Die ersten 1 000 Tage entscheiden

THEMEN DER ZEIT
FRÜHKINDLICHE ERNÄHRUNG
Die ersten 1 000 Tage entscheiden
Schwangerschaft und Kleinkindalter – hier sind die Chancen Übergewicht zu verhindern am
effektivsten. Dennoch berücksichtigt das Präventionsgesetz diesen Zeitraum zu wenig,
die nationale Studienkohorte schließt ihn komplett aus.
ehr als 700 Faktoren beeinflussen das Körpergewicht.
Vor allem mit Diäten versuchen Betroffene, überschüssige Pfunde zu reduzieren. Der langfristige Erfolg
bleibt jedoch meist aus. Denn Fettleibigkeit kann zu 40 bis 60 Prozent genetisch bedingt sein, heißt es im
Weißbuch Adipositas. In der Assoziationsstudie GIANT (Genetic Investigation of Anthropometric Traits)
identifizierten Forscher 97 Genorte,
die mit dem Body-mass-Index assoziiert sind. Die meisten davon spielen
eine Rolle für das zentrale Nervensystem und die Appetitregulation.
„Die Genetik verhindert nicht grundsätzlich die Wirkung von Lebensstilintervention, kann das Abnehmen
aber erschweren“, erklärte Prof. Dr.
med. Andreas Fritsche, Leiter des
Lehrstuhls für Ernährungsmedizin
und Prävention an der Universität
Tübingen.
M
Foto: 123RF, Fotolia/nexusby [m]
Stillen und Fettsäuren
So erfolglos die meisten Erwachsen
versuchen abzunehmen, so einfach
scheint es zu sein, Übergewicht
schon in jungen Jahren vorzubeugen.
Darüber waren sich die Experten bei
einem Fachgespräch der CDU/CSU
im Mai in Berlin einig. Während der
Schwangerschaft und in den ersten
beiden Lebensjahren wirken sich Lebensstilfaktoren viel effektiver aus.
Das bestätigt der Bericht „Ending
childhood obesity“ der Weltgesundheitsorganisation. „Beobachtungsstudien zeigen, dass die Ernährung in
den ersten 1 000 Tagen lebenslange
Effekte hat, nicht nur das Adipositasrisiko sinkt“, sagte Prof. Dr. med.
Dres. h.c. Berthold Koletzko, Leiter
der Abteilung für Stoffwechsel und
Ernährung am Dr. von Haunerschen
Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU).
Fetale Überernährung erhöhe zudem
das Risiko für Bluthochdruck, Insulinresistenz, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Asthma.
Auch wenn Koletzko und die
Bundesministerin für Bildung und
Forschung Dr. rer. nat. Johanna Wanka (CDU) vor einer voreiligen Inter-
Die drei wirksamsten Strategien:
Um das Risiko für Übergewicht des Kindes zu reduzieren haben Eßer und
Koletzko drei Strategien benannt. Daran sollten sich politische Entscheidungsträger, Kultusministerien, Mediziner und Eltern orientieren.
A 1920
pretation der aktuellen Studien warnen. In einigen Fällen konnten im
Kernspintomografen bereits kausale
Zusammenhänge nachgewiesen werden. Das betrifft das Stillen und die
Omega-3-Fettsäuren, wie etwa Eicosapentaensäure und Docosahexaensäure (DHA). Frauen, die während
der Schwangerschaft mindestens 0,2
Gramm DHA pro Tag in Form von
Kaltwasserfischen wie Lachs oder
Makrele zu sich nahmen, gebaren
Kinder mit einer besseren kognitiven
Leistungsfähigkeit. Das zeigen drei
prospektive Kohortenstudien (1, 2,
3). Zudem konnte der regelmäßige
Konsum von Omega-3-Fettsäuren
die Häufigkeit von Frühgeburten vor
der 34. Woche um 22 Prozent vermindern. Ebenso überzeugend wie
der Vorteil dieser ungesättigten Fettsäuren ist der Vorteil des Stillens.
„Kinder, die gestillt wurden, haben
später ein geringeres Risiko für Ekzeme der Haut, chronische Darmerkrankungen, Mittelohrentzündung,
plötzlichen Kindstod, akute lymphatische Leukämie, Adipositas und
Diabetes mellitus Typ 2“, zählte Koletzko auf. Studien konnten sogar einen kleinen Vorteil der Intelligenzentwicklung nachweisen. „Im ersten
Lebensjahr gestillte Kinder hatten
mit 30 Jahren auch nach Adjustierung für Begleitfaktoren einen IQVorsprung von vier Punkten und 23
Prozent mehr Geld in der Tasche“,
sagte der Kinderarzt. Auch die Mütter profitieren davon, ihr Kind zu
stillen. Das Risiko für Eierstock-
Vor der Schwangerschaft:
Ärzte sollten Frauen mit Kinderwunsch dazu raten, ihr Übergewicht zu
reduzieren. Das Risiko später adipös zu werden, verdoppelt sich bei übergewichtigen Müttern.
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 43 | 28. Oktober 2016
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krebs und Brustkrebs sinkt um etwa
vier Prozent. Ob Muttermilch auch
Diabetes Typ 1 und kardiovaskuläre
Erkrankungen verhindern kann, sei
derzeit hingegen noch unklar, räumte
Koletzko ein. „Den Vorteil des Stillens gegenüber Flaschennahrung
hinsichtlich des späteren Risikos für
Übergewicht führen wir auf die geringere Eiweißmenge zurück“, erläuterte er die Ergebnisse des „European Childhood Obesity Project“. Hier
konnte bei fast 2 000 Kindern die
„Frühe-Protein-Hypothese“ bestätigt
werden. Demnach erhöht die hohe
Eiweißzufuhr im Säuglingsalter unter anderem die Sekretion von Insulin sowie die von Wachstumsfaktoren. Ersatzprodukte aus der Flasche
versuchen zwar die Muttermilch
nachzuahmen, liefern aber dennoch
die 1,1-fache Menge an Energie und
die 1,5- bis 1,8-fache Menge an Eiweiß, Kuhmilch liefert etwa die 3-fache Eiweißmenge. „Muttermilch sollte daher immer bevorzugt werden“,
schlussfolgerte Koletzko. Gleichzeitig schränkt er die Aussagekraft der
Studien zum Stillen ein: „Der sozioökonomische Status darf nicht unterschätzt werden.“ In den meisten Studien sei Stillen gleichzeitig auch mit
einem höheren Bildungsgrad verbunden, was sich positiv auf die Gesundheit auswirkt.
Weitere Risikofaktoren
Wie viele Mütter in Deutschland ihre Kinder stillen ist nicht bekannt.
Die aktuellsten Zahlen stammen
aus dem Jahr 2009. Hier lag die
Stillquote mit sechs Monaten bei 50
Prozent (4). Für andere Faktoren,
die sich nachteilig auf das Adipositasrisiko von Kindern auswirken,
liegt noch kein kausaler Nachweis
vor. Viele Studien deuten aber darauf hin, dass sich das Gewicht der
Mutter zu Beginn und in der
Schwangerschaft stark auswirkt. Ist
die Mutter adipös, verdreifacht sich
das Risiko des Kindes für starkes
Übergewicht. Eine schottische Studie zeigte, dass sich zudem die Lebenserwartung der Nachkommen
adipöser Mütter deutlich reduziert.
Drei Botschaften für Eltern
Eine ärztliche Beratung vor der
Schwangerschaft sei daher um ein
Vielfaches effektiver, als jede Diät
im späteren Erwachsenenalter, ist
sich Koletzko sicher. „Die derzeitigen Behandlungen der Adipositas
bei Erwachsenen sind ohnehin alles
andere als zufriedenstellend“, sagte
der Kinderarzt. Drei Kernbotschaften an werdende Eltern genügen,
um das Krankheitsrisiko deutlich zu
senken. Das zeigte eine Interventionsstudie bei mehr als 2 000
Schwangeren im Rahmen des „Early-Nutrition-Projekts“ (5): „Essen
Sie wenig Zucker, wenig gesättigte
für Adipositas, Insulinresistenz,
Diabetes, Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Schlaganfall und Asthma. Und: Zu rasches Wachstum des
Säuglings in den ersten beiden Lebensjahren erhöht das Risiko für
Adipositas und assoziierte Krankheiten im Erwachsenenalter. „Im
Oktober 2017 wird das Projekt abgeschlossen“, so Koletzko. Die Ergebnisse zeigten aber schon jetzt:
„Mit unseren Empfehlungen wären
Politik, Ärzte, Schulen und Kitas
auf einem effizienten Weg“.
Weniger effizient wird das Wissen im Präventionsgesetz umgesetzt, so Koletzko. Denn dieses
klammere den Zeitraum der ersten
1 000 Tage weitgehend aus. Evidenzbasierte Interventionen im frühen Kindesalter sowie eine Verbesserung durch Evaluation kommen
zu kurz. Ebenso große Lücken hat
„Beobachtungsstudien
zeigen, dass die Ernährung in
den ersten 1 000 Tagen lebenslange Effekte hat.
“
Berthold Koletzko, LMU München
Fettsäuren und bewegen Sie sich regelmäßig.“ Die Zahl der Kinder mit
einem hohen Geburtsgewicht von
mehr als vier Kilogramm sank um
ein Fünftel im Vergleich zu denjenigen, deren Eltern nicht entsprechend beraten wurden. „Die Beratung ist einfach umzusetzen und
bietet einen ungeheuren präventiven Vorteil“, äußerte der Ernährungswissenschaftler überzeugt.
Das Forschungsprojekt, an dem 36
Gruppen weltweit seit 2012 beteiligt sind, untersucht zurzeit unter
der Leitung von Koletzko die Prägung der ersten 1 000 Tage. Dabei
werden unter anderem folgende
Hypothesen geprüft: Fetale Überernährung, etwa aufgrund von Übergewicht oder Diabetes der Schwangeren, erhöht das Risiko des Kindes
Im Säuglingsalter:
Ärzte sollten Eltern dazu raten, wenn möglich ihr Kind mindestens sechs Monate
zu stillen. Zu viele Kuhmilchproteine, wie sie in Ersatzmilch vorkommen, und gezuckerte Getränke sollten Eltern meiden. Die App „Baby & Essen“ vom Netzwerk
„Gesund ins Leben“ bietet einen Essens-Fahrplan für das erste Lebensjahr (7).
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die vor allem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte Nationale Kohorte (6).
„Sie untersucht erst gar keine Kinder und Jugendliche. Die Langzeitstudie schließt Probanden erst ab einem Alter von 20 Jahren ein“, kritisierte Dr. med. Karl-Josef Eßer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Auch Koletzko wies die anwesenden Politiker von CDU/CSU auf
den Missstand hin: „Es ist unfassbar
und geradezu skandalös, dass Kinder und Jugendliche aus der aus
Steuermitteln finanzierten Kohorte
▄
ausgeschlossen wurden.“
Kathrin Gießelmann
@
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4316
oder über QR-Code.
Im Kindergarten- und Schulalter:
Kitas und Schulen sollten Bewegung und den Verzehr kalorienfreier Getränke,
Gemüse und Obst fördern. Das Präventionsgesetz sollte Kultusministerien
verpflichten, Mustervorschlägen für gesundheits- und ernährungsbewußte Maßnahmen vorzulegen. Das Programm „TigerKids“ hat genau diesen Ansatz (8).
A 1921
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LITERATURVERZEICHNIS HEFT 43/2016 ZU:
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Die ersten 1 000 Tage entscheiden
Schwangerschaft und Kleinkindalter – hier sind die Chancen Übergewicht zu verhindern am effektivsten. Dennoch berücksichtigt das Präventionsgesetz diesen Zeitraum zu wenig, die nationale Studienkohorte schließt ihn komplett aus.
LITERATUR
1. Hibbeln JR, Davis JM, Steer C, et al.:
2007 Feb 17;369(9561): 578–85.
2. Oken E, Wright RO, Kleinman KP, Bellinger
D, Amarasiriwardena CJ, Hu H, Rich-Edwards JW, Gillman MW. Environ Health
Perspect. 2005 Oct; 113(10): 1376–80.
3. Oken E, Wright RO, Kleinman KP,: et al.:
Environ Health Perspect. 2005 Oct;
113(10): 1376–80.
4. Rebhan B, Kohlhuber M, Schwegler U, Koletzko BV, Fromme H: Infant feeding
practices and associated factors through
the first 9 months of life in Bavaria, Germany. J Pediatr Gastroenterol Nutr. 2009
Oct; 49(4): 467–73.
Doi:10.1097/MPG.0b013e31819a4e1a.
5. http://www.project-earlynutrition.eu/eneu/
6. http://nako.de/
7. https://www.gesund-ins-leben.de/fuerfachkraefte/medien-materialien/erstes-lebensjahr/baby-und-essen/
8. www.tigerkids.de
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