Wann ist Schluss? - Migros

MENSCHEN | MM45, 7.11.2016 | 31
Atomausstiegsinitiative
Wann ist Schluss?
Am 27.November entscheidet das Volk, ob Kernkraftwerke nach einer Betriebsdauer
von 45 Jahren stillgelegt werden. Bei einem Ja würden die ersten Werke bereits 2017
vom Netz gehen. Ist das sinnvoll? Die Argumente der Befürworter und der Gegner.
Text: Reto E. Wild
Bilder: Jorma Müller
Der Auslöser 2011 nahmen die Grünen
den Atomunfall in Fukushima zum
Anlass, die Atomausstiegsinitiative
zu lancieren: Bis 2029 sollen die
Schweizer KKW abgeschaltet werden.
Die Gegner der Initiative sagen,
Leibstadt, das
jüngste Schweizer
Kernkraftwerk,
müsste bei einem Ja
zur Initiative 2029
vom Netz.
dass ein Unfall wie in
Fukushima in der Schweiz sehr
unwahrscheinlich sei, da die
Werke nachgerüstet wurden.
Die Befürworter argumentieren
damit, dass sich die Schweiz
mit Beznau I den weltweit ältesten
und damit störungsanfälligen
Atomreaktor leistet.
Die Kosten Laut dem Wirtschaftsmaga­
zin «Bilanz» führt die Produktion von
Atomstrom künftig jährlich zu einer
halben Milliarde Franken Verlust.
Die Drohung Das Energieunternehmen
Bild: Schlegel­Vonarburg/13 Photo
Axpo will den Bund bei einem
vorzeitigen Ausstieg auf 4,1 Milliarden
Franken verklagen.
Pro und Contra Lesen Sie die Argumente ab Seite 32.
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Horst-Michael Prasser
«Eigentlich braucht es
den Neubau von
Kernkraftwerken»
Beznau I, das dienstälteste
Kernkraftwerk der Welt
Horst-Michael Prasser (61) aus Nussbaumen AG ist
Professor für Kernenergiesysteme an der ETH Zürich.
Von 2008 bis 2011 war er Mitglied des Eidgenössischen
Nuklearsicherheitsinspektorats (ENSI).
Atomausstiegsinitiative
Am 27. November 2016
entscheiden die Schwei­
zer Stimmbürger über
die Volksinitiative
«Für den geordneten
Ausstieg aus der
Atomenergie», die
als Atomausstiegsinitia­
tive bekannt ist.
Der Vorstoss möchte un­
ter anderem, dass der
Betrieb von Kernkraftwerken verboten wird.
Er fordert, dass die beste­
henden Schweizer Kern­
kraftwerke nach einer
maximalen Laufzeit von
45 Jahren ausser Betrieb
genommen werden.
Das heisst: Beznau 1,
Beznau 2 und Mühleberg
müssten 2017 abgeschal­
tet werden, Gösgen 2024
und Leibstadt 2029.
Die Initiative wurde
nach dem Atomunfall in
Fukushima 2011 von der
Grünen Partei im Ver­
bund mit anderen Orga­
nisationen wie Green­
peace lanciert. Ebenfalls
für die Initiative sind
unter anderem die
Fondation Franz Weber,
die Grünliberalen, Pro
Natura, die SPS, der VCS
und der WWF Schweiz.
Gegen die Initiative
sind der Bundesrat, CVP,
SVP, FDP, BDP, Econo­
miesuisse, Energiesuisse
sowie der Verband
Schweizerischer Elektri­
zitätsunternehmen.
«Ich bin kein blinder Befürworter der Kernenergie, halte diese aber für absolut unentbehr­
lich zur Schonung der Umwelt. Heruntergerech­
net auf eine produzierte Kilowattstunde, ist sie
besser als viele andere Energieerzeugungsarten.
In der Schweiz haben wir eine strenge Aufsicht
durch das Eidgenössische Nuklearsicherheits­
inspektorat. Ich bin überzeugt, dass die Nach­
rüstungen, die einen Störfall wie den in Fuku­
shima verhindert hätten, in der Schweiz schon
längst durchgeführt worden sind. Ich sehe nicht
ein, weshalb wir ein Technologieverbot ein­
führen sollten. In meinen Augen ist das eine
populistische Aktion zum Nachteil der Umwelt.
Contra
Ich befürworte die Kernenergie, weil ich
grosse Bedenken habe, dass die Energiewende
so funktioniert, wie es sich die Politiker das
heute vorstellen. Ich halte es für unmöglich,
den gesamten Bedarf mit erneuerbaren
Energien zu ersetzen, weil diese nicht ständig
verfügbar sind und das Problem der Speiche­
rung von Strom stark unterschätzt wird.
Die Länder der EU verbrauchen täglich rund
10 Terrawattstunden. Nehmen Sie an, diese
Energiemenge müsste gespeichert werden, um
eine Lücke in der Versorgung aus erneuerbaren
Quellen zu überbrücken. Das ist ein Sechstel
des Jahresverbrauchs der Schweiz. Dafür
gibt es keine Lösung. Nicht einmal die Schweiz
könnte diese Energiemenge in ihren Pump­
werken speichern – selbst wenn alle Seen vor­
her leer wären. Die Kernenergie bleibt als ein­
zige ausbaufähige CO2­freie Quelle übrig, die
immer verfügbar ist. Genau darum braucht es
eigentlich den Neubau von Kernkraftwerken.»
Bild: Urs Keller/Ex­Press
Darüber stimmen
wir ab
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Carla Fust
«In Beznau hat man 1000 neue
Sicherheitsmängel festgestellt.
Das sind 1000 zu viel»
Carla Fust (36) aus
Oberwinterthur ist
Projektleiterin bei der
Gewerkschaft Unia
und engagiert sich
für die Umweltorgani­
sation Greenpeace.
«Beznau ist das dienstälteste
Kernkraftwerk der Welt.
Noch nie wurde ein Kernkraftwerk so lange betrieben. Für
mich ist das wie ein Feldversuch,
weil man in diesem Bereich
schlicht keine Erfahrungen hat.
Pro
Das ist viel zu riskant! Im Bericht der Axpo, der
für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist, hat
man in der Stahlwand des Druckbehälters von
Beznau letztes Jahr fast 1000 neue Sicherheitsmängel festgestellt. Das sind 1000 zu viel. Es ist
ein Wahnsinn, so ein Werk weiterlaufen zu lassen. Mir geht es ähnlich wie Besuchern aus
dem Ausland, die kaum glauben können, dass
wir in der Schweiz noch ein so marodes Kernkraftwerk haben. Als sich die Katastrophe in
Tschernobyl (1986) ereignete, war ich sechs Jahre alt. Dann kam Fukushima (2011). Das sind
ziemlich viele Super-GAUs in meinen 36 Jahren.
Wir sollten uns zudem bewusst sein, dass
wir in der Schweiz kein Endlager für radioaktive Abfälle haben. Wie können wir das gegenüber der nächsten Generation verantworten?
Dank der Initiative gibt es für den dreckigen
Atomstrom in der Schweiz ein konkretes
Ablaufdatum. Das ist das Jahr 2029.
Wir hatten noch nie ein Problem mit der
Versorgung, dennoch wird stets argumentiert,
ohne Atomstrom komme es zu Blackouts und
Stromknappheit. Und in der Pipeline befinden
sich unzählige alternative Stromprojekte
aus den Bereichen Solar, Wind, Wasser, Holz
und Erdwärme. Die Schweiz hat das Thema
verschlafen. Für Umweltanliegen muss man
kämpfen, sonst regieren die Konzerne, die mit
Atomstrom Geld verdienen.»
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So sieht
ein AKWLehrling die
Abstimmung
www.migmag.ch/
atomausstieg
Zahlen und Fakten
5
Kernkraftwerke
produzieren Strom
in der Schweiz:
Beznau I und II AG,
Mühleberg BE,
Gösgen SO und
Leibstadt AG.
7,03
Megawattstunden
(MWh) Strom
verbrauchte ein
Schweizer Einwoh­
ner im Jahr 2015.
Vor zehn Jahren
waren es noch
6,76 Megawatt­
stunden. Eine MWh
ist das Tausendfache
einer Kilowattstunde.
20,7
Milliarden Franken
betragen die
Gesamtkosten für
die Stilllegung der
Schweizer Kernkraft­
werke und die
Entsorgung der
radioaktiven Abfälle.
39
Prozent beträgt
der Anteil der
Kernenergie an der
inländischen Strom­
produktion im Zehn­
jahresdurchschnitt,
im Winter bis zu
45 Prozent.
Irene Aegerter
«Ich bin eine Grüne, deshalb
bin ich für die Kernenergie»
Irene Aegerter (76)
aus Wollerau SZ ist
promovierte Physikerin
und Präsidentin von
Energiesuisse.net,
einer Dachorganisation
von 13 Vereinen –
darunter der von ihr
gegründete Verein
«Frauen für Energie».
Contra
«Nach dem Atom­
unglück von Tschernobyl
1986 sammelte ich zusam­
men mit ‹Frauen für Energie›
21 000 Unterschriften für eine Petition an die
eidgenössischen Räte, damit der Atomstrom
auch für künftige Generationen erhalten
bleibt. Und jetzt steht wieder eine Initiative
an, die man unbedingt ablehnen muss. Man
kann den Ausstieg aus der Kernenergie so
leichthin fordern, aber die fehlenden 35 Prozent Strom lassen sich weder mit Stromsparen noch mit alternativen Energien einfach
ersetzen. Und Kohle als Alternative ist die
grösste CO2-Schleuder und Klimabedrohung.
Ich setze mich deshalb für Kernenergie ein,
weil ich möchte, dass auch meine drei Enkel
und meine Enkelin ein Leben mit genügend
sauberem Strom haben. Strom ist wichtig
für unsere Arbeitsplätze und den Erhalt
unseres Wohlstands. Entscheidend ist
CO2-freier und damit sauberer Strom. Ich bin
eine Grüne, deshalb bin ich für Kernenergie.
In unserem Minergie-Haus mit Doppelschalen-Mauerwerk und dreifach verglasten
Fenstern brennt übrigens seit zehn Jahren
keine einzige Glühbirne mehr. Wir haben
mit Erdwärme gespeiste Wärmepumpen,
kein Öl und auch kein Gas.
Wirklich genügend Bandstrom während
24 Stunden und 365 Tagen produzieren nur
Kernkraftwerke, die übrigens privat finanziert wurden. Die Kernenergie entwickelt sich
zudem permanent weiter. Die Reaktoren, die
heute eingesetzt werden, sind dieselben wie
in nuklearen U-Booten. Die entstehenden Abfälle sind die geringsten pro Kilowattstunde.
Wir brauchen eine Kreislaufwirtschaft.
Und Atomstrom ist eine nachhaltige
Stromproduktionsart, denn die Abfälle der
Kernkraftwerke sind zum grössten Teil
Ressourcen, die man als Brennstoffe wieder
einsetzen kann.»
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Thomas Cerny
«Die einzige sichere
Atomkraft bleibt
unsere Sonne»
Thomas Cerny (64) aus St. Gallen ist Präsident der
Pro
Krebsforschung Schweiz und Chefarzt Onkologie
am Kantonsspital St. Gallen.
«Ich äussere mich hier als
Privatperson, als besorgter
Stimmbürger, Vater und Gross­
vater. Nach dem Atomunglück im
japanischen Fukushima sagten Bundesrat
und Parlament klar, dass die Schweiz nun aus
der Atomenergie aussteigen wird. Jetzt haben
die Politiker unter dem Druck der Wirtschaft
ihren Mut verloren, vertrödeln den Ausstieg
und gefährden damit unsere Gesundheit und
unseren Wohlstand.
Wir betreiben in der Schweiz den ältesten
Atomkraftwerkpark der Welt und sind nun
im teuren und hochgefährlichen Reparatur­
modus. Wir haben bereits 1450 Tonnen hochradioaktives Material, das in der Schweiz ein
nicht vorhandenes Endlager benötigt. Nie­
mand hat eine sichere Lösung zur ewigen
Aufbewahrung der abgebrannten Brennstäbe.
Auch die Rückbaukosten der Atomkraftwerke
werden monströs teuer. Kommt dazu, dass wir
eine grosse Bevölkerungsdichte haben. Wenn
es in Mühleberg einen Unfall gäbe, müsste man
die Stadt Bern evakuieren und umsiedeln.
Als Mediziner habe ich mich mit dem Unglück von Tschernobyl auseinandergesetzt.
Nach dem Unfall sind Menschen wegen akuter
Verstrahlung elend ums Leben gekommen.
Menschen und Maschinen sind auch bei uns
nie unfehlbar, wie wir nach dem Atomunfall
von Lucens VD (1969) bestens wissen, und auch
in Zeiten von Terrorismus müssen wir unsere
existenziellen Risiken reduzieren. Deshalb ist
es Zeit für ein vernünftiges Ausstiegsszenario,
denn es gibt saubere Alternativen. Die einzige
sichere Atomkraft bleibt unsere Sonne, und sie
ist auch eine enorme Chance: Hocheffiziente
Anlagen haben einen gigantischen globalen
Markt. Wir alle müssen jetzt handeln und
für den klar terminierten Atomausstieg stim­
men, bevor auch noch die Urenkel zur Kasse
gebeten werden.» MM
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Véronique Zakro (23),
junge Mutter ohne Ausbildung