Mensch Stadt Berg. Post-Desaster

Mensch Stadt Berg. Post-Desaster-Stadtgenese in Yungay, Peru
Andreas Haller
Einleitung
„Kein anderer Gipfel steht so beherrschend über einem Orte wie der Nevado Huascarán
über dem freundlichen Yungay“ (Hans Kinzl 1935). Die Bedeutung inter- und
transdisziplinärer Ansätze in der Stadtforschung offenbart sich besonders dann, wenn die
Überwindung von Natur-Kultur-Dichotomien notwendig wird; so etwa 35 Jahre nach dem
Zitat Hans Kinzls, als in den peruanischen Anden die Stadt Yungay durch eine
Schuttlawine begraben wurde.
Ein Erdbeben der Magnitude 7,7 nach Richter läutete am 31. Mai 1970 die Zerstörung
großer Teile Nordperus ein; die Erdstöße, deren Epizentrum rund 25 Kilometer westlich
der Hafenstadt Chimbote lokalisiert wurde, hatten besonders im dicht besiedelten Tal des
Río Santa verheerende Auswirkungen. Infolge des Bebens löste sich ein Teil des Gletschers
Huascarán und entwickelte sich Augenzeugenberichten zufolge binnen zwei bis vier
Minuten zu einem zähen Gemisch aus Schlamm, Gestein, Schnee, Eis und Baumstämmen,
welches unter anderem die Siedlungen Yungay und Ranrahirca unter sich begrub (Ericksen
& Fernández Concha 1970, S. 9).
Den Ort Ranrahirca hatte bereits acht Jahre zuvor dasselbe Schicksal ereilt, bei dem,
Schätzungen zufolge, rund 650 Menschen den Tod fanden. Das Gebiet wurde
anschließend wieder besiedelt. Die dynamische Kleinstadt Yungay blieb von den
Schuttlawinen von 1962 verschont; ein etwa 140 m hoher Geländerücken schützte die
Stadt und ließ deren Bewohner hinsichtlich weiterer Massenbewegungen in Sicherheit
wiegen. Am 31. Mai 1970 hingegen, rasten Schlamm, Eis und Schutt mit geschätzten 300
km/h das Tal des Río Ranrahirca hinab, wobei ein Teil der Schuttlawine über den besagten
Bergrücken schwappte und sich seinen Weg nach Yungay bahnte. Bis auf den Stadtteil
Cochahuain, am Rande Yungays, wurde das gesamte Siedlungsgebiet der Stadt zerstört.
Yungay bildete bis zu diesem Zeitpunkt das uneingeschränkte politisch-administrative
sowie religiöse Zentrum der gesamten Provinz; die Stadt war außerdem der wichtigste
Handelsplatz für die in der Provinz produzierten Agrargüter (Robinson & Weldon 1967, S.
222).
Die Einwohnerzahl der Kleinstadt kurz vor dem Erdbeben vom Mai 1970 wird auf knapp
4500 Personen geschätzt (Oliver-Smith 1979a, S. 41). Angesichts des peruanischen Zensus
von 1961, welcher für die urbane Bevölkerung des Distrikts Yungay 3543 Personen
ausweist, lässt sich diese Annahme glaubwürdiger einschätzen, als die in
geowissenschaftlicher Literatur oft zitierten über 15000 Stadtbewohner (vgl. Klimeš et al.
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2009, S. 197). Knapp 300 Personen überlebten das Extremereignis in der Stadt Yungay
(Oliver-Smith 1979b, S. 97) – demnach verringerte sich die Zahl der Stadtbewohner um
weit mehr als 90 Prozent.
Angesichts der laut Zensus rund 8500 Einwohner Yungays im Jahre 2007 – die Stadt
wurde nur 700 Meter von der damaligen Unglücksstelle entfernt wieder aufgebaut – stellt
sich die Frage nach der unmittelbaren Post-Desaster-Situation und der darauf folgenden,
kontinuierlichen Wiederbesiedelung der Risikozone am Fuße der Cordillera Blanca.
Post-Desaster-Urbanisierung – Zwang, Kalkül, Ignoranz?
Grundsätzlich lässt sich beobachten, dass Reaktionen auf derartige Schadensereignisse
durchwegs spontan und ungeplant – ad hoc – von statten gehen. In besonderem Maße
scheint dies auf gefährdete Gebiete in sogenannten „Entwicklungsländern“ zu zutreffen,
dessen Mehrheitsbevölkerung tagtäglich mit sozioökonomischen Risiken konfrontiert und
an Improvisation gewöhnt ist.
Erste bevölkerungsgeographische Auswirkungen der Schuttlawine vom 31. Mai 1970 –
abseits der Dezimierung der Stadtbevölkerung um über 90 Prozent – war die unmittelbare
räumliche Konzentration der Überlebenden an zwei Orten: Pashulpampa nördlich, sowie
Aura südlich der zerstörten Provinzhauptstadt. Der Subpräfekt Yungays (höchste politische
Autorität der Provinz) befand sich unter den Überlebenden in Pashulpampa und übernahm
prompt Verantwortung; Komitees wurden eingerichtet, welche sich um den Bau
notdürftiger Behausungen, um die Beschaffung und Verteilung von Fleisch und Gemüse
aus der nahen Umgebung, sowie um die provisorische Behandlung von Verwundeten
kümmerten. Vergleichbar organisierten sich ebenso die Überlebenden in Aura, wobei der
überlebende Bürgermeister Yungays das Zepter übernahm. Infolge unpassierbarer
Hauptverkehrswege blieben die Lokalitäten Pashulpampa und Aura tagelang die einzige
Anlaufstelle für Hilfesuchende – der Zustrom von weiteren Erdbebenopfern aus dem
ländlichen Raum war die Folge (Oliver-Smith 1979a, S. 44). Vier Tage nach dem
zerstörerischen Naturereignis konnte der erste Helikopter mit Hilfsgütern im
Katastrophengebiet landen – in Pashulpampa. Schätzungen zufolge befanden sich bei
dessen Ankunft bereits mehr als 300 Personen im besagten Ort. Binnen kürzester Zeit
gewann Pashulpampa durch die dort angesiedelten, staatlichen Hilfsinitiativen an
Bedeutung gegenüber Aura und wurde fortan Yungay Norte genannt. Spontan begannen
auch die nunmehrigen Bewohner von Yungay Norte mit dem Aufbau notwendiger
Infrastruktur: Provisorisch wurde innerhalb von zwei Wochen ein administratives Zentrum
eingerichtet sowie ein Marktplatz bestimmt, an dem Kleinbauern aus der Umgebung ihre
Waren feilboten. Erste Händler richteten kleine Geschäfte ein, in denen sie übrig
gebliebene Waren aller Art verkauften und findige Busunternehmer bedienten erste
Verkehrsstrecken zwischen Yungay Norte und den umgebenden Orten (Oliver-Smith &
Goldman 1988, S. 111).
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Der damalige, linksautoritäre peruanische Präsident Juan Velasco Alvarado verfolgte,
gemäß seiner zentralistischen Regierungsweise, hinsichtlich des Wiederaufbaus im Tal des
Río Santa einen Top-Down-Ansatz, dessen Ergebnis eine behördlich bestimmte
Umsiedlung der Überlebenden Yungays in die 15 Kilometer entfernte Distriktstadt – und
künftige Provinzhauptstadt – Tingua darstellen sollte (Carey 2008, S. 233–234). Da der
Zustrom ländlicher Kleinbauern nach Yungay Norte nicht abriss, wuchs die Siedlung
ungeplant weiter; angesichts der angedachten Zwangsumsiedlung nach Tingua wurden
seitens der Regierung in Lima keine Anstrengungen unternommen, dieser Situation
entgegen zu wirken. Um die Zeit bis zur Umsiedlung zu überbrücken, installierte man im
November 1970 von staatlicher Seite Barackenzeilen in Hanglage.
Wohnplätze in den 30 mal sechs Meter großen Behausungen wurden nach dem Prinzip
first-come-first-served vergeben. Sie boten kaum Privatsphäre, weder Strom noch fließend
Wasser. Zudem sorgte die lineare Anordnung, welche dem gewohnten Schachbrettmuster
mit der zentralen plaza de armas widersprach, für Konflikte. Zu diesem Zeitpunkt erfüllte
die provisorisch entstandene Siedlung Yungay Norte bereits viele jener zentralörtlichen
Funktionen des alten Yungay: Nebst Handelsfunktion erfüllte der Ort auch die
Anforderungen eines religiösen und administrativen Zentrums. Zudem wurden
Bildungseinrichtungen wiederaufgebaut, und die vielfältigen Stadt-Umland-Beziehungen
blühten wieder auf.
Mit bekannt werden der Regierungsbestrebungen, Tingua zur neuen Hauptstadt der
Provinz Yungay zu ernennen und die Überlebenden dorthin umzusiedeln, regte sich sofort
Widerstand bei den Betroffenen. Einerseits hatte sich durch den mehrheitlich selbst
organisierten Wiederaufbau in Yungay Norte bereits eine gewisse Bindung zur neuen
Siedlung entwickelt, welche wesentlich von ihrer Nähe zur zerstörten Stadt geprägt wurde;
andererseits sorgte fehlendes Vertrauen – oder gar Misstrauen – in die politischen
Entscheidungsträger dafür, dass deren Entscheidungen reflexartig zurückgewiesen wurden.
Man wollte nach schweren Verlusten von Mitmenschen sowie Sachgütern nicht noch
seiner Heimat beraubt werden. Einen weiteren, von den Behörden unterschätzten Faktor,
stellte die Bevölkerung des Stadtumlandes von Yungay dar: Tingua war aus deren Sicht als
Handelsplatz schlicht ungeeignet. Erstens wäre Tingua durch seine provinzielle Randlage
für viele Kleinbauern zu Fuß nicht mehr in wenigen Stunden erreichbar, und zweitens
befände sich Tingua zu nahe an der Nachbarprovinz Carhuaz und deren gleichnamiger
Kapitale; Konkurrenz zwischen den beiden Zentren wurde befürchtet. Das Risiko des
Verlusts von politischer Macht, sozialem Status und ökonomischen Ressourcen durch eine
Umsiedlung nach Tingua sorgte indirekt für eine gesellschaftliche Akzeptanz des Risikos
von Lawinen und Bergstürzen – besonders seitens der urbanen, zum Teil jedoch auch der
ruralen Bevölkerung. Trotz der Befürchtungen, Yungay Norte könnte rasch an die
Grenzen der zerstörten Stadt heranwachsen, beugte sich die Regierung dem Widerstand
der lokalen Bevölkerung, und beauftragte 1971 ein Stadtplanungsunternehmen aus Lima
mit der Gestaltung des neuen Yungay.
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Das Vorhaben war gekennzeichnet durch die Funktionstrennung der fordistischen
Moderne, in Zonen für Wohnen, Handel, Industrie, Expansion sowie Erholung. Der
Großteil der neuen Stadt sollte sich demnach im Talboden befinden, viele Bewohner
fühlten sich jedoch in den höher gelegenen Hanglagen sicherer. Die einhundert, seitens der
damaligen Sowjetunion gespendeten, vorgefertigten Holzhäuser wurden isohypsenparallel
oberhalb eines neuen Hauptplatzes angeordnet. Besonders das Baumaterial Holz entsprach
nicht den Vorstellungen der Hochlandbevölkerung und sorgte für Unbehagen. Darüber
hinaus wurden die Häuschen von den Behörden an vermögende Bevölkerungsteile –
durchaus als Provinzelite zu bezeichnen – verkauft, woraus wiederum soziale Spannungen
resultierten. In einem limitierten Bereich der zona residencial, oberhalb der russischen
Chalets, wurde unter der Bezeichnung autoconstrucción weiteres Land zum Selbstbau von
Wohnhäusern bereitgestellt (Oliver-Smith & Goldman 1988, S. 118). Berücksichtigt man
zusätzlich jenen Bevölkerungsteil, welcher weder vom einen (Holzhäuser), noch vom
anderen Programm (Selbstbau) profitieren konnte und folglich Squattersiedlungen in einer
ursprünglich für Industrie vorgesehenen Zone des neuen Yungay gründete, so lässt sich
durchaus von einer Top-Down-Segregation sprechen (vgl. Borsdorf & Bender 2010, S.
176–188).
Auf Basis der bisherigen Erkenntnisse lassen sich die Motive für den Wiederaufbau am
Unglücksort in zwei grundsätzliche Kategorien einteilen. Einerseits spielen eher materielle
Gründe eine entscheidende Rolle (z. B. die Versorgung mit Hilfsgütern, ärztliche
Versorgung oder der Besitz von Grund und Boden vor Ort); andererseits bewegten auch
stärker symbolische Motive die Bevölkerung dazu, sich für den Verbleib in Yungay
einzusetzen (z. B. der Erhalt lokaler Identität, die Abwehr exogener Entscheide oder die
Pflege überlebenswichtiger sozialer Netzwerke). Die Einteilung in die zwei gewählten
Kategorien soll jedoch nicht deren Unabhängigkeit von einander suggerieren; selbst wenn
Macht etwas durchaus symbolisches ist, so ergeben sich zahlreiche Wechselwirkungen mit
materiellen Beweggründen. Selbiges zeigt sich bei den sozialen Netzen, welche oft die
Versorgung mit Nahrungsmitteln, Information oder Arbeit erst ermöglichen. Nicht zu
unterschätzen sind auch Motive der lokalen Verwurzelung und Identität in Kombination
mit Religiosität, wie Williams (2001, S. 67–71) darstellt. Befragungen von Zavaleta Figueroa
(1970, zitiert in Carey 2008, S. 235) zeigen ebenso, dass durchaus auch spirituelle Elemente
in der Mensch-Berg-Beziehung die Wiederbesiedelung am Fuße des Huascarán
beeinflussen. Oliver-Smith (1991, S. 20) spricht in diesem Zusammenhang vom
psychologisch-kulturellen Konservatismus, welcher Betroffene in dieser Situation
kennzeichnet. Die stärker materiellen Motive könnten hauptverantwortlich für den Zuzug
von Bevölkerungsteilen aus dem ländlichen Raum der Provinz in die von gravitativen
Massenbewegungen (Lawinen, Muren, Bergstürze) gefährdete Stadt Yungay sein – dabei
handelt es sich wohl um eine überlegte Abwägung von Georisiko und sozioökonomischen
Chancen.
Rezente Stadtstrukturen
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Die aktuelle Morphologie sowie die derzeitigen Landnutzungsmuster der Stadt sind von
den unmittelbar nach der Katastrophe getroffenen Maßnahmen bis heute geprägt. Um
einen, der klassischen spanisch-amerikanischen Stadt, und damit auch dem alten Yungay
nachempfundenen, zentralen plaza de armas oder plaza mayor reihen sich – ebenso
traditionell – das Rathaus sowie die katholische Kirche. Ein öffentliches Gemeindezentrum
festigt die politisch-klerikale Präsenz. Gegen Südwesten verhindert die breite Hauptstraße
ein viertes, direkt am Hauptplatz gelegenes Gebäude. Nördlich des eigentlichen Zentrums
dominieren großflächig homogene Nutzungsmuster: Neben den parallel angeordneten,
russischen Chalets, welche bis heute eine reine Wohnnutzung aufweisen, dominieren
öffentlich (Schule und Krankenhaus) sowie kirchlich (Kindergarten) genutzte Flächen.
Hierin lassen sich die Auswirkungen der Funktionstrennung zu Beginn des Wiederaufbaus
gut erkennen. Die Handelsflächen konzentrieren sich südwestlich des Hauptplatzes sowie
entlang der Hauptstraße. Ein Großteil geht dabei auf den städtischen Markt, welcher wohl
den eigentlichen „Hauptplatz“ in Yungay darstellt; hier werden unter anderem die vielen
landwirtschaftlichen Produkte der Provinzbevölkerung feilgeboten. Angeschlossen an die
Handelsflächen finden sich weitere größere Wohnflächen, welche vereinzelt durch
Handwerksbetriebe ergänzt werden. Im Sektor Acobamba – zwischen Yungay und der
zerstörten Stadt gelegen – fungieren Wirtschaftswege als Entwicklungsachsen der
Siedlungsexpansion. Hier, auf Ablagerungen der Schuttlawine von 1970, bilden
kleinstädtische und rurale Lebensweisen ein unzertrennliches Kontinuum.
Die zentralörtlichen Funktionen des zerstörten Yungay, sowie die damit verbundenen
Ansprüche der Bevölkerung an die neue Stadt, finden sich somit deutlich in der aktuellen
Nutzungssituation des Zentrums wieder. Die Bereiche der öffentlichen Verwaltung, der
kirchlichen Dienste sowie des Handels mit agrarischen Produkten der Region dominieren –
von der Wohnfunktion abgesehen – eindeutig. Gemeinsam ist den genannten Bereichen,
dass sie von Bedeutung für die gesamte Provinz sind. Anzunehmen ist, dass, analog zur
Migrationsbewegung der unmittelbaren Post-Desaster-Phase, auch die aktuellen
sozioökonomischen Pull-Faktoren der Stadt in Zuwanderung aus dem Umland münden
(vgl. Fassmann 2004, S. 213–215). Zudem gehen staatliche Entscheidungsträger mit
schlechtem Beispiel voran – eine öffentliche Schule wurde in den 1990er Jahren auf den
Ablagerungen der Schuttlawine von 1970 errichtet, und sorgt damit für ein trügerisches
Gefühl der Normalität bei der lokalen Bevölkerung.
Es muss weiters verstärkt darauf hingewiesen werden, dass sich nicht nur auf Ablagerungen
von 1970 gebauten, Siedlungsteile in einer Risikozone befinden: Zuletzt weisen Klimeš et
al. (2009, S. 198) darauf hin, dass große Teile der neuen Stadt Yungay auf Ablagerungen
einer vorgeschichtlichen Bergsturzmure gebaut wurden.
Mensch Stadt Berg: Chance statt Gefahr?
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Haller, A. (2011): Mensch Stadt Berg. Post-Desaster-Stadtgenese in Yungay, Peru. In: dérive
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Jüngere perzeptionsgeographische Untersuchungen (Haller 2010, S. 76–91) weisen darauf
hin, dass sich die Stadtbevölkerung in andinen Risikozonen mit vielfältigen Risiken
konfrontiert sieht, und „Gefahrenzonen“ häufig als Chancenräume wahrnimmt; die
Gefahr, welche beispielsweise vom Nevado Huascarán ausgehen könnte, spielt im täglichen
Leben der Yungayinos eine Nebenrolle. Schließlich ist der Berg mit der Stadt in vielfältiger
Weise positiv verbunden: Neben Schmelzwasser, welches für die städtische
Wasserversorgung – auch jene der urbanen und periurbanen Agrarflächen – benötigt wird,
bietet der höchste Berg Perus auch touristische Möglichkeiten für die Bewohner der
Andenstadt. Die vorhandene Bildungs- und Gesundheitsinfrastruktur, die besseren
Verdienstmöglichkeiten sowie der Glaube an eine florierende Entwicklung der Stadt,
stellen zudem Pull-Faktoren für Zuwanderer dar. Die damit einhergehende räumliche
Expansion der Siedlung führt in vielen Fällen zu einer Erhöhung des Schadenspotentials in
der andinen Risikozone. Hinzu kommt, wie Chardon (1999, S. 200) für die kolumbianische
Stadt Manizales aufzeigte, dass vor allem einkommensschwache Bevölkerungsteile zur
Besiedlung gefährdeter Gebiete „gezwungen“ werden. Die soziale Segregation ärmerer
Bevölkerungsteile in besonders gefährdeten Lagen, erhöht deren Verwundbarkeit, und
erfordert eine Annäherung der scheinbar realen Umwelt von Planern und Politikern, an die
wahrgenommene sozioökonomische und ökologische Realität der meist armutsgefährdeten
Menschen in andinen Risikozonen. Partizipation der Betroffenen an der räumlichen
Planung und Entwicklung von Städten in andinen Risikozonen, erfordert somit Kenntnisse
über die wahrgenommene Umwelt der ansässigen Personen. Anstatt nur die Perzeption
von potentiellen Gefahren (etwa Muren, Lahare, Erdbeben) zu erforschen, sollte der
Kognition der alltäglichen Umwelt – Stadt und Berg – mehr Gewicht verliehen werden.
Aus dem Verhältnis Mensch-Umwelt heraus lassen sich, so die Annahme des Autors,
räumliche Verhaltensmuster besser nachvollziehen, und geeignete Strategien zur
Risikominderung – sowohl sozioökonomische als auch Georisiken sind zu beachten –
entwickeln.
Literatur
Borsdorf, Axel & Bender, Oliver (2010): Allgemeine Siedlungsgeographie. Wien: UTB.
Carey, Mark (2008): The Politics of Place. Inhabiting and Defending Glacier Hazard Zones
in Peru’s Cordillera Blanca. In: Orlove, Ben; Wiegandt, Ellen & Luckman, Brian (Hrsg.).
Darkening Peaks. Glacier Retreat, Science, and Society. Berkeley: University of California
Press, S. 229–240.
Chardon, Anne-Catherine (1999): A geographic Approach on the Global Vulnerability in
Urban Area: Case of Manizales, Colombian Andes. In: GeoJournal 49, S. 197–212.
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Haller, A. (2011): Mensch Stadt Berg. Post-Desaster-Stadtgenese in Yungay, Peru. In: dérive
43, pp. 37–41
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Fassmann, Heinz (2004): Stadtgeographie I. Allgemeine Stadtgeographie. Das
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Das Beispiel Yungay, Peru. Unveröffentlichte Masterarbeit. Innsbruck: Universität
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Society: The 1970 Avalanche of Yungay, Peru. In: Mass Emergencies 4, S. 39–52.
Oliver-Smith, Anthony (1979b): The Yungay Avalanche of 1970: Anthropological
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Oliver-Smith, Anthony (1991): Successes and Failures in Post-Disaster Resettlement. In:
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Oliver-Smith, Anthony & Goldmann, Roberta (1988): Planning Goals and Urban Realities:
Post-Disaster Reconstruction in a Third World City. In: City & Society 2, S. 105–126.
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Social Change and Globalization in the Americas. Piscataway: Rutgers University Press, S.
63–84.
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Haller, A. (2011): Mensch Stadt Berg. Post-Desaster-Stadtgenese in Yungay, Peru. In: dérive
43, pp. 37–41