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SCHWEIZER JÄGER 11 | 16
MONATSTHEMA
Neuartige
Räuber –
naive Beute?
Originaltext: Christa Mosler-Berger
Kurzfassung: Elisa Mosler
Leadbild: 123rf.com/Lynn Bystrom
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Wolf und Braunbär waren lange und grossflächig
ausgerottet. Heute kehren sie in ihr
ursprüngliches Verbreitungsgebiet zurück und
finden Beutetiere vor, welche derartigen
Raubfeinden nie im Leben zuvor begegnet sind
und die sie demzufolge nicht kennen.
Wie gehen Beutetiere damit um?
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MONATSTHEMA
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och vor 100 Jahren galt in vielen Regionen der
Welt nur ein totes Raubtier als tragbar. Die konsequente Bejagung mit (fast) allen Mitteln sowie
drastische, meist negative Lebensraumveränderungen, welche die Raubtiere direkt betrafen
oder aber ihre Beutetiere beeinflussten, führten zu markanten Bestandsrückgängen. Als Folge davon waren grosse Regionen über Jahrzehnte raubtierfrei – weite Teile
Nordamerikas und Asiens sowie fast ganz Europa. Heute jedoch,
wo auch Grossraubtiere wieder einen gewissen Schutz geniessen, befinden sich Wolf und Braunbär auf dem Vormarsch: Teils
aus eigener Kraft, teils mit Hilfe des Menschen kehren sie in
ihr ursprüngliches Verbreitungsgebiet zurück. In beiden Fällen
treffen sie im «Neuland» auf ihre alten Beutetiere, denen jedoch seit Generationen die Erfahrung mit gefährlichen Feinden
fehlt. Plötzlich sind diese Beutetiere mit dem Risiko, gefressen
zu werden, konfrontiert. Wie gehen sie damit um? Eine amerikanisch-norwegische Forschergruppe hat am Beispiel von Wolf
und Bär und einer bevorzugten Beute, dem Elch, nach Antworten gesucht und Erstaunliches gefunden.
Gefahr erkannt – Gefahr gebannt
Beutetiere sind Raubtieren keineswegs hilflos ausgeliefert –
solange sie die Gefahr kennen. Das kann am Beispiel des Elchs
gezeigt werden. In einer amerikanischen Studie zeigte es sich,
dass Wölfe während der untersuchten Zeitspanne erstaunlich
«Unerfahrene Beutetiere sind fähig, Informationen über
neuartige Feinde schnell zu verarbeiten und sich in ihrem
Verhalten der neuen Gefahr rasch anzupassen.»
wittern konnten. In den anderen Fällen, in denen die Wölfe zuerst auf ihre Beute aufmerksam wurden, suchten die Elche ihr
Heil meist in der Flucht, was durchaus Erfolg brachte. Elche
sind nicht nur ausdauernde Läufer, sie vermögen grundsätzlich
auch schneller zu rennen als Wölfe. Und so mussten die Wölfe
die Verfolgung nicht selten erschöpft abbrechen und die Elche
Foto: Reiner Bernhardt
wenig Erfolg hatten: Von insgesamt 131 aufgespürten Elchen
wurden letzten Endes lediglich sechs erbeutet und ein weiterer verwundet – das ist eine Erfolgsquote von gerade mal 5%.
Dank unterschiedlichen Strategien entkamen die meisten Elche
unbeschadet. So spürten wachsame Tiere das herannahende
Wolfsrudel schon zuvor und trollten sich, bevor die Wölfe sie
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Foto: 123rf.com/Karin Jähne
ziehen lassen. Manche Elche indes schienen nicht in vollem
Tempo zu flüchten, sodass das Wolfsrudel zu ihnen aufschliessen konnte. Aber auch jetzt blieb der Jagderfolg meist aus: Jeden im Verlauf der weiteren Hetzjagd versuchten Angriff wehrten die Elche mit Tritten ihrer kräftigen Beine erfolgreich ab.
Als äusserst wehrhaftem Beutetier steht dem Elch im Gegensatz zu kleineren Beutearten noch eine weitere Strategie zur
Verfügung: Er stellt sich zum Kampf – selbst einem wie in dieser Studie 15köpfigen Wolfsrudel. Unter dieser herausfordernden Konfrontation schienen die Wölfe zu wissen, dass eine Attacke für sie selbst mit grossen Verletzungsrisiken verbunden
ist: In keinem der beobachteten Fälle, in denen sich ein Elch
sofort oder erst nach einer Flucht zum Kampf stellte, wurde er
überhaupt angegriffen. War er nicht zur Flucht zu bewegen, gaben die Wölfe ihre Belästigung früher oder später auf. Wer als
Elch hingegen flüchtet, gibt möglicherweise Schwächen preis,
weshalb es sich für das Wolfsrudel lohnt, die Verfolgung aufzunehmen und dabei diejenigen Tiere auszumachen, die mit minimalem Risiko erbeutet werden können. Es zeigt sich also, dass
auch Raubtiere die Gefährlichkeit ihrer Beutetiere sehr gut einzuschätzen wissen. Erfolg haben sie nur bei geschwächten Tieren und von der Elchkuh getrennten Kälbern.
HUNTER
Auf die Mütter kommt es an
Doch was passiert, wenn den Beutetieren seit Generationen die
Erfahrung mit gefährlichen Feinden fehlt? Die Forschergruppe
0.8341.MC9
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Rudelbildung ist eine weitere Strategie, um dem Feind mit
vermehrter Wachsamkeit zu begegnen.
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MONATSTHEMA
Muttertiere ändern schlagartig
ihr Verhalten, sobald diese zum
ersten Mal ihr Kalb verlieren,
werden noch wachsamer
und wechseln ihre bisher
bevorzugten Einstandsgebiete.
Foto: Reiner Bernhardt
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verglich also das Verhalten von Beutetieren in raubtierfreien
Gebieten mit demjenigen in Stammgebieten und Ausbreitungsgebieten von Raubtieren. Die Forschenden nahmen an, dass
räuber-naive Beutetiere Hinweise auf die Anwesenheit von gefährlichen Raubtieren weniger wahrnehmen und dass sie sich
weniger angepasst verhalten als erfahrene Tiere. Und nachdem
sie als Elche verkleidet solche Hinweise in der Nähe von Elchen
platziert hatten, zeigte sich tatsächlich: Wenn naive Beutetiere
mit Raubtierhinweisen wie Wolfsgeheul, Urin oder Kot konfrontiert wurden, waren sie deutlich weniger wachsam und verhielten sich kaum aggressiv gegen das vermeintliche Raubtier. Erwachsene Elchkühe verliessen nie ihre Nahrungsplätze, um ihre
Kälber vorsorglich aus der Gefahrenzone zu leiten.
In skandinavischen Ausbreitungsgebieten des Bären zeigten die
Forschungsergebnisse mit besenderten Bären, dass an der Ausbreitungsfront der Bären
a) beide Geschlechter doppelt so häufig an Kadavern erwachsener Elche frassen als in bereits erschlossenen Gebieten
b) männliche Bären sogar um zwei Drittel häufiger an gerissenen Elchen frassen als davon entfernt, und am auffälligsten, dass
c) der Jagderfolg der Bären entlang der Ausbreitungsfront
deutlich höher war als im Zentrum des Bärenvorkommens
(38% bzw. 0%).
Dieses Muster wurde auch in Nordamerika gefunden. Das änderte sich aber schlagartig, sobald eine Elchkuh zum ersten
Mal ihr Kalb an Bären verlor. Dann waren diese Kühe sogar
noch wachsamer und aggressiver oder vorsichtiger als diejenigen erfahrenen Kühe, die in Stammgebieten der Bären lebten.
Ausserdem verlegten Elchmütter in Alaska, deren Nachwuchs
Raubtieren zum Opfer gefallen war, im darauffolgenden Jahr
den Setzplatz ihrer Kälber um fast die doppelte Distanz, vergliSCHWEIZER JÄGER 11 | 16
chen mit Müttern, die ihren Nachwuchs erfolgreich aufgezogen
hatten. Infolgedessen mussten sich die allesfressenden Bären
wieder mit weniger wehrhafter Nahrung wie Beeren begnügen.
Lernfähige Beutetiere
Naive bzw. raubtierunerfahrene Beutetiere sind also fähig, Informationen über neuartige Feinde schnell zu verarbeiten und
die Gefahr durch rasches, angepasstes Lernen deutlich abzuschwächen – im Beispiel der Elche innerhalb einer einzigen
Generation. Wo in erster Linie Jungtiere das Angriffsziel sind,
kann somit das Erlernte direkt über die Mütter an ihre nächsten Nachkommen weitergegeben und lokales Aussterben verhindert werden. Beutetiere, die wie unsere Rothirsche oder
Gämsen in Sozialverbänden leben, können auch von den Erfahrungen anderer Rudelmitglieder profitieren. Beutetierarten
wie das Reh, die eher einzelgängerisch leben, müssen auf ihre
eigene Wachsamkeit und entsprechend angepasstes Verhalten
bauen. In keinem Fall sind sie durch die neuen, «alten» Raubtiere jedoch vom Aussterben bedroht.
Originaltext: Christa Mosler-Berger (2005):
Neuartige Räuber – naive Beute. Können sich Beutetiere auf
wiederkehrende Raubtiere einstellen? WILDBIOLOGIE Verhalten
8/13, 12 Seiten
Kurzfassung: Elisa Mosler
im Auftrag von WILDTIER SCHWEIZ. Original mit weiteren
Informationen erhältlich auf www.wildtier.ch/shop