Alltags - Neue Zürcher Zeitung

Verkehrssünden des Alltags
Die Beobachtungen des « Weißen Raben
l>;z. Seit einigen Wochen werden die Straßen von
Stadt und Kanton Zürich von einem Spion belauert.
Mit Kameras bewaffnet, späht ein «Weißer Rabe»,
den der Automobilclub ausgesandt hat, nach Verkehrssündern, nach solchen, die die Kurven schneiden, die Sicherheitslinien überfahren, an gefährlichen
Stellen vorschriftswidrig überholen, falsch parkieren
und sich sonst im Straßenverkehr so benehmen, daß
sie sich selbet und andere gefährden. Verstöße werden im Bild festgehalten, aufnotiert und dem Fehlbaren mitgeteilt. Denn dadurch unterscheidet sich
dieser «Spion» von seinen Artgenossen : er verrät
nicht, er zeigt nicht an und fällt keine Strafen ans
Er malmt die Sünder, und diese können mit sich
selbst zu Gerichte gehen.
Das Bilddokument, das den Verstoß festhält, und
der Mahnbrief werden von den meisten Fahrern positiv aufgenommen. Viele haben dem «Weißen Raben»
geantwortet, den ACS zu seiner guten Idee beglückwünscht und sich zu ihrem fehlerhaften, oft auch
strafbaren Verhalten bekannt. Die Aktion wendet sich
direkt an den einzelnen Fahrer und ist weniger spektakulär als andere Unternehmen im Kampf gegen die
Unfälle auf der Straße. Ihre Wirkung, so hofft man,
dürfte aber nachhaltiger sein, weil oft auf diese Weise
gerade jene angesprochen werden, die bei allgemeinen
Ermahnungen stets der Meinung sind, der Ruf richte
sich an alle andern, nur nicht an sie. Ein Mann mit
25 Jahren Fahrpraxis schreibt dem «Weißen Raben*,
der ihn auf einen Verstoß aufmerksam gemacht hat:
«Ich glaubte immer zu den guten Fahrern zu
zählen und fühlte mich natürlich im ersten Moment
etwas betupft, daß mir bei diesem Versehen der
Rabe" im Nacken saß. Ihre freundliche Rüge
ist aber absolut berechtigt, und ich möchte Sie zu der
guten Idee beglückwünschen.» Andere reagieren allerdings auch sauer. Darunter vor allem jene «geübten
Fahrer, die schon über eine Million Kilometer hinter
sich haben>; und deshalb jeder Belehrung abhold
sind. «Seit 1922 fahre ich nun ohne jeden Unfalls antwortete ein solcher Routinier, der glaubt, gegen jede
Gefahr gefeit zu sein; er fährt mit zwingender Logik
fort: «Schon daraus können Sie sehen, daß ich sicher
immer korrekt fahre.» Es braucht schon eine große
Dosis Selbstbewußtsein, um behaupten zu können,
man habe sich zu jeder Sekunde am Steuer korrekt
verhalten. Wieviele große und kleine Aerger werden
beim Autofahren durch Unhöflichkeiten und Unkorrektheit abreagiert! Ein Glück nur, daß nicht
jedesmal ein Unfall geschicht. Ob es zu einem Zusammenstoß kommt, ist bei der heutigen Verkehrsdichte doch in zahlreichen Fällen lediglich noch ein
Zufall, wenn sich trotz schuldhaftem Verhalten kein
Unfall ereignet, häufig nur noch ein Glücksfall. Auf
Zufall und Glück ist aber kein Verlaß. Die Mahnungen des «Weißen Raben» bezwecken, den weitaus
häufigsten Unfallfaktor
das fehlerhafte Verhalten
zu erfassen. In den Antder Verkehrsteilnehmer
wortbriefen geben manche zu, sich angesichts der
klaren Beweise für ihr, Verhalten zu genieren. Viele
befürchten auf eine Schwarze Liste gesetzt oder in
ein Sündenregister eingetragen zu werden und ver-
n
gessen, daß es sich lediglich um Mahnunge
handelt,
die weniger kostspielig sind als jene, die von Amtes
wegen durch die Polizei verschickt werden.
Einige erteilen auch gute Ratschläge und möchten, daß auch die Fußgänger auf die gleiche Art zu
besserer Disziplin angehalten werden; das ist allerdings nicht so leicht, weil die Fußgänger
bis heute
wenigstens
keine Nummern tragen. An einer Straßenkreuzung in Zürich, wo die Signalanlage eine
eigene Fußgängerphast- aufweist, beobachtete
der
«Weiße Rabe», wie während einer halben Stunde
60 Leute vor den Augen des Verkehrspolizisten die
Straße beim roten «Warte» überquerten: in der gleichen Zeit warteten an jener Stelle 280 Fußgänger, bis
ihnen das grüne Signal die Straße freigab. An einer
andern Steile, wo kein Polizist die Kreuzung beaufsichtigte, verschlechterte sich das Verhältnis; in der
Beobachtungszeit verhielten sich 124 Fußgänger
diszipliniert, 301 dagegen mißachteten die Vorschrift. Auch die Radfahrer haben noch zu lernen.
Bei einer Stopstraße in Zürich beobachtete der
«Weiße Rabe» kürzlich, wie im Laufe einer halben
Stunde von zehn Radfahrern nur drei vorschriftsgemäß anhielten, während die übrigen sieben
ihre
Fahrt ohne Unterbruch fortsetzten. Auch Fußgänger
und Radfahrer müssen ihren Beitrag an die Sicherheit im Straßenverkehr leisten.
Das Hauptaugenmerk gilt aber mit Recht den
Motorfahrzeuglenkern. Sie bringen mit der Gewalt
ihrer Pferdekräfte die größte Gefahr auf die Straße;
von ihnen muß höchste Disziplin verlangt werden,
wenn man die beschämend hohen Unfallziffern reduzieren 'will. An der Spitze der Vergehen, die von
dem «Weißen Raben» des ACS beobachtet werden,
steht cl:is Mißachten der Sicherheitslinie. Noch hat
sich bei vielen Fahrern der Gedanke nicht eingebürgert, daß eine Sicherheitslinie unter keinen
Umständen überfahren werden darf. Viele glauben,
selber entscheiden zu können, ob eine Sicherheitslinie respektiert werden muß oder nicht. Die Sicherheitslinie sollte jedoch für die Verkehrsteilnehmer
die gleiche Bedeutung bekommen wie das rote
Licht, das als unbedingtes Haltezeichen diskussionslos
anerkannt wird. rN u auf diese Weise könnte verhindert werden, daß weitere polizeiliche Maßnahmen
notwendig werden. Bereits drohen strenge Strafen.
Im Kanton Waadt plant man, jedem Fahrzeuglenker,
der eine Sicherheitslinie überfährt, den Führerausweis auf eine bestimmte Zeit zu entziehen; die
Maßnahme wird auch den Behörden anderer Kantone empfohlen. Nur eine freiwillige Disziplinierung der Motorfahrzeuglenker wird verhindern können, daß die ohnehin stark beschränkte Bewegungsfreiheit auf rd e Straße durch polizeiliche Anordnungen weiter beschnitten wird. Ein Beitrag, den
jeder leisten muß und kann, heißt Rücksichtnahme
auf den andern. Es ist erstaunlich, wie häufig die
Regeln des Anstandes von Leuten, die
sich im täglichen Leben sonst höflich benehmen, am Steuer
eines Motorfahrzeuges mißachtet werden
Eine maß.
lose Ueberschätzung des Fahrzeuges selbst kommt
hier zum Ausdruck; man sollte endlich zur Einstellung gelangen, daß ein
Automobil, auch wenn
Lack und Chrom noch
so
Ziirich-Schlitren. Zwei wichtige Verkehrsadern, die Verbindungen von Zürich mit Bern und mit Basel
Auf der Straße von Bremgarten her nähert sich ein Lastwagenzug der Stadt grenze von Zürich.
Motorradfahrer übertritt mit seinem Vorfahrmanöver mehrere gesetzliche Bestimmungen: er überholt
in der Kurve, er überholt zudem bei einer Einmündung und überfährt schließlich auch die Sicherheitslinie.
nabeln sich.
J>;er
Straße zwischen Zürich und Winterthur. Drei Fahrzeuge hintereinander überholen in einer Kurve
Auf derLastwagenzug.
vorläufig wenigstens
diszipliniert auf der
Ein weiteres Personenauto bleibt
richten Straßenseite hinter dem Lastwagen. Was wird geschehen, trenn aus der Gegenrichtung ein Fahrzi iig mit großer Geschwindigkeit herannaht.'
einen
hochpoliert glänzen,
ein nützlicher, angenehmer, aber doch ganz einfacher Gebrauchsgegen-
darstellt. Viele
Kraftausdrücke würden
nicht über die Straße
geschleudert, wenn der
Autofahrer sich und
sein Fahrzeug etwas veniger ernst nähme. Rücksichtslosigkeit bringt im
Straßenverkehr keinen
Gewinn; sie schafft Risiken und Gefahren, und
die Folgen sind bei
rd e Strenge, mit rd e
heute die strafrechtlichen
getroffen
Maßnahmen
werden, auch für die
Schadensstifter von grogerechter
ßer,
aber
Härte.
Die Bilder dieser
Seite stammen aus dem
photographischen Notizbuch des «Weißen Raben». Einige wurden,
wenn sich vor rd e Windschutzscheibe eine aufnahmewürdige Situation
ergab, aus dem fahrenden Wagen aufgenomzeigen
men;
andere
Straßenbilder von einem
Beobachtungsstand aus.
Die Echtheit ist ihnen
gemeinsam. Keine rd e
Verkehrssituationen
wurde zu Demonstragestellt,
tionszwecken
keiner der Fahrer wußte,
daß er und sein Fahrphotographier!
zeug
wurden. Die Aufnahmen
Schnappschüsse,
sind
wie man sie auf unsern
Straßen täglich erwischen
kann. Alle zeigen gefährliche Gesetzesübertretungen, grobe Verstöße gegen Vorschriften
und Anstand; solche
Fahrlässigkeiten sollten
bei der an sich hohen
Gefährlichkeit des heutigen
Straßenverkehr*
ausgemerzt werden.
stand
ser radfahrer benötigt im heutigen Straßenverkehr heide Hände, um sein Fahrzeug tu Unktn und beim Einbiegen die AendmUng seiner Fahrrichtung reclitz/itt/i
bekannt zu gtbtix. Der Mann auf dem liild hält mit dir Unken Hand sein Gepäck
nach links abschwenken.
er hat bereits eingespurt
fest und will gleichzeitig
Di« Zirkulation der verschiedensten Fahrzeuge auf der gleichen Verkehrsebene
bedingt gegenseitige Rücksichtnahme. Wenn die
Badfahrer tu dritt und eu viert
nebeneinander fahren und mehr als die e
H ä l f t der Straße beanspruchen, verhindern sie die flüssige Verkehrsabwicklung.
Affoltern bei Zürich. Kreuzung der Bahnlinie Wettingen-Affoltern mit der Wehntalerstraße. Das Personenauto kommt in rascher Fahrt Sichtung stadtauswärts auf den vorsignalisiertin Bahnübergang, kann aber
die kleine Kurve der hohen Geschwindigkeit wegen nicht auffahren, sondern gerät über die Sicherheitslinie
hinaus auf die linke Fahrbahnhälfte und gefährdet damit die Fahrzeuge aus der Gegenrichtung.
Bernerstraße beim Gaswerk in Schlieren. Ein Ucberholungsmanö'ver wird eingeleitet, obgleich die Sicherheitslinie das Befahren' der linken Straßenseite verbietet, obgleich auf dem Fuügängerstreifen zwei Knaben
mit einem Handwagen stehen und obgleich (auf dem Bild nicht sichtbar) unmittelbar neben dem Fußgängerstreifen die Gasometerstraße einmündet.
Neue Zürcher Zeitung vom 10.11.1956