Hannah Mormann
Das Projekt SAP
Sozialtheorie
Hannah Mormann (Dr. phil.), geb. 1980, lehrt und forscht am Soziologischen
Seminar der Universität Luzern. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Organisationssoziologie und Technikforschung.
Hannah Mormann
Das Projekt SAP
Zur Organisationssoziologie betriebswirtschaftlicher
Standardsoftware
Dissertation, Universität Bielefeld 2014
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Lektorat: Katrin Herbon
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-8376-3376-4
PDF-ISBN 978-3-8394-3376-8
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Inhalt
Einleitung | 9
A. DIE STANDARDISIERTE SOFTWARE:
DAS ORGANISATIONSMODELL DER TECHNIK
1.
Das 3-Ebenen-Modell der Software | 25
1.1 Die Datenbankebene: Von „navigationalen“ zu relationalen
Datenverknüpfungen | 34
1.1.1 Hierarchische und Netzwerk-Datenbankmodelle | 35
1.1.2 Der Gegenentwurf: Das relationale Datenbankmodell | 40
1.1.3 Die Datenbeschaffung mithilfe logischer Datenbanken | 46
1.1.4 Die Softwarearchitektur: Verteiltheit und Skalierbarkeit | 49
1.2 Die Anwendungsebene: Die Modellierung ereignisgesteuerter
Prozessketten | 54
1.2.1 Die Kontroverse zwischen Ingenieur und Betriebswirt:
Die Echtzeitverarbeitung von Daten im Rechnungswesen | 57
1.2.2 Das Berechtigungskonzept: Die Organisation in der Software | 62
1.3 Die Darstellungsebene: Die Mehrsprachigkeit der Software | 65
1.3.1 Der Unicode-Zeichensatz | 66
1.3.2 Die Globalisierungsdatenbank | 70
2.
Die Idee für eine Standardsoftware und
die Entstehungsgeschichte von SAP | 75
2.1 Die erste Entstehungsphase: Grundmodule und
das Baukastenprinzip | 78
2.2 Die zweite Entstehungsphase: Die Internationalisierung
der Software | 81
2.3 Die dritte Entstehungsphase: SAP als de facto-Standard | 82
3.
Die Softwareverbreitung | 85
3.1 Die neoinstitutionalistische Organisationstheorie | 88
3.2 Verordnen, Empfehlen und Nachahmen: Erklärungen der
Softwareverbreitung | 90
3.2.1 Die verordnete Software: Gesetze und Konzernvorgaben | 91
3.2.2 Die empfohlene Software: Sozialisations- und Netzwerkeffekte | 93
3.2.3 Die nachgeahmte Software: Die Inszenierung von Erfolg | 96
3.3 Das Organisationsfeld SAP – Wie ein Softwarehersteller
Beziehungen zwischen Organisationen konstruiert | 100
3.3.1 Das Organisationsfeldkonzept | 101
3.3.2 Referenzmarketing und Organisationsvergleiche | 104
Exkurs: „Zufriedene Kunden kennenlernen“ | 107
3.3.3 Die Herstellung von Vergleichsbeziehungen und
die Theoretisierung der Organisation | 109
4.
Das Organisationsmodell von SAP und
ingenieurtechnische Grundlagen im Management | 111
4.1 SAP und andere Managementkonzepte | 114
Exkurs: Das Beispiel ISO 9000 | 115
4.2 Managementingenieure und das Problem der
Unsicherheitsreduktion | 118
4.2.1 Der Ingenieur Taylor und das Prinzip der Übertragung | 119
4.2.2 Auf dem Weg zu einer modernen Organisationstheorie | 121
4.3 Simons entscheidungstheoretisches
Forschungsprogramm | 122
4.3.1 Organisationen als Entscheidungssysteme | 123
4.3.2 Entscheidungsprogramme in Organisationen | 126
4.3.3 Die Systemperspektive | 129
B. DIE INDIVIDUALISIERTE SOFTWARE:
DIE INTEGRATION DER TECHNIK I
5.
Der systemtheoretische Untersuchungsrahmen:
Luhmanns organisationssoziologische Konzepte | 135
5.1 Unsicherheitsabsorption und die Eigenlogik der Organisation | 137
5.2 Entscheidungen und Entscheidungsprämissen | 141
5.3 Die kommunikative Bearbeitung von Entscheidungsproblemen | 144
6.
Die Beratungsinteraktion: Entscheidungen als Output | 147
6.1 Konkretisierung der Anforderungen | 149
6.2 Selbstbeschreibungen der Organisation | 153
6.3 Entscheidungsprogramme in der Organisation
und die Programmlogik | 155
6.4 Berechtigungen und andere Entscheidungsprobleme | 159
7.
Die Projektorganisation: Entscheidungen als Input | 165
7.1
7.2
7.3
7.4
Entscheidungen über Interaktionsformate | 166
Soziale Faktoren: Projektteilnehmer und ihre Erwartungen | 168
Zeitknappheit als konstitutives Merkmal von Softwareprojekten | 175
Prototyping und andere Strategien der Angleichung
von Organisation und Technik | 179
C. DIE OPERATIVE SOFTWARE:
DIE INTEGRATION DER TECHNIK II
8.
Beschreibungen der Softwareverwendung | 189
8.1 Deterministische Modelle | 190
8.2 Die Dualität der Technik | 195
8.3 Die Softwareverwendung als
softwarevermittelte Kommunikation | 198
9.
Über unvollständige, verteilte und anderweitig „defekte“
Datenverarbeitung | 205
9.1
9.2
9.3
9.4
Die Software als Entscheidungsprogramm | 206
Das unvollendete Softwareprojekt | 210
Lokale Datensammlungen und (Nicht-)Informationen | 215
Die operative Software: Das Produkt eines
Entscheidungsnetzwerkes | 220
Schluss | 225
Literatur | 235
Anhang | 257
Danksagung | 263
Einleitung
Betriebswirtschaftliche Standardsoftware ist für Anwendungsgebiete programmiert, „von denen von vornherein feststeht, dass ein größerer Kreis von Anwendern dieselben oder ähnliche Programme benutzen kann“ (Schneider 1997:
819f.). In den 1970er Jahren war es in Unternehmen noch üblich, Software von
festangestellten Programmierern entwickeln zu lassen. Diese Software wurde
eingesetzt, um Probleme in einer besonderen Arbeitsumgebung zu lösen. In Unternehmen war Individualsoftware also die Regel. Die Chancen für eine Standardsoftware, die von vielen verschiedenen Organisationen verwendet werden
sollte, schätzten Marktexperten noch Anfang der 1990er Jahre eher gering ein.
Individuelle Organisationen mit ihren Arbeitsabläufen und eine standardisierte
Software stellten für viele Experten einen Widerspruch dar.
„For many social scientists, especially those informed by sociology and anthropology, the
large software suppliers like SAP should not be successful. Sociological/anthropological
theory tells them that organisations are too diverse to deploy these highly generic systems.
Many studies therefore end up suggesting – on the basis of difficulties and complications
witnessed during fieldwork – that ERP systems and the like have no more than limited potential for extension.“ (Pollock & Williams 2009: 8)
Die ersten Module der Standardsoftware SAP wurden 1972 für die deutsche
Niederlassung eines britischen Chemiekonzerns entwickelt. Als System R bzw.
R/1 und später als R/2 wurde die Standardsoftware auch in anderen Unternehmen eingesetzt. Im Frühjahr 1991 stellten die Softwareentwickler von SAP einzelne Module von R/3 auf der Computermesse CeBIT in Hannover vor. Die
Software verbreitete sich in den Folgejahren weltweit. Bis 2003 trug sie den
Namen SAP R/3. Heute wird die Standardsoftware als SAP ERP (Enterprise Resource Planning) bzw. SAP ECC (ERP Central Component) verkauft und wird
mittlerweile in über 250.000 Unternehmen und anderen Organisationen verwen-
10 | D AS P ROJEKT SAP
det. In ihrem Buch Software and Organisations. The Biography of the Enterprise-Wide System or How SAP Conquered the World kritisieren Neill Pollock und
Robin Williams (2009) die einseitige Blickrichtung in der bisherigen soziologischen Forschung über Softwaresysteme wie SAP. Es gehe ausschließlich um die
Anpassung standardisierter Produkte an organisatorische Umgebungen („situated
and localist explanations“). Trotz methodischer Unterschiede konzentrierten sich
viele Arbeiten auf die Besonderheiten des Einzelfalls und klammerten weitere
kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse und Wirkungen aus.1 Die meisten der
Arbeiten seien Momentaufnahmen („snapshots“), in denen der Sieg des Lokalen
über das Globale oder der Sieg des Politischen über das Technische erklärt werde.2 Die generelle Kritik von Pollock und Williams lautet daher: Der Einfluss der
Angebotsseite moderner IT-Systeme auf die Nachfrageseite wird nahezu vollständig ausgeblendet. Pollock und Williams greifen in ihrer eigenen SAP-Studie
auf umfangreiches empirisches Datenmaterial aus drei Jahrzehnten zurück.3 Sie
nutzen das Material für eine Art biografische Schilderung von IT-Systemen
(„biography of artefacts framework“). Wesentliche Stationen sind die Entwicklung, der Vertrieb und die Implementierung von IT-Systemen sowie ihre Wartung und Pflege durch den Hersteller (vgl. ebd. 80ff.). Statt zu untersuchen, wie
Softwareprodukte im Nachhinein an eine besondere Umgebung angepasst werden, fragen die Technikforscher, wie es Anbietern wie dem SAP-Konzern gelingt, in ihre Produkte die Verschiedenartigkeit aufzunehmen, die innerhalb von
Organisationen und zwischen Organisationen verschiedener Industrien und Kul-
1
Ende der 1990er Jahre etablierte sich mit Arbeiten von McLaughlin et al. 1999, Ciborra et al. 2001, Sawyer 2000 u.a. im angelsächsischen Raum der Forschungszweig Social Study of Information Systems.
2
Die sozialwissenschaftliche Forschung über SAP und vergleichbare Software steht üblicherweise in der Tradition der sozialkonstruktivistischen Wissenschafts- und Technikforschung. Wichtige Referenzpunkte sind die sogenannten Laborstudien von Bruno
Latour und Steven Woolgar (1979) sowie Karin Knorr Cetina (1984). Besonders oft
werden theoretische Bezüge zur Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und zu Latour
(1987; 1999) als einem ihrer Hauptvertreter hergestellt (z. B. Bloomfield & Best
1992; Briers & Chua 2001; Moscove et al. 2003; Hanseth et al. 2004; Quattrone &
Hopper 2005; 2006).
3
Das Material stammt von ihnen selbst sowie von Kollegen an der Universität Edinburgh. Die Autoren nennen die Forschungsprojekte von Fleck, Webster und Williams
(1987-1991) sowie Pollock und Conford (1998-2001) (vgl. die Projektangaben in Pollock & Williams 2009: 14). Die Forschungsergebnisse von D’Adderio (2004), Grimm
(2009) und Wang (2007) sind ebenfalls in das Buchprojekt eingeflossen.
E INLEITUNG
| 11
turen existiert. Sie fokussieren die Aushandlungsprozesse zwischen Anbietern
und Abnehmern von Softwaresystemen. Im sozialen Prozess der Aushandlung
artikulieren sich einerseits das standardisierte Softwareprodukt, andererseits die
Individualität von Organisationen. Das Allgemeine, das für alle oder viele Organisationen gilt, und das Besondere, das nur für eine einzelne Organisation gilt,
werden immer wieder neu bestimmt. Am Beispiel von Universitäten zeigen Pollock und Williams, dass standardisierte Techniken zum Einsatz kommen, die ursprünglich für andere Anwendungskontexte (nämlich für die Privatwirtschaft)
entwickelt wurden.4
Die neuere Technikforschung etablierte sich in den 1980er Jahren im Anschluss an die Umbrüche in der Wissenschaftsforschung vor allem im englischsprachigen Raum. Die Wissenssoziologie in der Tradition Karl Mannheims
(1929) hatte bis dahin die Naturwissenschaften und Mathematik als Forschungsgebiet weitgehend ausgeklammert, denn diesen Disziplinen wurde ein epistemologischer Sonderstatus zugewiesen.5 Der soziologischen Wissenschaftsforschung
geht es nunmehr um den empirischen Nachweis der sozialen Konstituierung wissenschaftlichen Wissens auch auf jenen Gebieten, die scheinbar keine Beziehun-
4
Pollock und Williams illustrieren soziale Aushandlungs- und Übersetzungsprozesse
am Beispiel der Anpassung eines betriebswirtschaftlichen Softwaremoduls für den
Einsatz in Universitäten. Sie stellen fest: „ERP systems are structured around general
notions such as supplier, customer and employee, and while these may share some of
the characteristics of actors found in universities, they do not map straightforwardly“
(Pollock & Williams 2009: 140). Die Softwareentwickler (re-)interpretieren existierende Kategorien in der Software und Programmabläufe so, dass sie als Bausteine für
den neuen Kontext wiederverwertet („re-using“) werden können. Das Softwaremodul
wird zunächst für die Verwendung in einer bestimmten Hochschule spezifiziert, um es
anschließend als sogenannte Branchenlösung auch anderen Hochschulen anzubieten
(vgl. Pollock et al. 2007: 264).
5
Mannheim beschreibt diesen Sonderstatus so: „Während man der Aussage (um den
einfachsten Urtypus anzuführen) 2 mal 2 = 4 nicht ansehen kann, durch wen und
wann und wo sie so formuliert wurde, wird man es einem geisteswissenschaftlichhistorischen Werk stets ansehen, ob es etwa in den Aspektstrukturen der ‚historischen
Schule‘, des ‚Positivismus‘ oder des ‚Marxismus‘ und auf welcher Stufe derselben
konstituiert worden war“ (ebd.: 234). Die „harten Wissenschaften“ wurden nur dann
zum Gegenstand wissenssoziologischer Untersuchungen gemacht, wenn es um die
nachträgliche Erklärung naturwissenschaftlicher Irrtümer ging.
12 | D AS P ROJEKT SAP
gen zwischen dem Forschungsgegenstand und sozialen Strukturen aufweisen.6
Vertreter und Vertreterinnen ganz unterschiedlicher Disziplinen versuchten auf
dem Gebiet der Technikforschung in vergleichbarer Weise nachzuweisen, dass
sowohl die Herstellung als auch die Verwendung von Techniken gesellschaftlich
gestaltet und von einer Vielzahl sozialer Faktoren beeinflusst ist – vom kulturellen und geografischen Umfeld ebenso wie von wirtschaftlichen, politischen und
organisatorischen Rahmenbedingungen (vgl. MacKenzie & Wajcman 1985;
Edge 1988; Williams & Edge 1996; Quintas 1994).
Unter der Überschrift Social Shaping of Technology (SST) sind in den vergangenen drei Jahrzehnten eine Vielzahl von Arbeiten entstanden, die Techniken
nicht nur als Einflussfaktoren für den Wandel von Organisationen und Gesellschaft untersuchen. Techniken selbst, ihre Herstellung und Verwendung, stehen
im Fokus (vgl. Williams & Edge 1996: 856). SST ist ein mittlerweile weit verzweigtes Forschungsgebiet innerhalb der Science and Technology Studies (STS).
Zu einem der einflussreichsten Aufsätze zählt The Social Construction of Facts
and Artifacts Or How the Sociology of Science and the Sociology of Technology
Might Benefit Each Other von Trevor Pinch und Wiebe Bijker (1987).7 Die Autoren importieren zwei zentrale Konzepte aus der Wissenschaftsforschung in die
Technikforschung: die interpretative Flexibilität und die soziale Schließung. Interpretative Flexibilität in den Science Studies bedeutet, dass Forschungsergebnisse oft mehrdeutig sind. Technische Artefakte können von Akteuren bzw. relevanten sozialen Gruppen ebenfalls auf unterschiedliche Weise interpretiert werden. Die Interpretationsmöglichkeiten sind allerdings nicht beliebig. Begrenzt
wird der Spielraum einerseits durch die materielle Beschaffenheit des Artefakts.
Andererseits wird die Interpretation durch den sozialen Kontext bestimmt. Die
6
David Bloor von der Universität Edinburgh hatte in diesem Zusammenhang eine Vorreiterrolle. Einen entscheidenden Beitrag für eine Wissenssoziologie wissenschaftlichen Wissens lieferte er in Knowledge and Social Imagery (1976).
7
Der Aufsatz stammt aus dem Sammelwerk The Social Construction of Technological
Systems: New Directions in the Sociology and History of Technology (1987). Die von
Wiebe E. Bijker, Thomas P. Hughes und Trevor J. Pinch herausgegebene Aufsatzsammlung zählt zum Grundlagenwerk der sozialkonstruktivistischen Technikforschung. Bijker und seine Kollegen formulieren in der Einleitung die Gemeinsamkeiten
der in den 1980er Jahren entstandenen Technikstudien: „A characteristic that all these
approaches share is the emphasis on thick description, that is, looking into what has
been seen as the black box of technology (and, for that matter, the black box of society). [...] This thick description results in a wealth of detailed information about the
technical, social, economic, and political aspects of the case under study“. (Ebd.: 5)
E INLEITUNG
| 13
Mehrdeutigkeit von Forschungsergebnissen wird in wissenschaftlichen Kontroversen behandelt, bis irgendwann ein Konsens darüber hergestellt ist, was als
Wahrheit betrachtet werden kann. Pinch und Bijker sprechen in diesem Zusammenhang von sozialer Schließung. Für die Technikentwicklung illustrieren sie in
ihrem programmatischen Aufsatz einen vergleichbaren sozialen Mechanismus
am Beispiel der Entstehungsgeschichte des Fahrrads.8 Generell betrachten Technology Studies die Entwicklung technischer Artefakte als alternierenden, nichtlinearen Prozess, in dem Design und Problemkonstellationen variieren und sozial
ausgehandelt werden.
In der Soziologie wird die Frage nach der sozialen Bedeutung einer Technik
unterschiedlich interpretiert. Entweder steht der Entstehungskontext im Fokus
und das technische Artefakt selbst wird als verfestigte Form des Sozialen betrachtet. Oder die soziale Bedeutung einer Technik wird in den Praktiken des
Umgangs mit ihr gesucht, d.h. der Verwendungskontext steht im Fokus.9 Für Ingo Schulz-Schaeffer (1999) handelt es sich um zwei alternative soziologische
Zugänge zur Technik, die unterschiedlichen Theorietraditionen folgen. Den ersten Ansatz charakterisiert er als Vergegenständlichungsperspektive und zieht
eine Verbindung zur Soziologie Émile Durkheims (vgl. ebd.: 52ff.). Den zweiten
Ansatz sieht er in der Tradition von Max Weber und subsumiert entsprechende
Studien unter der Überschrift Enactment-Perspektive (vgl. ebd.: 64ff.). Beide
Perspektiven werden im vorliegenden Buch berücksichtigt. Einerseits geht es
mir bei der Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte um den Nachweis der
8
Das Fahrrad war zunächst als Hochrad konstruiert worden, das über das Vorderrad
angetrieben wurde. Ingenieure, Sportler, Frauenvereine und Hochradmechaniker hatten unterschiedliche Vorstellungen von der Nutzung des Fahrrads: als Sportgerät, als
alltägliches Fortbewegungsmittel, als Freizeitbeschäftigung etc. Jede dieser Gruppen
lieferte eine andere Interpretation zur Entwicklung des Rads. Im sozialen Aushandlungsprozess bildete sich ein Konsens darüber, für welches Problem das technische
Artefakt eine Lösung bieten sollte. Das relativ niedrige, über das Hinterrad angetriebene Fahrrad mit Gummireifen stellte schließlich einen Kompromiss zwischen Sportlichkeit und Sicherheit dar (vgl. Pinch & Bijker 1987: 28ff.).
9
Werner Rammert formuliert den Grundsatz für seine Technikforschung beispielsweise
so: „[E]rst der Umgang mit den Sachen [macht] die Technik zu einem relevanten sozialen Faktor“ (Rammert 1993: 300). Rammert geht davon aus, dass das materielle
Artefakt allein Sozialwissenschaftlern wenig Aufschluss über den sozialen Charakter
einer Technik geben kann. Der soziologische Zugang erfolgt hiernach indirekt, indem
soziale Aushandlungsprozesse über die Bedeutung der Technik analysiert werden
(vgl. ebd. 297).
14 | D AS P ROJEKT SAP
Vergegenständlichung sozialer Strukturen in den Programmen der Standardsoftware. Andererseits analysiere ich den Umgang und die Verwendung der Software in unterschiedlichen Organisationskontexten. Mit anderen Worten, am Beispiel der Verbreitung, Implementierung und Verwendung von SAP-Software
wird das Zusammenspiel von Technik und Organisation untersucht. Folgende
Teilfragen werden dabei beantwortet: 1) Wie modelliert die Technik eine Organisation? 2) Wie integriert eine Organisation die Technik? Die folgende Abbildung gibt das behandelte Frageschema wieder.
Abbildung 1: Das Zusammenspiel von Technik und Organisation
Quelle: Eigene Darstellung
Der Begriff Technik wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung oft in einem
weiten Sinne verwendet (vgl. Rammert 1989: 725). Neben gegenständlichen
bzw. Sachtechniken spricht man auch von Sozialtechniken (z. B. Techniken des
Regierens), Intellektualtechniken (z. B. Techniken des Rechnens und Schreibens) und Individualtechniken (z. B. Techniken der Selbstbeherrschung). Im
Folgenden soll Technik in einem engen Sinne als Sachtechnik verstanden werden. Für die meisten Soziologen bleibt diese Technik, selbst wenn sie sich mit
ihr aus soziologischer Perspektive befassen, eine Blackbox, deren innere Struktur
außerhalb ihres Untersuchungshorizontes liegt. Diese Einstellung stellt auf die
Dauer ein Hindernis für ein umfassendes soziologisches Verständnis einer Technik wie SAP dar, die heutzutage in vielen unterschiedlichen Organisationen
(z. B. Unternehmen, Behörden, Universitäts-, Kirchen- und Krankenhausverwaltungen) eingesetzt wird. Ein Hauptanliegen der vorliegenden Untersuchung ist es
daher, die innere Struktur der Blackbox einer betriebswirtschaftlichen Standardsoftware wie SAP freizulegen. Dazu ist es zum einen notwendig, sich detailliert