LÄNDERBERICHT Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. MAROKKO DR. HELMUT REIFELD Oktober 2016 www.kas.de/marokko Migranten in Marokko ERFAHRUNGEN UND SELBSTVERSTÄNDNIS DER MIGRANTEN AUS SUBSAHARA-AFRIKA IN MAROKKO Seit Jahren lässt sich beobachten, dass sité Internationale de Rabat (UIR) eine um- die Zahl der Migranten, die Marokko nicht fassende Befragung unter den Migranten lediglich als Transitland, sondern dauer- durchgeführt, die sich zurzeit illegal in Ma- haft als einen möglichen neuen Lebens- rokko aufhalten. Das Ziel dieser empirischen raum betrachten, kontinuierlich wächst. Analyse war es, erstmals repräsentative, Was sind die zentralen Erfahrungen dieser belastbare Antworten auf die Fragen nach Menschen? Welche Konsequenzen haben den Erfahrungen und dem Wandel der Er- diese Erfahrungen auf ihre Einstellung zur wartungshaltungen dieser Menschen zu be- Migration? Und wie verändern sich in die- kommen. ii Zudem ging es der Forschungs- sem Zusammenhang ihre Zukunftspla- gruppe um die Charakteristiken dieser Mig- nungen? ration und die Haltungen der Migranten gegenüber Marokko. Doch sind die Ergebnisse Die Initiative des marokkanischen Königs nicht nur für Marokko interessant, sondern vom September 2013, einem Teil der sich auch für die vermeintlichen Zielländer auf seit längerem in Marokko aufhaltenden Mig- der Nordseite des Mittelmeeres. Durchge- ranten unter bestimmten Bedingungen Auf- führt wurden diese individuellen Befragun- enthaltsgenehmigungen und Arbeitserlaub- gen mit 1.453 Personen (jeweils zwischen nisse zu erteilen, erregte seinerzeit interna- minimal 30 und maximal 90 Minuten), kon- tionale Aufmerksamkeit. Die Umsetzung zentriert auf die Orte, die sich inzwischen dieser Initiative dominierte die öffentliche als die maßgeblichen Zentren der Ansied- Diskussion über Migration in Marokko in den lung für Migranten aus Subsahara-Afrika i Jahren 2014 und 2015. Sie prägte spontan herausgebildet haben: Tanger, Rabat, Salé die Hoffnungen vieler Migranten, eine neue und der Großraum Casablanca. Die Her- Stabilität in ihrem Leben zu finden; sie führ- kunftsländer waren primär Senegal, Mali, te aber auch zu einer breiteren Auseinan- Guinea und die Elfenbeinküste. Der Befra- dersetzung mit den Bedingungen und dem gung vorausgegangen waren spezifische Charakter von Migration überhaupt. Sie hat quantitative Erhebungen, die anschließend nicht nur unmittelbar das Selbstverständnis dazu dienten, die qualitative Befragung bes- und die Erwartungshaltungen dieser Men- ser einordnen zu können. schen nachhaltig verändert, sondern auch gezeigt, dass die Möglichkeit, neue Stabilität Mehr Wandel als Kontinuität im Leben zu finden, als eine der stärksten Triebkräfte im Selbstverständnis von Mig- Die maßgeblichen Inhalte der Befragungen, ranten angesehen werden kann. Doch hatte die sich fast über ein Jahr erstreckten, rich- sie auch Auswirkungen auf die Wahrneh- teten sich auf die Erfahrungen der bisheri- mung der übrigen Migranten, die noch im- gen Migration, auf die Qualität ihrer Le- mer einen eigenen Ort im Alltag der marok- bensbedingungen in Marokko (Handlungs- kanischen Gesellschaft suchen? möglichkeiten, Einkünfte, Begegnungen, Beschäftigungen, Gesundheit, Erziehung) Vor dem Hintergrund dieser Initiative wurde sowie auf die eigenen Bemühungen und 2016 von einer Forschergruppe der Univer- Bewertungen ihrer Migration. Diese verän- 2 Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. MAROKKO derte Haltung der Migranten gegenüber ih- munalverwaltungen hierauf eingestellt. Für rem aktuellen Aufenthaltsland, die sich in Migranten vollziehen sich in diesen Berei- der Bereitschaft zur Integration nieder- chen ihre primären Erfahrungen von neuer schlägt, hat vor allem drei Konsequenzen Stabilität. Sie leben damit nicht mehr aus- DR. HELMUT REIFELD zur Folge: schließlich in einem informellen Sektor, Oktober 2016 - sondern erfahren ihre neue Lebenswelt als sie werden erstens Teil des öffentlichen einen rechtlich strukturierten Raum, den sie Lebens und vor allem der Sozialpolitik mit der marokkanischen Bevölkerung teilen. ihrer neuen Umgebung; www.kas.de/marokko - sie treten zweitens ein in persönliche Marokko als Zielland Beziehungen zur dort lebenden Bevöl- kerung und Wie sich dieser neue Lebens- und Erfah- drittens ändert sich das gemeinsame rungsraum für diese Migranten gestaltet, Verständnis von Nationalität in diesem war eines der zentralen Themen der Inter- Lebensraum. views. Eines der wichtigsten Ergebnisse hierbei war die Erkenntnis, dass 67,64 % Vor allem die beiden ersten dieser drei Me- der Migranten aus Subsahara-Afrika nach chanismen wirken sich aus, sobald Migran- Marokko kommen, um hier zu bleiben. Nur ten entschlossen sind, sich an einem neuen 32,29 % nennen a priori Europa als ihr Ziel. Ort einzurichten. Dieses Bemühen um neue Von diesen wiederum wollen die meisten Stabilität impliziert noch keine Integration, nach Frankreich (28%) oder Spanien wohl aber deren Beginn. Sie bedeutet nicht, (23%); lediglich 18 % nennen Deutschland dass ursprüngliche Zielvorstellungen aufge- als ihr Zielland. Wesentlich interessanter ist geben sind, wohl aber dass sich die Bezie- jedoch das Ergebnis, dass nur 40% von de- hungen zu ihrem neuen sozialen Umfeld in- nen, die ursprünglich ein Zielland in Europa tensivieren. angestrebt hatten, hieran festhalten. Als Hauptmotive des Aufbruchs werden an ers- Aus einer beginnenden Stabilisierung dieser ter Stelle allgemein eine Verbesserung des Art können sich eine Reihe unterschiedlicher Lebensniveaus (64 %) genannt und an Konsequenzen ergeben. Eine der ersten ist zweiter die Möglichkeit eines Studiums in jedem Fall, dass diese Migranten in ein (18%). Umfeld informeller Beziehungen mit der dortigen Bevölkerung eintreten, insbesonde- Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Inter- re mit Lebensmittel- und Kleinwarenhänd- views besteht darin, dass zwei Drittel lern. Zudem werden sich vielfältige Bemü- (65,64 %) der Befragten angeben, dass sie hungen ergeben, Geld zu verdienen, sei es zufrieden, bzw. sogar „sehr zufrieden“ wä- informell (wie in Marokko noch vielfach üb- ren, wenn sie ihr Heimatland nie verlassen lich), sei es gegebenenfalls formell oder hätten. Fast die Hälfte (47 %) sagen, dass auch gemischt. Häufig kommt auch das Bet- sie nie aufgebrochen wären, hätten sie eine teln hinzu oder bildet gar die einzige Mög- klare Vorstellung gehabt von dem, was sie lichkeit des Überlebens. Vom Augenblick der erwartet. Als Folge hiervon reagieren sie auf Legalisierung an, ändert sich ihr Status al- ihre Situation in Marokko zwar mit großer lerdings erheblich. Ihre sozialen Beziehun- Unzufriedenheit, dies verleitet sie aber nicht gen bekommen einen verbindlicheren Cha- zu einer vorzeitigen Rückkehr in ihr Her- rakter. Sie sind nicht länger nur Teil eines kunftsland. Vielmehr hält eine Mehrheit von politischen Problems, sondern potentiell 55% an der Erwartung fest, dass sich ihre auch einer politischen Lösung. Situation in Marokko noch verbessern werde. Sie hoffen vor allem darauf, doch noch Die Integration von Ausländern bildet seit eine reguläre Arbeit zu finden, damit nicht langem eine reguläre Aufgabe marokkani- zu den Kosten, die sie bereits für ihre bishe- scher Kommunalpolitik. Insbesondere in den rige Migration aufgewendet haben, noch die Bereichen Gesundheit und Erziehung, aber für eine Rückkehr hinzukommen. Es fällt auch in der Kontrolle von Arbeitsverhältnis- ihnen äußerst schwer, sich eingestehen zu sen und öffentlicher Sicherheit sind Kom- müssen, dass ihre bisherigen Investitionen 3 Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. MAROKKO DR. HELMUT REIFELD Oktober 2016 vergeblich gewesen sein sollten, und sie Aus der Sicht fast aller Migranten gehören besser dorthin zurückkehren, wo sich ihre die Wahrnehmung von Grundrechten und Lebensbedingungen mit großer Wahrschein- der Schutz menschlichen Lebens zu den lichkeit zwischenzeitlich nicht verbessert wichtigsten Werten, für die Europa steht. haben. Vor allem müssten sie dann zuge- Für viele von ihnen entspricht Marokko be- ben, mit weniger zurückkehren als sie auf- reits dem, was sie gesucht haben. Sie ha- gebrochen sind. Lediglich 12 von 332 Be- ben sich nicht aufgrund der Aussicht auf fragten konnten sich dies vorstellen. Aufenthaltsgenehmigungen auf den Weg gemacht, sondern sie wissen, dass diese www.kas.de/marokko Stattdessen setzen die meisten darauf, dass lediglich ein Versuch sind, zum einen das sich ihre Situation in Marokko stabilisiert öffentliche Leben im Land zu regulieren, und und sie hier eine Chance zur Integration zum anderen der internationalen Kritik ent- finden. Es ist jedoch nur eine Minderheit, für gegenzutreten, im Umgang mit der Migrati- die sich eine solche Chance tatsächlich er- on häufig rassistisch und mit überzogener öffnet. Die zeitlich begrenzte Gewährung Gewalt agiert zu haben. von Aufenthaltsgenehmigungen und Arbeitserlaubnissen (régularisation) der ver- Können die Erfahrungen und der Einstel- gangenen zwei Jahre war an strenge Vorga- lungswandel der Migranten in Marokko – ben gebunden, die a priori mehr als die mutatis mutandis – auch Orientierungshilfen Hälfte der Interessenten ausschlossen, da geben für die Situation in einigen europäi- sie gar nicht erst die Unterlagen erhielten, schen Staaten? Die im zweiten Band der um sich bewerben zu können. Zudem er- Umfrage zusammengetragenen Antworten klärten 16 %, dass sie nicht mehr den Mut setzen sich zum einen mit den Konsequen- und die Kraft zu dem notwendigen Verwal- zen für das demokratische Selbstverständ- tungsprozedere hätten. Festzuhalten bleibt nis der Zielländer, zum anderen mit den jedoch, dass eine deutliche Mehrheit der unmittelbar menschlichen Konsequenzen für Migranten, die sich in Marokko aufhalten, die Migranten auseinander. Beide Aspekte ein nachhaltiges Interesse an einer Stabili- berühren sowohl Fragen der öffentlichen sierung ihrer Lebensmöglichkeiten in Ma- Ordnung und Sicherheit als auch des politi- rokko hat. schen und ethischen Selbstverständnis aller Beteiligten. Die latente Ablehnung sowohl Ablehnung und Selbstwahrnehmung von Seiten der Bevölkerung als auch insbesondere der Behörden ist in Marokko nicht Die Umsetzung dieses Interesses an Stabili- stärker als derzeit in den meisten europäi- sierung auf Seiten der Migranten stößt in schen Staaten. der Realität jedoch vor allem auf zwei Probleme: die allgemeine Wahrnehmung der Aus der Sicht der Migranten unterscheidet Migranten in der Bevölkerung und die prak- sich der mediterrane Maghreb nicht allzu tische Handhabung politischer Vorgaben sei- stark von der Nordseite des Mittelmeeres. tens der Behörden. In dieser Situation be- Formen der Voreingenommenheit, der inne- finden sich die Entscheidungsträger häufig ren Ablehnung oder zumindest Unsicherheit in einem Konflikt zwischen der geforderten im Umgang mit Migranten finden sich auf Umsetzung rechtlicher Vorgaben auf der ei- Seiten der marokkanischen Öffentlichkeit nen und einer ablehnenden öffentlichen und vor allem der Vertreter des Staates Meinung auf der anderen Seite. Vor diesem ähnlich wie in den meisten südeuropäischen Hintergrund werden zwar die zahlreichen Staaten. Marokko steht in gewisser Weise Einschränkungen verständlich, an die eine für beide Erfahrungswelten, weil es seit Vergabe von Aufenthaltserlaubnissen ge- Jahrhunderten selber ein Ausreiseland war, bunden war. Gleichzeitig ist es jedoch auch bevor es in den letzten Jahren in ähnlicher legitim zu fragen, wie der Umgang mit dem Weise wie die europäischen Staaten zu ei- erworbenen Rechtsstatus der Migranten an- nem Einreiseland geworden ist. Zudem setzt gesichts des tradierten sozialen Verhaltens sich auch Marokko zunehmend für Men- der Bevölkerung gestaltet werden kann. schenrechte und demokratische Grundwerte ein. Was die EU betrifft, möchte Marokko 4 Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. ebenfalls mit Blick auf die Menschenrechte zunehmend als Partner der westlichen Wer- MAROKKO tegemeinschaft verstanden werden. Vor diesem Hintergrund können zahlreiche der DR. HELMUT REIFELD hier behandelten Fragen und Erfahrungen zweifellos auch für die europäische Migrati- Oktober 2016 onspolitik hilfreich sein. www.kas.de/marokko Im Hinblick auf das marokkanische Selbstverständnis kommt jedoch noch ein anderer Kontext hinzu: Seit Jahrhunderten verstehen sich die Dynastien, die hier ihre Zentren hatten, in einem sehr weiträumigen Kontext. Vor diesem Hintergrund wird auch in der Präambel der neuen marokkanischen Verfassung von 2011 die nationale Identität Marokkos nicht nur als generell „une et indivisible“ bezeichnet, sondern als spezifisch aus den „composantes arabo-islamique, amazighe et saharo-hassani“ zusammengesetzt, die wiederum geprägt sind von den „affluentes affricaines, andalou, hébraïque et méditerranéen“. iii Damit definiert sich Marokko zum einen sowohl als Teil weitreichender afrikanischer „Wurzeln“ – was auch immer das sein mag – als auch unterschiedlicher religiöser Prägungen. Dies bedeutet für die Menschen, die als Migranten ins Land kommen, dass sie zu einem großen Teil durch dieselbe Herkunft geprägt sind wie viele Marokkaner. Zugleich steht die aktuelle Politik gegenüber den Migranten im Kontext einer seit Jahren intensivierten „Süd-Süd“ ausgerichteten Außenpolitik. Hierzu gehört nicht zuletzt das Bemühen, eine moderate malekitische Islaminterpretation ebenfalls in den Staaten Subsahara-Afrikas zur Diskussion zu stellen und entsprechende Schulungen anzubieten, um damit den salafistischen und wahhabitischen Einflüssen etwas entgegenzusetzen. Unter all diesen Aspekten verdienen somit nicht nur die Probleme der Migration in Marokko, sondern auch die marokkanische Politik in dieser Frage internationale Aufmerksamkeit. i Wie von Seiten der Regierung im Februar 2015 mitgeteilt, konnten bei einer Gesamtzahl von 27.332 Antragstellern 17.916 von ihnen entsprechende Aufenthaltsgenehmigungen erteilt werden. Hervorzuheben ist dabei, dass von den alleinstehenden Frauen mit Kindern, die einen Antrag gestellt hatten, alle bewilligt worden sind. Vgl. Mohammed Nafaa, Maroc-Immigrès: Bilan de la Régularisation, in : Lereporter.ma, 18.02.2015. ii Die Ergebnisse dieser Befragungen, die vom Büro der KAS in Marokko unterstützt wurden, erscheinen in Kürze unter dem Titel: Les Migrants Subsahariens au Maroc : Enjeux d'une Migration de Résidence“. Der zweite Band wird unter dem Titel: „Les remises démocratiques revisitées comment les flux migratoires favorisent la diffusion des valeurs liberales dans les pays d’immigration“ Anfang kommenden Jahres erscheinen. iii "Amazighe" bezeichnet die Gruppe der Berber, die seit Jahrtausenden in den Randzonen des nordwestlichen Afrika beheimatet sind, und von denen in der vor-islamischen Zeit die meisten Christen waren. "Saharo-hassani" haben demgegenüber stets in der Sahara gelebt und unterscheiden sich dadurch von den Berbern. "Andalou" bezieht sich auf die arabische Eroberung von Spanien und Portugal, die im 10. Jahrhundert teilweise bis zu den Pyrenäen reichte, und "hébraique" auf die 3 Prozent Juden, die bis zur Gründung des Staates Israel 1948 in Marokko lebten.
© Copyright 2024 ExpyDoc