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7 // Arbeitsrecht
Deutscher AnwaltSpiegel
Ausgabe 21 // 19. Oktober 2016
Streiken bis der Arzt kommt?
Illegale Aktionen gefährden unsere rechtsstaatliche Streikkultur
Von Dr. Jan Tibor Lelley, LL.M. (Suffolk)
Kollektives Krankfeiern ist
kein rechtskonformes Mittel des Arbeitskampfes. Der
Nachweis einer rechtswidrigen Handlung lässt sich
aber nicht leicht erbringen.
© Monika Wisniewska/iStock/Thinkstock/Getty Images
Es ist eine „wundersame Spontanheilung, die in
Deutschlands Gesundheitsgeschichte eingehen wird.“
So schrieb das Handelsblatt in seiner Ausgabe vom
10.10.2016. Diesen ätzenden Sarkasmus sind wir von
unserer Wirtschaftspresse nicht gewohnt. Was war passiert?
In der ersten Oktoberwoche 2016 kam es bei den
Fluggesellschaften TUIfly GmbH und Air Berlin PLC &
Co. Luftverkehrs KG zu arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen, die es in dieser Form seit 30 Jahren in der
Bundesrepublik nicht mehr gegeben hat. Von insgesamt
1.200 Crewmitgliedern meldeten sich etwa 500 arbeitsunfähig. Insgesamt rund 350 Flüge fielen aus. Allein am
Wochenende vom 08./09.10.2016 kam es zu mehreren
Hundert Arbeitsunfähigkeitsmeldungen. Abends am
07.10.2016 machte die Arbeitgeberseite bereits weitreichende Zugeständnisse („Garantie“ von „Tarifrechten“
für die kommenden drei Jahre, die Beibehaltung des Sitzes der TUIfly in Hannover auch für drei Jahre, Erhalt der
Arbeitsverträge der Arbeitnehmer sowie Fortführung der
Arbeitnehmervertretungsstrukturen – so kann man es
Medienberichten entnehmen). Und am 09.10.2016 wurde die Arbeit wiederaufgenommen.
Vor der Massenkrankheit hatte das Management der
beiden Fluggesellschaften Pläne einer Restrukturierung
bekanntgegeben. Die Touristiksparte von TUIfly wollte
man mit Air Berlin zusammenführen. Ein dadurch ent-
stehender Synergieeffekt wäre zum Beispiel ein Einsparpotential von etwa 20% des Entgeltniveaus. Stattdessen
ist jetzt nach Expertenmeinungen durch die Aktionen ein
Schaden von mindestens 6 Millionen Euro entstanden,
andere Schätzungen gehen von einer Schadenshöhe im
zweistelligen Millionenbereich aus.
Kein Arbeitskampf ohne Gewerkschaft
Handelte es sich bei diesen Aktionen um einen Streik?
Arbeitsrechtlich betrachtet sicher nicht. Und es liegt na-
he, hier sogar von einer doppelten Rechtswidrigkeit im
arbeitsrechtlichen Sinn zu sprechen: Denn die zuständigen Gewerkschaften ver.di und Vereinigung Cockpit
(VC) leugnen eine Beteiligung, ja sogar die bloße Duldung der Aktion. Dann sind die Aktivitäten auf jeden Fall
streikrechtlich illegal, da keine zuständige Gewerkschaft
durch Übernahme der Verantwortung sie zum rechtmäßigen Streik qualifiziert.
Es geht aber noch weiter: Otto Rudolf Kissel, Nestor
des Arbeitskampfrechts und Präsident des Bundes- 
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arbeitsgerichts a.D., widmete in seinem 2002 erschienenen und untertreibend als „Leitfaden“ untertitelten
Werk „Arbeitskampfrecht“ den „weiteren“ Kampfmitteln
der Arbeitnehmerseite ein eigenes Kapitel. Da findet
sich auch das „Go sick“. Kissel definiert es als kollektive
Verhaltensweise, bei der sich eine Anzahl von Arbeitnehmern arbeitsunfähig meldet, um Druck, besonders Verhandlungsdruck, auf die Arbeitgeberseite auszuüben,
und zwar aufgrund einer gemeinsamen Verabredung.
Nach Kissel ist das „Go sick“ eine Form des rechtswidrigen Arbeitskampfs – und sogar eine unehrliche. Es
handele sich nicht nur um eine Verletzung des Arbeitsvertrags und eine Täuschung der Arbeitgeberseite. Denn,
so Kissel, die Nichterfüllung der Arbeitspflicht wird nicht
ehrlich durch Streik herbeigeführt, sondern durch angebliche Krankheit nur vorgetäuscht.
„Go sick“ ist kein Streik
In der Bundesrepublik hat sich seit den 70er Jahren keine
Gewerkschaft mehr bereitgefunden, eine „Go sick“-Aktion als Arbeitskampfmittel zu benutzen oder auch nur
zu billigen. Die 7-Punkte-Prüfung, der jeder rechtmäßige Streik standhalten muss (Tarifbezogenheit, Wahrung
der Friedenspflicht, Wahrung der Gemeinwohlbelange,
Verhältnismäßigkeit, Ultima-Ratio-Prinzip, Kampfparität, faire Verhandlungsführung), kommt bei „Go sick“
überhaupt nicht zur Anwendung. Es ist kein verbandsgetragener, von einer anerkannten Gewerkschaft eingeleiteter oder mindestens übernommener Streik. Der
verbandsgetragene Streik mit seinen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen ist überhaupt erst der Grund dafür,
dass unsere Rechtsordnung Streik als rechtmäßige Störung des Arbeitsverhältnisses anerkennt. Aktionen, die
nicht von anerkannten Gewerkschaften zum rechtmäßigen Streik qualifiziert werden, sind wilde Streiks. Und
wilde Streiks können noch nicht einmal zum Abschluss
eines Tarifvertrags als Streikziel führen. Denn der Arbeitgeberseite steht in dieser Form der Auseinandersetzung
kein tarifrechtlich relevanter Verhandlungspartner gegenüber (vgl. § 2 TVG).
Zum „Go sick“ ist bisher eine relevante Gerichtsentscheidung bekanntgeworden. Am 31.01.1978 wertete der
BGH eine „Go sick“-Aktion, die sich interessanterweise
auch im Luftverkehrsbereich abspielte, bei den Fluglotsen, als Verletzung der Regeln des fairen Arbeitskampfes und vorsätzliche sittenwidrige Schädigung (Az. VI
ZR 32/77). Das Urteil enthält nicht nur Hinweise zur Verantwortlichkeit einer Gewerkschaft, wenn sie „Go sick“Aktionen zwar innerlich ablehnt, aber im Ergebnis doch
fördert, zum Beispiel durch Sympathieäußerungen. Um
eine deliktsrechtliche Verantwortung zu vermeiden, ist
dann eine klare und sichtbare Distanzierung der Gewerkschaft vom Geschehen erforderlich – mindestens.
Sonst droht die Haftung als Anstifterin oder Gehilfin, die
zivilrechtlich Mittätern gleichstehen (§ 830 BGB). Man
findet im Urteil auch noch einen Hinweis auf die Taktik
der Umkehrung der im Arbeitskampf wirkenden Ebenen.
Das „Go sick“ ersetzt den direkten Konflikt der Sozialpartner durch den Angriff auf die Individualbeziehungen
der einzelnen Arbeitsverhältnisse. Und das geschieht
mit dem Ziel, sich dem Risiko von Gegenmaßnahmen der
Arbeitgeberseite zu entziehen.
Im Fall TUIfly und Air Berlin ist bisher nicht klar, ob
Arbeitnehmer tatsächlich die Massenkrankmeldung
verabredeten, um Druck auf die Arbeitgeberseite auszuüben. Wenn es so war, handelt es sich bei dieser „Go
sick“-Aktion nicht nur um einen wilden Streik und damit
eine Verletzung des Arbeitsvertrags, sondern auch um eine Täuschung. Und damit, das deutete Otto Kissel nur an,
um strafrechtlich relevantes Verhalten (§ 263 StGB). Klare
Worte fand dazu bisher aber noch niemand. Stattdessen wollten sich, nach Medienberichten, die zuständigen
Verbände Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und Bundesverband der Deutschen
Luftverkehrswirtschaft (BDL) zu dem Vorgang nicht äußern. Auf den Websites beider Verbände war bisher kein
einschlägiger Eintrag unter den Suchbegriffen „TUIfly“
und „Air Berlin“ zu finden (Stand: 17.10.2016). Nun fragen sich die betroffenen Mitgliedsunternehmen sicher,
womit sie die nicht vorhandene mediale und ideelle Rückendeckung ihrer Verbände verdienen. Ein Wegducken
der Verbandsfunktionäre wird das Problem nicht lösen.
Ganz im Gegenteil: Sehr zu Recht wurde in Analysen schon darauf hingewiesen, dass die Massenkrankmeldung bei TUIfly und Air Berlin äußerst effektiv Druck
auf die Arbeitgeberseite ausübte. Da half es auch nichts
mehr, etwa 1.000 Arbeitnehmer mit Prämien von 250 bis
500 Euro zu Sonderschichten zu bewegen.
Was tun gegen „Go sick“?
Wichtig ist jetzt: Wilde Streiks müssen als das benannt
werden, was sie sind. Nämlich rechtswidrige Kampagnen, deren Protagonisten sich nicht auf das Grundrecht
der Arbeitskampffreiheit berufen können. Das muss vor
allem und zuerst für „Go sick“-Aktionen gelten. Denn
dieses „weitere“ und illegale Arbeitskampfmittel der Arbeitnehmerseite ist aufgrund der praktisch erwiesenen
Durchschlagskraft sehr verführerisch. Hier gibt es einen
Unterschied zu anderen illegalen Kampfmitteln, wie 
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Betriebsbesetzung, Betriebsblockade, Boykott. Bei denen
zeigt sich zwar auch ein gewisses Druckpotential. Das
kann man aber mit „Go sick“ nicht vergleichen, vor allem
schon deshalb nicht, weil Besetzen, Blockieren und Boykottieren als illegale Handlungen tatsächlich und rechtlich sehr gut fassbar und sanktionierbar sind. Das ist bei
„Go sick“-Aktionen anders.
Rechtspolitisch könnte man zur Eindämmung des
Problems an einen Prima-facie-Beweis denken, um in
der gerichtlichen Aufarbeitung von „Go sick“-Aktionen
das Prozessrisiko für die teilnehmenden Arbeitnehmer
zu erhöhen. Nach den Regeln des Anscheinsbeweises
spricht dann bei einer Massenkrankmeldung im engen zeitlichen Zusammenhang mit einer Restrukturierungssituation (etwa Ankündigung der Arbeitgeberseite, eine Betriebsänderung durchführen zu wollen) die
Lebenserfahrung für den Einsatz eines rechtswidrigen
Arbeitskampfmittels. Daran knüpfen sich dann individualrechtliche Folgen wie Schadensersatzansprüche der
Arbeitgeberseite und sozial gerechtfertigte Kündigung
wegen Vortäuschens der Arbeitsunfähigkeit. Wann im
konkreten Fall eine Massenkrankmeldung vorliegt, könnte man in entsprechender Anwendung der Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG bestimmen. F
T R A N S AT L A N T I C
Business Conference
The Transatlantic Marketplace 2016:
Leadership in a Challenging World
10. Transatlantische Jahreswirtschaftskonferenz
Erfahrungsaustausch, Strategien und Impulse für die wirtschaftliche und politische Partnerschaft
9./10. November 2016
Commerzbank Tower, Frankfurt am Main • Hilton Frankfurt Airport, Frankfurt am Main
Als Referenten
begrüßen wir u.a.:
Sabine Bendiek
Vorsitzende der Geschäftsführung, Microsoft
Deutschland GmbH
VERANSTALTER
Jonas Prising
Chairman & CEO,
ManpowerGroup
IN KOOPERATION MIT
Prof. h.c. Martin Richenhagen
Vorsitzender, Präsident &
CEO, AGCO Corporation
MITVERANSTALTER
PARTNER
Dr. Jan Tibor Lelley, LL.M. (Suffolk),
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht,
Buse Heberer Fromm, Frankfurt am Main
[email protected]
www.buse.de
HAUPTMEDIENPARTNER
MEDIENPARTNER
Weitere Informationen und Anmeldung unter: www.transatlantikkonferenz.de