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Mayen EXTRA
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Nr. 35/2016
Von Bollywood und dem Scham vor dem eigenen Körper
In den letzten beiden Wochen,
in denen die unbarmherzige
schwüle Hitze mit aller Gewalt
über uns hergefallen ist, hatte
ich des öfteren das Gefühl,
dass es mir dieses Mal vielleicht leichter fallen wird, ins
vergleichbar kühle Deutschland
zurückzukehren. Jetzt, wo unsere Abreise in greifbare Nähe
rückt, die letzte Woche hier hat
begonnen, überwiegt wieder
die Wehmut in Hinblick auf den
Abschied, wie immer war die
Zeit viel zu kurz und ist im Nu
verflogen.
Auf dem Weg nach Kalleri, meinem Lieblingsdorf, versuche ich
möglichst viele Sinneseindrücke zu speichern. Was in den
vergangenen Wochen unter
„normales Alltagstreiben“ lief,
sehe ich jetzt wieder mehr mit
den staunenden Augen einer
Mitteleuropäerin. Die Scharen
der uniformierten Schulkinder
auf dem Heimweg, die Affen
auf dem Bananenstand, lauernd, dass etwas für sie herausspringt, oder balancierend
auf dem abenteuerlichen Geflecht der Stomleitungen. Der
„Bagman“ in Ananthapuram,
der alle Plastiktüten einsammelt, zu welchem Zweck auch
immer. In Anbarasus Kindheit
muss er schon genauso ausgesehen haben wie heute. Die
winzigen
Schneiderateliers,
meist offen, die altertümlichen
Nähmaschinen direkt am Eingang platziert für direkte Kommunikationsmöglichkeit mit den
Vorbeigehenden, die Barbiere,
flink mit scharfen Rasiermessern hantierend, die unzähligen
vollgestopften Geschäfte und
Verkaufsstände. Dazu die Düfte
der Garküchen am Straßenrand, eine Komposition orientalischer Gewürze, zwischendurch durchdrungen von einer
Fäkalienfahne, die aus einem
der offenen Abwasserkloaken
herüberweht. Das bunte Lärmen und Treiben von Sonnenaufgang bis lange nach Sonnenuntergang, übertönt von
den Rhythmen der Bollywoodmusik aus unserem Autoradio.
Strahlend fragt Ezhumalai täglich: „ You like Tamil music?“
„Yes, we love it!“
In Kalleri erwartet uns Lourdemary mit Huberta, einer stattlichen Kuhdame, die hochschwanger ist und bald zum
ersten Mal kalben wird. Lourdemary hat, was ungewöhnlich für
die Region ist, vier Kinder, alles
Jungs. Sie wollte so gerne eine
Tochter haben. Noch gut erinnere ich mich an die Geburt
des dritten Sohnes. Wie traurig
war sie damals. Auch das gibt
es in Indien. Wir hoffen, dass
sie dieses Mal Glück hat und
zumindest das Kälbchen ein
Mädchen wird. Sie hat einen
Brief geschrieben an die Riedener Frauen, die das Geld für die
Kuh gesammelt haben, den ich
mitnehmen soll. Die Nachbarsfrauen freuen sich mit ihr, sagen uns, dass sie es richtig finden, dass wir Lourdemary für
die Kuh ausgewählt haben. Einen kleinen Anteil der Kuh
muss sie selbst finanzieren,
das macht sie für sie noch
wertvoller.
In dieser Woche gibt es wieder
eine Geburt. Poongali, 19 Jahre, hat nach drei Tagen geduldiger Wehenarbeit, hier gehen
die Uhren doch anders, ganz
unkompliziert ihr erstes Kind,
einen kleinen Jungen, geboren.
Souverän und liebevoll begleitet von unseren Hebammen. Es
erfüllt mich mit Freude und
Stolz wenn ich erlebe, wie diese sich in den letzten vier Jahren entwickelt haben.
Wie jede Woche gibt es wieder
theoretischen und praktischen
Unterricht. Dieses Mal möchte
ich einige Situationen praktisch
üben. Damit die Abläufe verinnerlicht werden, soll jede der
Hebammen ein Kissen vor den
Bauch binden und es ausprobieren. Dieser Versuch scheitert kläglich am Widerstand der
Hebammen. Einerseits gibt es
in Indien keinerlei Privat- oder
Intimsphäre, es ist üblich, dass
etwa bei einer Geburt 20 oder
mehr Personen dabei sind,
nicht im MHC, aber anderswo.
Auf der anderen Seite herrscht
eine überwältigende Scham,
wenn es um den Körper geht.
Es ist eine Herausforderung,
das Abtasten der Brust zu erklären, sei es bei einer stillenden Mama oder bei Brustkrebsscreenings, das sie in den verschiedenen Dörfern durchführen und wozu sie selbst Leiterinnen von Selbsthilfegruppen
ausbilden. Dies nur theoretisch
zu vermitteln, ist nicht möglich.
Mittlerweile haben wir ein befüllbares Brustmodell, das man
über die Kleidung wie einen BH
anziehen kann. Doch selbst damit gibt es immer Gekichere.
Das Training findet im Rahmen
der Möglichkeiten statt, immerhin haben Anna und ich keine
Hemmungen mit falschen Babybäuchen.
Am Sonntag findet ein mittlerweile schon traditioneller Kindertag statt. Etwa 50 Kinder
sind gekommen. Schon beim
ersten Spiel stellen wir fest,
dass es unmöglich ist, gemeinsam mit unseren vier Hebammen die Kinder in den Griff zu
bekommen. Das schafft nur Anbarasu und der ist leider verhindert. Die Jungen sind außer
Rand und Band das ganze Programm droht zu kippen. Wir
trennen die Gruppe, von da an
läuft es besser. Die Mädchen
malen. Die Jungen haben kurz
Hygieneunterricht mit den Hebammen, anschließend schafft
es Anna heldenhafterweise ihnen die Regeln von Völkerball
zu erklären, so können sie sich
noch austoben. Zum Abschluss
gibt es für alle Saft, Obst, Kekse und Malstifte.
Blessie, eine unserer Hebammen, hat diese Woche nach
schier endlosem Bürokratieaufwand endlich ihr Visum bekommen. Sie wird mich nächste
Woche nach Deutschland begleiten und unter anderem auf
der Diözesanversammlung der
kfd in Trier über die Arbeit
hier berichten. Die kfd im Bistum Trier hat das MHC mehrere
Jahre als offizielles Spendenprojekt unterstützt, letztes Jahr
fand eine Reise mit kfd Frauen
hierhin statt. Das Interesse ist
immer noch groß. Wir legen
großen Wert darauf, die kfd
Gruppen weiterhin auf dem
Laufenden zu halten über die
aktuelle Entwicklung. Wir sind
auch weiterhin für jede Art der
Unterstützung, sei es für Einzelprojekte wie die Kuh für
Lourdemary, den Erwerb einer
Nähmaschine oder die Beteiligung an einer Patenschaft
dankbar. Es gibt noch viel zu
tun.
Erst einmal bin ich jetzt gespannt, wie Blessie unsere
Welt erleben wird. Der Kulturschock wird für sie garantiert
um ein vielfaches größer sein,
als für uns, wenn wir zum ersten Mal in ein Land wie Indien
reisen. Doch das wird eine eigene Geschichte. Auf in die
letzte Woche.
Daniela Nedogoda-Simon, in
Mayen geboren und in Rieden
aufgewachsen, berichtet für
den Wittich-Verlag von ihrer
täglichen Arbeit in Indien und
lässt uns an ihren Erlebnissen
teilhaben.