Spem in alium - Schulmusik

Thomas Tallis: „Spem in alium nunquam habui“ für
40 gemischte Stimmen a cappella
Samstag, 5. November 2016, 19 Uhr
Sonntag, 6. November 2016, 19 Uhr
Stuttgart, Liederhalle, Beethovensaal
Internationale Bachakademie
Dirigent: Hans-Christoph Rademann
Empfohlen ab Klasse 10
Erstellt von Grit Steiner
Inhaltsverzeichnis
1.
Zum Entstehungshintergrund der Motette ……………………….…………………………… 3
2.
Werkanalyse …………………………………………………………………………………………… 5
3.
Empfehlungen zu CD- und Videoaufnahmen …………………………………………. 8
4.1.
Hinweise zur Konzeption der Unterrichtsstunden ...................................
4.1.1.
Kurzbeschreibung Stunde 1 ………………………………………………………………………………………. 10
4.1.2
Kurzbeschreibung Stunde 2 ………………………………………………………………………………………. 10
4.1.3.
Kurzbeschreibung Stunde 3 ………………………………………………………………………………………. 11
4.1.4.
Kurzbeschreibung Stunde 4 ………………………………………………………………………………………. 11
4.1.5.
Kurzbeschreibung Stunde 5 ………………………………………………………………………………………. 12
4.1.6.
Kurzbeschreibung Stunde 6 ………………………………………………………………………………………. 12
4.2.
Unterrichtsmaterialien (M1-M6) ……………………………………………………………………… 13
9
Stunde 1: Die Motette „Spem in alium nunquam habui“ im musikgeschichtlichen Kontext
M1, M1 (Lösungsblatt), M1a-d …………………………………………………………………………………… 14
Stunde 2: Vom Klang zur Form
M2a, M2b, M2a+2b (Lösungsblätter), M2c …………………………………………………………………. 24
Stunde 3: Die Motette und ihre soggetti (Analyse Teil 1)
M3, M3 (Lösungsblatt) ………………………………………………………………………………………………… 28
Stunde 4: Wie arrangiert man 40 Stimmen ? (Analyse Teil 2)
M4, M4 (Lösungsblatt) ………………………………………………………………………………………………… 30
Stunde 5: Tallis im modernen Sound: Ein Vergleich aktueller Motettenversionen
M5, M5 (Lösungsblatt) …………..…………………………………………………………………………………… 32
Stunde 6: György Ligetis „Lux aeterna“ (1966) – Vokalpolyphonie heute
M6, M6 (Lösungsblatt) ………………………………………………………………………………………………… 34
5. Literaturverzeichnis ………………………………………………………………………………………………..……….. 37
Anhang: Notenmaterial
1.
Zum Entstehungshintergrund der Motette
Die musikwissenschaftlichen Forschungsergebnisse zur vierzigstimmigen Motette „Spem in alium
nunquam habui“ des englischen Hofkomponisten Thomas Tallis sind lückenhaft und ihre Entstehung
wird von Legenden umrankt. Ohne Zweifel markiert sie aufgrund ihrer Klangpracht einen Meilenstein in
der vielstimmigen Vokalmusik der Renaissance. Sie wurde inspiriert von der kompositorischen
Schreibkunst der franko-flämischen Vokalpolyphonie, in der mehrstimmige Motetten und Messen über
das Normalmaß der Fünf- und Sechsstimmigkeit hinaus durchaus üblich war, und war maßgeblich
beeinflusst von der Venezianischen Mehrchörigkeit. Diese nahm Mitte des 16. Jahrhunderts im Dom zu
San Marco, welcher durch seine Emporen und Kuppeln ausgezeichnete akustische Möglichkeiten bot,
ihren Ausgang und verbreitete sich rasch innerhalb und außerhalb Italiens.
Tatsächlich erfuhr der über sechzig Jahre alte Tallis, zu dieser Zeit „Gentleman of the Chapel Royal“ in
London unter Königin Elizabeth I., im Jahre 1567 von der Musik des Florentiner Komponisten Alessandro
Striggio, der gerade eine ausführliche Europareise unternahm und an verschiedenen Höfen seinen
italienischen Kompositionsstil vorstellte. Tallis selbst unternahm nie Reisen oder längere Aufenthalte auf
dem Kontinent, sodass für ihn vielstimmige Polyphonie eher unbekanntes Terrain war. Vielmehr
orientierte er sich an der englischen Musiktradition, die nach dem Vorbild John Dunstables (ca. 13901453) Parallelbewegungen in Terzen und Sexten (den sog. „Fauxbourdonsatz“), triadische Melodien und
konsonante Harmonien bevorzugte.
Innerhalb eines nichtliturgischen Kontexts kam es schließlich zu einer Aufführung von Striggios
vierzigstimmiger Motette „Ecce beatam lucem“, welche aufgrund ihrer noch nie zuvor dagewesenen
Dimension für Aufsehen sorgte.1 Die Legende besagt, dass der Musik-Mäzen Thomas Howard, seines
Zeichens vierter Herzog von Norfolk, daraufhin die Frage aufwarf, ob denn keiner der eigenen
englischen Männer ein gleichwertiges Stück komponieren könne, und sich schließlich der talentierte
Thomas Tallis bemüßigt fühlte, sich dieser Herausforderung zu stellen. Dieses Unterfangen gelang ihm
mit der vierzigstimmigen Motette „Spem in alium nunquam habui“, welche in der langen Galerie von
Arundel House, dem Stadthaus des Schwiegervaters des Herzogs, im Jahre 1570 erstmalig gesungen
wurde. Der Legende nach habe der Herzog nach dieser Aufführung, die die Striggio-Vorlage bei Weitem
übertraf, seine goldene Kette um Tallis´ Hals gelegt und sie ihm als Belohnung vermacht. Auch ist von
weiteren Aufführungen die Rede, beispielsweise in Nonsuch Palace, dem prunkvollen Landsitz des
Schwiegervaters, dessen achteckige Banketthalle mit vier Balkonen versehen war und sich für eine
1
Die im Jahre 1561 entstandene Motette wurde auch 1568 im Rahmen der Münchner Fürstenhochzeit von der Münchner
Hofkapelle unter Leitung Orlando di Lassos aufgeführt und sorgte dort für Furore. Zeitgenössische Quellen berichten sogar
davon, dass Striggio ein sechzigstimmiges „Agnus Dei“ komponierte, welches heute aber als verschollen gilt.
2
Gruppierung der acht Chöre auf mehreren Ebenen besonders eignete. Musikwissenschaftler, die die
Legende um Herzog Thomas Howard für unglaubwürdig halten, setzen die Uraufführung der Motette
jedoch in Verbindung mit dem vierzigsten Geburtstag von Königin Elizabeth I. im Jahre 1573.
Die textliche Grundlage der Motette lieferte das Buch Judith aus dem Alten Testament. Der lateinische
Responsoriumstext handelt von einem Gebet Judiths, in dem sie um Sündenvergebung bittet, bevor sie
den assyrischen Feldherrn Holofernes eigenmächtig im Schlaf enthauptet, um ihr Volk vor der
Versklavung zu bewahren:
„Spem in alium nunquam habui praeter in te, Deus Israel: Qui irasceris, et propitius eris, et omnia
peccata hominum in tribulatione dimittis. Domine Deus, Creator caeli et terra, respice humilitatem
nostram.“2
(„Ich habe niemals meine Hoffnung in irgendeinen anderen als dich gelegt, Gott Israels, der du zornig
sein und doch wieder gnädig werden wirst, und der du all die Sünden des leidenden Menschen vergibst.
Gott, unser Herr, Schöpfer des Himmels und der Erde, sieh an unsere Niedrigkeit.“)
Die Wahl des Textes ist möglicherweise im übertragenen Sinn zu verstehen. Alessandro Striggio mag mit
seiner Motette „Ecce beatam lucem“ als musikalischer Herausforderer betrachtet worden sein, der
hingegen mit „Spem in alium“ von Tallis künstlerisch besiegt wurde, und somit die nationale Ehre
Englands wieder hergestellt war. Obwohl es Königin Elizabeth I. im Zuge der englischen Reformation
bereits ab 1559 verboten hatte, lateinische Texte zu vertonen, war dies bis 1625 innerhalb der „Chapel
Royal“ im Einklang mit dem tridentinischen Ritus noch erlaubt. Die offizielle Liturgie wurde hingegen in
englischer Sprache abgehalten.3 In diesem historischen Kontext ist auch zu verstehen, dass die Motette
in der Folgezeit mit einem neuen englischen Text versehen wurde. Diese Neuversion brachte man bei
wichtigen höfischen Anlässen zur Aufführung, so bei der Amtseinführung des Sohnes von König James I.,
Henry, Prince of Wales, am 4. Juni 1610 und erneut sechs Jahre später vor seinem jüngeren Bruder, dem
späteren König Charles I.. Der englische Text, nun auf die Glorifizierung des Regenten abzielend, lautete:
„Sing and glorify heaven´s high Majesty / Author of this blessed harmony / Sound divine praises / With
melodious graces / This is the day, holy day, happy day / For ever give it greeting / Love and joy, heart
and voice meeting: Live Henry [Charles] princely and mighty / Harry Iive [Charles Iive long] in thy
creation happy.”
Eine frühe Partitur des Werks - leider nicht das Original, welches als verschollen gilt - beherbergt die
Bodleian Library in Oxford und kann dort betrachtet werden.
2
Der Text war zur Matutin in den Oktoberlesungen gebräuchlich. Er bestand aus der sog. „response“ („Spem in alium
nunquam habui…“) und dem „verse“ („Domine Deus, Creator caeli et terrae…“), ursprünglich einem Wechsel von Chor- und
Soloabschnitten. Die „response“ wurde im Verlauf der Liturgie mehrmals wiederholt.
3
Auch William Byrd, Schüler, Arbeitskollege und Nachfolger von Thomas Tallis, komponierte einige Motetten in lateinischer
Sprache, obwohl dies offiziell nicht üblich war.
3
2.
Werkanalyse
Thomas Tallis teilte die vierzig solistischen Einzelstimmen der Motette in acht jeweils fünfstimmige
Chöre ein; die einzelnen Stimmlagen bezeichnete man als Superius, Discantus, Kontratenor, Tenor und
Bass.4 Diese acht Chorgruppen blieben die gesamte Motette über als feste Einheit bestehen, im
Gegensatz zur Mottete „Ecce beatam lucem“ von Alessandro Striggio, der seine zehn vierstimmigen
Chorgruppen zu stets wechselnden Kombinationen führte. Tallis entschied sich bewusst gegen die
Verdoppelung der Vokal- durch Instrumentalstimmen und wich hier ebenso vom Vorbild Striggios ab,
welcher Flöten, Altgamben, Posaunen, Cembalo und Basslaute zur Verstärkung hinzunahm.
Wahrscheinlich wollte er damit die Reinheit des Vokalklangs wahren. Einzig und allein die Begleitung
durch eine Orgel könnte möglich gewesen sein.
Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte Tallis bei der Konzeption des Werkes eine Positionierung der
Chorgruppen im Kreis oder Halbkreis im Hinterkopf; die formale Anlage der Komposition sollte mit der
räumlichen Trennung der Gruppen einhergehen. In der Tat weist der Verlauf der Motette raffiniert
auskomponierte Bewegungen der Chorgruppen im Raum auf, die durch allmähliche Hinzunahme oder
Reduzierung von Stimmen, aber auch durch schnelle antiphonale Wechsel gleich einem Frage-AntwortSpiel entstehen. Die fünf Tuttiteile bilden dabei markante Gliederungspunkte, wobei ebenso der Inhalt
der Textvorlage bewusst zur Sinnstiftung beiträgt.
Die Motette besteht aus drei Großabschnitten. Im ersten Abschnitt, der sich von Takt 1 bis Takt 78
erstreckt, etablieren sich die 40 Chorstimmen in sukzessiver Imitation und finden schließlich in zwei
markanten Tuttiblöcken in Takt 40ff. und Takt 69ff. zusammen. Der Mittelteil von Takt 78 bis Takt 108
ist durch den schnellen antiphonalen Wechsel einzelner Chorgruppen gekennzeichnet. Der
Schlussabschnitt ab Takt 108ff., der durch eine Generalpause und den darauffolgenden „respice“-Ausruf
eingeleitet wird, kehrt zur imitatorischen Polyphonie des Anfangsteils zurück und mündet schließlich
nach drei kurzen achtstimmigen Abschnitten in Takt 122 in ein mächtiges Schlusstutti.
Ausgehend vom Alt in Chor I entfaltet sich zu Beginn das erste Soggetto „Spem in alium nunquam habui“
in den Chorgruppen I-IV bis hin zur Zwanzigstimmigkeit in Takt 19 (mit dem Einsatz des Soprans auf
Zählzeit 4). Markant ist die punktierte ganze Note auf dem Ton g1, welcher anschließend in Form einer
halben Note drei Mal repetiert wird. Mit einem Quartsprung abwärts und einem Terzsprung aufwärts,
der kurze Zeit später abermals auftritt (von f1 zu a1), wird die Melodie lebendiger. Nachdem der Ton a1
in Form einer ganzen Note erreicht ist, wird die Melodie schrittweise abwärts geführt.
4
1
1
Der Ambitus des Kontratenors reicht vom d zu g , der des Tenors von c bis d . In der heutigen Aufführungspraxis
entsprechen die genannten Stimmlagen Sopran, Alt, Tenor, Bass 1, Bass 2. In dieser Analyse werden die modernen
Bezeichnungen verwendet. Ebenso wird von „Takten“ und nicht von „Mensuren“ gesprochen und auch von „Ganzen“,
„Halben“ etc. statt von den Notenwerten der damals gängigen weißen Mensuralnotation (maxima, longa, brevis etc.).
4
Typisch für diese Art der geistlichen Vokalmusik ist, dass zu Beginn der Finalis g1 steht, welcher sofort im
Sopran auf der Oberquinte d2 innerhalb des mixolydischen Modus´ engführend aufgegriffen wird. Dieses
(leere) Quintintervall wird kurze Zeit später auch von Bass 1 und dem Tenor dargestellt und erzielt eine
schwebende Wirkung, wodurch Tallis die Gebetfunktion der Motette gleich zu Beginn unterstreicht.5
Nachdem das erste Soggetto in leicht variierter Form von den anderen 19 Stimmen imitert wird, wird ab
Takt 23 im Sopran des Chors V ein zweites Soggetto eingeführt („Praeter in te, Deus Israel“), welches
sich im folgenden Verlauf auf die Stimmen der Chöre V bis VIII ausdehnt.6 Währenddessen verstummen
die Chorgruppen I-IV nach und nach.7 Das zweite Soggetto ist eine Variante des ersten, was vor allem
durch die Tonrepetitionen zu Beginn und die Sekundfortschreitung gegen Ende augenfällig wird. Der
überzählige Einsatz im Sopran des Chors V nimmt in Takt 31 bereits das „humilitatem nostram“Soggetto des dritten Teils vorweg und schafft somit ungeahnte Vernetzungen.
Das erste vierzigstimmige Tutti in Takt 40ff. wird einerseits durch den zum Teil homorhythmisch
angelegten „Praeter in te“-Ausruf8, zum anderen durch ein engmaschiges Stimmgeflecht über tiefen
Haltetönen (z.B. in Bass 2 des Chors VIII) und dem repetierten Ton g2 in einzelnen Sopranstimmen
bestimmt. Das Akkordgerüst bilden die Harmonien C-Dur und G-Dur, zwischen denen hin- und
hergependelt wird. Mit einer derartigen Reduzierung der Stilmittel kommt Tallis der Striggio-Vorlage in
den Tutti-Abschnitten sehr nahe und erzeugt wie Striggio gerade dort eine bombastische Klangwirkung.
Nach dem jähen Abreißen des Tuttiklangs in Takt 45 entwickelt sich imitatorisch die zehn- bis
fünfzehnstimmige „Qui irasceris“-Passage, diesmal in umgedrehter Reihenfolge der Chorgruppen. Stets
bleibt ein „vielfach abgestuftes Klangkontinuum“ existent, welches einen „Zustand des permanenten
Übergangs“ schafft.9
Das zweite massive Tutti fällt zusammen mit der Mittelachse des Werkes in Takt 69. Ihr Kontext sticht
besonders hervor durch die syllabische Betonung der Worte „Et omnia peccata hominum“ und die
starke Konzentration auf das Tonzentrum C-Dur. Das Strahlen dieser Tonart ist in Verbindung zu sehen
mit der Sündenvergebung, welche in dieser Textpassage des Judithgebets angesprochen wird. Ebenso
mag sich in Takt 69 Thomas Tallis verewigt haben, indem er mit Hilfe des lateinischen Zahlenalphabets
dort seinen Nachnamen hinterließ (TALLIS: 19 + 1 + 11 + 11 + 9 + 18 = 69) und damit seine Motette
signierte.10
5
Dieser Quintbeginn findet sich bereits in der frühen Mehrstimmigkeit der Notre-Dame-Epoche bei Leonin und Perotin, die das zwei-, drei- und vierstimmige
Organum weiterentwickeln.
6
Man kann daher von einer Zweiteilung des ersten Großabschnitts, also von einer „Doppelexposition“, sprechen.
7
Vgl. Markus Roth: Organisationsformen vielstimmiger Polyphonie. Thomas Tallis´ Motette Spem in alium nunquam habui. In: Musik & Ästhetik 2 (1998), H.7,
S. 5-20. Markus Roth spricht hier sehr zutreffend von einem „Ausfransen der Texturen“.
8
Ähnlich markant ist der homorhythmische Ausruf „in tribulatione“ im zweiten Tutti nach der Generalpause in Takt 74 auf Zählzeit 3 oder der „respice“Ausruf im dritten Tutti in Takt 108 auf Zählzeit 4, auch nach einer Generalpause.
9
S. Roth, ebd., S. 9.
10
S. Roth, ebd., S.17. Auch Tallis´ Gönner Herzog Howard mag auf diese Art verewigt worden sein, dessen Name im lateinischen Zahlenalphabet die Zahl 65
ergibt. Genau in Takt 65 setzt die zentrale achtstimmige „Et omnia peccata hominum“-Textstelle ein, welche an einen Choral erinnert. Somit soll dem
5
Der überwiegend homophon gestaltete Mittelteil der Motette von Takt 78-108 setzt sich von den
Außenteilen durch seine antiphonale Wirkung ab und weist eine enge Verwandtschaft zur
Venezianischen Mehrchörigkeit und dem Kompositionsstil Striggios auf. Die acht Chöre werden erstmals
zu vier Gruppen mit jeweils zwei Chören oder auch zu zwei Gruppen mit jeweils vier Chören
zusammengefasst, die sich - vom dritten kurzen Tutti in 86f. unterbrochen - kleine Textabschnitte in
ständig neuen Kombinationen zuwerfen gleich eines Rede-und-Antwort-Spiels. Die Einsätze sind hierbei
eng miteinander verzahnt, in der Regel im eintaktigen oder gar halbtaktigen Abstand, und überlappen
sich gegenseitig. Dieses kurzgliedrige Echo thematisiert den Schöpfer des Himmels und der Erde
(„Domine Deus, creator caeli et terrae“) und hebt auf Gottes Allgegenwart ab, die durch die
„venezianische“ Klangwirkung hörbare Realität wird.
Das Ende des Mittelteils markiert eine wirkungsvolle Generalpause in Takt 108 nach einem C-DurAkkord, woraufhin ein unerwarteter A-Dur-Klang auf das Wort „respice“ folgt, der sich sofort in die
Varianttonart a-Moll verwandelt.11 Die Erniedrigung der dritten Stufe geht einher mit der Bedeutung des
Wortes „humilitatem“, der Niedrigkeit des Menschen. Im selben Moment wird auch die Stimmenzahl
reduziert; Tallis war sich also der theologischen Bedeutung dieser Textstelle und der spirituellen
Wirkung seiner Motette bewusst.
Der Schlussteil enthält zunächst eine klangliche Verdichtung, in dem eng aufeinanderfolgende Einsätze
des dritten Soggettos „humilitatem nostram“ auftauchen, die sich von Chor V und VI auf die Chöre IV bis
I übertragen. Dieses Soggetto ist wie das zweite nah mit dem ersten Soggetto verwandt, denn auch hier
wird der Anfangston wiederholt, diesmal allerdings zwei statt drei Mal und in Halben. Zusätzlich erinnert
der anschließende Terzsprung aufwärts und die fallende Sekundbewegung (hier mit punktiertem
Rhythmus) an das Ende des ersten Soggettos. Der Terzsprung wird in manchen Stimmen auch zu einem
Quartsprung ausgeweitet, z.B. im Bass 1 des Chors IV. Nach einer erneuten Generalpause, welche das
polyphone Treiben jäh unterbricht, erfolgt zum zweiten Mal der weitgehend homorhythmisch gesetzte
„respice“-Ausruf in Takt 122, der in G-Dur und mit seiner punktierten Ganzen zu Beginn sogar noch
eindrücklicher wirkt als der erste Ruf in Takt 108-110. Danach entfaltet sich noch einmal mit dem
Ertönen aller 40 Stimmen die gesamte polyphone Klangpracht des Werkes, die schließlich, nachdem BDur und g-Moll harmonisch gestreift wurden, mit einer plagalen Wendung von C- nach G-Dur zu einem
leuchtenden Ende geführt wird. Die Reinheit des G-Dur-Klangs, der bereits ab Takt 135 harmonisch
Herzog, der sich als gläubiger Katholik im Glaubenskrieg mit der protestantischen Königin Elizabeth I. befindet und kurze Zeit später von ihr zum Tode
verurteilt wird, der Prozess der Sündenvergebung zuteil werden.
11
Die abrupte Wendung hin zu a-Moll erfolgt in Takt 109 als Querstand, da dort cis und c gleichzeitig ertönen. Querstände
sind auch an zahlreichen anderen Stellen der Motette stets in Klauselnähe zu entdecken (z.B. in Takt 86 mit der Überlagerung
von fis und f). Diese waren eine englische Spezialität und sind aus der Spannung zwischen modalem und harmonischem
Denken, d.h. mit der allmählichen Institutionalisierung der Dur-Moll-Tonalität an der Schwelle zum 17. Jahrhundert zu
erklären.
6
etabliert wird und in Liegetönen allmählich zum Stehen kommt, bleibt noch lange nach dem Ende der
Motette gegenwärtig.
Über die Zahl 40 wurde zu Tallis´ Zeiten bereits fleißig spekuliert. Als Zahl der unbestimmten Vielheit
spielt sie in den Geschichten des Alten Testaments eine wichtige Rolle. So dauerten beispielsweise die
Sintflut oder die Fastenzeit exakt vierzig Tage. In der Motette ist auffällig, dass neben den 40 Stimmen in
Takt 40 das erste Tutti in Erscheinung tritt oder, vom zweiten Tutti in Takt 69 aus gerechnet, nach
weiteren 40 Takten in Takt 109 das vierte Tutti mit der inhaltlichen Schlüsselstelle „respice“ ertönt. Auch
die Überlieferungen von Tallis´ Testament, in dem von mehreren Werten in Höhe von 40 shillings die
Rede ist, beweisen, dass die Zahl 40 für den (katholischen) Komponisten eine bedeutende Rolle gespielt
haben muss.
3.
Empfehlungen zu CD- und Video-Aufnahmen
Namhafte CD-Einspielungen der Motette sind die des Chors der Winchester Cathedral, der Tallis
Scholars und der Chöre des King´s und St John´s College zu Cambridge. Ebenso beeindruckend sind die
(Multitrack-)Aufnahmen der King´s Singers und des Cellisten Peter Gregson im Studio bzw. Konzert,
welche auf youtube zu betrachten sind
(King´s Singers: https://www.youtube.com/watch?v=XJDLQZWKWe8,
Peter Gregson: https://www.youtube.com/watch?v=g_z7aIRJCPg). Auch das Großereignis der BBC in der
Bridgewater Hall in Manchester, zu dem am 10. Juni 2006 über 700 Sänger zusammen kamen, ist
sehenswert (https://www.youtube.com/watch?v=P2rK_Yhpui8). Die Originalversion der Tallis-Motette
befindet sich auch auf dem „classical album“ zum Filmsoundtrack zu „50 shades of grey“ und wurde zum
Film auch in einer meditativen Version eingespielt (https://www.youtube.com/watch?v=wJIbYtBTWOQ).
Mehrere moderne Komponisten wurden durch Tallis zur Komposition vierzigstimmiger Motetten
animiert, wie zum Beispiel Jaakko Mäntyjärvi („Tentatio“, 2006), Giles Swayne („The Silent Land“, 1998)
und Peter McGarr („Love You Big as the Sky“, 2007).
Für den Unterricht bietet sich die youtube-Einspielung einer animierten graphischen Partitur an, auf der
auf
unterschiedlichen
Spuren
die
einzelnen
Stimmen
visuell
sichtbar
gemacht
werden
(https://www.youtube.com/watch?v=Z3FJxDsa-5k).
7
4.1.
Hinweise zur Konzeption der Unterrichtsstunden
Aufgrund ihrer Komplexität ist die unterrichtliche Thematisierung der Motette „Spem in alium nunquam
habui“ erst in höheren Klassen sinnvoll (ab Klasse 10). Zentrale Kompetenzen, welche die SuS12
innerhalb dieses bahnbrechenden Vokalwerks der Renaissance erwerben können, sind, einen
breitgefächerten Chorklang hörend zu erfassen, ihn zu beschreiben, den Formverlauf des Stückes zu
begreifen, einzelne Partiturstellen zu analysieren und zu musizieren, satztechnische Prinzipien der
Homophonie und Polyphonie zu erkennen und voneinander abzugrenzen. Zudem kann der Einstieg in
die Motette innerhalb einer Gruppenarbeit zu ihrem musikgeschichtlichen Kontext erleichtert und damit
Neugierde geweckt werden. Ebenso sollte mit der Thematisierung moderner youtube-Versionen der
Motette die Reflexions- und Urteilsfähigkeit der SuS geschärft werden. Als abschließende Stunde kann
ein Vergleich zu György Ligetis „Lux aeterna“, einem repräsentativen a-cappella-Chorwerk der Moderne
aus dem Jahr 1966, gezogen werden.
Die folgende Tabelle zeigt den Entwurf einer Unterrichtseinheit, welche insgesamt 6 Stunden vorsieht.
Die Stunden sind inhaltlich zwar aufeinander aufbauend konzipiert, können aber auch einzeln oder in
anderer Zusammenstellung durchgeführt werden. Möglichst viele Zugänge (hören, assoziieren,
beschreiben und analysieren, musizieren etc.) sollen darin angeboten werden:
STUNDE
1
2
3
4
5
6
12
THEMA
UNTERRICHTSZIEL
Die Motette „Spem in alium nunquam Die SuS erarbeiten sich Informationen über den
habui“ im musikgeschichtlichen
Komponisten Thomas Tallis, die Venezianische
Kontext
Mehrchörigkeit, den Gattungsbegriff „Motette“
und den Entstehungshintergrund der TallisMotette.
Vom Klang zur Form
Die SuS erschließen sich Klangwirkung und
Formverlauf der Motette in mehreren
Hördurchgängen.
Die Motette und ihre Motivik
Ausgehend vom Tallis-Kanon „All praise to thee“
(Analyse Teil 1)
analysieren die SuS die Soggetti der Motette und
erkennen typische Merkmale des Tallis-eigenen
Kompositionsstils
Wie arrangiert man 40 Stimmen ? Anhand von 3 Partiturausschnitten lernen die SuS
(Analyse Teil 2)
zentrale Satztechniken der Motette kennen.
Tallis im modernen Sound: Ein Die SuS beurteilen aktuelle Versionen des Werkes
Vergleich
aktueller
Motetten- auf youtube und vergleichen sie miteinander.
Versionen
György Ligetis „Lux aeterna“ (1966) – Die SuS lernen ein Vokalwerk der Neuen Musik
Vokalpolyphonie heute
kennen,
untersuchen
dessen
zentrale
kompositorische Mittel und stellen Unterschiede
und Gemeinsamkeiten zur Tallis-Motette her.
SuS=Schülerinnen und Schüler. Die Abkürzung wird durchgängig verwendet.
8
4.1.1. Kurzbeschreibung Stunde 1
Als Einstieg in die Tallis-Motette bietet sich an, den SuS verschiedene Musikstücke der Renaissance
vorzuspielen (CD-Empfehlung: Musik der Renaissance, Deutsche Grammophon, 463 451-2). Es geht hier
zunächst um die Feststellung allgemeiner Fakten wie die zeitliche Einordnung der Musik bzw. deren
Epochenzuordnung, den geistlichen und weltlichen Kontext, Art und Anzahl von Instrumentalisten und
Sängern und die Klangwirkung der Musikstücke. Schließlich sollte die Tallis-Motette kurz angespielt
werden, um den zentralen Unterrichtsgegenstand zu thematisieren und in die anschließende Textarbeit
einzuführen.
Die Textarbeit selbst befasst sich mit vier Aspekten, die für die kontextuelle Einordnung der Motette
unabdingbar sind: Dem Lebenslauf des Komponisten Thomas Tallis (Text 1, M1a), dem Begriff der
Venezianischen Mehrchörigkeit (Text 2, M1b), dem Gattungsbegriff „Motette“ (Text 3, M1c) und dem
Entstehungshintergrund von „Spem in alium nunquam habui“ (Text 4, M1d). In arbeitsteiliger
Gruppenarbeit erschließen sich die vier Gruppenmitglieder ihren jeweiligen Text und teilen zentrale
Informationen den anderen Gruppenmitgliedern mit. Die Ergebnisse werden auf dem Ergebnisblatt (M1)
in den vorgesehenen Feldern festgehalten. In einem abschließenden Unterrichtsgespräch können noch
einmal Grundzüge des Motettenkontexts im Plenum festgehalten und/oder aber das Lösungsblatt
aufgelegt werden.
4.1.2. Kurzbeschreibung Stunde 2
Eine erste Annäherung an die Motette „Spem in alium nunquam habui“ bietet sich über das Hören an
unter bewusster Ausklammerung des äußerst komplexen Notentexts. In mehreren Hördurchgängen
gelangen die SuS von eher allgemeinen Feststellungen zu Klangwirkung oder Stimmenanzahl zur
genaueren Beschreibung des Formverlaufs. In der Besprechung einer graphischen youtube-Darstellung
gegen Stundenende werden die gewonnenen Erkenntnisse wiederholt und gefestigt.
Der erste Hördurchgang sollte ca. 3-4 Minuten (z.B. Takt 1 - 45), der 2. Hördurchgang ca. 5 Minuten
dauern (z.B. Takt 46 - 108). Bei der Auflösung der Spekulationsaufgabe sollte die Lehrkraft zusätzlich die
erste Partiturseite der Motette hinzuziehen, um daran die Anzahl der Stimmen, deren Stimmlage, die
Ordnung in acht Chorgruppen und das satztechnische Gestaltungsmittel der Imitation zu zeigen.
Im dritten Hördurchgang ist ein Gesamtdurchlauf der Motette erforderlich, damit das Werk mit all
seinen Formteilen vollständig erfasst werden kann. Hier wäre außerdem sinnvoll, dass die Lehrkraft die
wechselnden Abschnitte jeweils ansagt, da sonst die SuS zu wenig Hörorientierung hätten. Jede Gruppe
erhält einen Kärtchensatz (s. Kopiervorlage M2c), der im Vorfeld von der Lehrkraft ausgeschnitten
wurde. Die Bearbeitung der einzelnen Höraufträge erfolgt immer parallel zum Hören.
9
4.1.3.
Kurzbeschreibung Stunde 3
Am Stundenbeginn steht die sängerische Erarbeitung des Tallis-Kanons „All praise to thee“, ein Kanon,
der bis zu acht Gruppen gesungen werden kann und die polyphone Musiksprache der (englischen)
Renaissance besonders gut widerspiegelt. Nach einem kurzen Gespräch über die Klangwirkung des
Kanons wird im direkten Anschluss das erste Soggetto der Motette „Spem in alium nunquam habui“
gemeinsam einstudiert (Chor I, Altstimme, Takt 1-4). Sängerisch geübte Klassen bzw. Kurse können auch
weitere Stimmen hinzunehmen bis zur Fünfstimmigkeit (Chor I, bis Takt 9, Zählzeit 1). Im nächsten
Schritt wird der Melodieverlauf des Soggettos analysiert und mit der Melodie des Tallis-Kanons
verglichen, wobei sich Ähnlichkeiten feststellen lassen. Auch das zweite Soggetto „Praeter in te, Deus
Israel“, welches in Takt 23 im Sopran des Chors V beginnt, wird sängerisch erarbeitet und dessen
Variationen analysiert. Es stellt sich heraus, dass die beiden ersten Soggetti eng miteinander verwandt
sind. Die Kompositionsaufgabe zum dritten Soggetto schließt sich logisch an: Die SuS werden dazu
aufgefordert, auf den Text „humilitatem nostram“ das dritte Soggetto im Stile Tallis´ zu komponieren,
welches sich auf das erste Soggetto beziehen soll. Die Schülerlösungen werden präsentiert und jeweils
mit dem Tallis-Original verglichen (Chor VI, Sopran, Takt 110 - 112). Ein Orff-Mitspielsatz oder
vereinfachter Akkordsatz (s. Notenmaterial Anhang, zu M3) rundet die Stunde praktisch ab und lässt die
SuS dabei die ständig wiederkehrenden und einprägsamen Harmonien um die Akkorde G-d-F-C
erfahren.
4.1.4.
Kurzbeschreibung Stunde 4
Zu Stundenbeginn steht die Wiederaufnahme des Tallis-Kanons „All praise to thee“, diesmal wahlweise
in der vierstimmigen Chorfassung, und des ersten Motetten-Soggettos. Die gewonnenen Erkenntnisse
der letzten Stunde zu melodischen und rhythmischen Eigenschaften werden noch einmal rekapituliert.
In der anschließenden arbeitsteiligen Gruppenarbeit werden drei verschiedene Taktabschnitte
detaillierter analysiert: Taktabschnitt 45-65 („qui irasceris et propitius eris“), wo Stimmen in das
musikalische Geschehen ein- und wieder aussteigen, Taktabschnitt 85-108 („Domine Deus, Creator caeli
et terrae“), dem antiphonalen Wechselgesang der Chorgruppen, und Taktabschnitt 122-Schluss
(„respice humilitatem nostram“), wo sich aus dem homophonen „respice“-Ruf das polyphone
Stimmgewebe des Schlusstutti entfaltet. Nach der Präsentation der Gruppenergebnisse im Plenum
entlang der Partitur werden diese satztechnischen Gestaltungsmöglichkeiten am Kanon- oder Chorsatz
des Tallis-Kanons ausprobiert – eine kognitive Transferleistung wird hiermit ermöglicht und
musikpraktisch erfahrbar gemacht.
10
4.1.5.
Kurzbeschreibung Stunde 5
Diese Stunde ist nur dann durchführbar, wenn die SuS mehrere PCs, Tablets oder Smartphones mit
Internetzugang zur Verfügung haben. Nur so können unterschiedliche youtube-Videos zur Tallis-Motette
zeitgleich von den SuS studiert und beurteilt werden. Ausgangspunkt bildet die Aufführung in der
Bridgewater Hall in Manchester mit einem Massenchor von über 700 Sängern („The People´s Chorus“),
welche ein Unterrichtsgespräch über den großen Raumklang ohne elektronische Unterstützung in Gang
bringen soll. Drei andere lohnende Einspielungen werden im Folgenden von den SuS auf youtube
eigenständig angeschaut und bewertet: eine Multitrackaufnahme der King´s Singers im Tonstudio,
Thomas Hewitt Jones´ „Spem Fantasia“ in der Interpretation des Cellisten Peter Gregson und die
meditative Version zum Filmsoundtrack zu „Fifty shades of grey“. Alle drei moderne Versionen der TallisMotette beziehen im Gegensatz zur Manchester-Aufführung elektronische und, abgesehen von der
King´s Singers-Version, klangverfremdende Mittel ein, sodass neue Interpretationen entstehen.
In der Arbeitsgruppe werden die jeweiligen Ausformungen elektronischer Bearbeitung untersucht und
die Klangergebnisse der drei Aufnahmen individuell bewertet. Mit der abschließenden Einigung auf eine
favorisierte Aufnahme und der erneuten Beurteilung der originalgetreuen Live-Aufführung in
Manchester soll die Diskursfähigkeit trainiert, aber auch der individuelle Musikgeschmack zum Ausdruck
gebracht werden.
4.1.6.
Kurzbeschreibung Stunde 6
Die Behandlung von György Ligetis „Lux aeterna“ (1966) im Unterricht ermöglicht, der RenaissanceMotette von Tallis ein modernes Chorwerk des 20. Jahrhunderts gegenüberzustellen, welches ähnliche
Kompositionsmittel verwendet und doch anders klingt. Den sängerischen Einstieg in die Stunde bildet
die Kanon-Melodie „Lux aeterna luceat eis“, welche das Tonmaterial und die inhaltliche Aussage für das
geistliche Vokalwerk liefert. In einem vollständigen Hördurchgang können die SuS, je nach Lerntyp,
zwischen einer abstrakten oder gegenständlichen Zeichnung oder dem Verfassen einer Geschichte
wählen. Nachdem sich die SuS ihre Produkte gegenseitig vorgestellt haben, wird anhand eines
Partiturausschnitts die Musik Ligetis in groben Zügen analysiert und die Begriffe „Cluster“ und
„Mikropolyphonie“ eingeführt. Im chorischen Musizieren der ersten Takte erfahren die SuS, wie schwer
Cluster zu singen sind.
Mit Hilfe eines sog. „Venn Diagrams“ wird die Brücke zur Tallis-Motette geschlagen: Neben
Unterschieden arbeiten die SuS die Schnittmenge in der Verwendung musikalischer Parameter heraus.
Das abschließende Schülerfazit soll die Zeitlosigkeit der Vokalpolyphonie und - damit einhergehend - der
Tallis-Motette zum Ausdruck bringen.
11
4.2. Unterrichtsmaterialien (M1 - M6)
12
M1
Die Motette „Spem in alium nunquam habui“ im musikgeschichtlichen Kontext (Ergebnisblatt Gruppenarbeit)
Text 1: Zur Biographie von Thomas Tallis (*ca. 1505 – 1585)
Text 2: Zum Begriff „Venezianische Mehrchörigkeit“
Text 3: Zur Gattung „Motette“
Text 4: Zum Entstehungshintergrund der Motette
2
M1
Die Motette „Spem in alium nunquam habui“ im musikgeschichtlichen Kontext (Lösungsblatt Gruppenarbeit)
Text 1: Zur Biographie von Thomas Tallis (*ca. 1505 – 1585)
Text 2: Zum Begriff „Venezianische Mehrchörigkeit“
- Chorknabe der Chapel Royal von St. James´s Palace
- Kompositionsart für mehrere räumlich getrennte vokale, instrumentale
- Ab 1532-40 Organist in einer Benediktinerabtei in Dover, in St. Mary-leoder gemischte Klanggruppen
Hill in Billingsgate/London und in der Augustiner-Abtei in
- Entwicklung des Stils im Markusdom zu Venedig, der mit seiner Größe,
Waltham/London
seiner Höhe und den vielen Emporen und Kuppeln dafür prädestiniert
- Im Jahre 1543 Ernennung zum „Gentleman of the Chapel Royal” am Hofe
war
von König Henry VIII., wo er bis zu seinem Tode 1585 tätig war
- Positionierung mehrerer Sänger- oder Instrumentalgruppen auf
- Kompositions- und Orgellehrer von William Byrd, seinem späteren
unterschiedlichen Ebenen („Cori-spezzati-Technik“), Stereosound beim
Nachfolger
Zuhörer
- Diente vier Monarchen und musste sich deren unterschiedlichen
- Einführung des Stils durch Kapellmeister Adrian Willaert,
Aufträgen für den Gottesdienst anpassen
Weiterentwicklung und Perfektionierung durch Andrea und Giovanni
- Erhielt von den Monarchen mehrere Privilegien, u.a. das Monopol zum
Gabrieli
Drucken und Veröffentlichen von Musik und regelmäßige Mieteinkünfte
- Platzierung von bis zu 22 verschiedenen Stimmen in „Sacrae
- Schrieb Motetten, Psalmvertonungen und Orgelwerke
Symphoniae“ und „Canzoni et sonate per sonar“ in 4 bis 5 Gruppen
- War verheiratetet und kinderlos
- Nachahmung des Stils durch viele (deutsche) Komponisten, z.B. Heinrich
Schütz oder Johann Sebastian Bach
- Thomas Tallis wurde in seiner Motette von diesem Stil inspiriert
Text 3: Zur Gattung „Motette“
Text 4: Zum Entstehungshintergrund der Motette
- Ital. motetto, lat. muttum: Wort, Muckser
- Musikwissenschaftliche Forschung ist lücken- und legendenhaft
- Wichtigste Gattung mehrstimmiger Vokalmusik der abendländischen
- Inspiration der Motette durch die Aufführung von Alessandro Striggios
Musikgeschichte
40-stimmiger Motette „Ecce beatam lucem“ am englischen Hof
- Entstehung im 13. Jh. in der Notre-Dame-Schule in Paris (Leonin und
- Herzog Thomas Howard als Auftraggeber
Perotin) durch die Textierung von Stimmen
- Zweideutige Forschungsergebnisse der Musikwissenschaft über die
- „Motetus“: Bezeichnung für textierte Oberstimme oder die Gattung an
Uraufführung von „Spem in alium nunquam habui“: Entweder in der
sich
langen Galerie von Arundel House im Jahre 1570 (Belohnung durch die
- Allmähliche Textierung in unterschiedlichen Sprachen; kunstvolle, aber
goldene Kette des Herzogs) oder zum 40. Geburtstag von Königin
auch unverständliche Musik (Komponisten: Ph. De Vitry, G. de Machaut)
Elizabeth im Jahre 1573
- Weiterentwicklung im 15./16. Jh. durch Komponisten aus dem franko- Alttestamentarisches Gebet aus Buch Judith als Textgrundlage;
flämischen bzw. italienischen Raum (G. Dufay, J. Desprez, O. di Lasso, G.
Textinhalt kann als Tallis´ Sieg über Striggio gedeutet werden
da Palestrina), inhaltliche Bindung an die Kirchenmusik, Auswirkungen im
- Umformulierung des lateinischen Texts in eine englische Textversion zur
16./17. Jh. auf Deutschland (H. Schütz, J.S. Bach) und England (T. Tallis)
Glorifizierung der Regenten Henry und Charles
- Niedergang der Motette im 18. Jh., Wiederbelebung im 19. und 20. Jh. (J.
- Original verschollen, Abschriften existieren noch
Brahms, A. Bruckner; H. Distler, E. Krenek)
3
M1a
Text 1: Zur Biographie von Thomas Tallis (*ca. 1505 – 1585)
Nicht viele Details sind über das Leben des Komponisten Thomas Tallis bekannt, dennoch weiß man,
dass er einer der begnadetsten englischen Komponisten seiner Zeit war. Sein Geburtsjahr wird ungefähr
auf das Jahr 1505 datiert, welches mit der Endphase der Regierungszeit von Henry VII. zusammenfiel.
Über die musikalische Erziehung des Komponisten weiß man kaum etwas, zumindest wird vermutet,
dass er ein Chorknabe der Chapel Royal von St. James´s Palace war und so die Musik des Ortes kennen
lernte, an dem er später einmal als Erwachsener tätig sein sollte. Seine Musikkarriere begann im Jahre
1532 als Organist einer Benediktinerabtei in Dover, heute unter dem Namen „Dover College“ bekannt.
Das gleiche Amt bekleidete er ab 1537 in St. Mary-le-Hill in Billingsgate, London und anschließend in der
Augustiner-Abtei Waltham, London, bis zu deren Auflösung im Jahre 1540. Nach einer kurzen Phase als
Laienprediger an der Kathedrale in Canterbury machte Tallis mit seiner Berufung in den königlichen
Dienst und seiner Ernennung zum „Gentleman of the Chapel Royal“ im Jahre 1543 einen Karrieresprung.
Er fungierte nun als Organist für die königlichen Gottesdienste am Hofe von König Henry VIII., war
Chorassistent in der „Chapel Royal“, in der er auch mitsang, und komponierte für diese. Ebenso war er
Kompositions- und Orgellehrer von namhaften englischen Komponisten wie William Byrd oder Elway
Bevin. Gemeinsam mit Byrd, mit dem er sich ab 1570 das Organistenamt teilte, erhielt er ab 1575 von
Königin Elizabeth I. das Monopol zum Drucken und Veröffentlichen von Musik sowie von Schriften über
Musik - ein besonderes Privileg. Bis zu seinem Tod im Jahre 1585 leistete er in der „Chapel Royal“ seine
Dienste und erlebte die Regentschaft von vier Monarchen: Henry VIII, Edward VI, Mary Tudor und
Elizabeth I.. Durch die englische Reformation, die durch König Henry VIII. vollzogen wurde, und der
Abspaltung von der katholischen Kirche war Tallis gezwungen, für den protestantischen Gottesdienst zu
komponieren, der viel weniger künstlerische Freiheiten zuließ. Allerdings behielt er sich das Recht vor,
weiterhin lateinische Motetten zu komponieren. Für die lateinische Messkomposition gab es jedoch
keinen Nutzen mehr. Thomas Tallis besaß dennoch das Talent, den unterschiedlichen musikalischen
Aufträgen von vier verschiedenen Monarchen geschickt Folge zu leisten und seinen Musikstil jeweils
anzupassen. Unter Mary Tudor, die für kurze Zeit wieder den Katholizismus eingeführt hatte, erhielt er
sogar das Mietrecht über ein Anwesen in Kent, dessen Miete eine beträchtliche Summe für ihn abwarf.
Er selbst blieb dem katholischen Glauben zeitlebens treu. Thomas Tallis starb 1585 in seinem Haus in
Greenwich und wurde dort begraben. Zu seinen bekanntesten Kompositionen zählen zahlreiche Messen
und Motetten - „Spem in alium“ war von allen die berühmteste – diverse Psalmvertonungen, die bis
heute von englischen Kirchenchören gesungen werden, „Lamentations of Jeremiah“ und zwei
ausufernde Orgelwerke namens „Felix namque“. Tallis war verheiratet, blieb aber kinderlos.
Aufgabe: Lies den Text zum Leben des englischen Komponisten Thomas Tallis und markiere wichtige Stationen
und Informationen. Trage deine Ergebnisse auf dem Ergebnisblatt ein und teile sie deiner Gruppe mit. Beziehe in
deine Erläuterungen auch das Bildmaterial mit ein.
2
M1b
Text 2: Zum Begriff „Venezianische Mehrchörigkeit“
Unter dem Begriff der „Venezianischen Mehrchörigkeit“ versteht man eine Kompositionsart für mehrere
räumlich getrennte vokale, instrumentale oder gemischte Klanggruppen. Diese entwickelte sich
innerhalb der Venezianischen Schule um das Jahr 1550 unter Kapellmeister Adrian Willaert (um 14901562) im Markusdom zu Venedig. Die Stadt war bereits im Mittelalter wichtiges Handelszentrum und
eine Seemacht, die Gelehrte und Künstler aus ganz Europa anlockte. Als Dogenkirche und zentrales
Staatsheiligtum der Republik Venedig begünstigte der prunkvolle Markusdom mit seiner Größe und
Höhe, seinen vielen Emporen (u.a. zwei gegenüberliegenden Orgelemporen) und Kuppeln die sog. „Corispezzati-Technik“ (ital.: „geteilte Chöre“). Man platzierte Sänger- oder Instrumentalgruppen auf
unterschiedlichen Ebenen und bezog so die Architektur des Raumes in die Kompositionen mit ein. Die
Chöre musizierten im Wechsel oder gleichzeitig miteinander und erfüllten mit ihrer Klangpracht den
gesamten Kirchenraum. Für den Zuhörer im Zentrum ergab sich eine Stereowirkung, vergleichbar mit
dem elektronisch erzeugten Surround-Effekt heutzutage. Die „Cori-spezzati-Technik“, die bei Willaerts
Psalmvertonungen erstmals eingesetzt wurde, wurde schließlich durch Andrea Gabrieli (1532/33 - 1585)
und dessen Neffen Giovanni Gabrieli (um 1554 – 1612) zu voller Blüte gebracht. Vor allem dieser
profitierte von der großen Anzahl ausgezeichneter Instrumentalisten und Sänger, welche im
musikalischen Mit- und Gegeneinander effektvolle Klangfarben, Echowirkungen und Kontrastbildungen
erzielten und damit den Grundstein für die barocke Gattung des „concertos“ legten. Als Hauptwerk
Giovanni Gabrielis gelten die umfangreichen Kompositionssammlungen „Sacrae Symphoniae“ und
„Canzoni et sonate per sonar“, in der der Komponist die bis zu 22 verschiedenen Stimmen in vier oder
fünf Chöre bzw. Instrumentalgruppen einteilte und sie an verschiedenen Orten des Doms positionierte.
Im Originaldruck der berühmt gewordenen doppelchörigen „Sonata pian´ e forte“ (1597) gab er zum Teil
die Lautstärke für Hoch- und Tiefchor an, eine absolute Neuheit. Unzählige Komponisten, auch deutsche
wie Heinrich Schütz (1585-1672), reisten nach Venedig, um diese Klangwirkung zu erleben und die „Corispezzati-Technik“ zu erlernen. Besonders Schütz, selbst Schüler Giovanni Gabrielis, ist es zu verdanken,
dass die Venezianische Mehrchörigkeit in der deutschsprachigen Kirchenmusik ihren Einzug hielt und
das konzertierende Prinzip als Merkmal barocken Musizierens weiterentwickelt wurde. Auch Johann
Sebastian Bach (1685-1750) wandte die Doppelchörigkeit in seinen Motetten und der Matthäuspassion
und das instrumentale Konzertieren in seinen Brandenburgischen Konzerten an. Der Florentiner
Komponist Alessandro Striggio (um 1536-1592), auf dessen mehrchörige Musik Thomas Tallis in London
traf und zur Komposition der Motette „Spem in alium nunquam habui“ inspiriert wurde, war als Italiener
mit der Venezianischen Mehrchörigkeit vertraut und verbreitete sie 1567 auf seiner Englandreise.
Aufgabe: Lies den Text zur Venezianischen Mehrchörigkeit und markiere wichtige Informationen. Trage deine Ergebnisse auf
dem Ergebnisblatt ein und teile sie deiner Gruppe mit. Beziehe in deine Erläuterungen auch das Bildmaterial mit ein.
2
Bildmaterial zu Text 1:
Thomas Tallis in unterschiedlichen Porträtdarstellungen
(Quelle Bild 1: http://www.elizabethan-era.org.uk/thomas-tallis.png)
(Quelle Bild 2: http://render.fineartamerica.com/images/rendered/medium/greeting-card/images-medium/thomas-tallis1510-1585-granger.jpg)
Bildmaterial zu Text 2:
Außen- und Innenansicht des Markusdoms zu Venedig
(Quelle Bild 1: http://img.fotocommunity.com/venedig-markusdom-von-oben-e896a7e3-7ed9-43b6-8c1d412263be8ff3.jpg?width=1000)
(Quelle Bild 2: http://www.wissen-digital.de/images/9/94/79036.jpg)
2
M1c
Text 3: Zur Gattung „Motette“
Die Motette [italienisch motetto, spätlateinisch muttum »Wort«, eigentlich »Muckser«] ist eine der
wichtigsten Gattungen mehrstimmiger Vokalmusik der abendländischen Musikgeschichte von ihren
Anfängen im 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Ihr Ursprung liegt in der (zuerst lateinischen, später
auch französischen) Textierung von Stimmen im mehrstimmigen „Organum“ der Notre-Dame-Schule
[um die Komponisten Leonin und Perotin an der Notre-Dame-Kirche in Paris], wobei sowohl die
unmittelbar über dem Tenor [ = der Unterstimme] verlaufende Stimme als auch das ganze Stück als
„Motetus“ bezeichnet wurde. Bereits im 13. Jahrhundert verselbstständigte sich die Motette zur
wichtigsten Gattung der Ars antiqua [= Musikepoche im Anschluss an Perotin, ca. 1230 - 1330] sowohl
im weltlichen als auch im geistlichen Bereich. Auffallend in diesem Stadium ist die unterschiedliche
Textierung der einzelnen Stimmen (…), zum Teil in verschiedenen Sprachen (…), [sodass kunstvolle, aber
auch unverständliche musikalische Gebilde entstanden]. Im 13. Jahrhundert war Frankreich das Zentrum
der Motettenkomposition, doch war sie bald auch auf dem ganzen Kontinent verbreitet. Eine
wesentliche kompositorische Erweiterung erfuhr die Motette durch die von Philippe de Vitry (1291 –
1361) ausgebildete Isorhythmie, die bei Guillaume de Machaut (1300-1305 – 1371) ihren Höhepunkt
erreichte. [Unter der Isorhythmie versteht man eine rhythmische Folge, die im Tenor ihren Ausgang
nimmt und sich zum Teil auf andere Stimmen überträgt. Damit erfährt das Stück eine gewisse
Gliederung]. Entscheidenden Anteil an der für das 15. und 16. Jahrhundert gültigen technischen
Ausformung gewann Guillaume Dufay (1400 - 1474), [ein Komponist aus dem franko-flämischen Raum,
von wo aus stilbildende Impulse für die Motettenentwicklung kommen]. Im ausgehenden 15.
Jahrhundert vollzog sich die Bindung der Motette an die Kirchenmusik, die bis heute gültig geblieben ist.
Maßgebende Motettenkomponisten des 16. Jahrhunderts waren Josquin Desprez (1450-55 – 1521),
Giovanni da Palestrina (1525 – 1594) und Orlando di Lasso (1532 – 1594). Eigene Traditionen ergaben
sich aus der deutschsprachigen protestantischen Kirchenliedmotette (Heinrich Schütz, 1585 - 1672) und
dem englischsprachigen [protestantischen] Anthem, [welches auch Thomas Tallis vielfach komponierte].
Das 17. Jahrhundert brachte die instrumentalbegleitete Solomotette und mehrchörige Motetten
venezianischer Tradition hervor. Nach den [deutschen] Motetten Johann Sebastian Bachs folgte die
Gattung dem allgemeinen Niedergang der Kirchenmusik im ausgehenden 18. Jahrhundert, blieb aber im
19. Jahrhundert (u.a. bei Johannes Brahms, Anton Bruckner, Max Reger) noch lebendig und fand im 20.
Jahrhundert neues Interesse im Anschluss an die Vorbilder der Renaissance und des Barock (u. a. bei
Hugo Distler und Ernst Krenek).
Quelle: http://universal_lexikon.deacademic.com/105508/Motette
Aufgabe: Lies den Text zur Gattung „Motette“ und markiere wichtige Informationen. Trage deine Ergebnisse auf
dem Ergebnisblatt ein und teile sie deiner Gruppe mit. Beziehe in deine Erläuterungen auch das Notenmaterial
mit ein, welches Motetten in unterschiedlichen Stadien zeigt.
2
Notenmaterial zu Text 3:
Auszug aus einem dreistimmigen Fauxbourdonsatz („Ave maris stella“) von Josquin Desprez
(Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b1/Avemarisstella.png)
Beginn der vierstimmigen Mottete „Exaudi, Deus, orationem meam“ von Orlando di Lasso
(Quelle: http://www.musicalion.com/compositions_images/m23915_2.gif)
Beginn des berühmten Echo-Kanons von Orlando di Lasso für 2 gemischte Chöre
(Quelle: www.musicalion.com/de/scores/noten/875/orlando-di-lasso/2356/das-echo-ausgeschriebener-kanon)
2
M1d
Text 4: Zum Entstehungshintergrund der Motette
Die musikwissenschaftlichen Forschungsergebnisse zur vierzigstimmigen Motette „Spem in alium
nunquam habui“ des englischen Hofkomponisten Thomas Tallis sind lückenhaft und ihre Entstehung
wird von Legenden umrankt. Ohne Zweifel markiert sie aufgrund ihrer Klangpracht einen Meilenstein in
der vielstimmigen Vokalmusik der Renaissance.
Der über sechzig Jahre alte Tallis, zu dieser Zeit „Gentleman of the Chapel Royal“ in London unter
Königin Elizabeth I., erfuhr im Jahre 1567 von der Musik des Florentiner Komponisten Alessandro
Striggio, der gerade eine ausführliche Europareise unternahm und an verschiedenen Höfen seinen
italienischen Kompositionsstil vorstellte. Tallis selbst unternahm nie Reisen oder längere Aufenthalte auf
dem Kontinent, sodass für ihn vielstimmige Polyphonie eher unbekanntes Terrain war.
Innerhalb eines nichtliturgischen Kontexts kam es schließlich zu einer Aufführung von Striggios
vierzigstimmiger Motette „Ecce beatam lucem“, welche aufgrund ihrer noch nie zuvor dagewesenen
Dimension für Aufsehen sorgte. Die Legende besagt, dass der Musik-Mäzen Thomas Howard, seines
Zeichens vierter Herzog von Norfolk, daraufhin die Frage aufwarf, ob denn keiner der eigenen
englischen Männer ein gleichwertiges Stück komponieren könne und sich schließlich der talentierte
Thomas Tallis bemüßigt fühlte, sich dieser Herausforderung zu stellen. Dieses Unterfangen gelang ihm
mit der vierzigstimmigen Motette „Spem in alium nunquam habui“, welche in der langen Galerie von
Arundel House, dem Stadthaus des Schwiegervaters des Herzogs, im Jahre 1570 erstmalig gesungen
wurde. Der Legende nach habe der Herzog nach dieser Aufführung, die die Striggio-Vorlage bei Weitem
übertraf, seine goldene Kette um Tallis´ Hals gelegt und sie ihm als Belohnung vermacht. Auch ist von
weiteren Aufführungen die Rede, beispielsweise in Nonsuch Palace, dem prunkvollen Landsitz des
Schwiegervaters, dessen achteckige Banketthalle mit vier Balkonen versehen war und sich für eine
Gruppierung der acht Chöre auf mehreren Ebenen besonders eignete. Musikwissenschaftler, die die
Legende um Herzog Thomas Howard für unglaubwürdig halten, setzen die Uraufführung der Motette
jedoch in Verbindung mit dem vierzigsten Geburtstag von Königin Elizabeth I. im Jahre 1573.
Die textliche Grundlage der Motette lieferte das Buch Judith aus dem Alten Testament. Der lateinische
Responsoriumstext handelt von einem Gebet Judiths, in dem sie um Sündenvergebung bittet, bevor sie
den assyrischen Feldherrn Holofernes eigenmächtig im Schlaf enthauptet, um ihr Volk vor der
Versklavung zu bewahren:
„Spem in alium nunquam habui praeter in te, Deus Israel: Qui irasceris, et propitius eris, et omnia
peccata hominum in tribulatione dimittis. Domine Deus, Creator caeli et terra, respice humilitatem
nostram.“
(„Ich habe niemals meine Hoffnung in irgendeinen anderen als dich gelegt, Gott Israels, der du zornig
sein und doch wieder gnädig werden wirst, und der du all die Sünden des leidenden Menschen vergibst.
Gott, unser Herr, Schöpfer des Himmels und der Erde, sieh an unsere Niedrigkeit.“)
2
Die Wahl des Textes ist möglicherweise im übertragenen Sinn zu verstehen. Alessandro Striggio mag mit
seiner Motette „Ecce beatam lucem“ als musikalischer Herausforderer betrachtet worden sein, der
hingegen mit „Spem in alium“ von Tallis künstlerisch besiegt wurde und somit die nationale Ehre
Englands wieder hergestellt war. In der Folgezeit wurde die Motette mit einem neuen englischen Text
versehen und somit noch populärer gemacht. Diese Neuversion brachte man bei wichtigen höfischen
Anlässen zur Aufführung, so bei der Amtseinführung des Sohnes von König James I., Henry, Prince of
Wales, am 4. Juni 1610 und erneut sechs Jahre später vor seinem jüngeren Bruder, dem späteren König
Charles I.. Der englische Text, nun auf die Glorifizierung des Regenten abzielend, lautete:
„Sing and glorify heaven´s high Majesty / Author of this blessed harmony / Sound divine praises / With
melodious graces / This is the day, holy day, happy day / For ever give it greeting / Love and joy, heart
and voice meeting: Live Henry [Charles] princely and mighty / Harry Iive [Charles Iive long] in thy
creation happy.”
Eine frühe Partitur des Werks - leider nicht das Original, welches als verschollen gilt - beherbergt die
Bodleian Library in Oxford und kann dort betrachtet werden.
Aufgabe: Lies den Text zum Entstehungshintergrund der Motette von Thomas Tallis und markiere
wichtige Informationen. Trage deine Ergebnisse auf dem Ergebnisblatt ein und teile sie deiner Gruppe
mit. Beziehe in deine Erläuterungen auch das Bildmaterial mit ein.
3
Bildmaterial zu Text 4:
Königin Elizabeth I.
(Quelle: http://www.marileecody.com/gloriana/elizabetharmada2.jpg)
Alessandro Striggio der Ältere
(Quelle: http://www.jesuites.com/histoire/images/laynez2.jpg)
Das Banqueting House von Nonsuch Palace, Englands größtem Renaissance-Palast der damaligen Zeit,
den König Henry VIII. erbaute
(Quelle: http://www.epsomandewellhistoryexplorer.org.uk/images/NonsuchPalaceByJorisHoefnagel.jpg)
2
M2a
Vom Klang zur Form
Aufgabe 1: Umkreise im ersten Hörausschnitt der Motette „Spem in alium nunquam habui“ von Thomas
Tallis die Adjektive, welche auf die Klangwirkung der Motette zutreffen. Wähle außerdem ein zur Musik
stimmiges Bild aus und begründe deine Entscheidung. Vergleicht danach eure Ergebnisse in der Klasse.
schwebend – aggressiv - fließend – hart – weich – endlos – träumerisch – spirituell - mystisch
geheimnisvoll – leicht – mächtig – prunkvoll – ausdruckslos – würdevoll – eintönig - majestätisch
meditativ – kräftig – sanft – beruhigend – aufwühlend – hektisch – raumgreifend – verhalten
ausdrucksstark – gleichförmig – ausgewogen – leicht – packend – ermüdend – heiter – bedrückend
feierlich – schwermütig – mitreißend – andächtig – überschwänglich – ohrenbetäubend – grell
zaghaft
–
–
–
–
–
Hinweis: Alle Fotos sind freie kostenlose Bilder (Download unter: www.pixabay.com).
2
M2b
Vom Klang zur Form
Aufgabe 2 (Partnerarbeit): Spekuliert im zweiten Hörausschnitt über die Anzahl der Stimmen, ihre räumliche Gruppierung und die verschiedenen
Stimmlagen. Konzentriert euch ebenso auf die satztechnische Gestaltung, d.h. wann die Stimmen einsetzen und wie sie miteinander interagieren.
Unsere Hörspekulationen
Die Fakten bei Tallis
Aufgabe 3 (Gruppenarbeit, 3-5 Personen): Der insgesamt dreiteilige Aufbau der Motette ergibt sich aus den verwendeten musikalischen Motiven (sog.
„Soggetti“), der satztechnischen Gestaltung und dem Textinhalt. Erschließt euch nun im Hördurchlauf den Verlauf der Motette, indem ihr 7
„Verlaufskärtchen“ in der richtigen Reihenfolge aneinanderlegt (Achtung: Ein Kärtchen bleibt übrig !).
„Tutti“ = alle 40 Stimmen singen gleichzeitig. „Imitatorisch“ = Stimmen folgen aufeinander und ahmen sich in Melodie und Rhythmik nach.
Abschnitt
Verlauf
Text
1-39
40-45
Spem in alium nunquam
Praeter in te,
habui /Praeter in te, Deus
Deus Israel:
Israel
Ich habe niemals meine Hoffnung in irgendeinen
anderen als dich gelegt, Gott Israels,
ANFANGSTEIL (bis Takt 76)
46-69
69-76
Qui irasceris et
propitius eris,
et omnia peccata
hominum
der du zornig sein
und doch wieder
gnädig werden wirst,
und der du all die
Sünden des
leidenden Menschen
77-108
in tribulatione dimittis.
Domine Deus, Creator
caeli et terrae,
vergibst. Gott, unser
Herr, Schöpfer des
Himmels und der Erde,
MITTELTEIL
108-121
respice
humilitatem
nostram,
sieh an unsere
Niedrigkeit,
122-138
respice
humilitatem
nostram.
sieh
an
Niedrigkeit.
unsere
SCHLUSSTEIL
2
Aufgabe 4: Vergleicht die graphische Darstellung der Motette mit euren Hörerkenntnissen der Stunde (https://www.youtube.com/watch?v=Z3FJxDsa-5k).
M2a + M2b
Vom Klang zur Form (Lösungsblätter)
Zu Aufgabe 1: Zur Musik passende Adjektive sind:
schwebend - fließend – weich – endlos – träumerisch – spirituell - mystisch – geheimnisvoll – leicht – mächtig – prunkvoll – würdevoll – majestätisch –
meditativ – kräftig – sanft – beruhigend – raumgreifend – ausdrucksstark – gleichförmig – ausgewogen – leicht – packend – heiter – feierlich –
mitreißend – andächtig – überschwänglich – ohrenbetäubend – grell.
Die Begriffe „eintönig“, „ermüdend“ und „aufwühlend“ sind subjektiv und können daher ebenso zutreffen. Hinsichtlich der Bilderauswahl sind mit
Ausnahme der Abbildung des Boxszene und der Raketen sechs Bilder möglich. Die Auswahl sollte jeweils persönlich begründet werden.
Zu Aufgabe 2:
Stimmenanzahl:
Räumliche Gruppierung
der Stimmen:
Die Fakten bei Tallis
40, jeweils fünf Stimmen werden zu einer Chorgruppe zusammengefasst, sodass sich acht Chorgruppen ergeben
Tallis hatte ursprünglich eine Gruppierung der acht Chorgruppen im Halbkreis oder Kreis vorgesehen; ebenso ist von einer
Aufführung in Nonsuch Palace die Rede, bei der eine Unterteilung in 2 x 4 Chorgruppen auf zwei verschiedenen Ebenen
vorgenommen wurde (vier Chöre waren auf vier Balkonen platziert, vier im Erdgeschoss).
Stimmlagen:
Sopran, Alt, Tenor, Bass 1, Bass 2
Satztechnische Gestaltung: Imitatorische Einsätze, Hinzunahme von Stimmen, Tutti-Abschnitte, dialogische Wechsel zwischen Chorgruppen
Zu Aufgabe 3:
Taktabschnitt
1-39
Vorherrschende Allmähliche
Zunahme von
Satztechnik
40-45
Spem in alium
nunquam habui/
Praeter in te,
Deus Israel
ANFANGSTEIL
69-76
Tutti
Allmähliche
Zunahme von
Chorstimmen,
imitatorisch
Tutti
Praeter in te,
Deus Israel:
Qui irasceris et
propitius eris,
et omnia
peccata
hominum
Chorstimmen
(zweiteilig),
imitatorisch
Textpassage
46-69
77-108
Schneller
dialogischer
Wechselgesang
von
Chorgruppen
(„Antiphonie“)
in tribulatione
dimittis. Domine
Deus, Creator
caeli et terrae,
MITTELTEIL
108-121
122-138
Kurzes Tutti,
Mächtiges
anschließend
Schlusstutti
imitatorische
Einsätze in enger
Folge
respice
humilitatem
nostram,
respice
humilitatem
nostram.
SCHLUSSTEIL
3
Das Kärtchen „Mächtiges Anfangstutti“ bleibt übrig.
Zu Aufgabe 4: Die SuS wiederholen entlang der youtube-Darstellung Merkmale zum Klang, zum Melodieverlauf der Stimmen und zur Satztechnik.
4
M2c
Vom Klang zur Form
Kopiervorlage Verlaufskärtchen
TUTTI
TUTTI
MÄCHTIGES
SCHLUSSTUTTI
MÄCHTIGES
ANFANGSTUTTI
ALLMÄHLICHE
ZUNAHME VON
CHORSTIMMEN
(zweiteilig),
IMITATORISCH
SCHNELLER
DIALOGISCHER
WECHSELGESANG
VON CHORGRUPPEN
(„Antiphonie“)
ALLMÄHLICHE
ZUNAHME VON
CHORSTIMMEN,
IMITATORISCH
KURZES TUTTI,
ANSCHLIESSEND
IMITATORISCHE
EINSÄTZE IN
ENGER FOLGE
2
M3
Die Motette und ihre soggetti (Analyse Teil 1)
Aufgabe 1: Studiert gemeinsam den Tallis-Kanon „All praise to thee“ ein. Sprecht nach dem Musizieren
über dessen Klangwirkung und inhaltliche Aussage.
Notenlink: http://javanese.imslp.info/files/imglnks/usimg/1/1e/IMSLP233806-WIMA.14da-canons.pdf
Aufgabe 2: Singt das erste Soggetto ( = charakteristische Tonfolge) der Motette „Spem in alium
nunquam habui“ („Ich habe niemals meine Hoffnung in irgendeinen anderen [als dich] gelegt, [Gott
Israels…]“ / Chor I, Altstimme, Takt 1-4). Beschreibt die Klangwirkung und analysiert den melodischen
und rhythmischen Verlauf.
Vergleicht das Soggetto mit dem Tallis-Kanon. Sucht nach Merkmalen, die für Tallis´ Stil typisch sind.
Aufgabe 3: Singt nun das zweite Soggetto „Praeter in te, Deus Israel“ (zu deutsch: „als in dich, Gott
Israels“ / Chor V, Sopran, Takt 23 – 27, s.u.). Analysiert den melodischen und rhythmischen Verlauf und
bezieht auch die anderen Stimmen mit ein. Stellt musikalische Bezüge her zum ersten Soggetto.
Vgl. Markus Roth: Organisationsformen vielstimmiger Polyphonie. Thomas Tallis´ Motette Spem in alium nunquam habui. In: Musik &
Ästhetik 2 (1998), H.7, Anhang, Beispiel 2: Variationen des „Praeter in te“-Soggettos.
Das dritte Soggetto, das Tallis in seiner Motette verwendet, tritt gegen Ende der Motette im Sopran des
Chors VI auf. Es ist drei Takte lang, trägt den Text „humilitatem nostram“ („unsere Niedrigkeit“) und
geht wie das zweite Soggetto aus dem ersten Soggetto hervor.
Aufgabe 4 (Gruppenarbeit): Komponiert ein dreitaktiges Soggetto für Sopran im Stile von Thomas Tallis,
welches mit dem ersten Soggetto verwandt ist. Nehmt ein Orffinstrument oder das Klavier zu Hilfe.
Präsentiert eure Kompositionen und vergleicht sie mit dem Original (Sopran, Chor VI, Takt 110 - 112).
2
Aufgabe 5 (optional): Musiziert den Orff-Instrumentalsatz oder den vereinfachten Akkordsatz zum
Beginn der Motette. Genießt den Klang und dessen Wirkung auf euch.
3
M3
Die Motette und ihre soggetti (Lösungsblatt)
Zu Aufgabe 1: Die Klangwirkung des Tallis-Kanons könnte von den SuS mit Adjektiven wie „prächtig“,
„erhaben“, „würdevoll“, „fließend“ beschrieben werden. Die inhaltliche Aussage dreht sich um ein GuteNacht-Gebet des gläubigen Christen, der Gott um Schutz und Segen bittet.
Zu Aufgabe 2: Die Schüleräußerungen zur Klangwirkung des ersten Soggettos können ähnlich ausfallen
wie die zum Tallis-Kanon. Der melodische Verlauf erfolgt in Tonwiederholungen, einem Quartsprung
abwärts und zwei Terzsprüngen aufwärts, welche anschließend in einer fallenden Sekundbewegung
ausgeglichen werden. Die Notenwerte sind überwiegend Halbe und (punktierte) Ganze und strahlen
Ruhe aus. Dieselben musikalischen Merkmale sind auch im Tallis-Kanon festzustellen (Tonrepetitionen,
Sekundbewegungen, Sprünge und deren sofortiger Ausgleich in Gegenbewegung)
Zu Aufgabe 3: Das zweite Soggetto „Praeter in te“ ist eine Variante des ersten, was vor allem durch die
Tonrepetitionen zu Beginn, vereinzelte Sprünge und die abwärtsgerichtete, teils melismatische
Sekundbewegung gegen Ende augenfällig wird. Auch die Rhythmik in Halben wird beibehalten.
Unterschiede sind der Wegfall des langen Tons am Anfang, die fallende Terz und die steigende Quart
(statt steigend und fallend) und der punktierte Rhythmus am Ende.
Bezüglich der anderen Stimmen sollen von den SuS die leichten Abweichungen in Melodik und Rhythmik
benannt werden. Das Wort „Israel“ wird dabei ausschließlich syllabisch behandelt, teils auch ohne
Punktierung.
Zu Aufgabe 4: In der Präsentation sollen individuelle Schülerlösungen vorgestellt werden. Eine
Reflexionsphase im Anschluss daran ist sinnvoll, bei der die Schülerlösungen mit dem Original verglichen
werden, um zu beurteilen, wer Tallis am nächsten kam.
Zu Aufgabe 5: Beide Spielsätze, der schwere und der leichtere, bieten sich für Orff-Instrumente und
Klavier, aber auch mitgebrachte Melodieinstrumente an. Die mehrmalige Wiederholung des Abschnitts
kann bei den SuS ein Flow-Erlebnis auslösen, welches durch die Harmoniefolgen und die ruhige
Rhythmik entsteht. Wer das Thema Tonalität noch aufgreifen möchte, kann hier auf den Finalis g, den
mixolydischen Modus und die vielen Durdreiklänge zu sprechen kommen.
2
M4
Wie arrangiert man 40 Stimmen ? (Analyse Teil 2)
Aufgabe 1: Singt den Tallis-Kanon „All praise to thee“ (Alternative: vierstimmiger Chorsatz) und das
erste Soggetto der Tallis-Motette von letzter Stunde. Rekapituliert Merkmale der Melodiegestaltung bei
Tallis. Notenlink vierstimmiger Satz: http://openhymnal.org/Gif/All_Praise_To_Thee_My_God_This_Night-Tallis_Canon.gif
Aufgabe 2 (Gruppenarbeit): Untersucht in euren Gruppen die satztechnischen Mittel von drei
unterschiedlichen Abschnitten der Tallis-Motette „Spem in alium nunquam habui“. Wendet dabei die
Begriffe „Polyphonie“, „Imitation“ und „Homophonie“ an nach der unten abgebildeten Definition.
Markiert zentrale soggetti / Melodieverläufe (= horizontale Ebene) und Zusammenklänge (= vertikale
Ebene) auf der Overhead-Folie farbig zum besseren Verständnis. Bestimmt zwei Gruppenvertreter, die
eure Ergebnisse im Plenum präsentieren.
Notenlink: www.imslp.nl/imglnks/usimg/c/c2/IMSLP29772-PMLP66937-speminalium.pdf
Gruppe
Taktabschnitt
1
45 – 65 („qui irasceris et propitius
eris“ = „der du zornig sein und
doch wieder gnädig werden
wirst“)
2
87 – 108 („Domine Deus, Creator
caeli et terrae“ = „Gott, unser
Herr, Schöpfer des Himmels und
der Erde“)
3
122 – Schluss („respice
humilitatem nostram“ = „sieh an
unsere Niedrigkeit“)
Satztechnische Mittel
„Polyphonie“ (↔ „Homophonie“): Innerhalb der Gattung Motette entwickelt sich das
Kompositionsprinzip der Polyphonie [griech.: polyphonía „Vielstimmigkeit“]. Darunter versteht man
eine mehrstimmige Kompositionsweise, die im Gegensatz zur Homophonie, bei der die Stimmen
rhythmisch gleich sind und in der horizontalen Betrachtung gemeinsam einen Akkord bilden, durch
weitgehende Selbstständigkeit und den linearen Verlauf der Stimmen gekennzeichnet ist. Die
melodische Eigenständigkeit der Stimmen (selbstständige Melodie, eigene Rhythmusbildung) ist dabei
vorrangig. Eine polyphone Kompositionstechnik ist die Imitation, die Nachahmung eines Motivs in einer
anderen Stimme.
Quelle: http://universal_lexikon.deacademic.com/111950/Polyphonie
Aufgabe 3: Übertragt im Klassenchor nun die satztechnischen Gestaltungsmöglichkeiten der Motette
auf den Kanon. Bezieht auch neue Ideen mit ein, von denen Tallis keinen Gebrauch gemacht hat.
Aufgabe 4: Die Stunde endet mit einem „Gloria“ von Giovanni Gabrieli, einem Zeitgenossen von
Thomas Tallis und wichtigen Repräsentanten der Venezianischen Mehrchörigkeit. Hört und genießt !
(CD-Titel: „Musik für San Marco in Venedig“, Balthasar-Neumann-Chor & -Ensemble, Thomas Hengelbrock, DHM, Bestellnr.
9715274)
2
M4
Wie arrangiert man 40 Stimmen ? (Lösungsblatt)
Zu Aufgabe 1: Vergleiche mit den Lösungen aus Aufgabe 2 von Stunde 3.
Zu Aufgabe 2:
Gruppe
1
Taktabschnitt
45 – 65 („qui irasceris et propitius
eris“ = „der du zornig sein und
doch wieder gnädig werden
wirst“)
Satztechnische Mittel
-
-
2
87 – 108 („Domine Deus, Creator
caeli et terrae“ = „Gott, unser
Herr, Schöpfer des Himmels und
der Erde“)
-
-
3
122 – Schluss („respice
humilitatem nostram“ = „sieh an
unsere Niedrigkeit“)
-
-
-
Stets zehn- bis fünfzehnstimmiger Satz
„Qui irasceris“-Motiv, welches von den Bässen in
Chor VIII ausgeht und sich sukzessive auf die
Chöre VII bis III überträgt
Imitation und Engführung
Stimmen werden ein- und wieder ausgeblendet
Homophoner Schluss (G-Dur) am Ende der
Textpassage (Takt 65, Zählzeit 1)
Schneller homophoner Wechselgesang zwischen
den Chorgruppen, Echowirkung
Rhythmisch markante Motive, z.B. „Domine
Deus“ oder „Creator“
Eintaktige oder halbtaktige Wechsel der
Chorrufe
Unterschiedliche Kombinationen: vier Gruppen
mit jeweils 2 Chören oder zwei Gruppen mit
jeweils 4 Chören singen sich gegenseitig zu
Choreinsätze sind eng miteinander verzahnt und
überlappen sich
Takt 122: homophoner „respice“- Ausruf im Tutti
(mit punktierter Ganzen und gedehnter Endsilbe
„-ce“, in G-Dur)
„humilitatem nostram“ - Motiv entfaltet sich in
Imitation
zunächst mehrere Pausentakte ein einzelnen
Stimmen, dann immer dichter werdendes
Klanggewebe mit vielen kurzen Motiven
Bewegung kommt im gemeinsamen
Schlussakkord (G-Dur) schließlich zum Stehen,
was durch Liegetöne in den Bässen ab Takt 135
vorbereitet wird.
Zu Aufgabe 3: Individuelle Lösungen sind möglich, z.B. kürzere oder längere Wechsel einzelner
Chorgruppen, Ein- und Ausblenden von Einzelstimmen, einstimmiger Gesang, Imitation, Frauen- gegen
Männerstimmen, Sopran gegen Tutti etc.. Auch unterschiedliche Positionierungen der Chorgruppen
können ausgetestet werden, evt. auf verschiedenen Raumebenen.
Zu Aufgabe 4: Das „Gloria“ von G. Gabrieli bietet sich an aufgrund seiner klaren antiphonalen Anlage im
Stile der Venezianischen Mehrchörigkeit.
2
M5
Tallis im modernen Sound: Ein Vergleich aktueller Motettenversionen
Die Motette „Spem in alium nunquam habui“ von Thomas Tallis übt bis heute für Profichöre, Ensembles und Solisten einen besonderen Reiz aus und stellt
für sie eine musikalische Herausforderung dar. Auch wagen sich Komponisten gerade in jüngster Zeit an Neuinterpretationen. Es existieren inzwischen
viele unterschiedliche Einspielungen vokaler und instrumentaler Art, welche entweder das Original pflegen oder von elektronischen Sound- und
Aufnahmemöglichkeiten, beispielsweise dem Multitrackverfahren*, Gebrauch machen. Eine meditative Version wurde mit dem Filmsoundtrack des
Kinohits „Fifty shades of grey“ in Verbindung gebracht.
*Eine kompakte Erklärung des Verfahrens findest du auf: www.youtube.com/watch?v=2SrsG38wgek
Aufgabe 1: Du siehst / hörst eine denkwürdige Aufführung der Tallis-Motette in der Bridgewater Hall in Manchester aus dem Jahre 2006, eine BBCProduktion, für die mehr als 700 Sänger zusammen kamen. Besprecht im Plenum, wie der Live-Chorklang auf den Hörer wirkt.
www.youtube.com/watch?v=P2rK_Yhpui8
Aufgabe 2 (Gruppenarbeit): Hört und seht nun nacheinander drei weitere youtube-Aufnahmen der Motette, welche alle elektronisch bearbeitet sind
(Dauer jedes Videoausschnitts: 5 Minuten). Beantwortet parallel zum Video zunächst einzeln die Tabelle und vergleicht dann erst eure Ergebnisse. Einigt
euch – wenn möglich – in der Gruppe auf eine Version, die von der Mehrheit favorisiert wird.
Ort der Aufnahme;
soundtechnisches Der Klang wirkt Die Version gefällt Begründung
VERSION
Interpret(en),
Verfahren /
auf mich…
mir /gefällt mir
meines
beteiligte Instrumente;
elektroakustische
nicht / lässt
Geschmackstechnisches Equipment
Effekte
mich kalt ??
urteils
King´s Singers (2006)
www.youtube.com/watch?v=XJDLQZWKWe8
Thomas Hewitt Jones: Spem Fantasia (2008)
www.youtube.com/watch?v=g_z7aIRJCPg
„Fifty shades of Grey“- Version (2012)
www.youtube.com/watch?v=wJIbYtBTWOQ
UNSER GRUPPENFAVORIT
2
Aufgabe 3 (Plenumsdiskussion): Gefällt euch eine elektronisch „unbehandelte“ oder „behandelte“ Version besser ? Gehört die Tallis-Motette eurer
Meinung nach in die Kirche, in den Konzertsaal oder als Soundtrack in einen Film ? Oder nirgendwohin ?
3
M5
Tallis im modernen Sound: Ein Vergleich aktueller Motettenversionen (Lösungsblatt)
Zu Aufgabe 2b:
VERSION
King´s Singers (2006)
www.youtube.com/watch?v=XJDLQZWKWe8
Thomas Hewitt Jones: Spem Fantasia (2008)
www.youtube.com/watch?v=g_z7aIRJCPg
„Fifty shades of Grey“- Version (2012)
www.youtube.com/watch?v=wJIbYtBTWOQ
Unser Gruppenfavorit
Ort der Aufnahme;
Interpret(en) /
beteiligte Instrumente;
technisches Equipment
soundtechnisches
Verfahren /
elektroakustische
Effekte
Tonstudio;
a-cappella-Vokalsextett
(nur Männer, allerdings
mit Countertenören);
Mikrophone und
Aufnahmeequipment
Kirche; Solocellist;
4 Lautsprecherboxen,
Cello unverstärkt
Multitrackaufnahme:
40 Stimmen werden
von den 6 Sängern
eingesungen,
aufgenommen
und
übereinandergelegt
Zuschaltung
von
elektroakustischen
Sounds
zur
live
gespielten
TallisFantasie auf dem
Cello
Mischung
von
synthetischen
und
natürlichen Klängen;
Halleffekte, fließende
Übergänge
Tonstudio; Knabenchöre,
Synthesizer (z.B.
künstliche Chorstimmen,
Orgelsound);
Mikrophone und
Aufnahmeequipment
Die
Klangwirkung
auf mich
Die Version
gefällt mir  /
gefällt mir nicht
/ lässt mich
kalt ??
Begründung
meines
Geschmacksurteils
Individuelle Lösungen sind möglich.
Individuelle Gruppenlösungen sind möglich.
2
M6
György Ligetis „Lux aeterna“ (1966) – Vokalpolyphonie heute
Das a-cappella-Chorwerk „Lux aeterna“ des rumänischen Komponisten György Ligeti (1923-2006) hat in
der modernen Musik ähnlich starke Wirkung erzeugt wie die Renaissance-Motette „Spem in alium
nunquam habui“ von Thomas Tallis. Als Auftragswerk der Schola Cantorum Stuttgart im Jahre 1966
entstanden, interessierte Ligeti die in Musik umgesetzte Idee des ewigen Lichts, des „Lux aeterna“, das
den Toten nach ihrer Auferstehung scheint. Der lateinische Text entstammt dem „Communio“-Teil der
Totenmesse.
Aufgabe 1: Singt gemeinsam in der Klasse die Kanonmelodie, die Ligetis „Lux aeterna“ zugrunde liegt.
Beschreibt anschließend den Melodieverlauf.
www.orfeonellarete.it/rubriche/articoli.php/idart=00066
Aufgabe 2: Beim nun folgenden ca. 5-minütigen Hörausschnitt des Werkes kannst du zwischen zwei
künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten auswählen: einer Zeichnung - gegenständlich oder abstrakt oder dem Verfassen einer kurzen Geschichte (Alternative: eines inneren Monologs).
Suche anschließend drei Personen, mit denen du dich gegenseitig austauschen willst.
2
M6
György Ligetis „Lux aeterna“ (1966) – Vokalpolyphonie heute
György Ligetis Kompositionsstil zeichnet sich durch dicht ineinander verwobene Stimmgeflechte aus, die
durch feinste melodische und rhythmische Bewegungen im Inneren („Mikropolyphonie“) äußerlich zu
schwebenden Klangflächen, sog. Clustern, verschmelzen.
Notenlink (kostenpflichtiger Download): https://de.scribd.com/doc/55570841/Ligeti-Lux-Aeterna-Full-Score
Aufgabe 3a: Du hörst noch einmal den Beginn des Werkes. Lies den Notentext mit und wende dort die
neuen Begriffe „Mikropolyphonie“ und „Cluster“ an.
Aufgabe 3b: Versucht in der Klasse gemeinsam die ersten Takte zu singen, möglichst zu acht Stimmen.
Eine freiwillige Person dirigiert den 4/4-Takt. Was macht das polyphone Clustersingen in „Lux aeterna“
zu einer echten Herausforderung ?
Aufgabe 4 (Partnerarbeit): Vergleicht im unten abgebildeten „Venn Diagram“ die Kompositionen von
Tallis und Ligeti (sie liegen ca. 400 Jahre auseinander !). Ordnet die folgenden Parameter dem jeweils
zutreffenden Feld zu und stellt in eurem Fazit fest, ob sich die beiden Werke musikalisch nahe oder eher
fern sind.
Besetzung, Textvorlage (geistlich oder weltlich ?), Textbehandlung, Dynamik, Melodik, Rhythmik,
Tonalität, Satztechniken, Klangwirkung
www.classical.net/music/images/composer/l/ligeti.jpg
www.naxos.com/SharedFiles/Images/Composers/Pictures/23862-1.jpg
http://www.math-aids.com/images/Venn-Diagram-Graphic.png
UNSER FAZIT:
3
M6
György Ligetis „Lux aeterna“ (1966) – Vokalpolyphonie heute (Lösungsblatt)
Zu Aufgabe 1: s. Lösungstabelle (→Melodik)
Zu Aufgabe 3a: Durch die sehr dichte imitarorische Setzweise des „Lux aeterna“-Chorals in den acht
Frauenstimmen, die rhythmische Komplexität jeder Einzelstimme und die entstehenden
Sekundreibungen im mittleren Tonlagenbereich (es´-as´) werden in sich wabernde Cluster gebildet.
Zu Aufgabe 3b: Die sehr komplexe Rhythmik (Triolen, Quintolen, Pausen, Überbindungen), das
Verschwimmen des Taktschwerpunkts und viele Dissonanzen stellen extrem hohe Anforderungen an
den Chorsänger.
Zu Aufgabe 4:
G. Ligeti: Lux aeterna
T. Tallis: Spem in alium nunquam habui
BESETZUNG
16-stimmiger gemischter Chor a-cappella, getrennt nach Stimmlagen /
40-stimmiger gemischter Chor a-cappella, in jeweils gemischter Formation
GEISTLICHER TEXT
über das Strahlen des ewigen Lichts (aus der „Communio“ der Totenmesse) /
Gebet der Judith aus dem AT, Bitte um Sündenvergebung
TEXTBEHANDLUNG
Syllabische und melismatische Silbenverteilung, teils Dehnung von Vokalen
MELODIK
Überwiegend Sekundfortschreitungen / wellenhaft, Tonrepetitionen, Ausgleich
von Sprüngen in Gegenbewegung, zentraler Bezugston (f bzw. g)
SATZTECHNIKEN
Polyphonie, Hinzu- und Wegnahme von Stimmen,
homophone Teile an wichtigen Textstellen
KLANGWIRKUNG
Fließend, nie enden wollend, meditativ, ausdrucksstark, suggestiv
DYNAMIK
pp-ppp
p-fff
MELODIK
auch Chromatik als bewusstes Keine Chromatik in den soggetti
Stilmittel im Kanon
RHYTHMIK
Sehr komplex, unterschiedliche Ausgewogene Rhythmik überwiegend in
Notenwerte von lang bis kurz, auch Halben und Ganzen, eher kürzere
Triolen, Quintolen, Überbindungen; Notenwerte in den polyphonen
viele Pausen; 7 Pausetakte am (Tutti-)Abschnitten
Schluss
TONALITÄT
Atonal, Cluster, Dissonanzen
Modal, viele Durdreiklänge (G-Dur !)
SATZTECHNIKEN
Mikropolyphoner Kanon
antiphonale
Wechsel
zwischen
Chorgruppen
KLANGWIRKUNG
Zurückhaltend,
flimmernd, Strahlend, teils bombastisch und groß
wabernd, beißend, grell
Im Fazit sollte herausgearbeitet werden, dass die beiden Werke überraschend viele Gemeinsamkeiten
haben, auch wenn sie anders klingen. Der permanente Fluss der Stimmen und die Verwendung der
Polyphonie sind wohl die wichtigsten Gemeinsamkeiten. Beides sind geistliche a-cappella-Chorwerke, in
denen um Gottes Schutz bzw. Barmherzigkeit gebeten wird.
Die Vokalpolyphonie der Renaissance wirkt also gewissermaßen noch in der Neuen Musik nach und hat
zeitlosen Charakter.
4
5. Literaturverzeichnis
Brett, Philip (Hrsg.): Spem in alium nunqaum habui. Motet in forty parts by Thomas Tallis. Oxford
University Press, London 1966. Vorwort.
Prinz, Ulrich / Scheytt, Albrecht (Hrsg.): Musik um uns. Sekundarbereich II. Schroedel, Hannover 1996, S.
212-213.
Richter, Elisabeth: Spem in alium. In: Hans Gebhard (Hrsg.): Harenberg Chormusikführer. Harenberg,
Dortmund 1999, S. 871-872.
Roth, Markus: Organisationsformen vielstimmiger Polyphonie. Thomas Tallis´ Motette Spem in alium
nunquam habui. In: Musik & Ästhetik 2 (1998), H.7, S. 5-20.
Sauter, Markus / Weber, Klaus (Hrsg.): Musik um uns. Sekundarbereich II. Schroedel, Braunschweig,
2008, S. 34-35.
Links zu Artikeln:
www.omm.de/veranstaltungen/festspiele2016/RUHR-2016-spem-in-alium.html
www.medieval.org/emfaq/composers/tallis.html
www.scotsman.com/lifestyle/classical-review-a-web-of-support-1-1151204
www.thefamouspeople.com/profiles/thomas-tallis-408.php
Noten:
Brett, Philip (Hrsg.): Spem in alium nunqaum habui. Motet in forty parts by Thomas Tallis. Oxford
University Press, London 1966.
www.imslp.nl/imglnks/usimg/c/c2/IMSLP29772-PMLP66937-speminalium.pdf
www.imslp.nl/imglnks/usimg/3/31/IMSLP30206-PMLP66937-Tallis_Spem_in_alium_piano_PML.pdf
(Klaviersatz)
Namhafte Einspielungen: S. Punkt 3.
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