Presseinformation

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Stadt Lohr a.Main – Pressestelle, Schlossplatz 3, 97816 Lohr a.Main
Tel. 09352/848-214, E-Mail:[email protected]
Ansprache von Krystyna Kuhn zur Aufstellung der Schneewittchen-Skulptur in
Lohr a.Main am 26. Oktober 2016
Es gilt das gesprochene Wort.
Lieber Herr Wittstadt, sehr geehrter Herr Bürgermeister, liebe Anwesende –, ich
begrüße Sie alle sehr herzlich.
Die Bronzefigur steht jetzt gerade mal ein paar Minuten, aber sie ist schon lange
eine Erfolgsgeschichte. Und das verdanken wir dem 1. Kunstpreis der Stadt Lohr
und Ihnen, Herr Wittstadt. Ja, die Figur hat Geschichte geschrieben und damit
meine ich nicht nur die Leserbriefe, die Presseartikel, die Beiträge im Fernsehen,
die Kommentare in den sozialen Netzwerken. Nein, sie hat Kunstgeschichte
geschrieben. Denn noch bevor sie stand, wurde sie bereits kopiert. Das
Horrorwittchen von Valenin Lude, das Coolwittchen von Sergey Bakir.
Herr Wittstadt – Chapeau!
Es war einmal ...
So beginnen Märchen.
Es war also einmal das Schneewittchen, das von der Schönsten im ganzen Land
zur Hässlichsten von Lohr am Main wurde. Und ganz ehrlich, auch wenn
Schönheit im Auge des Betrachters liegt, auch wenn hoffentlich Zehntausende
von Touristen von der Autobahn abzweigen, um Peter Wittstadts Werk zu
bewundern, sich zu amüsieren oder in Entsetzen auszubrechen, als ich das
Modell von Schneewittchen zum ersten Mal sah, dachte ich nur: „O ... my god!“
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Nun scheint es keine große „Kunst“ zu sein, der Schönheit einfach Hässlichkeit
entgegenzusetzen. Das machen doch Künstler so, oder? Sie lieben die
Provokation und damit verdienen sie auch noch Geld. Nur so einfach haben Sie,
Herr Wittstadt, es sich nicht gemacht.
Wenn man sich mit ihrem Werk beschäftigt, springen einem zwei Dinge ins Auge:
Sie arbeiten mit und aus der Perspektive von Kindern - und Sie lieben die
Spannung, den Bruch zwischen der gegenständlichen Darstellung und einer
abstrakten Idee.
Märchen verkörpern alle drei Aspekte: Sie sind für Kinder geschrieben, erzählen
eine konkrete Geschichte, doch hinter dieser versteckt sich immer auch eine
komplexe mythologische und tiefenpsychologische Bedeutung.
„Schneewittchen“ in unserem Fall ist nicht nur der Name der Hauptfigur, sondern
gleichzeitig der Titel der Geschichte. Und ebenso ist diese Figur nicht einfach nur
eine plastische Darstellung der Heldin Schneewittchen, sondern kann auch als
Sinnbild für das gesamte Märchen verstanden werden.
Widmen wir uns dem oberen Bereich der Figur, so zeigen sich Züge einer naiven
Kinderzeichnung. Kinder ab drei Jahren malen genau solche Kopffüßler. Da
beginnen die Beine am Bauch, die Arme stehen rechts und links vom Körper ab,
dazu die gespreizten Finger, die hoffnungslos zu Berge stehenden Zöpfe. Und
den Mund ziert ein so breites Lächeln, dass es rechts und links aus dem Gesicht
zu fallen scheint.
Was sehen wir also? Ein Kind mit schiefem Grinsen, das die Arme
freudestrahlend ausbreitet, weil es sich einbildet, die Schönste in Lohr zu sein.
Was – wie wir wissen - gründlich misslingt - und bei diesem Gedanken steigt
zumindest in mir ein Lachen hoch. Vor allem, wenn ich an eine Begegnung vor
wenigen Wochen denke. Da kam mir ein Vater mit seiner Tochter am Parkhaus
entgegen, dort, wo der sprechende Spiegel hängt.
„Papa, der Spiegel kann sprechen“, flüsterte das Mädchen.
„Und – was hat er gesagt?“
Freudestrahlend entgegnete die Tochter: „Dass ich die Schönste bin.“
Schauen wir uns nun den unteren Bereich an, wo wir das Kleid mehr oder
weniger vermuten können. Stellen wir uns gleichzeitig vor, wie der Jäger
Schneewittchen in den Wald bringt, um es zu töten. Dann löst sich die Vorstellung
von einem Kleid auf und man kann sich an einen alten knorrigen Baumstamm
erinnert fühlen, wie sie im tiefen, düsteren Spessart stehen.
Ihre Gedanken sind frei.
Sie können meiner Betrachtung folgen, müssen aber nicht.
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Betrachten wir aber noch die in den Boden eingelassenen Reliefs. Auch sie
orientieren sich an Kinderzeichnungen und stellen bekannte, typische Szenen
dar: Der Prinz zu Pferd, der Sarg, der Zwergentisch. Übrigens - die Figur ist
knapp drei Meter hoch und wiegt eine halbe Tonne – darunter werden wir alle zu
den sieben Zwergen.
Wie gesagt, Sie können, aber Sie müssen meiner Interpretation nicht folgen. Was
Sie denken, bleibt Ihnen überlassen, aber in dieser Bronzeplastik versteckt sich
mehr, als Sie auf den ersten Blick sehen.
Kinder träumen, sagt diese Figur.
Wir sind nicht, wir wollen sein, sagt diese Figur.
Träume bergen Gefahren, sagt diese Figur. Und leben wir nicht in einer Welt, in
der Essstörungen zunehmen, Germanys Next Topmodell nach Zuschauerquoten
schielt, zum Abitur Schönheits-OP’s geschenkt werden. Darüber sind wir entsetzt,
aber noch entsetzter waren so viele über eine Figur, die genau das thematisiert.
Finden Sie jetzt die Figur immer noch hässlich?
Aber war nicht die Diskussion um die Figur hässlicher als die Figur je sein
könnte? Eine Diskussion, die oft die Grenzen des Geschmacks verließ und unter
die Gürtellinie ging. Da fehlte leider, leider der Respekt vor der Arbeit des
Künstlers und der Wille sich darauf einzulassen.
Ein wahrhaftiger Künstler schafft seine Werke nicht, um das Publikum zu
provozieren. Er schafft sie, weil eine Idee, ein Thema, die Leidenschaft und das
Material, das er bearbeitet, ihn dazu treibt. Das ist harte Arbeit.
Herr Wittstadt hat sich ca. ein Jahr mit diesem Werk beschäftigt. Mehrere Modelle
im Maßstab 1:10 angefertigt, 17 Reliefplatten geschaffen. So ein Werk ist ein
experimenteller Prozess, in den alles einfließt, was der Künstler erlebt, fühlt,
denkt, in der Auseinandersetzung mit der Welt manchmal eher begreift als wir.
Weil er auf seine Weise die Welt erspürt und die Lüge ihm in seinem Schaffen hoffentlich - fremd ist wie in einer Kinderzeichnung.
Aber, Herr Wittstadt, grämen Sie sich nicht. Der neben Freud wohl bekannteste
Psychologe Carl Gustav Jung diagnostizierte Schizophrenie bei Picasso und
bezeichnete moderne Kunst als «ausgesprochen scheußlich».
Was aber macht den Unterschied aus zwischen Kunst und Klischee, zwischen
Kunst und Kitsch? Wahre Kunst bewegt uns, beschäftigt uns, wühlt uns auf wie
diese Plastik. Sie ist nicht dazu da, unsere Sehnsüchte, unsere Wünsche, unsere
Vorstellungen von Schönheit zu befriedigen wie ein Märchen, sondern uns einen
sprechenden Spiegel vorzuhalten wie der bösen Stiefmutter. Wir alle wollen oft
genug die Schönste, die Beste, die Schnellste sein und wir alle scheitern oft
genug an unseren ehrgeizigen Träumen. Aber am Ende muss dieses Kind mit
dem schiefen Grinsen, das sich wünscht, die Schönste zu sein, das Leben
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meistern, trotz des Jägers, trotz der vergifteten Kämme und Rambouräpfel, trotz
der bösen Stiefmutter. Und so wie es selbstbewusst die Hände nach oben
gerissen hat, wird es dieses Lohrer Kind auch schaffen.
In diesem Sinn erscheint mir diese Figur langsam fast schon genial.
Weiterhin gab es eine Debatte darüber, wo das Schneewittchen aufgestellt
werden soll. Ich denke, der Platz vor der Stadthalle ist gut gewählt. Lohr kann nun
neben dem Industriestandort, neben seiner Zukunft als Gesundheitsstadt, nun
auch noch mit Kunst & Kultur punkten.
Und Lohr braucht Kultur, braucht Kunst, wenn wir eine lebendige, inspirierende
Stadt sein wollen, in der alle gerne leben, in die hoffentlich Zehntausende von
Touristen kommen und in der die Jugend sich zu Hause fühlt. Und die uns auch
zum Lachen bringt. Das Horrorwittchen von Valentin Lude bringt uns alle zum
Lachen. Peter Wittstadts Schneewittchen zumindest schon mal mich.
Und mal ehrlich ähnelt die Figur mit dem Kranz der abstehenden Zöpfe nicht
auch ein wenig der Freiheitsstatue? Von ganz weit weg?
Wo gibt es dann einen besseren Standort als hier auf diesem großen, freien Platz
vor der Stadthalle mit ihrem vielfältigen Programm: von Klinkertronic bis zu den
Schürzenjägern.
Ende gut, alles gut?
Ich hoffe.
Denn wenn sie nicht gestorben sind, dann sind die Gedanken und die Kunst frei.
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