Rechtswissenschaftliches Institut Politische Rechte Staatsrecht für Lehrpersonen – HS 2016 Dr. Goran Seferovic 17.10.2016 Seite 1 Rechtswissenschaftliches Institut Übersicht der heutigen Vorlesung 1. Grundlagen und Inhalt der politischen Rechte 2. Wahl- und Abstimmungsfreiheit 17.10.2016 Seite 2 Rechtswissenschaftliches Institut Grundlagen und Inhalt der politischen Rechte Rechtswissenschaftliches Institut Was sind politische Rechte? • Gewähren den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern das Recht • zu wählen • gewählt zu werden • abzustimmen • Initiativen/Referenden zu ergreifen und zu unterstützen • Doppelcharakter • Definieren die Mitwirkung des Bürgers als Teil der Staatsorganisation • Gewähren ein verfassungsmässiges Individualrecht (vgl. Art. 34 Abs. 2 BV) 17.10.2016 Seite 4 Rechtswissenschaftliches Institut Rechtsträger • Schweizerische Staatsbürgerschaft • 18 Jahre alt • Nicht entmündigt wegen Geisteskrankheit/Geistesschwäche • Auch Auslandschweizer auf Bundesebene (Kantone sind frei) • Eintragung im Stimmregister am Wohnort • geschieht bei Wohnsitz in CH von Amtes wegen (Art. 4 BPR) • Bei Auslandschweizern auf Antrag • Urne, brieflich, e-voting-Versuche • Landsgemeinde, Gemeindeversammlungen 17.10.2016 Seite 5 Rechtswissenschaftliches Institut Obligatorisches Referendum (Art. 140 BV) • Volksabstimmung findet von Amtes wegen statt • Gegenstände mit Volksmehr und Ständemehr • Jede Revision der BV • Beitritt zu Organisationen der kollektiven Sicherheit oder zu supranationalen Organisationen • dringliche Bundesgesetze ohne Verfassungsgrundlage und Dauer von >1 Jahr 17.10.2016 Seite 6 Rechtswissenschaftliches Institut Fakultatives Referendum • Volksabstimmung findet nur auf Antrag statt (innerhalb von 100 Tagen) • Von 50’000 Stimmberechtigten • Von 8 Kantonen • Gegenstände • Bundesgesetze • Dringlich erklärte Bundesgesetze (mit Verfassungsgrundlage) und Dauer > 1 Jahr • Bundesbeschlüsse soweit gesetzlich vorgesehen • Gewisse völkerrechtliche Verträge (sog. Staatsvertragsreferendum) • Zustimmung des Volks nötig 17.10.2016 Seite 7 Rechtswissenschaftliches Institut Volksinitiative auf Bundesebene 17.10.2016 Seite 8 Rechtswissenschaftliches Institut Volksinitiative auf Totalrevision der BV • Verfahren: • Frage lautet: Soll die BV totalrevidiert werden? • Initianten sammeln 100’000 Unterschriften innerhalb von 18 Monaten • Volksabstimmung (Vgl. Art. 140 Abs. 2 BV) • Neuwahlen der Bundesversammlung und des Bundesrates (Art. 193 Abs. 3 BV) • Neue Bundesversammlung arbeitet Totalrevisionsvorlage aus • Volk und Stände haben der neuen BV zuzustimmen (Art. 140 Abs. 1 lit. a BV) • Eher unbedeutend (Frontisten-Initiative 1935, 27,7% ja) 17.10.2016 Seite 9 Rechtswissenschaftliches Institut Volksinitiative auf Teilrevision der BV • Form • allgemeine Anregung (unbedeutend, lediglich 11 eingereicht, nie angenommen) • ausgearbeiteter Entwurf • Verfahren • 100‘000 Unterschriften innert 18 Monaten • Gültigkeitsprüfung durch Bundesversammlung • Einheit der Form • Einheit der Materie • Zwingendes Völkerrecht (im einzelnen umstritten, z.B. Folterverbot) 17.10.2016 Seite 10 Rechtswissenschaftliches Institut Einheit der Materie • «Die Einheit der Materie ist gewahrt, wenn zwischen den einzelnen Teilen einer Initiative ein sachlicher Zusammenhang besteht.» (Art. 75 Abs. 2 BPR) • Erhöhung der Zahl der Bundesräte auf 9 und Wahl derselben durch das Volk (vgl. BBl 1900 III 670) • Durch die Bundesversammlung für gültig erklärt • «Halbierungsinitiative» 1995, Halbierung der Rüstungsausgaben, verwenden derselben für internationale Friedensförderung und soziale Sicherheit im Inland • Durch die Bundesversammlung für ungültig erklärt • Rechtsfolge: Ungültigkeit/Teilungültigkeit (Art. 139 Abs. 3 BV) 17.10.2016 Seite 11 Rechtswissenschaftliches Institut Volksinitiative auf Teilrevision der BV (II) • Möglichkeiten der Bundesversammlung • Bundesversammlung empfiehlt Initiative zur Annahme/Ablehnung • Bundesversammlung stellt der Initiative Gegenentwurf gegenüber • direkter Gegenvorschlag (auf Verfassungsebene) • indirekter Gegenvorschlag (auf Gesetzesebene) • Initiativkomitee kann die Initiative zurückziehen (auch bedingt) , falls Forderungen erfüllt wurden • Sonst: Volksabstimmung (Volk und Stände, allenfalls mit Stichfrage) 17.10.2016 Seite 12 Rechtswissenschaftliches Institut Volksinitiative auf Teilrevision der BV – Reformbedarf • Klagen über «Initiativenflut» • Reformvorschläge: • Erhöhung der Unterschriftenzahlen • Weitere Ungültigkeitsgründe • Rückwirkungsverbot • Keine Gesetzesmaterien in Verfassungsinitiativen • Kein Verstoss gegen das gesamte Völkerrecht • Die meisten Vorschläge benötigen Verfassungsänderung, damit sehr unwahrscheinlich 17.10.2016 Seite 13 Rechtswissenschaftliches Institut Wahl- und Abstimmungsfreiheit Rechtswissenschaftliches Institut Wahl- und Abstimmungsfreiheit (Art. 34 Abs. 2 BV) «Die in Art. 34 Abs. 2 BV als Grundrecht verankerte Abstimmungsfreiheit gibt den Stimmberechtigten Anspruch darauf, dass kein Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht ihren freien Willen zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt.» (BGE 131 I 442) • Meinungsbildungsprozess • Enge Verbindung zum Rechtsgleichheitsgebot • Zählwertgleichheit: one man – one vote (gilt absolut, BGE 125 I 21) • Erfolgswertgleichheit: möglichst gleich grosse Wahlkreise, möglichst wenig gewichtslose Stimmen • Stimmkraftgleichheit: möglichst gleich viele Stimmen pro zu vergebenden Sitz 17.10.2016 Seite 15 Rechtswissenschaftliches Institut Urner Wahlrecht (BGer 1C_511/2015 vom 12.10.2016) • Landrat als Kantonales Parlament mit 64 Mitgliedern • Die 20 Gemeinden des Kantons bilden die Wahlkreise • Mischung als Majorz- und Proporzsystem • Kleinste Gemeinde mit 134 Stimmenden wählt zwei Sitze, grössere mit 691 Stimmenden ebenfalls • Verstösst gegen die Stimmkraftgleichheit, da Stimmkraft der Stimmenden in der kleineren Gemeinde mehr als 5-fach grösser • In fast allen Gemeinden mit Proporzverfahren müssen mehr als 10% der Stimmen für einen Sitz erreicht werden • Führt zu vielen gewichtslosen Stimmen und verstösst gegen die Erfolgswertgleichheit • Bundesgericht erklärt Wahlrecht für verfassungswidrig. Regt Behebung durch Wahlkreisverbände oder Änderung des Wahlsystems an 17.10.2016 Seite 16 Rechtswissenschaftliches Institut Abstimmungen • Einheit der Materie • Unrichtige, irreführende, suggestive Fragestellungen • «Wollen Sie den zuständigen Bundesbehörden empfehlen, im Interesse der Sicherstellung der Elektrizitätsversorgung, die Errichtung des Kernkraftwerks Kaiseraugst zu bewilligen?» (BGE 106 Ia 20) • Information der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger • Informationspflicht der Behörden (Art. 10a BPR) • Z.B. «Bundesbüchlein» • Propagandaverbot der Behörden • Verwerfliche Mittel (zB. verdeckte Finanzierung, BGE 114 Ia 427) 17.10.2016 Seite 17 Rechtswissenschaftliches Institut Vielen Dank für Ihre Mitarbeit Staatsrecht für Lehrpersonen – HS 2016 [email protected] http://www.rwi.uzh.ch/oberassistenz-seferovic.html 17.10.2016 Seite 18
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