollte Gerechtigkeit,
und wenn ich einen Pakt mit dem Teufel schließen musste,
war das eben so. Ich schleuderte das Handtuch auf den
Boden und ging ins Zimmer zurück.
20
Kapitel 4
ach einer äußerst unruhigen Nacht wachte ich wie
durch den Fleischwolf gezogen auf. Ich wollte heute
noch einmal zu dem Lokal. So einfach konnte und
wollte ich nicht aufgeben. Aber dieses Mal würde ich mich
besser darauf vorbereiten. Zuerst frühstückte ich ausgiebig. Auf jeden Fall würde ich die paar Tage, die ich noch
hier im Hotel wohnen konnte, ausgiebig nutzen.
Entschlossen trat ich auf die Straße, besorgte mir unterwegs noch einen Strohhut und eine Wasserflasche und
nahm wieder meinen Platz auf den Stufen des Brunnens
ein, hielt mein Handy griffbereit, um von verdächtigen
Personen Fotos zu machen. Damit konnte ich zur Polizei
gehen und sie würden mir glauben müssen. Ab und zu
schoss ich ein Foto von der Kirche oder anderen Gebäuden
auf dem Platz wie eine Touristin, die Urlaubserinnerungen
digital festhalten wollte.
Vor dem Restaurant wuselte nur Gina, die Bedienung,
zwischen den Gästen herum, von De Angelis fehlte jede
Spur. Was war das eigentlich für eine Art, sein Geschäft
zu führen?
Auch die nächsten Tage schlich ich um das Lokal herum und De Angelis glänzte durch Abwesenheit. Manchmal setzte ich mich einige Augenblicke in die Kirche. Darin
war es kühl und ruhig. Der Lärm der Straße blieb draußen, ausgesperrt von dicken Mauern und einem schweren
Holzportal. Das waren auch die Augenblicke, in denen ich
mich fragte, was genau ich da eigentlich tat und vor allem
damit bezwecken wollte. Die Zeit lief mir davon, ich hatte
bald kein Zimmer mehr und mein Hotel, wie auch die anderen am Ort, war ausgebucht.
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Nach einem weiteren Tag der sinnlosen Observation beschloss ich, aufs Ganze zu gehen und das Lokal zu betreten.
Die Tür wurde mittels einer Kette offengehalten, damit die
Bedienung ungehindert heraus und hinein konnte. Ich stand
im Rahmen, hatte das Gefühl, ein unsichtbares Seil würde
um meinen Brustkorb immer enger gezogen werden, das
Atmen fiel mir schwer. Trotzdem ging ich weiter. Alles sah
so anders aus, als ich es in Erinnerung hatte.
Es war modern, vielleicht sogar schon etwas kühl, eingerichtet, passte zu De Angelis. Im Lokal saßen nicht viele
Gäste. Was aber bei dem schönen Wetter kein Wunder
war. Ich schritt über den glänzenden Granitboden, nahm
auf der cremefarbenen Bank Platz, die sich die ganze Wand
entlangzog, vom Schaufenster bis zur Bar. In meiner unmittelbaren Nähe waren keine weiteren Gäste. Das Kunstleder knirschte, als ich mich setzte. Ich griff nach der Karte,
die auf dem Tisch lag, aber ich sah nicht hinein, sondern
musterte den Raum, mein Blick blieb an der Stelle hängen, an der meine sterbende Mom damals gelegen haben
musste. Dort stand jetzt ebenfalls eine lange Bankreihe mit
Einzeltischen davor, dahinter gab es einen Raumteiler, an
dem sich wieder eine lange Kunstlederbank schmiegte.
Ich starrte den Boden an, sah Blut, das Blut meiner Mom.
Meine Augen brannten, ich hatte alle Mühe damit, gegen
den Weinkrampf zu kämpfen, der sich ankündigte.
»Was möchten Sie?«
Ich zuckte zusammen, die Karte rutschte mir aus den
Händen, landete klappernd auf dem Ebenholztisch.
»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.
Haben Sie schon gewählt?« Die Bedienung blickte mich
erwartungsvoll an.
»Ich bin heute etwas schreckhaft«, versuchte ich zu
scherzen, worauf sie mild lächelte und zur Karte blickte.
»Oh, ich hab noch nicht hineingesehen.« Verlegen
nahm ich die Speisekarte vom Tisch.
22
»Dann lasse ich Ihnen noch etwas Zeit.« Gina ging,
drehte sich aber nach zwei Schritten um, kam zurück und
nahm auf dem Stuhl mir gegenüber Platz.
»Suchst du einen Job?«, fragte sie leise.
»Äh was …, ich … äh …, also …« Mehr fiel mir zu ihrer
Frage nicht ein.
»Na ja, du treibst dich schon seit Tagen hier herum und
da dachte ich, dass du vielleicht einen Job suchst und dich
nicht zu fragen traust«, unterbrach Gina mein Gestammel.
Soviel zu meinen unauffälligen Observationsbemühungen. Sie hatte mich bemerkt, ich war ja wirklich erfolgreich gewesen, würde einen super Privatdetektiv abgeben.
»Einen Job?«, wiederholte ich, wollte ihr erklären, dass
ich keine Arbeit brauchte, ich nur eine Touristin wäre, die
völlig zufällig tagelang auf diesem Platz herumlungerte.
Weil … weil … mir die Architektur der Kirche so gefiel.
Ein Architektur-Nerd, das war eine gute Ausrede.
»Steckst du in Schwierigkeiten?«, hakte sie nach.
»Ja«, sagte ich, die Ausrede, die ich mir gerade zurechtgelegt hatte, löste sich in Luft auf und eine neue Idee
begann zu reifen. Die Worte sprudelten nur so aus mir
hervor. »Ein Mann, ein Urlaubsflirt. Er hat gesagt, dass
er mich liebt. Da bin ich nach Hause geflogen, habe dort
meine Brücken abgebrochen, alles aufgegeben. Meine Verwandten und Freunde wollten mir die Sache ausreden, ich
bin im Streit gegangen. Doch der Typ meinte es nicht ehrlich, nachdem er mir mein letztes Geld abgenommen hatte,
machte er sich aus dem Staub. Jetzt bin ich völlig pleite,
kann mir nicht einmal den Heimflug leisten. Freunde und
Familie traue ich mich nicht zu fragen, ob sie mir aushelfen. Die Schande ist einfach zu groß«, log ich, dass sich die
Balken bogen.
Ich hatte vor längerer Zeit einen Bericht über so eine
gescheiterte Liebesgeschichte im Fernsehen gesehen, jetzt
machte ich sie mir zu eigen. Redete ungeheuer schnell,
23
weil ich meinen Kopf davon abhalten wollte, über mein
Tun nachzudenken. Ein Zuhörer könnte meinen hastigen
Redeschwall der Aufregung zuschieben, aufgrund der
schlimmen Dinge, die mir passiert waren. Was Gina offensichtlich auch tat. Mitfühlend nahm sie meine Hand.
»Diese verfluchten Kerle, ich kenn das. Sie nehmen
dein Herz, schmeißen es in einen Mixer und hacken es
in kleine Stücke. Hast du als Kellnerin Erfahrung?« Sie
schaute mich erwartungsvoll an.
»Ich habe während meiner Studienzeit gekellnert«, erwiderte ich, das war ausnahmsweise die Wahrheit.
Sie ließ meine Hand los. »Weißt du was, du fängst hier
an. Luca ist nicht da, und ich brauche endlich Hilfe.«
»Ich hab keine gültigen Papiere, ich bin nur als Touristin da. Diese ganze Auswanderaktion war nicht sehr gut
von mir durchdacht.«
»Kein Problem, auch unsere Küchenhilfe ist nicht ganz
so legal da.« Sie zwinkerte mir zu. »Luca zahlt dich auch auf
die Hand.« Sie lehnte sich zurück. »Wo wohnst du zurzeit?«
»Im Hotel San Pietro, das Zimmer ist noch für ein paar
Tage bezahlt, dann weiß ich nicht, wie es weitergeht.« Das
entsprach zumindest teilweise der Wahrheit.
»Ganz einfach, du kommst zu mir und sparst so schon
mal das Geld fürs Hotel.«
Ich starrte sie an. Sollte ich diese Lüge wirklich weitertreiben oder lieber damit aufhören, bevor es kein Zurück
mehr gab? Mein Blick ging zu der Stelle, an der meine
Mom gestorben war, dann sah ich wieder zu Gina.
»Du würdest mich bei dir aufnehmen, einfach so, eine
Fremde?«
»Ich suche eh eine neue Mitbewohnerin, denn meine
ehemalige ist ja mit dem zweiten Koch abgehauen. Du bist
nett und brauchst Hilfe. Ich hoffe, du bist keine verkappte Serienmörderin.« Sie legte den Kopf leicht schief und
grinste.
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»Ich tue nicht einmal einer Fliege was zuleide.« Ich
erwiderte ihr Grinsen, verbannte die kleine Stimme der
Vernunft, die mir die Sache ausreden wollte, aus meinem
Kopf. Auch das schlechte Gewissen Gina gegenüber, angesichts ihrer Freundlichkeit, ignorierte ich. Endlich hatte ich
einen richtigen Plan, der versprach, dass ich dem Mörder
meiner Eltern auf die Spur kommen könnte.
»Bitte erzähl keinem, was ich dir gesagt habe. Ich meine
das mit dem Kerl, der mich hier sitzen gelassen hat. Weißt
du, es ist mir peinlich, dass ich so dumm gewesen bin.«
Gina nickte. »Natürlich, das behalte ich für mich. Ich
schweige wie ein Grab. Mein Name ist Gina.« Sie sah mich
aufmerksam an.
»Ich heiße Sienna«, erwiderte ich.
»Schön, dich kennenzulernen.« Gina erhob sich. »Und
jetzt geh ich mal in die Küche und bring den Koch auf Trapp,
damit er dir was Leckeres macht.« Damit verschwand sie
durch eine Schwingtür im Gang hinter der Bar.
Die Pasta war wirklich lecker gewesen, auch wenn ich
nicht viel davon gegessen hatte. Der Umstand, dass nur
wenige Schritte von mir entfernt meine Eltern gestorben
waren, sowie der wahnwitzige Plan, den ich gefasst hatte,
um an ihren Mörder zu kommen, dämpfte meinen Hunger. Was, wenn Gina eine durchgeknallte Irre war? Solche
Gedanken durfte ich nicht zulassen. Es ging um Gerechtigkeit und die Chance, sie meinen Eltern zu verschaffen.
Ich kehrte ins Hotel zurück. Gina hatte mir ihre Adresse und sogar die Schlüssel zur Wohnung gegeben. Ich
musste wohl glücklicherweise sehr vertrauenserweckend
wirken. Im Zimmer angekommen packte ich die Sachen
zusammen und checkte aus. Anschließend machte ich
mich auf den Weg zu Ginas Wohnung. Es dauerte eine
Weile, bis ich in den verwinkelten Gassen der Altstadt die
richtige gefunden hatte. Dann endlich sperrte ich mit dem
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Bartschlüssel das schwere Portal auf, das mit Sicherheit
hundert und mehr Jahre auf dem Buckel hatte. Dahinter
erwartete mich ein marmorvertäfelter Eingangsbereich, es
roch nach Oregano und Waschmittel. Geradeaus gelangte
man in einen Innenhof. Ich stieg die Stufen der Marmortreppe hoch. Trotz der Mühen mit meinem Koffer kam
ich nicht umhin, die feinen Stuckarbeiten an Wänden
und Decke wahrzunehmen, an denen der Zahn der Zeit
mächtig genagt hatte. Vor vielen Jahren musste das alles
edel ausgesehen haben. Es war mit Sicherheit einmal der
Stadtpalazzo einer italienischen Adelsfamilie gewesen,
den man mittlerweile in Einzelwohnungen unterteilt hatte.
Endlich erreichte ich die dritte und letzte Etage. Hier lag
Ginas Wohnung. Schwer schnaufend stellte ich meinen
Koffer ab, als ich vor ihrer Tür ankam. Wie konnten Klamotten so verflucht viel wiegen? Ich sperrte die massive
Flügeltür auf, zog den Koffer hinter mir in die Wohnung.
Pfirsichgeruch begrüßte mich. Auf der alten Kommode
im Eingangsbereich stand ein Lufterfrischer, ich legte die
Schlüssel daneben und schaute mich um. Der Boden im
zweifarbigen Rautenmuster schien alt zu sein wie auch die
meisten Möbel in dem langen Flur, der seine besten Tage
hinter sich hatte. Die üppigen Stuckverzierungen ließen
erahnen, welche Pracht hier einmal vorgeherrscht haben
musste. Einst waren sie wahrscheinlich vergoldet gewesen, jetzt besaßen sie nur noch ein tristes Braun.
Gina hatte mir gesagt, ich könne das zweite Zimmer
rechts haben. Also zog ich den Koffer den Flur entlang,
passierte einen bodentiefen Spiegel mit Goldrand. Sehr
gut, daran merkte man, dass hier eine Frau wohnte. Der
Raum war doppelt so groß wie mein Hotelzimmer und
richtig hell. Auch hier gab es Stuck an den Wänden und einen bunten Fliesenboden, dessen Farben verblasst waren.
Das Mobiliar bestand aus Mahagonimöbeln. An einer
Wand, vor dem verschnörkelten Bett, standen ein paar
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gepackte Kartons, die wahrscheinlich von der Vorbesitzerin des Zimmers stammten. Ich ging zum zweitürigen
Schrank, den, wie auch das Bett, hübsche Einlegearbeiten
und gedrechselte Kanten zierten. Er bot ausreichend Platz
für meine paar Klamotten, die ich im Koffer hatte. Nach
dem Einräumen schnappte ich mir meine Handtasche und
nahm auf dem Bett Platz, die Matratze sank nach unten.
Ziemlich weich, ich hoffte, nicht zu weich für meinen
Rücken.
Jetzt gab es noch etwas, was ich tun musste: Tante Karen anlügen. Ich schluckte schwer, doch der Kloß im Hals
saß fest. Unschlüssig starrte ich auf das Display meines
Handys. War das, was ich hier tat, wirklich schlau? War
es schlau, ein Phantom zu jagen? Sollte ich nicht lieber
meine Sachen packen und abhauen? Ich hatte nur noch
zwei Wochen Urlaub, was konnte ich in dieser Zeit schon
ausrichten?
Von Zweifeln verunsichert, spielte ich mit dem Telefon
in meiner Hand. Ich war weder eine Polizistin noch Detektivin. Seufzend holte ich das Bild meiner Eltern hervor.
Endlich bekam ich die Gelegenheit, etwas für sie zu tun.
Meine Mom war nur gestorben, weil ich damals nicht ruhig liegen bleiben konnte. All die Jahre lastete diese Schuld
schwer auf mir. Und ich würde mich ja nicht in Gefahr
begeben, sondern nur beobachten und hoffentlich Beweise
finden, um damit zur Polizei zu gehen. Die Stimme der
Vernunft flüsterte, dass dies eine ungeheuer blöde Idee
wäre, doch die der Schuld schrie mir zu, es zu tun.
Es war vier Uhr nachmittags, dann müsste es in New York
so circa zehn sein. Meine Tante war bestimmt schon in ihrem Laden, also wählte ich die Nummer ihres Geschäfts.
»Jewels, außergewöhnlicher Schmuck für jede Gelegenheit«, meldete sich meine Tante.
»Hey Karen, ich bin es, Sienna.«
27
»Schätzchen, ich freue mich, von dir zu hören. Ich hatte
mir schon Sorgen gemacht. Wie geht es dir? Du hörst dich
etwas bedrückt an.«
Wie mich meine Tante kannte. Aber das war kein Wunder, sie hatte mich aufgezogen. »Nein, ich bin nicht bedrückt. Mir geht es wirklich sehr gut. Wir haben hier wunderschönes Wetter und das Meer ist toll«, erwiderte ich.
»Und bist du hingegangen, zu dem Ort, an dem …?«
Karen seufzte leise.
»Ja, und ich habe dort damit abgeschlossen. Nun reise
ich zu den Verwandten meiner Mom weiter.« Ich schluckte, die Lügen klebten wie Teerklumpen in meiner Kehle.
»Das ist gut. Gib mir die Telefonnummer, unter der ich
dich dort erreichen kann.«
Ich räusperte mich. »Du kannst mich doch jederzeit auf
dem Handy erreichen.«
»Die Verwandten deiner Mutter werden doch wohl ein
Telefon haben.«
»Das Handy ist besser. Sprich einfach eine Nachricht
darauf, wenn die Mailbox anspringt, dann rufe ich dich so
schnell wie möglich zurück.«
»Ach Schätzchen, du weißt doch …«
»Ja, Tante Karen, du redest nicht gern mit Automaten«, beendete ich ihren Satz. »Doch so ist es das Beste,
ich weiß noch nicht, bei wem ich genau unterkomme und
die sprechen alle nur italienisch, da würde dich sowieso
keiner verstehen.« Es wäre nicht auszudenken, wenn
Tante Karen dort anrufen würde und so erführe, dass ich
nicht nach Norditalien gereist war. Ganz zu schweigen
davon, dass ich bei einer Wildfremden Unterschlupf gefunden hatte.
»Na gut, aber ruf mich an, wenn du angekommen bist.«
»Natürlich, versprochen.«
Anschließend erzählte sie mir noch, wie es in New
York so lief und dass mich alle grüßten, vor allem meine
28
beste Freundin Jenny. Wehmut ergriff mich, New York
lag so weit weg, und ich vermisste die Stadt, die niemals
schlief. Im Hintergrund hörte ich die Ladenglocke, wahrscheinlich hatte gerade ein Kunde das Geschäft betreten,
also verabschiedete ich mich, nachdem ich noch ungefähr
ein dutzendmal versprochen hatte, mich öfter bei ihr zu
melden.
Nach dem Telefonat erkundete ich die Wohnung, kam mir
ein wenig wie ein Eindringling vor. Ich fand die Küche.
Darin stand ein echter und offensichtlich funktionstüchtiger Holzofen, denn Holzscheite lagen in einem Korb daneben. So was hatte ich noch nie im wahren Leben gesehen.
Zusätzlich gab es aber auch noch einen etwas moderneren
Gasherd. Ich nahm an dem großen Esstisch in der Mitte
des Raumes Platz, blickte zur zweiflügligen Balkontür.
Draußen standen Terrakottatöpfe mit Kräutern. Gina
schien gern zu kochen, oder vielleicht auch ihr Kollege,
der Koch. Ihre ehemalige Mitbewohnerin war ja mit dem
Beikoch abgehauen. Vielleicht hatten die Köche in dem
Restaurant eine besondere Anziehungskraft. Der Besitzer
auf jeden Fall, schoss mir durch den Kopf. Ich ballte die
Hände zu Fäusten, hätte mich am liebsten geohrfeigt. Wie
konnte ich diesen Bastard nur im Entferntesten anziehend
finden? Er war ein verfluchter Krimineller, Abschaum,
mehr nicht. Auch wenn er damals nicht geschossen hatte,
hielt er seinen Begleiter, das Menschen mordende Monster, nicht auf. Das verräterische Brennen in den Augen war
wieder da, dieses Mal konnte ich die Dämme nicht halten.
Ich ging in mein Zimmer. Dort setzte ich mich aufs Bett,
schlüpfte aus den Schuhen und rutschte nach hinten, bis
ich die Wand erreichte. Ich lehnte mich mit dem Rücken
dagegen, starrte zur Tür hinaus, die auf einen kleinen Eisenbalkon führte. Ich musste mich unbedingt mehr in den
Griff bekommen. Für das Gelingen dieser ganzen Sache
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war es unerlässlich, abgebrühter zu werden. Vielleicht
war ich auch gezwungen, Dinge zu tun, die mich an meine
Grenzen brachten. Da konnte ich nicht jedes Mal losheulen. Ich musste stark sein, stark für meine Eltern.
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Kapitel 5
in Klingeln riss mich aus dem Schlaf. Es war dunkel, ich
wusste zuerst nicht, wo ich war. Dann fiel mir Gina ein,
ich befand mich in ihrer Wohnung. Die Glocke schrillte
erneut, ich rutschte schwerfällig zur Bettkante und stand auf.
Im Dunklen tastete ich mich aus dem Zimmer zur Eingangstür vor, dort fand ich einen Lichtschalter, die Lampen
flammten auf, erleuchteten den Flur nur spärlich. Wieder
ging die Glocke, dieses Mal klang sie energischer. Neben
dem Schalter entdeckte ich den Türöffner, den ich drückte. Ich machte eine Handbreit die Tür auf, spähte hinaus.
Schritte kamen näher, dann sah ich Ginas Kopf zwischen
den Stäben des gusseisernen Geländers.
»Hab etwas zu essen mitgebracht.« Sie hob eine weiße
Plastiktüte hoch, während sie die Marmorstufen hinaufstieg. »Im Restaurant war heute noch so viel übrig. Ich hoffe, du hast Hunger.« Gina erreicht die letzte Stufe. »Und
hast du dich schon eingelebt?«
Ich ließ sie herein, dann folgte ich ihr in die Küche. Sie
stellte Tüten sowie ihre Handtasche auf den Tisch. Das
Licht in der Küche war etwas heller als das im Gang.
»Deine Wohnung ist beeindruckend, hat etwas von
einem kleinen Palast«, sagte ich.
Gina nahm Teller und Gläser aus dem dunkelgebeizten
Geschirrschrank. »Ja, dieses Gebäude war wirklich einmal
ein Palazzo, auch wenn das schon eine Ewigkeit her ist.
Jetzt ist es alt und baufällig. In der Wohnung müsste so
einiges gemacht werden, doch mir fehlt das Geld. Meine
Oma lebte hier bis zu ihrem Tod, und ich habe das Domizil geerbt.« Sie platzierte Teller und Gläser auf dem Tisch,
holte anschließend das Besteck.
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»Wasser ist im Kühlschrank«, sagte sie zu mir.
Ich durchquerte den Raum und nahm eine Flasche aus
dem Seitenfach, die ich auf den Tisch stellte. Währenddessen leerte Gina die Tüte, schob die Essensboxen in die Mitte des Tisches. Ich setzte mich ihr gegenüber.
»Also hier hätten wir Pasta alla Norma.« Gina tippte
mit ihrer Gabel auf einen der Kartons. »Und im anderen
Involtini alla siciliana, du kannst beides probieren, es ist
genug da.« Damit öffnete sie die Box mit der Pasta, schaufelte sich davon etwas auf ihren Teller und schob sie anschließend zu mir. Der aromatische Duft von Basilikum
und Knoblauch kroch in meine Nase.
»Die schmecken gut.« Sie nickte mir aufmunternd zu.
Ich lachte. »Du willst mich also mästen. Ich hatte doch
schon heute Mittag leckere Pasta.«
»Hier in Italien ist Essen eine wichtige Sache, daran
solltest du dich gewöhnen«, gab Gina mit einem breiten
Grinsen zurück.
»Wenn das so ist.« Ich schob mit der Gabel ein paar
Makkaroni auf meinen Teller.
Der erste Bissen war eine wahre Geschmacksexplosion.
Den Basilikum schmeckte ich zuerst, dann Knoblauch. Der
Koch hatte es wirklich gut gemeint, zum Glück musste ich
in nächster Zeit niemanden küssen. Schafskäse und Auberginen rundete das Ganze ab. Es war wirklich lecker.
»Morgen gehst du mit mir zum Restaurant«, sagte Gina.
Ich stoppte die Gabel kurz vor dem Mund. »Wird der
Besitzer da sein?« Irgendwie wurde mir flau im Magen.
Die ‚Stark sein für meine Eltern‘-Sache war gerade dabei,
sich zu verflüchtigen. Einen Augenblick lang verspürte
ich den Drang, in mein Zimmer zu rennen, die Sachen zu
packen und auf nimmer Wiedersehen zu verschwinden.
Doch ich blieb sitzen.
»Er müsste morgen wieder da sein. Wir werden ihn
einfach überrumpeln. Wenn du vor ihm stehst und ich für
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dich bürge, wird er dich bestimmt nehmen. Hast du eine
weiße Bluse und einen schwarzen Rock?«
Gina nahm einen Schluck Wasser, und mein Mund war
plötzlich trocken. In der Theorie hatte sich alles so einfach
angehört, doch jetzt sollte ich in dem Restaurant, in dem
meine Eltern gestorben waren, die Arbeit aufnehmen und
das unter den Augen des Mannes, der bei ihrer Ermordung
dabei war. Hastig trank ich von meinem Wasser und bemühte mich darum, äußerlich ruhig zu wirken, während
in meinem Inneren der Fluchtinstinkt mit meinem Drang
nach Gerechtigkeit stritt. Ich setzte ein Lächeln auf, hoffte,
dass es ein Lächeln war und keine Grimasse.
»Ich hab eine weiße ärmellose Bluse, aber nur einen
Jeansrock.«
»Hm, Luca legt auf korrekte Arbeitskleidung viel Wert.«
Gina tippte sich nachdenklich auf die Unterlippe, musterte
mich mit ihren dunklen Augen. »Du bist dünner als ich, ich
glaube, ich hab da einen Rock, der dir passen könnte. Mir ist
er mittlerweile zu eng, woran das gute Essen im Restaurant
nicht ganz unschuldig ist.« Ihre Wangen wurden rot.
»Das glaube ich, es schmeckt lecker.« Jetzt musste ich
grinsen, meine Anspannung löste sich etwas. Ich schob
den nächsten Bissen in den Mund.
»Ich geb dir den Rock später«, meinte Gina und aß
ebenfalls weiter. Sie hielt inne. »Das sollten wir doch feiern. Ich glaub, ich hab noch Wein im Kühlschrank.«
Ich zuckte nur mit den Schultern, beim Wasserholen
hatte ich nicht darauf geachtet, was noch so alles im Kühlschrank stand.
»Ganz bestimmt.« Schon war Gina auf dem Weg. »Ha«,
rief sie und hob eine Weinflasche hoch wie ein siegreicher
Rennfahrer den Champagner. Sie kehrte damit an den
Tisch zurück.
»Ich weiß, dass man Rotwein üblicherweise nicht im
Kühlschrank lagert, aber kalt schmeckt er mir besser.« Aus
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dem Schub im Geschirrschrank holte Gina einen Flaschenöffner, und Augenblicke später ploppte der Korken. Sie
stellte zwei frische Gläser auf den Tisch und schenkte ein.
Eigentlich wollte ich ablehnen, aber meine Nerven konnten etwas Alkohol zur Beruhigung gebrauchen. Also trank
ich, herb rann der Wein meine Kehle hinunter, schmeckte
nach Zitrusfrüchten und Sonne. Sofort stieg mir der Wein
in den Kopf, denn ich trank eigentlich nur selten Alkohol.
»Lass uns auf Girlpower trinken.« Gina prostete mir
zu, was ich erwiderte.
»Danke, dass du mich bei dir aufgenommen hast, das
würde nicht jeder machen«, sagte ich, blickte sie über den
Rand meines Glases hinweg an.
»Du hast heute im Restaurant so verloren ausgesehen,
da musste ich einfach helfen.« Gina stellte ihr Glas ab und
sprang auf. »Weißt du, was noch fehlt? Musik.«
Sie kramte ein Handy aus der Handtasche, ging zum
Geschirrschrank und holte eine kleine Bluetooth-Box heraus, die auch ein Handyhalter war, verband die beiden
Geräte und positionierte sie zwischen uns. Lautstark ertönte der Debütsong der Spice Girls. Gina nahm wieder
Platz, hob ihr Glas.
»Girlpower«, meinte sie vergnügt, und ich musste lachen.
Gina war wirklich ein Schatz. Sie schien einer dieser
Menschen zu sein, die in jeder Lebenslage ein sonniges
Gemüt besaßen und alles positiv sahen. Mit ihr würde das
ganze Vorhaben vielleicht einfacher werden.
»Aufstehen, wir haben schon halb zehn, in dreißig Minuten müssen wir im Restaurant sein«, sagte Gina und holte
mich damit aus dem Schlaf.
Obwohl ihre Stimme eigentlich sehr angenehm war,
fand ich sie in diesem Moment echt nervend.
Blinzelnd hob ich die Lider, die Sonne schien fröhlich
ins Zimmer. Ich stöhnte auf, drehte mich zur Wand. Mir
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war schlecht und in meinem Kopf summte ein Bienenschwarm herum. Jetzt fiel mir wieder ein, warum ich nur
selten Alkohol trank: Ich vertrug ihn nicht.
»Komm, Schlafmütze, heute ist wieder ein wunderschöner Tag und der erste deines neuen Lebens«, trällerte Gina
fröhlich. Sie besaß wirklich ein unerschütterliches Gemüt.
»Ja, ich komme schon«, brummte ich und quälte mich
aus dem Bett. Die Sonne biss in meine Augen, die ich kaum
aufbrachte, die Bienen in meinem Kopf wurden noch wilder. Als ich aufstand, schoss ein Schwall Mageninhalt die
Speiseröhre hinauf, brannte in meiner Kehle. Ich würgte
ihn wieder hinunter.
»Da, für dich.« Gina hielt mir einen schwarzen Rock
vor die Nase.
»Wie kommt es, dass dir nichts fehlt? Soweit ich mich
erinnere, hast du um einiges mehr als ich getrunken.« Ich
nahm den Rock.
»So ein bisschen Wein haut mich nicht um, da muss
schon was Stärkeres kommen.« Gina grinste mich an.
»Und jetzt hopp, hopp, wir wollen an deinem ersten Tag
nicht zu spät kommen.« Damit verließ Gina das Zimmer,
und ich ging zum Schrank, holte die weiße Bluse sowie
Unterwäsche heraus.
Das einzig Praktische an meinem Zustand war, dass
mir alles egal war. Nicht einmal die Vorstellung, wieder
zum Restaurant zurückzukehren, zeigte irgendeine Wirkung auf mich, mein Puls blieb normal und schlecht war
mir nur vom Alkohol. Beste Voraussetzungen für ein Vorstellungsgespräch mit dem Mann, der den Mörder meiner
Eltern kannte.
Nach einer kurzen Dusche waren zwar die Bienen in
meinem Kopf noch da, aber sie summten wesentlich leiser.
Mein Magen wollte von Essen nichts hören.
»Espresso?« Gina trat an den Herd, auf dem ein kleiner
Espressokocher stand.
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»Ja, sehr gern.« Ich durchquerte die Küche.
»Du hast flache Schuhe an, das ist gut«, sagte Gina mit
Blick auf meine Römersandalen.
»Nicht sexy, aber praktisch. Jeder, der schon einmal
bedient hat, weiß, dass nichts über bequeme Schuhe geht«,
erwiderte ich und Gina nickte.
Sie goss Espresso, dessen aromatischer Duft in meine
Nase kroch und allein dadurch schon die Lebensgeister
ankurbelte, in eine kleine Tasse, die sie mir reichte. »Milch,
Zucker?«, fragte sie.
»Nein, nur schwarz.« Ich nahm einen Schluck, der heiß
meine Kehle hinunterlief. »Das ist wirklich guter Stoff, hat
mächtig Wumm.« Ich leerte die Tasse.
»Ja, das Familiengeheimnis, um nach einer durchzechten Nacht wieder auf die Beine zu kommen.« Gina nahm
ihre Tasse. »Willst du etwas frühstücken? Ich hab die Sachen
schon weggeräumt, kann dir aber etwas zurechtmachen.«
»Nein, ich würde nichts hinunterbekommen«, lehnte
ich ab und stellte meine Tasse ins Spülbecken, in dem sich
schon Ginas Frühstücksgeschirr befand.
»Das Weintrinken müssen wir noch üben.« Sie lachte,
wurde gleich wieder ernst. »Wie ist eigentlich dein Nachname, damit ich dich bei Luca vorstellen kann?«
»Carlo.« So hieß ein Kater, den ich einmal besessen
hatte. Eine kleine Stimme riet mir dazu, einen falschen
Namen zu benutzen. Wie ich feststellte, war ich jedoch im
Decknamen erfinden nicht sehr gut, aber jetzt gab es kein
Zurück mehr.
»Mein Name ist Sienna Carlo«, sagte ich, hob das Kinn,
verzog keine Miene. In Gedanken wiederholte ich den Namen wie ein Mantra.
36
Kapitel 6
ina lief neben mir durch die Gassen der Altstadt, sie
plapperte unentwegt, aber ich hörte kaum zu. Die
Sonne strahlte munter vom Himmel, nicht das kleinste
Wölkchen störte sie dabei. Die dunklen Gläser der Sonnenbrille hielten ihre Strahlen davon ab, meine Augen aus
den Höhlen zu brennen. Im Moment stand deren Lichtempfindlichkeit auf der höchsten Stufe. In Gedanken verfluchte ich den Wein.
In diesem Zusammenhang war die gute Nachricht,
dass der Alkoholgehalt meines Blutes sank, denn mein Verstand wurde klarer, die schlechte, der Drang, wegzulaufen,
nahm stark zu. Trotzdem ging ich weiter, betrachtete die
Schaufenster, um mich abzulenken. Je näher wir dem Restaurant kamen, desto absurder kam mir mein Plan vor.
Wir erreichten den Marktplatz, ich sah schon die Sonnenschirme vor dem Lokal, die noch ungeöffnet waren.
Am liebsten hätte ich den Rückwärtsgang eingelegt, mein
Herz trat schon einmal die Flucht an, wurde aber von den
Rippen gestoppt und trommelte dagegen.
Bald würden wir den Ort des Grauens erreichen, jetzt
war die letzte Möglichkeit, das Ganze abzublasen und den
mehr oder weniger geordneten Rückzug anzutreten. Ich
fasste in die Rocktasche, in die ich das Foto meiner Eltern
gesteckt hatte, berührte das Papier, meine Entscheidung
war getroffen. Entschlossen straffte ich die Schultern und
folgte Gina.
Außer des Fotos hatte ich noch ein Haargummi in der
Tasche, das ich herauszog. Während des Laufens band ich
mein Haar zu einem Zopf. Mein Blick fiel auf den Schriftzug über der Eingangstür des Restaurants. Ich hatte ihn
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bis jetzt nicht wahrgenommen. Das Lokal hieß noch immer Frederico’s, nach all den Jahren und Veränderungen
in dessen Gastraum war der Name geblieben. Ob dies
ein schlechtes Omen war? Wenn ja, gab es trotzdem kein
Zurück mehr, denn Gina öffnete die Tür. Ich nahm die
Sonnenbrille ab, steckte sie in die Handtasche und trat ein.
De Angelis stand hinter dem Tresen. Er hob den Kopf,
seine grauen Augen fixierten mich. Er erinnerte an einen
Wolf, der die Beute ins Visier genommen hatte. Dieser Vergleich traf eigentlich auf alles zu, seine Haltung, seine geschmeidigen Bewegungen. Wären wir Tiere, würde er ein
Wolf und ich ein verängstigtes Reh sein.
»Wen hast du da mitgebracht, Gina?«, fragte er lauernd.
»Na, du hast bis jetzt noch keinen Ersatz für Julia aufgetrieben und da hab ich mir selbst geholfen. Darf ich vorstellen? Das ist Sienna Carlo, deine neue Bedienung.«
Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss,
unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück in Richtung
Tür. »Hi«, sagte ich heiser und winkte zaghaft.
»Komm in mein Büro, Gina.« De Angelis sagte das völlig emotionslos. Es war weder an seiner Stimme noch Mimik zu erkennen, ob ihn Ginas Eigeninitiative ärgerte oder
erfreute. Er ging die Bar entlang und bog in den Gang, der
zu den hinteren Räumlichkeiten führte.
»Komme, Boss«, meinte Gina und sah zu mir. »Warte
hier, es wird bestimmt nicht lange dauern.«
»Ich möchte aber nicht, dass du Ärger bekommst.« Ich
packte ihr Handgelenk, hielt sie fest.
»Kein Sorge, Luca ist noch niemals laut geworden. Er
ist so beherrscht, dass ich manchmal glaube, in Wirklichkeit einen Roboter in Menschgestalt vor mir zu haben. Und
ein Roboter kann von logischen Argumenten überzeugt
werden.« Gina zwinkerte mir zu und befreite ihren Arm mit
sanfter Gewalt von meiner Hand. Wenige Sekunden später
war sie im Zimmer am Ende des Ganges verschwunden.
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Da stand ich nun, verloren und mit einem mulmigen
Gefühl in der Magengegend. Sehnsüchtig sah ich zur gläsernen Restauranttür. Ich müsste nur da hinausgehen und
für immer verschwinden.
»Wir haben noch nicht geöffnet«, sagte ein Mann.
Ich zuckte zusammen, drehte mich abrupt um. Ein Kerl
in Kochjacke schaute durch das kleine Fenster, das in die
Rückwand der Bar eingebaut und eine Art Durchreiche
war.
»Ich warte hier auf Gina«, erwiderte ich.
In diesem Moment ging die Bürotür auf, und sie trat
mit einem breiten Grinsen heraus. »Du sollst zum Boss ins
Büro kommen«, meinte Gina. Auf ihrem Weg zu mir wurde sie vom Koch gestoppt, der aus der Küche getreten war.
»Wer ist denn die hübsche Kleine?«, wollte er wissen
und setzte die Kochhaube ab. Er fuhr sich durch sein
schwarzes Haar, starrte mich mit unverhohlener Neugier
an, checkte mich offensichtlich ab.
»Eine Freundin, sie soll hier Julia ersetzen und ist für
dich tabu, mein Lieber.« Gina bohrte ihm den Zeigefinger
in die Brust und schob ihn durch die Schwingtür in die
Küche zurück.
»Dann willkommen hier an Bord. Ich bin Evalto.« Sein
Kopf erschien wieder im kleinen Fenster. »He Sandro,
schau dir mal unsere neue Bedienung an.« In diesem Moment tauchte ein zweites Männergesicht im Fenster auf,
das um einiges jünger als Evaltos war.
»Nicht schlecht«, sagte der Küchenhelfer namens
Sandro.
»Ihr Faulpelze, arbeitet und steht hier nicht rum«,
schimpfte Gina, worauf die Männer lachten und in die
Küche verschwanden. Sie schaute zu mir. »Geh zum Boss,
er wartet auf dich.«
Ich schluckte, hatte das Gefühl, ein Kalb zu sein, das
freiwillig auf die Schlachtbank ging. Zögerlich setzte ich
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mich in Bewegung, passierte Gina, die mir viel Glück
wünschte, und sah die Bürotür immer näher auf mich
zukommen. Dann stand ich davor, klopfte, nachdem ich
tief durchgeatmet hatte, und wurde ich aufgefordert,
hereinzukommen.
Das Büro war größer, als ich erwartet hatte. Es unterteilte sich in zwei Bereiche: auf der einen Seite stand ein
großer Schreibtisch, auf der anderen ein ovaler mit grünem Filz bezogener Tisch, der zehn oder mehr Spielern
Platz bot.
An den Wänden in Höhe der Decke liefen Leuchtbänder entlang, die den Raum in sanftes Licht tauchten. Dafür
gab es keine Fenster, und es war ziemlich kühl. Meine
sämtlichen Härchen erhoben sich. Mit Sicherheit lief die
Klimaanlage auf Hochtouren.
De Angelis saß auf einem Bürostuhl hinter dem Designer-Schreibtisch und klappte den Laptop zu. Natürlich
musste er den Raum so runterkühlen, sonst würde er in
seinem feinen Zwirn mit Sicherheit schwitzen wie ein Marathonläufer bei einem Wüstenrennen. Das Leder knirschte, als er sich zurücklehnte. Er stützte die Ellenbogen auf
die Armlehnen und verschränkte die schlanken Finger.
»Setz dich«, forderte er mich auf. Mit zittrigen Beinen
durchquerte ich den Raum, hielt die Handtasche wie einen
Schild vor meinen Körper. Unsere Blicke trafen sich, ich
sah schnell nach unten zu meinem Spiegelbild im blank
polierten Granitboden. Dass De Angelis mich nicht aus
den Augen ließ, spürte ich fast körperlich.
Sein Auftreten und die Art, wie er mich ansah, machten
mich nervös und ich musste alles an Selbstbeherrschung
aufbringen, um nicht einfach wieder zu gehen.
Vorsichtig nahm ich auf dem Stuhl vor dem Ungetüm
aus Wengeholz Platz, setzte mich an die Kante und musterte die Wand hinter De Angelis, um seinem Blick auszuweichen. Sie sah wie eine offengelegte antike Mauer aus,
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konnte aber auch nur auf alt getrimmt sein. Ich knetete die
Henkel meiner Handtasche, als wären sie aus Pastateig.
»Du willst hier arbeiten?«, fragte er.
Jetzt musste ich ihn ansehen. Sein eisiger Blick verursachte mir eine Gänsehaut, ich zwang mich ihm standzuhalten, versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Erkannte
er mich? Wusste er, wer vor ihm saß? Aber nichts, überhaupt nichts in seiner Mimik verriet, was in ihm vorging.
»Also …?« Er beugte sich etwas nach vorn, ein Schwall
seines Aftershaves traf mich. Es war nicht aufdringlich,
roch nach Unbezähmbarkeit und Leidenschaft, bildete
einen Gegensatz zu seinem unterkühlten Auftreten.
»Ja …, äh … Gina …« Ich stammelte wie ein kleines
Schulmädchen, mein Gesicht brannte lichterloh. Wo war
der Abgrund, in den ich hüpfen konnte?
»Gina sagte, dass du in Schwierigkeiten steckst. Ich will
gar nicht hören, in welchen. Ich möchte nur eines wissen:
Sind es Schwierigkeiten, die dafür sorgen, dass irgendwann die Polizei vor meiner Tür steht?«
Ich atmete durch, straffte meine Schultern. Wurde wütend auf mich selbst und meine Verwandlung in ein nervöses Häufchen Elend. Verflucht, der Typ war auch nur
ein Mensch. Dieses Schlachtfeld würde ich nicht als Verlierer verlassen.
»Nein, es ist nichts Kriminelles, wenn das gemeint ist
und es wird sich nicht auf meine Arbeit hier auswirken.«
»Du hast Erfahrung im Gastronomiebereich?«
»Das habe ich«, sagte ich mit fester Stimme und für
eine Millisekunde lag ein Funkeln in De Angelis Augen.
Der Hauch einer Gefühlsregung.
»Okay, du kannst anfangen. Du bist hier erst einmal
auf Probe, bis ich etwas anderes sage. Gina wird dir alles
zeigen und wie gewünscht erhältst du deinen Lohn in bar.
Du darfst gehen.« Er klappte den Bildschirm seines Laptops hoch.
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Verdattert starrte ich ihn an. Wie jetzt, ich durfte gehen? Lebten wir im neunzehnten Jahrhundert, war ich seine Dienerin? Er würdigte mich keines Blickes mehr. Mein
italienisches Temperament kochte hoch. Es kam nicht oft
zum Vorschein, da ich mehr nach meinem Vater geraten
war, aber wenn es die Oberhand gewann, gab es für mich
kein Halten mehr. Nur mit Mühe konnte ich mich beherrschen, um ihm nichts an den Kopf zu werfen, was ich später bereuen würde. Als wäre der Stuhl mit Stacheldraht
gepolstert, sprang ich auf und stürmte aus dem Raum. Die
Tür knallte ich hinter mir zu, blieb stehen, starrte sie an.
»Was für ein Arschloch«, zischte ich.
»Na, wie ist es gelaufen?«
Ich drehte mich zu Gina, die ziemlich besorgt aussah.
»Gut, du sollst mich hier mit allem vertraut machen«, erwiderte ich, zeigte ihr mein honigsüßes und echt amerikanisches Zahnpastalächeln.
Einen Moment lang musterte sie mich etwas unschlüssig, ihr Blick glitt zur Tür, dann zu mir zurück, schließlich
fand sie ihren immer fröhlichen Gesichtsausdruck wieder.
»Na, wenn das so ist, zeige ich dir erst einmal, wo du deine
Handtasche verstauen kannst«, meinte sie vergnügt. Sie
öffnete eine Tür im Gang, die leicht versetzt gegenüber der
Küchentür lag. »Hier sind das Trockenlager und unsere
Umkleideräume.«
Es sah genauso aus, wie man es von einem Lager erwartete. Es gab Dosentomaten, Mehl und solche Dinge. In
einem anderen Regal lagerten diverse Putzmittel, Tischdecken, alles, was man eben in einem Restaurant brauchte.
Wir mussten einige Regale umrunden und trafen auf Spinde, die an der Wand standen.
»Der hier ist deiner.« Gina legte die Hand auf den in
der Mitte. »Er müsste eigentlich leer sein. Wenn du noch
etwas darin findest, schmeiß es weg, es gehörte dann Julia.« Sie verzog das Gesicht, als die den Namen aussprach.
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»Und hier sind Schürzen.« Sie nahm eine von einem Regal neben den Spinden und band sie sich um. Sie war etwas
kürzer als der knielange Rock und fiel nicht allzu sehr auf,
da sie ebenfalls schwarz war, auch mir reichte sie eine. »Hier
bringst du gut Block und Geldbeutel unter.« Sie zupfte an
der Schürzentasche, drehte sich dann von mir weg. »Da
kommen die gebrauchten Sachen rein«, erklärte sie, deutete
auf die Wäschetonne, die auf der gegenüberliegenden Seite
stand. Sie informierte mich noch darüber, wann das Putzpersonal kam, was wir zu säubern hatten. Währenddessen
machte ich den Spind auf, den sie mir zugewiesen hatte. Er
war ausgeräumt, nur im Fach über dem Kleiderhaken lagen
noch Kleinigkeiten, die wohl übersehen worden waren. Ich
hatte keine Zeit, sie genauer zu betrachten, denn Gina stand
schon an der Tür. Schnell verstaute ich meine Handtasche
im Spind, sperrte ab und folgte ihr aus dem Raum. Den
Schlüssel schob ich in meine Rocktasche zum Foto meiner
Eltern. Wir kehrten in den Gastraum zurück.
»Das sind, wie du dir anhand der Schilder denken
kannst, die Toiletten.« Gina nickte mit dem Kopf in Richtung zweier Türen, die sich gegenüber dem Thekenende
befanden. »Wir benutzen die auch mit.«
»Hallo Gina, wen führst du herum?«, sagte jemand, ich
drehte mich um. Hinter der Bar stand ein junger Mann, ich
schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Er trug eine lange Schürze und befreite mittels eines Geschirrtuchs Gläser von
Wasserflecken.
»Sienna, sie wird Julia ersetzen, und das ist Roberto,
der Herr der Bar«, sagte Gina an mich gewandt.
Roberto stellte das Glas, das er eben poliert hatte, ab,
kam zu uns und küsste meine Hand. »Schön, dich kennenzulernen, wir werden eng zusammenarbeiten. Ich freu
mich drauf.« Er wackelte mit den dunklen Brauen, in seinen schwarzen Augen saß der Schalk. Keine Frage, er war
ein italienischer Gigolo wie aus dem Bilderbuch.
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»Das Vergnügen liegt ganz auf meiner Seite.« Ich befreite meine Hand von seiner.
»Ist schon gut, verschwinde hinter deiner Bar und polier Gläser.« Gina schnaubte.
»Gina, mein Engel, mein Augenlicht, du musst doch
nicht eifersüchtig sein. Du bist und bleibst meine einzig
wahre Liebe.« Roberto legte beide Hände auf sein Herz,
doch Gina wandte sich ab.
»Du hast nur noch nicht die Küche von innen gesehen.
Aber wir müssen das Lokal aufsperren«, sagte sie mit Blick
auf die Uhr, die über der Bar hing.
»Ignorier mich nur, mein Stern, irgendwann werde ich
dich kriegen«, sagte Roberto theatralisch.
»In deinen Träumen. Werde erst einmal hinter den
Ohren trocken«, erwiderte Gina, ohne ihn anzusehen, aber
ihre Mundwinkel zuckten nach oben.
Auch Roberto lachte leise. Wahrscheinlich war diese
Neckerei so ein Ding zwischen den beiden.
»Wir haben normalerweise eine Stunde Pause, die wir
immer dann nehmen können, wenn nicht so viel los ist.
Falls wir länger als acht Stunden da sind, dürfen wir öfter
Pause machen.« Gina durchquerte das Lokal und öffnete
die Tür, die sie einhängte. »Jetzt ist Showtime.« Sie drehte
sich zu mir um.
Es dauerte nicht lange und der Garten füllte sich. Ich
versuchte mit ihr mitzuhalten, manchmal gelang es mir,
dann musste ich wieder feststellen, dass meine Zeiten als
Bedienung schon eine Ewigkeit her waren. Ich schlug mich
durch, so gut ich konnte. Die meisten Gäste zeigten Verständnis, wenn ich einen Fehler machte und ihnen sagte,
dass heute mein erster Tag war.
Der Tag ging rasend schnell vorbei. Von De Angelis sah
ich nur selten etwas, manchmal vergaß ich ihn sogar. Auch
blieb keine Zeit, über den Tod meiner Eltern nachzudenken
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und irgendwann machte es mir nicht mehr so viel aus, die
Stelle, an der ich mit meiner sterbenden Mom gelegen hatte,
zu passieren. Mein Dad war damals gleich zu Beginn der
Schießerei tödlich getroffen worden. Laut Polizeibericht
fand man ihn einige Schritte von meiner Mom entfernt,
doch ich wusste nicht genau wo. Ich wollte nicht weiter darüber nachdenken, verdrängte alles tief in meinem Inneren,
sagte mir, dass es nichts Wichtigeres gab als Gerechtigkeit
für meine Eltern und ich diese Gefühle einsperren musste.
Es war zehn Uhr abends und ich über zwölf Stunden
auf den Beinen, als Roberto Gina und mir ausrichtete, dass
De Angelis uns sehen wollte.
»Was ist, Boss?«, fragte Gina, nachdem wir in sein Büro
eingetreten waren. De Angelis lehnte sich in seinem Sessel
zurück.
»Wie hat sich unsere Neue geschlagen?«
Er sah zu mir, scannte mich regelrecht mit seinem
Blick. Ich kam mir wie unter dem Mikroskop vor. Am
liebsten hätte ich mich hinter Gina versteckt. Doch hob ich
stattdessen stolz mein Kinn und verschränkte die Arme.
»Super, Boss. Für ihren ersten Tag hat sie wirklich gut
mitgearbeitet. Sie war mir eine riesige Hilfe.« Gina übertrieb meiner Meinung nach, aber ich behielt diese Ansicht
für mich.
»Also gut«, sagte er an mich gerichtet. »Du, Sienna,
wirst morgen ab zehn bis neun arbeiten. Und du, Gina,
kommst dann ab zwei Uhr bis Mitternacht.«
»Ist in Ordnung Boss, diese Vierzehn-Stunden-Schichten in letzter Zeit haben mich schon ganz schon fertig gemacht«, gab Gina zurück.
»Dann kann Sienna nach Hause gehen, du kommst
jetzt allein zurecht, oder?«
»Ja, Boss, es ist nicht mehr viel los.«
»Das war’s schon«, sagte De Angelis und widmete sich
irgendwelchen Unterlagen.
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Gina öffnete die Tür, ich setzte mich nicht in Bewegung,
sondern starrte ihn an. Er erkannte mich nicht, hatte keine
Ahnung, dass wir uns schon einmal vor zwanzig Jahren
begegnet waren. Er saß auf seinem Stuhl, ging seinen Geschäften nach, als wäre er nie an einem Massaker beteiligt
gewesen. Ich ballte meine Hände so stark zu Fäusten, dass
sich die Fingernägel schmerzhaft ins Fleisch gruben.
»Ist noch etwas?«, fragte mich De Angelis.
»Nein, alles in Ordnung«, erwiderte ich frostig und
ging hinter Gina aus dem Raum.
46
Kapitel 7
r ist nichts für dich«, sagte Gina, nachdem sie die Bürotür geschlossen hatte.
Irritiert blickte ich sie an.
»
»Luca, er ist zwar ein guter Boss, doch wenn du mit
ihm was anfängst, würde er dich in eine Welt ziehen, die
nichts für nette Mädchen ist.«
»Wie kommst du auf diese komische Idee? Ich will
doch nichts von ihm«, erwiderte ich.
»Ich hab bemerkt, wie du ihn ansiehst.« Gina war ganz
ernst.
»Glaub mir, eher würde ich mit einem Stinktier etwas
anfangen als mit ihm.« Schon bei dem Gedanken drehte
sich mir der Magen um.
»Dann ist ja gut.« Ihr Gesichtsausdruck wurde wieder
fröhlicher.
»Ein paar Gäste wollen zahlen«, rief Roberto in den
Gang.
»Ich komme«, trällerte Gina. »Du hast ja den Zweitschlüssel für die Wohnung?«, sagte sie an mich gerichtet.
»In meiner Handtasche«, erwiderte ich.
»Wir sehen uns zu Hause.« Sie eilte in den Gastraum.
Ich hingegen ging ins Lager, um meine Tasche zu holen
und die Schürze loszuwerden.
Wenige Minuten später war ich auf dem Weg zu Ginas
Wohnung. Die Altstadt wimmelte von Nachtschwärmern.
Was mich nicht wunderte, denn wir hatten eine herrlich
laue Nacht. Ich lief an beleuchteten Schaufenstern vorbei,
die meisten Geschäfte hatten noch geöffnet. In einem
waren Röcke sowie Blusen ausgestellt. Ginas Rock passte
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zwar, saß aber nicht sehr gut. Daher beschloss ich, mir ein
paar Röcke und Blusen zuzulegen.
Endlich erreichte ich die Wohnung. Kaum hatte ich die Tür
hinter mir geschlossen, fingen meine Beine zu jammern
an. Die Füße waren ein einziger Schmerz. Normalerweise
ging ich als Buchhalterin einer sitzenden Beschäftigung
nach, so viel Laufen waren sie nicht mehr gewohnt.
Ich brachte die Einkäufe in mein Zimmer. Im Bad fand
ich eine Wäschewanne, die ich mit warmem Wasser füllte,
griff mir anschließend ein Handtuch aus dem Regal neben
der Badewanne und ging damit in die Küche. Ich stellte alles auf dem Tisch ab, um die Flügeltür, die auf den schmalen Balkon führte, weit aufzumachen, schnappte mir noch
einen Stuhl und genehmigte mir auf dem Balkon zwischen
Ginas Kräutergarten ein Fußbad.
Es war besser als Sex, als ich meine geschundenen Füße
seufzend in das wohltuende Nass tauchte. Während langsam Besserung eintrat und der Schmerz nachließ, beobachtete ich die Menschen, die in der Straße unterwegs waren.
Für eine Nebengasse war einiges los. Ich beugte mich nach
vorn, legte die verschränkten Arme auf das Geländer und
stützte mein Kinn darauf. Wie lange konnte ich dieses Theater noch weiterspielen? Vielleicht sollte ich einen Detektiv
hinzuziehen und zu meinen Verwandten weiterreisen, aber
irgendwas in mir drängte mich dazu, weiterzumachen.
Vielleicht kannst du dich so von deinen Dämonen befreien, indem
du den Mörder deiner Eltern aufspürst, sagte eine kleine Stimme und etwas Dunkles in mir riet sogar, alles für dieses Ziel
zu tun. Wenn ich meinen Job kündigen musste, dann war
das so. Ich würde jederzeit einen neuen finden.
Schon fast eine Woche arbeitete ich im Restaurant und
hatte nicht den kleinsten Hinweis auf den Mörder meiner
Eltern gefunden.
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Ich saß an einem Tisch in der Nähe der Bar, aß den
Salat, den Evalto extra für mich zubereitet hatte. De Angelis stand mit Roberto hinter der Theke und ging mit ihm
die Weinbestellungen durch. Ich schob mir einen herrlich
krossen Croûton in den Mund, der nach Olivenöl und
Knoblauch schmeckte, während ich De Angelis beobachtete. Wie konnte ich Informationen über den Schützen
aus ihm herausbringen? Ganz einfach, geh mit ihm ins Bett.
Männer erzählen Frauen, mit denen sie es treiben, in der Regel
fast alles, schoss durch meinen Kopf. Hitze stieg mir ins Gesicht. Was war ich, ein verdammtes Flittchen? Sex mit dem
Menschen, den ich am zweitmeisten auf der Welt hasste?
War ich dabei durchzudrehen? Einige Regionen meines
dummen Körpers fanden die Vorstellung, den Namen des
Mörders aus ihm herauszuvögeln, nicht so abwegig. Verflucht, verflucht, verflucht …
De Angelis hob seinen Kopf, unsere Blicke trafen sich.
Er sah mich an, als könnte er in mich hineinsehen und
wüsste, was ich gerade gedacht hatte. Im ersten Impuls
wollte ich mich abwenden, aber ich tat es nicht, reckte nur
kämpferisch mein Kinn vor, um ihm zu signalisieren, dass
ich vor ihm keine Angst hatte, auch wenn es mir gerade
kalt den Rücken hinunterlief. Er war wie ein Eisklotz, zeigte keine Emotion, nichts. Nur in seinen Augen meinte ich
manchmal, eine Regung zu erkennen.
»Ciao Luca«, sagte eine Stimme und beendete unser
Blickduell.
Ich sah zur Tür, ein Mann im dunklen Anzug stand im
Rahmen. Sein Haar war grau meliert, eine Narbe zog sich
über die Wange.
»Ciao Salvadore, im Hinterzimmer ist alles bereit.« De
Angelis ging dem zierlichen Mann entgegen, dessen Blick
durch das nahezu leere Restaurant glitt und an mir hängen blieb. Dieser Mann, der gut einen Kopf kleiner als De
Angelis war, sah vielleicht wie ein netter, alter Herr aus,
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doch seine Augen erzählten etwas anderes. Er erinnerte
mich an einen listigen, kleinen Fuchs. Nachdem der Mann
mich einen Augenblick gemustert hatte, schenkte er wieder De Angelis seine Aufmerksamkeit und trat ins Lokal.
Ihm folgten noch weitere Kerle, von denen einige an Boxer
erinnerten. Sie grüßten De Angelis, kannten ihn offenbar alle. Irgendwie hatte ich das Gefühl, bei der Neuverfilmung des Paten mitzuspielen und mir wurde plötzlich
übel.
Die ganze Gruppe verschwand in De Angelis Büro.
»Gina, geh nach hinten, nimm die Bestellungen auf.
Du, Sienna, kümmerst dich um den Gastraum, das Hinterzimmer bedient Gina, und zwar nur sie«, sagte De Angelis
eindringlich.
Ich nickte nur, schaute ihm sogar noch nach, nachdem
er in seinem Büro verschwunden war. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit. Wo war ich da hineingeraten?
Langsam atmete ich durch, ballte meine Hände. Ich würde
nicht so schnell aufgeben. Das war die erste heiße Spur. Es
konnte kein Zufall sein, dass Männer, die förmlich nach
organisiertem Verbrechen rochen und offensichtlich De
Angelis näher kannten, hier hereinspazierten. Ich musste
unbedingt mehr über sie herausfinden. Bestimmt waren
diese Geschichten, die über die Mafia kursierten, nur Legenden, erfunden, um Leute abzuschrecken. Die kochten
auch nur mit Wasser, beruhigte ich die kleine Stimme, die
mir zuschrie, das Weite zu suchen.
Mein Blick fiel auf den Teller vor mir. Ich spießte ein Salatblatt auf, es war schon auf dem Weg zu meinem Mund,
doch dann ließ ich die Gabel wieder sinken. Mir war der
Appetit vergangen, daher brachte ich meinen Teller zur
Durchreiche hinter der Bar.
»Oh, Liebes, du hast ja fast nichts gegessen.« Evalto
nahm den Teller. »Hat es dir nicht geschmeckt?« Er sah
mich unglücklich an.
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»Es war köstlich, doch mir ist ein bisschen schlecht.«
Ich setzte ein schiefes Grinsen auf.
»Du wirst doch nicht schwanger sein?« Roberto trat
neben mich.
»Nein, mir ist nur schlecht, mehr nicht.«
Er lachte leise. »Dann hast du sicher nichts gegen einen
kleinen Schnaps.«
Erst wollte ich ablehnen, doch eigentlich war das keine so schlechte Idee, um das eben Erlebte zu verdauen.
Roberto schenkte Grappa in zwei langstielige Gläser. Er
schob mir eines davon hin, das andere behielt er selbst.
»Salute.« Er prostete mir zu.
Ich nahm mein Glas, hob es ihm entgegen, bevor ich
es in einem Zug leer trank.
»Auf einem Bein kann man nicht stehen.« Roberto
schenkte erst mir, anschließend sich selbst nach.
»Sag mal, kommen diese Typen öfter vorbei?«, erkundigte ich mich beiläufig.
»Welche Typen?«
»Na die, die gerade im Hinterzimmer verschwunden
sind.«
»Vielleicht einmal im Monat, manchmal noch weniger.« Er trank sein Glas leer, stellte es dann auf den Tresen.
»Sie spielen Karten, meist Baccara und das bis zum Morgen. Zumindest tun sie so …«
»Roberto, du redest zu viel«, sagte Evalto, dessen Gesicht wieder in der Durchreiche erschienen war.
»Sie ist doch nicht blöd, sie merkt, was das für Leute
sind«, fuhr Roberto ihn an.
»Was denkst du denn, was sie in Wirklichkeit machen?«, hakte ich nach.
»Hey, steht da nicht so rum, ich hab eine Bestellung
fürs Hinterzimmer, pronto Roberto.« Gina riss das oberste
Blatt ihres Blockes ab und knallte es auf die Theke.
»Ich muss«, sagte Roberto und nahm das Papier.
51
Etwas enttäuscht ging ich in den Garten und kümmerte
mich um die Gäste.
Der weitere Abend verlief ziemlich unspannend. Gina
kam aus dem Hinterzimmer, holte Getränkenachschub,
manchmal auch Essen, und verschwand wieder darin.
Mehr gab es nicht zu sehen, auch wenn ich mich noch so
sehr darum bemühte, einen Blick von dem zu erhaschen,
was in dem Raum vor sich ging.
Die letzten Gäste hatten den Garten verlassen und
ich brachte die Gläser zur Bar, stellte sie auf die Durchreiche. Roberto befreite unterdessen die frisch gespülten
von Wasserflecken, um sie anschließend ins Glasregal zu
räumen.
»Ich denke, Luca wird nichts dagegenhaben, wenn du
gehst«, sagte er zu mir, als ich neben ihn trat und ein Geschirrtuch nahm.
»Ich helfe dir, zu zweit geht es schneller«, erwiderte ich
und schnappte mir ein Glas, das ich mit dem Tuch polierte.
»Nein, nein, das machst du falsch.« Roberto lachte.
»Wie kann man das falsch machen?« Ich zog die Brauen hoch.
»Sieh her, du musst das sanft machen, als würdest du
eine Frau liebkosen und immer mit Kreisbewegungen.« Er
rieb mit seinem Tuch betont langsam über die Oberfläche
des Weinglases, das er am Stiel festhielt.
»Ich steh nicht auf Frauen«, gab ich belustigt zurück.
»Du und Gina, ihr vergnügt euch des Nachts nicht mit
frivolen Pyjamapartys?« Roberto wackelte vielsagend mit
seinen dunklen Brauen. Er stellte sein Glas ab und nahm
meine Hand. »Wie wäre es, wenn wir mal eine Pyjamaparty veranstalten?«, gurrte er wie ein verliebter Kater und
zog mich zu sich.
»Aber ich habe doch keinen Pyjama, ich schlafe nackt«,
erwiderte ich mit verführerischer Stimme.
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»Das ist ja noch besser.« Roberto zog meine Hand an
seinen Mund, sein warmer Atem berührte meine Haut
und sämtliche Nackenhärchen standen auf. Als er einen
Kuss auf meine Hand hauchte, fuhr ein leichter Stromstoß
durch meinen Körper. Obwohl ich eigentlich cool bleiben
wollte, konnte ich mich Robertos Charme nicht entziehen,
wie mit Sicherheit jede Menge anderer Frauen auch. Er
sah mir tief in die Augen. Ein bisschen erinnerte er mich
an James Bond, so elegant, selbstsicher und verführerisch.
Gebannt hielt ich den Atem an.
»Du kannst gehen, Sienna.«
Ich schnappte nach Luft, entzog Roberto ruckartig meine
Hand, als hätte ich sie verbrannt. Steif drehte ich mich um,
blickte in stahlgraue Augen, die mich fixierten. Doch sie waren nicht kalt wie sonst. Etwas loderte darin. War es Zorn?
»Ich helfe Roberto noch beim Aufräumen.« Meine
Stimme klang wie die eines Kindes, das beim Griff in die
Keksdose erwischt worden war.
»Er schafft das allein, und du musst morgen das Lokal
aufsperren.« De Angelis hielt mir ein Schlüsselbund entgegen, dabei blickte er hinter mich zu Roberto, der sich unsicher räusperte, und erinnerte an einen Wolf, der seinen
Konkurrenten musterte.
»Geh nur, Sienna«, sagte Roberto leise, von Selbstsicherheit war in seiner Stimme nichts mehr zu hören.
»Wie ich bereits sagte, er schafft das«, wiederholte De
Angelis. »Ich werde morgen nicht kommen, außerdem bist
du am Vormittag im Service allein, musst somit alles vorbereiten. Evalto kümmert sich um die Küche. Deine Einnahmen kannst du mir gleich geben. Morgen vertritt mich
Gina, die nachmittags anfängt.«
Ich reichte ihm den Geldbeutel und nahm den Schlüssel entgegen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging er.
Verdutzt stand ich da, hinter mir werkelte Roberto herum.
Ich sah zu ihm. Er wischte über die Theke.
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»Brauchst du wirklich keine Hilfe?«, fragte ich.
»Nein, ist nicht mehr viel zu tun«, antwortete er, ohne
mich anzuschauen.
Ich machte den Mund auf, doch irgendwie wusste ich
nicht, was sich sagen sollte. Roberto war wie ausgewechselt, sein Charme weggeblasen. »Dann gehe ich jetzt.«
»Bis morgen.« Roberto starrte weiter auf die Theke, als
hätte er Angst, vom Blitz getroffen zu werden, wenn er zu
mir sah.
Langsam lief ich die Einkaufsstraße entlang, schenkte den
Schaufenstern jedoch keine Beachtung. Meine Gedanken
kreisten um den heutigen Abend. Was sollte De Angelis
seltsamer Auftritt? Ich konnte flirten, mit wem ich wollte.
De Angelis war wirklich der größte Macho-Arsch, den ich
kannte. Einerseits beachtete er mich nicht, auf der anderen
Seite tat er so, als würde ich ihm gehören. Es war an der
Zeit, ihm das Gegenteil zu beweisen. Mit Sicherheit führte
er sich nur aus Gewohnheit so auf, nach dem Motto, in
seinem Lokal baggert keiner Frauen an, außer er selbst,
und es hatte nichts mit mir zu tun, da er mich die überwiegende Zeit wie Luft behandelte. Andererseits hatte ich
ihn noch nie mit irgendwelchen Frauen gesehen. Hatte er
überhaupt eine Freundin? Mein Spiegelbild im Schaufenster zuckte mit den Schultern.
Der Duft von frischem Gebäck umspielte meine Nase,
worauf mein Magen undamenhafte Laute von sich gab.
Daher beschloss ich, mir ein paar süße Teilchen zu gönnen.
Das half meinem Magen und meiner Laune.
54
Kapitel 8
s war wieder einmal ein sonniger Tag, als ich die Gassen in Richtung Restaurant schlenderte. Gina hatte
noch fest geschlafen. Bestimmt war sie erst spät ins Bett
gekommen.
Ich erreichte das Lokal und schloss die Tür auf, der
Geruch von Putzmittel mit Orangenaroma kam mir entgegen. Wie jede Nacht hatten die Reinigungskräfte ganze
Arbeit geleistet und das Lokal strahlte. Zum Glück mochte
ich Orangen, trotzdem hängte ich die Türkette ein, damit
frische Luft hereinströmte, und ging ans Werk. Ich befüllte den Kaffeevollautomaten, stellte die Gartenstühle auf,
wischte die Tische ab und wartete darauf, dass Evalto zu
mir stieß.
Den mit Wechselgeld frisch befüllten Geldbeutel fand
ich in meinem Spind. Nicht zu fassen. De Angelis hatte
meinen Schrank einfach aufgeschlossen. Sobald der Herr
da war, würde ich ihm mit Nachdruck sagen, dass er die
Geldtasche zukünftig an einem anderen Ort deponieren
sollte. Der Spind war meine Privatsache, die ihn nicht das
Mindeste anging. Basta.
»Was ist, wenn ich einfach in dein Büro gehen würde?«, schimpfte ich vor mich hin, während ich mir eine
frische Schürze umband und den Geldbeutel in die Tasche
schob. Wütend knallte ich die Spindtür zu, griff nach dem
Restaurantschlüssel, den ich in ein Regal gelegt hatte.
»Wieso eigentlich nicht?« Ich betrachtete den Schlüsselbund. Mit einem aufgeregten Kribbeln im Magen, das
wahrscheinlich auch Einbrecher, die um ihr Ziel schlichen,
verspürten, verließ ich das Lager. Vorsichtig öffnete ich
die Küchenschwingtür. Von Evalto war nichts zu sehen.
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Ich rief seinen Namen, keine Antwort. Schnell sprintete
ich durch den Gastraum und schloss die Restauranttür ab.
Mein Blick glitt zur Uhr über der Bar. Das Lokal öffnete
erst in einer halben Stunde. Das Kribbeln wurde stärker,
als ich langsam in Richtung Büro ging. Bisher hatte ich
mich noch nie zu etwas Verbotenem hinreißen lassen, ich
war immer korrekt und gesetzestreu, was wichtige Eigenschaften für eine Buchhalterin waren. Aber mittlerweile
arbeitete ich schwarz, belog meine Tante, da machte so ein
bisschen unbefugtes Betreten und Herumschnüffeln das
Kraut auch nicht fetter.
Vor der Bürotür blieb ich stehen, klopfte zaghaft. Man
konnte ja nie wissen. Es blieb ruhig. Ich drückte die Klinke
hinunter, die Tür war abgeschlossen. Jetzt kam der Schlüsselbund zum Einsatz. Den für die Ladentür schloss ich aus,
probierte den nächsten, zitterte ihn aufgeregt ins Schloss,
doch er ging nicht rein. Mist, zu groß. Also kam der Kleine zum Einsatz. Aber auch dieser war der Falsche. Doch
es gab ja noch einen und der passte. Ich wischte meine
schwitzigen Hände am Rock ab und hielt die Luft an, als ich
den Schlüssel umdrehte. Es klickte und die Tür gab nach.
Kalter Zigarrenrauch kam mir entgegen. Manche mochten
diesen Geruch, ich fand ihn widerlich. In dem fensterlosen
Raum war es stockdunkel, neben der Tür ertastete ich den
Lichtschalter und die indirekte Beleuchtung flammte auf.
Schnell schlüpfte ich hinein und drückte die Tür hinter mir
ins Schloss. Abgesehen von dem Zigarrenmief wies sonst
nichts auf die vergangene Pokernacht hin. Als hätten kleine Ordnungswichtel hier gewütet. Den Putzdienst, den De
Angelis beschäftigte, brauchte ich zu Hause auch.
Vorsichtig ging ich durch den Raum. Viele Möglichkeiten, hier etwas Aufschlussreiches zu finden, gab es
nicht, denn das Büro war wirklich spärlich möbliert. Zuerst schaute ich um die Ecke, bis dahin war ich bisher
noch nicht gekommen. Dort stand ein ledernes Ecksofa
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mit einem Glastischchen davor und ein paar Schritte daneben sah die Wand komisch aus. Als ich mich ihr näherte,
erkannte ich den Grund dafür. Es war eine versteckte Tür.
Mein Puls rannte. Vielleicht hatte ich den Jackpot entdeckt.
Ich fand einen kleinen, unauffälligen Kauf, den ich drehte.
Mein Herz machte einen Satz, die Tür ging auf, das Licht
sprang an – und ich stand in einem kleinen Toilettenraum.
Enttäuscht ließ ich die Schultern sinken. Das wäre auch zu
einfach gewesen, ein geheimes Zimmer vollgestopft mit
allen nötigen Beweisen, um De Angelis und dem unbekannten Mörder meiner Eltern das Handwerk zu legen.
Aber dieser Raum erklärte zumindest, warum die Männer
den ganzen vergangenen Abend kein einziges Mal auf die
Gästetoilette im Restaurant gegangen waren.
Entmutigt verließ ich das Klo, doch die Hoffnung wollte ich noch nicht aufgeben. Auf der anderen Seite des Raumes stand ja noch der Schreibtisch. Als ich um die Ecke
bog, ging die Tür auf. Das Herz setzte für einen Schlag
aus, mein Hirn erstarrte, dann kam wieder Leben in meine
grauen Zellen. Ich trat den geordneten Rückzug an und
versteckte mich in der gerade entdeckten Toilette. Wobei
ich die Tür einen Spalt offen ließ.
»Ich bin schon auf dem Weg. Ciao«, sagte De Angelis.
Ich konnte ihn zwar nicht sehen, aber da niemand Weiteres redete, vermutete ich, dass er telefonierte. Was zum
Teufel wollte er hier, hatte er nicht gesagt, er würde nicht
kommen? Eine Schublade wurde aufgezogen, dann hörte
ich Schritte, die näherkamen.
Verdammt, verdammt, verdammt! So vorsichtig
wie möglich schloss ich die Tür, ging rückwärts, bis ich
die Wand im Rücken spürte. Wie gebannt starrte ich auf
den Türgriff. Das Blut rauschte durch meine Adern. Ich
schnappte nach Luft, der Griff bewegte sich, dann wurde
sie geöffnet. Vor Schreck biss ich mir auf die Unterlippe,
schmeckte Blut. De Angelis stand vor mir, sah weder
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überrascht noch ärgerlich aus, fixierte mich nur mit seinen
grauen Augen.
»Hier bist du also«, sagte er und trat in den Raum, der
ruhig ein bisschen größer sein könnte, und blieb direkt
vor mir stehen. »Würdest du mir verraten, was du hier
machst?«
»Äh … ich … also …«, begann ich zu stammeln. So
würde ich mich nur noch lächerlicher machen. Angriff
war die beste Verteidigung. »Ich suche einen Anhänger
und dachte, ich hätte ihn im Büro verloren. Da du nichts
von Privatsphäre hältst, war ich der Meinung, dass ich hier
ruhig mal nachsehen kann.«
»Warum sollte ich nichts von Privatsphäre halten?« De
Angelis, der meist keine Regung zeigte, sah doch ein klein
wenig überrascht aus, was mich innerlich grinsen ließ,
während ich mich äußerlich darum bemühte, keine Miene
zu verziehen.
»Du hast den Geldbeutel mit Wechselgeld einfach ungefragt in meinen Spind gelegt«, antwortete ich.
»Das war Gina. Sie meinte, dass du schon nichts dagegen haben würdest«, erwiderte er und kam noch etwas
näher, ich spürte seine Wärme, roch sein Aftershave, das
verführerisch in meine Nase kroch. Wieder schoss mir der
Gedanke, ihm Informationen herauszuvögeln, durch den
Kopf und gleich darauf die Hitze in meine Wangen.
»Was war das für ein Anhänger?«, wollte De Angelis
wissen.
»Anhänger?«, fragte ich verwirrt.
»Du hast doch deinen Anhänger verloren oder nicht?«
»Ja, das hab ich.« Ich drückte mich an die Wand. Am
liebsten wäre ich darin versunken und im Kühlraum,
der dahinter liegen musste, herausgekommen. Durch die
Wand gehen zu können, wäre eine nützliche Superkraft.
»Es ist ein silbernes Kreuz, in der Mitte befindet sich ein
kleiner Diamant und an den Balkenenden lilienartige
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Verzierungen. Ich hatte es von meiner Mutter«, log ich.
Obwohl, nicht alles war gelogen. Ich hatte von meiner
Mom wirklich einmal so einen Kreuzanhänger geschenkt
bekommen, doch den hatte ich schon vor einer Ewigkeit
verloren. Genaugenommen fand ich ihn seit dem verhängnisvollen Urlaub nicht mehr und konnte mich auch nicht
daran erinnern, ob ich ihn an dem schrecklichen Abend
getragen hatte.
»Ich habe keinen gefunden«, sagte De Angelis.
»Wirklich schade, dann muss ich ihn woanders verloren haben.« Ich wollte seitlich wegrutschen, doch ich
kam nicht weit, weil De Angelis neben meinem Kopf seine
Hand auf die Wand legte und mich so stoppte.
»Und was machst du auf der Toilette? Hier wirst du
das Schmuckstück bestimmt nicht verloren haben.«
»Ich musste dringend«, erwiderte ich heiser, fuhr mit
der Zunge über meine trockenen Lippen und zuckte zusammen, als ich die aufgebissene Stelle erreichte. Statt zu
antworten, trat De Angelis an das Waschbecken, nahm
eines der kleinen Handtücher, die zusammengerollt danebenlagen, und machte eine Ecke nass. Anschließend
kam er wieder zu mir, vorsichtig tupfte er meine Lippe ab,
dabei berührten seine Fingerspitzen meine Haut.
»Du hast, … da ist etwas Blut«, sagte er und ich starrte
ihn nur an.
Sanft strich er mit dem Frottee über meine Lippe.
Unwillkürlich glitt mein Blick zu seinem schön geschwungenen Mund. Ob er gut küsste? Vielleicht so
zärtlich, wie er gerade meine Lippen berührte oder doch
leidenschaftlich? In diesem Moment wünschte ich mir,
er würde es einfach tun. In meinen Fingern kribbelte es.
Zu gern hätte ich seinen Körper unter der Anzugjacke erkundet. Aufgrund unserer gemeinsamen Vergangenheit
wäre es richtiger gewesen, ihn von mir zu stoßen, als
seine Berührungen zu genießen, aber ich konnte einfach
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nicht. Ich redete mir ein, dass ich dies nur für meine Eltern machte, um sein Vertrauen zu gewinnen. Plötzlich
nahm er seine Hand runter und trat einen Schritt zurück.
Ich war versucht, ihn an mich zu ziehen, war über sein
Zurückweichen sogar etwas gekränkt, doch er hatte das
einzig Vernünftige getan. Mein Verstand gewann wieder
die Oberhand, ich räusperte mich.
»Ich sollte an die Arbeit gehen«, sagte ich.
»Natürlich«, erwiderte er, seine Stimme klang rau. Er
bewegte sich nicht, versperrte mir noch immer den Weg
nach draußen, blickte mich an, als würde er mich nicht gehen lassen wollen. Seine Augen waren nicht kalt wie sonst,
Begehren glühte darin. In diesem Moment klopfte es, De
Angelis warf das Handtuch ins Waschbecken und eilte aus
dem Raum, als wäre er auf der Flucht.
Ich strich meinen Rock glatt und folgte ihm.
»Wo ist Sienna? Wir haben Gäste«, hörte ich Evaltos
Stimme.
De Angelis stand in der geöffneten Tür. »Sie wird
gleich kommen, wir hatten etwas zu besprechen«, erwiderte er und schloss die Tür wieder. Er sah zu mir, die
Leidenschaft in seinem Blick war verloschen, die Kälte
hatte wieder ihren Platz eingenommen.
Ich erschauderte. Irgendwie erinnerte er mich an Doktor Jekyll und Mister Hyde. Als würden zwei verschiedene
Herzen in der Brust dieses Mannes schlagen. Eines voller
Leidenschaft, das andere kalt wie Eis.
»Ich werde einige Tage verreisen. Du kannst dich in
dieser Zeit gern in meinem Büro herumtreiben, wenn du
möchtest. Vielleicht findest du ja deinen Anhänger.« Damit ließ er mich stehen und ging zu seinem Schreibtisch.
Verdutzt blickte ich ihm einen Atemzug lang nach. Er
war wie ausgewechselt, als wären die letzten paar Minuten in der Toilette nicht passiert. »Ich werde an die Arbeit gehen, Boss«, sagte ich schnippisch, riss die Tür auf
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und stürmte aus dem Raum. Ich wusste eigentlich nicht,
warum mich sein Verhalten so auf die Palme brachte. Er
hatte mir nur das Blut von der Lippe gewischt, mehr nicht.
Wahrscheinlich wollte er nur verhindern, dass ich mit blutigem Mund vor den Gästen herumrannte und womöglich
noch das Geschäft schädige.
»Komm mal in die Küche«, sagte Evalto, als ich im
Stechschritt an der Schwingtür vorbeimarschierte. Er hielt
sie auf und ich betrat sein Reich. Auf dem Herd brutzelten
schon Zwiebeln. In einem Topf kochte Wasser.
»Was willst du?«, fragte ich und folgte ihm zum Herd.
»Du bist ein liebes Mädchen …« Evalto schwenkte die
Pfanne mit den Zwiebeln.
»Und?« Ich verschränkte die Arme.
»De Angelis, er ist gefährlich. Du hast doch die Leute
gesehen, die gestern Abend in seinem Büro verschwunden sind. Er gehört zur Familie. Wenn du da einmal mit
drinnen hängst, kannst du sie nur noch im Sarg verlassen.
Für so ein Leben bist du viel zu schade, meine Schöne.«
Evalto schob die Pfanne zur Seite, wischte anschließend
die Finger an seiner Kochjacke ab und blickte mich mit
hochgezogenen Brauen an.
Ich schluckte, wusste nicht so recht, was ich sagen sollte und musste eingestehen, dass mir seine Worte Schiss
einjagten. Ich bemühte mich zu lächeln, tätschelte seinen
Arm. »Keine Sorge, wir hatten wirklich nur etwas Geschäftliches zu besprechen«, sagte ich betont fröhlich.
»Dann ist es ja gut«, brummte Evaldo.
»Also, ich werde mich mal um unsere Gäste kümmern.« Ich ging zur Tür.
»Ach übrigens, die Bestellung von Tisch zwei im Garten habe ich bereits aufgenommen.«
»Du wirst mir doch nicht meine Arbeit wegnehmen?«,
erwiderte ich lachend, drehte mich zu ihm. Sogar in meinen Ohren wirkte das Lachen sehr künstlich.
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»Na ja, du warst nicht aufzufinden.« Hinter Evalto
zischte es laut, er schenkte dem überlaufenden Kochtopf
seine volle Aufmerksamkeit.
Mit flauem Magen verließ ich die Küche. Gina hatte
mich auch schon vor De Angelis gewarnt und fast die
gleichen Worte benutzt. Die ganze Sache drohte mir über
den Kopf zu wachsen. Vielleicht sollte ich in das nächste
Flugzeug steigen und nach New York zurückkehren.
Als ich im Gastraum stand, dort auf die Stelle starrte, an der ich mit meiner sterbenden Mom gelegen hatte,
kehrte meine Entschlossenheit zurück. Niemand würde
mich aufhalten, und schon gar nicht eine Bande von miesen Verbrechern.
Die folgenden Tage verliefen ziemlich ereignislos. De Angelis war wie angekündigt verreist. Von einem weiteren
Einbruch in seinem Büro sah ich ab, denn ich würde mit Sicherheit nichts Brauchbares finden. Sonst hätte er mir nicht
seine Erlaubnis erteilt, es nach dem Anhänger durchsuchen
zu dürfen. Im Lokal kreuzten auch keine zwielichtigen Gestalten wie Mitglieder der Familie und dergleichen auf.
Obwohl, etwas war schon passiert. Ich hatte bis auf
Weiteres unbezahlten Urlaub genommen und meine Tante
belogen. Alexander, mein Boss in New York, war nicht begeistert gewesen, hatte mir aber trotzdem lieber Urlaub
bewilligt, als meine Kündigung anzunehmen und Tante
Karen dachte, dass ich mehr Zeit bei der Familie meiner
Mutter verbringen wollte. Mein schlechtes Gewissen den
beiden gegenüber wog schwerer als das Chrysler Building
samt Metalladler, doch ich musste einfach weitermachen.
Meiner Freundin Jenny hatte ich nur eine kurze Nachricht
mit Hinweis auf ein hier vorherrschendes Funkloch geschickt. Bei einem Telefonat würde sie mich mit Fragen
bombardieren und die Gefahr, dass ich mich verplapperte,
war zu groß.
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Wie lange ich die ganze Scharade noch aufrechterhalten musste, wusste ich nicht. Bisher waren meine Nachforschungen nur schleppend vorangekommen. Meine monatlichen Ausgaben waren nicht hoch, daher hatte ich mir
in den letzten Jahren ein kleines Polster zusammengespart,
das jetzt schrumpfen würde. Zum Glück bewohnte ich in
New York eine kleine Eigentumswohnung, die ich mir von
dem Erlös des Verkaufs meines Elternhauses geleistet hatte. Tante Karen hatte das Haus vermietet, bis ich volljährig
war, doch ich wollte nicht darin wohnen und veräußerte
es, hoffte damals so neu beginnen und alle Erinnerungen
hinter mir lassen zu können, aber es funktionierte nicht.
Die Vorstellung, dass der Mord an meinen Eltern niemals
gesühnt werden könnte, ließ mir keine Ruhe. Der verfluchte Mistkerl, der sie auf dem Gewissen hatte, sollte seine
gerechte Strafe bekommen, dafür würde ich alles tun, eben
auch meine Ersparnisse opfern. Das gesichtslose Monster,
das mich nachts in meinen Träumen verfolgte, musste
endlich ein Gesicht bekommen. Vielleicht konnte ich es besiegen und für immer aus meinem Leben verbannen, das
hoffe ich so sehr.
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Viel Spaß beim Weiterlesen.
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