1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 1 Leseprobe Leseprobe „Es gibt sehr viele jüdische Gene in der deutschen Kultur und nicht wenige deutsche Gene in unserer Kultur hier in Israel.“ Amos Oz Messeschwerpunkt Leipziger Buchmesse 2015 1965 bis 2015 Deutschland – Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Reader Texte aus allen Büchern des Programms 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 2 Die Autoren und Ihre Bücher Leseprobe Leseprobe Seite Irit Amiel: Gezeichnete. Geschichten vom Überleben Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt Hila Blum: Der Besuch Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim Wolfgang Büscher: Ein Frühling in Jerusalem Michael Degen: Der traurige Prinz. Roman einer wahren Begegnung Dan Diner: Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage Lizzie Doron: Who the Fuck Is Kafka? Tobias Ebbrecht-Hartmann: Übergänge. Passagen durch eine dt-israelische Filmgeschichte Fredy Gareis: Tel Aviv - Berlin: Geschichten von tausendundeiner Straße Ali Ghandtschi: Mein Israel. Juden und Palästinenser erzählen Michael Guggenheimer: Tel Aviv- Hafuch Gadol und Warten im Mersand Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken Gregor Gysi + Friedrich Schorlemmer: Was bleiben wird. Gespräche über ein schwieriges Land Claire Hajaj: Ismaels Orangen Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka) André Herzberg: Alle Nähe fern Jan Himmelfarb: Sterndeutung Josef Joffe: Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß! Hellmuth Karasek: Das find ich aber gar nicht komisch Norbert Kron + Amichai Shalev: Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen Gila Lustiger: Die Schuld der anderen Eva Menasse: Lieber aufgeregt als abgeklärt Chaim Noll: Der Schmuggel über die Zeitgrenze. Erinnerungen Amos Oz: Judas Fania Oz-Salzberger: Israelis in Berlin Kerstin Preiwuß: Restwärme Mirjam Pressler: Nathan und seine Kinder Avi Primor: Nichts ist jemals vollendet. Die Autobiografie Johannes Reichert: Mit dem Rad durch Israel Rebecca Maria Salentin: Schuld war Elvis Yishad Sarid: Alles andere als ein Kinderspiel Ron Segal: Jeder Tag wie heute Meir Shalev: Zwei Bärinnen Ayman Sikseck: Reise nach Jerusalem Carlo Strenger: Israel. Einführung in ein schwieriges Land Anat Talshir: Über uns die Nacht Jennifer Teege: Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen Andrea von Treuenfeld: Zurück in das Land, das uns töten wollte Steven Uhly: Königreich der Dämmerung 3 5 7 9 11 15 19 21 23 25 28 30 31 34 40 42 46 48 52 58 62 67 69 73 75 77 79 83 86 93 94 96 100 102 106 109 111 114 117 123 Fotonachweis 125 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 3 Leseprobe Leseprobe Amiel, Irit: Gezeichnete. Geschichten vom Überleben | Suhrkamp | ET 21. März 2015 Aus dem Hebräischen von Magali Zibaso | ISBN: 978-3-633-54272-7 | 180 Seiten | ca. 22,95 € Die Menschen, die als Kinder und junge Erwachsene das Grauen der Gettos und Displaced-Persons-Camps überlebten und sich in Israel eine neue Existenz schufen sind gezeichnet fürs Leben. Sie heißen Linka, Rafael, Klara und Batya und stammen aus Polen und anderswoher. Und obwohl man diese Geschichten von Schrecken und grausamen Schicksalen zu kennen meint, berühren und beeindrucken sie auf besondere Weise. Irit Amiel hat diese Geschichten gesammelt und aufgeschrieben. Sie erzählt vom Schweigen der Überlebenden, ihrer Unfähigkeit, das Erlebte zu verarbeiten und von tiefen Freundschaften und lebenslangen Liebesbeziehungen. Irit Amiel wurde 1931 in Polen als Irena Librowicz geboren. Sie überlebte den Krieg im Getto von Czestochowa mit falschen Papieren. 1947 kam sie nach Palästina und lebt seitdem als Autorin und Übersetzerin in Israel. Sie schreibt Lyrik auf Polnisch und Hebräisch und hat zahlreiche polnische Autoren ins Hebräische übersetzt, u. a. Wisława Szymborska, Leo Lipski und Henryk Grynberg. Und Enosch sah Eva an den Toren von Sodom, wo die wahre Lösung herrschte : ARBEIT MACHT FREI Und Enosch zählte zweiundvierzig Jahre und sein Gewicht betrug ebensoviel Und Eva zählte dreißig Jahre, und sie saß im Staub unter dem Tor und erwartete ihre beiden kleinen Söhne, die sich längst aufgelöst hatten in den vier Windrichtungen des Himmels in einer schwarzen Rauchwolke Und Enosch reichte Eva die Hand und sprach : Steh auf Frau und komm. Niemand kehrt zurück von Nirgendwo, und Kain hatte Abel bereits getötet Blicke nicht zurück, damit du nicht werdest eine Salzsäule in alle Ewigkeit. Und sie gingen durchs Tal des Mordens und der Trümmerhaufen in das Land Kanaan und zeugten andere Töchter und Söhne und gaben ihnen neue Namen, um Gott irrezuführen. Und Gott sprach, ich habe euch erlaubt, aus Sodom wegzuziehen, aber weitere Geschäfte wird es nicht geben. Eine Seite aus dem Tagebuch Es war Spätherbst 1942. Es war noch nicht richtig kalt, und das rötlich-goldene Laub wirbelte im Staub und im Schlamm. Manchmal konnte man sogar eine Kastanie finden, dunkelbraun und feucht in der stachligen grünen Schale. Die Straße lag still. Gelähmt vor Furcht. Wie hohle Augenhöhlen blickten die Fenster aus zerbrochenen Scheiben. Vater sagte wie nebenbei, dass man so bald wie möglich in das jüdische Krankenhaus am Ende der Straße übersiedeln müsse. Aber in seiner Stimme hallte ein merkwürdiges Beben wider. Ich trug einen leichten Mantel und einen Schal, ein Barett und das grüne Wollkostüm, das meine Mutter mir gestrickt hatte. Vater machte sich noch immer über Mutters Strickleidenschaft lustig, aber niemand lachte mehr über seine Späße. Die Welt ging in Flammen auf, und wir waren im Zentrum der Feuersbrunst. Mutter gab mir eine Scheibe trockenes Brot, küsste mich und nässte mein Gesicht mit ihren Tränen. Ich kaute das Brot und begriff nicht, weshalb sie so schluchzte, schließlich würden wir uns doch am Abend wiedersehen. So hatten sie es mir versprochen. Aber ich sah Mutter nie wieder. An ihre Gesichtszüge erinnere ich mich nur anhand eines zerrissenen und vergilbten Fotos, das mir ihre Schwester nach dem Krieg aus Amerika schickte. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 4 Leseprobe Leseprobe Am Ende der Straße, der Grenze zur arischen Seite, stand ein ukrainischer Soldat und schoss in die Fenster, sobald er irgendeine Bewegung wahrnahm. Vater war sehr nervös und sagte mir, ich solle auf der Straße hinter ihm her kriechen, so dicht wie möglich an den Häusern. Auf eben derselben Straße, auf der ich einst mit meiner Schultasche zur Schule ging, umgeben von meinen lachenden Freundinnen, krochen wir beide jetzt auf allen Vieren. Ein plötzlicher Windstoß wirbelte eine Staubwolke auf und blendete mich für einen Augenblick. Der ukrainische Soldat gab drei Schüsse ab. Die Kugeln flogen pfeifend über unsere Köpfe. Wir erstarrten einen Augenblick, dann krochen wir weiter. Es war nicht weit, aber mir schien es eine Ewigkeit zu dauern. Es war die längste Strecke, die ich in meinem Leben zurückgelegt hatte. In letzter Zeit wecken mich diese Schüsse nachts auf. An das schwere Tor des Krankenhauses gepresst, schlugen wir verzweifelt mit geballten Fäusten an das Tor, mit der letzten Kraft, die uns verblieben war. Ein jüdischer Polizist, ein Bekannter Vaters, öffnete einen schmalen Spalt, und wir schlüpften in den Hof. Vater reichte ihm ein Bündel grüner Geldscheine. Von diesem Augenblick an ging alles sehr schnell. Zu schnell. Er führte uns in einen dunklen Schuppen, zündete eine Laterne an und zog aus der glatten Wand ein Brett und dann ein zweites. Ein schwarzes Loch zeigte sich in der Wand. Vater hob mich hoch und sagte, ich solle die Hände ausstrecken, wie beim Schwimmen und schob mich kopfüber in das Loch. Aber die Öffnung war zu eng, und ich musste rasch den Mantel ausziehen und wieder den Kopf und die Hände in das schwarze Loch stecken. Ich war fassungslos. Ich konnte mich nicht einmal von ihm verabschieden. Ich erinnere mich nur, dass er sehr bleich war und um seinen Mund zuckte etwas zwischen einem Lächeln und einem Weinen. Am anderen Ende ergriff mich ein fremder Mann mit einem Schnurrbart und stellte mich auf. Noch bevor ich mich erholen konnte, fiel mein gelber Herbstmantel auf meine Füße. Als ich den Kopf hob, gab es kein schwarzes Loch mehr. An der glatten Wand hing friedlich das vergoldete Bild der Schwarzen Madonna von Czestochowa. So verließ ich das Ghetto zum ersten Mal, mitten in der Aktion. Meine Kindheit, das Barett, der Schal, meine schöne Mutter und mein kahlköpfiger, geliebter Vater blieben für immer auf der anderen Seite. Ich war damals elf Jahre alt, und seit diesem Augenblick fühle ich mich im Leben nirgends mehr zuhause. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 5 Leseprobe Leseprobe Assmann, Jan: Exodus. Die Revolution der Alten Welt | C.H.Beck | ET: 21. Januar 2015 ISBN 978-3-406-67430-3 | Leinen | 493 Seiten mit 40 Abbildungen | 29,95 € Befreiung aus Sklaverei, aber auch für die Erfindung des Glaubens an den einen Gott. Jan Assmann verfolgt die Spuren der Exodus-Erzählung zurück bis ins Alte Ägypten und nach vorne bis ins 20. Jahrhundert. Er entfaltet eine neue Theorie des Monotheismus und zeigt, warum die Geschichte vom Auszug aus Ägypten auch die Gründungserzählung der modernen Welt ist. Jan Assmann ist Professor Emeritus für Ägyptologie an der Universität Heidelberg und Professor für allgemeine Kulturwissenschaft an der Universität Konstanz. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören: „Das kulturelle Gedächtnis“, „Ägypten. Eine Sinngeschichte“, „Moses der Ägypter“ sowie „Tod und Jenseits im Alten Ägypten“. Vorwort Als ich vor zwanzig Jahren an dem Buch Moses der Ägypter arbeitete, ging es mir darum, eine verdeckte Traditionslinie in den Blick zu bekommen, in der das Alte Ägypten nicht die Rolle des überwundenen, hinter sich gelassenen Anderen spielte, sondern die eines untergründig fortwirkenden Elements unserer eigenen europäischen Religions- und Geistes-geschichte. Diese Traditionslinie, die sich dann von Echnaton bis zu Sigmund Freud ausziehen ließ, stand im Zeichen der Wahrheitsfrage der Religion. Die Unterscheidung zwischen wahr und falsch, das war die These, sei mit dem biblischen Monotheismus erstmals in den Raum des Religiösen hinein getragen und anhand der Gegenüberstellung von Israel = wahr und Ägypten = falsch narrativ entfaltet worden. In der Traditionslinie um Mose als Ägypter sei es darum gegangen, die „mosaische Unterscheidung" zwischen wahrer und falscher Religion, wahrem Gott und falschen Göttern aufzuheben und dadurch den interreligiösen Streit um die Wahrheitsfrage zu entschärfen. Inzwischen ist mir klar geworden, dass eine derartige Konzentration oder Reduktion der Religion auf die Wahrheitsfrage in Bezug auf das vorexilische Israel ein Anachronismus ist. Hier geht es um etwas ganz Anderes, das als höchster Wert ins Zentrum der Religion gestellt wird: Treue. Nicht zwischen wahr und falsch gilt es sich zu entscheiden, sondern zwischen Treue und Verrat, und zwar in Bezug auf den Bund, den JHWH mit den Kindern Israels schließt, die er aus ägyptischer Knechtschaft befreit und als sein Volk erwählt hat. Mit der Konzeption dieses Bundes kommt der „Glaube" (’ amunah) in die Welt, der die eigentliche, revolutionäre Neuerung des biblischen – alttestamentlichen, neutestamentlichen und islamischen – Monotheismus darstellt. „Glaube" heißt im Alten Testament dasselbe wie „Treue", nämlich Vertrauen in den Bund, in die Verheißungen Gottes, in den Eid, den er den Vätern geschworen hat und in die versöhnende und rechtfertigende Kraft der Gesetze. Das ist etwas völlig Neues in der damaligen Welt, das nicht in die Ordnung des Seienden, Evidenten, „Unverborgenen" (wie Heidegger das griechische Wort a-letheia, „Wahrheit", deutet) gehört, sondern in die Ordnung des zu Verwirklichenden, im Tun in die Welt und an den Tag zu Bringenden, in die schon Lessing mit seiner Fassung der alten Ringparabel die Wahrheitsfrage verlagert hatte. Diese Traditionslinie fängt nicht bei Echnaton an, dessen monotheistischer Umsturz viel mit Wahrheit, aber nichts mit Treue zu tun hat, sondern mit dem Auszug aus Ägypten als dem großen, gründenden Heilsereignis, das die Befreiten zu ewiger Dankbarkeit und Treue gegenüber dem Befreier verpflichtet. Der „Monotheismus der Treue" ist das weltverändernd Neue, das mit der biblischen Religion in die Welt kommt. Um diese Form des Monotheismus und seine narrative Darstellung in der Erzählung vom Auszug aus Ägypten soll es in diesem Buch gehen. Der Monotheismus der Treue ist alles andere als eine marginale, verdeckte Traditionslinie, die es ans Licht zu heben gilt. Im Gegenteil bewegen wir uns mit der Semantik des Bundes, der Treue und des Glaubens im Zentrum der drei abrahamitischen Religionen. Und doch wird heute das Problem gerade der monotheistischen Religionen auf die Wahrheitsfrage reduziert. „Während die Religionen miteinander hadern", schrieb Sigmund Freud, „welche von ihnen im Besitz der Wahrheit sei, sind wir der Meinung, dass der Wahrheitsgehalt der Religion überhaupt vernachlässigt werden darf." Das war vernichtend gemeint und hat den bundestheologischen Kern des biblischen Monotheismus doch kaum berührt. Die Wahrheitsfrage soll hier nicht vernachlässigt werden und die Unterscheidung zwischen wahr und falsch in der Religion halte ich nach wie vor für eine entscheidende Kategorie, die erst mit dem Monotheismus – aber nicht nur dem biblischen – aufgekommen ist. Das eigentliche und ursprüngliche Element des biblischen Monotheismus aber sehe ich im Gedanken des Bundes, dessen Stiftung den Höhepunkt der Exodus-Erzählung darstellt. Um in diesen Bund einzuziehen, musste aus Ägypten ausgezogen werden. Die antagonistische Spannung zwischen Ägypten und Israel, wie sie die Erzählung vom Auszug aus Ägypten darstellt, hat mich schon lange beschäftigt und war bereits das Thema von Moses der Ägypter. Im vorliegenden Buch möchte ich zu den Quellen zurückgehen, das heißt zum biblischen Buch Exodus, und es auf seine in die Länge der Zeit ausstrahlenden Grundideen hin befragen. Mein Zugang ist naturgemäß nicht der des philologisch und theologisch arbeitenden Alttestamentlers, sondern des kulturwissenschaftlich arbeitenden Ägyptologen, und mein methodischer Ansatz ist der einer „Sinngeschichte". Ich verstehe den in der Überlieferung vom Auszug aus Ägypten entfalteten Monotheismus der Treue bzw. die Bundestheologie als eine Sinnformation, die mit den frühen Propheten anhebt, im Deuteronomium und der deuteronomistischen Tradition ihre kanonische Form gewinnt und durch alle Wandlungen hindurch bis heute lebendig ist. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 6 Leseprobe Leseprobe Der Begriff „Sinngeschichte" lässt sich in zwei Richtungen entfalten: Sinn „hat" Geschichte und Sinn „macht" Geschichte. In der ersten Richtung geht es um die allmähliche Herausbildung und die Wandlungen einer semantischen Formation in ihrer historischen und gesellschaftlichen Einbettung, ihre Entwicklungsstufen und entscheidenden Wendepunkte sowie die Texte und Zeugnisse, in denen sie Ausdruck gefunden hat. In der anderen geht es um die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte dieser Texte und Zeugnisse. Der Auszug aus Ägypten ist in beiden Richtungen ein hervor-ragendes Beispiel, zum einen, was die Entwicklung dieser Überlieferung im Laufe von drei bis vier Jahrhunderten zu dem zentralen semantischen Paradigma des frühen Judentums betrifft, und zum anderen hinsichtlich der einzigartigen Wirkungsgeschichte dieses Paradigmas in den darauf aufbauenden Religionen Christentum und Islam, die zu einer grundlegenden Umgestaltung der Welt geführt haben. Die betroffene Fachwissenschaft, die alttestamentliche Theologie, ist der Frage nach Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der alt-testamentlichen Texte seit Jahrhunderten mit großer Intensität nachgegangen. In der einen Richtung ging es um eine diachrone Analyse der überlieferten Textgestalt, die zu einer ebenso differenzierten wie umstrittenen Scheidung von Quellen, Dokumenten, Kompositionsschichten und Redaktionsstufen führte, in der anderen Richtung um eine Auslegungsgeschichte in jüdischer und christlicher Sicht. Diese im engeren Sinne fachphilologische Perspektive kann und will ich mir in diesem Buch nicht zu eigen machen. Sie geht erstens weit über das hinaus, was ein Fachfremder leisten und in einem einigermaßen handlichen Buch unterbringen kann, und läuft zweitens immer wieder Gefahr, das eigentliche Thema der Sinngeschichte über den Einzelfragen der diachronen Textkritik aus dem Auge zu verlieren. Außerdem möchte ich gleich eingangs betonen, dass mein Thema nicht „der alttestamentliche Monotheismus" oder die „Theologie des Alten Testaments" ist, sondern der Auszug aus Ägypten und seine Folgen. Die alttestamentlichen Konzeptionen von Gott und Mensch, Israel und Judentum gehen natürlich weit über das hinaus, was im 2. Buch Mose narrativ und normativ entfaltet wird, auch wenn dies bis heute den Kern der Sache bildet. Die Position, von der aus ich es in diesem Buch unternehme, die so unendlich oft erzählte, kommentierte, gedeutete und gestaltete Exodus-Tradition in „sinngeschichtlicher" Hinsicht zu behandeln, ist die der teilnehmenden Beobachtung. Teilnehmend, weil auch das protestantische Christentum, aus dem ich komme, in der Tradition des Exodus-Mythos steht, teilnehmend aber auch als Deutscher, als Nachgeborener der schwersten Katastrophen und Verbrechen meines Landes, der die Exodus-Erzählung – womit nicht nur das Buch Exodus, sondern der gesamte Erzählungsbogen von Auszug über Bundesschluss und Wüstenwanderung bis zum Einzug ins Gelobte Land gemeint ist – nicht lesen kann, ohne sich der vielfältigen Resonanzen bewusst zu werden, die diese Geschichte in ihm auslöst. Beobachtend, weil die Ägyptologie einen signifikanten Standpunkt sowohl inner- als auch außerhalb dieser Tradition vermittelt. Schließlich ist es ja Ägypten und nicht etwa Assyrien, Babylonien, das Hethiterreich oder irgendein anderes Reich der damaligen Welt, aus dem die Kinder Israels ausgezogen sind. In der Tat repräsentiert das Alte Ägypten die Welt, aus der Israel ausgezogen ist, in beispielhafter, idealtypischer Weise. Von Ägypten aus lassen sich zwei ganz verschiedene Blicke auf die Hebräische Bibel werfen. Der eine sieht vor allem die Kontinuitäten und Parallelen, zwischen ägyptischen Hymnen und biblischen Psalmen, ägyptischen Liebesliedern und dem Hohelied Salomonis, ägyptischen und biblischen Opferbräuchen, Tabus und Reinheits-vorstellungen, ägyptischen und biblischen Vorstellungen vom (Gottes-)Königtum und vieles andere mehr, und sieht Israel eingebettet in die Kulturen der Alten Welt; der andere achtet vor allem auf die Diskontinuitäten, Antithesen, Verwerfungen und sieht in Israel vor allem das Neue, das sich den Ordnungen der Alten Welt als etwas radikal Anderes entgegenstellt und damit den Grund zu der Welt legt, in der wir heute leben. Während ich in den ersten fünfundzwanzig Jahren meiner ägyptologischen Existenz die Bibel ganz im Banne des erstgenannten Zugangs gelesen habe, ist mir seitdem vor allem der andere, diskontinuierliche, antagonistische, revolutionäre Aspekt der altisraelitischen und vor allem frühjüdischen Religion und damit auch die symbolische Bedeutung des Auszugs aus Ägypten aufgegangen. Dieses Buch will weder eine Nacherzählung noch ein Kommentar sein, obwohl es naturgemäß nicht darum herumkommt, beide Formen des Umgangs mit der biblischen Exodus-Überlieferung zu praktizieren. Worum es mir aber vor allem zu tun ist, ist eine „resonante Lektüre", eine notwendigerweise recht subjektive Lektüre der biblischen Texte, in der möglichst viel von dem anklingt, was mir aus meinen ägyptologischen und allgemein kulturellen Interessen und geschichtlichen Erfahrungen vertraut geworden ist. Vor bald fünfundzwanzig Jahren war ich einmal als Ägyptologe von Familie Stroumsa in Jerusalem zu einem Seder eingeladen. Meine Freunde fanden es sinnvoll, sich die Leiden der Kinder Israels im ägyptischen Sklavenhaus einmal aus professioneller Perspektive vergegenwärtigen zu lassen. Diese unvergessliche Nacht endloser Lieder und Erzählungen gilt mir als Ermutigung auch für dieses Vorhaben. „Benutzung nur unter Aufsicht und Anleitung" steht auf einem Schild, an dem ich oft vorbeikomme. Es bezieht sich auf den „Hochseilgarten" des hiesigen Sportgeländes. An so einen Hochseilgarten fühlte ich mich bei der Beschäftigung mit dem Alten Testament erinnert. (…) Konstanz, im Juli 2014 © Verlag C. H. Beck , 2015. Alle Rechte vorbehalten Jan Assmann 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 7 Leseprobe Leseprobe Blum, Hila: Der Besuch | Berlin Verlag | 2014 Übersetzt von Mirjam Pressler | ISBN: 978-3-8270-1194-7 | Gebunden | 416 Seiten | 22,99 € | Auch als E-Book Eine ungewöhnlich hartnäckige Hitze liegt über Jerusalem, ein Wohnhaus stürzt ein, ein Junge verschwindet. Nili und Nataniel haben eine Woche ohne Kinder vor sich, als ein Anruf aus Paris die empfindliche Balance ihres Lebens stört. Der französische Millionär Duclos kommt nach Israel und will sie treffen. Jahre zuvor war er ihnen bei einem unseligen Vorfall in einem Pariser Sterne-restaurant zu Hilfe gekommen. Nie haben sie einander eingestanden, was an diesem Abend geschah. Hila Blums Debüt erzählt nicht nur die Geschichte dieses Paares, Nili und Nataniel, ihrer verborgenen Seiten, Sehnsüchte und nie offenbarten Geheimnisse; es ist ein Roman, der das Porträt einer modernen Familie zeichnet. Blum spürt die Risse in der Fassade auf, Momente der Unsicherheit, die man vielleicht zu schnell kaschiert, Gefühle, die man zu rasch unterdrückt hat. Hila Blum, 1969 in Jerusalem geboren, lebte auf Hawaii, in Paris und New York. Sie arbeitete als Journalistin und seit vielen Jahren als Lektorin. Hila Blum lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Jerusalem. „Immer ist ein Kind da, das nicht nur sehen, sondern auch wahrnehmen kann. Das stille Kind.“ Anne Enright, Das Familientreffen Davor Es gibt Dinge, die können nur in den schmalen Spalten der Nachlässigkeit geschehen, der Unaufmerksamkeit, in einem Wirbel aus Trägheit und Licht. Plötzlich entspringen sie der Phantasie und landen im gelebten Leben. Erklärungen werden erst später gesucht. Die Augen der Sprecher sind feucht, sie glänzen mit falschem Feuer wie die Edelsteine in Kinderschmuck. Sie behaupten alle glühend, gefühlsbetont, jeder auf seine persönliche Art, dass sie nicht wussten, was sie taten, dass sie es nicht bis zum Ende durchdacht hätten. Sie hätten zu ihrer Zeit nur eine Seite weiterblättern können. Jetzt können sie nur eine Seite zurückblättern. Sie bitten um Milde, um Erbarmen, um eine zweite Chance. Sie bieten Reue. Sie verbreiten um sich herum Trauer wie Zahlungsmittel. Das ist es, was sie sagen: Es geschah, als man noch blauäugig war. Als man eine Bergbahn noch für eine passende Metapher für Gefahr hielt. Als man das Vertrauen, das einem die Welt schenkte, wegwarf, wie man Ballast von einem sinkenden Boot wirft. Es sei nur einmal geschehen und es werde nie wieder geschehen. Erster Teil | Nachtsicht Es ist die Woche des Denis Bukinow, des vermissten Jungen. Sein Bild erscheint in allen Zeitungen: ein Lächeln mit einem fehlenden oberen Schneidezahn, ordentlich zur Seite gekämmtem Haar, einem Blick, der Beifall erwartet. Manch-mal kann man auf den Fotos von Vermissten schon Vorzeichen erkennen. Keine ermutigenden Vorzeichen. Es kann etwas in ihrem Blick sein, an der Art, wie sie nicht direkt in die Kamera schauen, sondern weiter weg, an ihr vorbei. Oder es ist etwas in ihrem Lächeln: eine verlegene Flüchtigkeit, ein Mangel an Bereitschaft, auf dem Leben zu bestehen. Aber nicht auf dem Foto von Denis Bukinow. Er sieht ganz lebendig aus, mit klaren Plänen für die Zukunft. Nili denkt, dass man ihn noch finden wird. Nati nicht. Sie streiten sich beim Abendessen darüber: eine kurze Diskussion, verwirrt durch die Hitze. Fast ohne Schwung. Die alten Vorwürfe – seine arrogante Nüchternheit, ihr grundloser Optimismus. Einfach elend. Über einen Jungen, den sie nicht einmal kennen. Danach, ausgestreckt auf dem Sofa, starren sie in den Fernseher, ohne etwas zu sagen. Sie erinnern sich nicht an eine solche Hitze, ganz bestimmt nicht in Jerusalem, eine Dauerhitze, die nicht zwischen Tag und Nacht unterscheidet. Sie erinnern sich nicht an eine ähnliche Geschichte: Ein sechsjähriger Junge verlässt die Schule mit offenen Schnürsenkeln und kommt nicht zu Hause an (der Hausmeister hatte ihn wegen der Schnürsenkel ermahnt, stand in den Zeitungen). Nili kommt es eigentlich vor, als habe sie im Lauf der Jahre von anderen solchen Kindern gehört, es hat noch andere Fälle gegeben. Aber sie erinnert sich nicht genau. Und dann, mitten in das alles, platzt das Klingeln des Telefons. Ein Anruf aus Paris, zu später Stunde. Von Jesaja Duclos. Ein kurzer Wortwechsel. Duclos sagt: „Nati Schoenfeler? Hier Duclos." Mit seiner prahlerischen Stimme, die dröhnend aus dem Hörer schallt. Hier Duclos. Als würden sie immer wieder mal spätabends miteinander telefonieren. Nati braucht länger als den Bruchteil einer Sekunde, um zu verstehen. Um sich zu erinnern. Zu erschrecken. Er sagt: „Duclos? Was für eine Überraschung!" Und dann, ohne jedes Zögern, verkündet Duclos: Er komme morgen für ein paar Tage nach Israel, geschäftlich, er wolle sich mit ihnen treffen. Alles Mögliche passiert in diesem Sommer. Es ist der Sommer der nicht so fernen Katastrophen, einer Kette seltsamer Unfälle. Zwei Wochen zuvor, auf der Straße links hinter dem Lebensmittelgeschäft, ist der vierte Stock eines Wohnhauses eingestürzt. Es war eine Party: Die Leute tanzen, der Fußboden erzittert, und dann öffnet der Fußboden sein Maul und bläst einen Staubpilz in den Himmel. Das Sterben hat eine tiefe, heisere Stimme, wenn es in einem verborgenen Zimmer stattfindet, aber öffentlich wird es zu einem Schrei. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 8 Leseprobe Leseprobe Und nach dem Schrei gibt es einen Moment außerhalb der Zeit, einen kurzen Moment der Stille. Später sieht man im Fernsehen Bilder: ein Regen aus Kalk und Putz und flackernden Glühbirnen. Beine von Menschen, von Tischen, Tischdecken voller Blutflecken. Fast jeden Tag sterben Menschen auf den Straßen. Sprengstoff wird in Rohre geblasen, Bomben werden gebastelt. Das Dach eines Cafés hebt sich in die Luft, salutiert dem Himmel, ein Autobus bricht auseinander, ein Auto wird beschossen. Und dieser Junge, Denis Bukinow, läuft immer weiter mit offenen Schnür-senkeln herum, die ganze Woche lang, läuft und kommt nicht zu Hause an. Und die Hitze. Und dann – das Telefon. Eine Falte erscheint auf Nilis Stirn. Was soll das? Duclos? Plötzlich soll man sich treffen? Ein Anruf, nach neun Jahren? Ohne dass er sagt, worum es geht? Wozu? Nati entschuldigt sich. Nein, er entschuldigt sich nicht direkt. Ist es etwa seine Schuld? Es ist doch nur Zufall, dass er das Gespräch angenommen hat. Und wenn es Nili gewesen wäre, was hätte sie gesagt? Nein danke, kein Interesse? Das heißt, Danke, aber ersparen Sie uns das Vergnügen? Nun denn, sie werden sich übermorgen um acht Uhr zum Abendessen treffen, im Restaurant des King David, dort wird er wohnen. „Vielleicht", fragt Nili, „erwartet er, dass wir ihn zu uns nach Hause einladen?" Nati zuckt mit den Schultern. „Ich verstehe nichts von diesen Dingen", sagt er. Er steckt sich eine Zigarette an, die zweite, seit er den Höreraufgelegt hat, und lehnt sich zurück. In den letzten Jahren gab es Zeiten, in denen er sich Zigaretten zugeteilt, und andere, in denen er es nicht getan hat. Jetzt – er weiß es noch nicht – fängt wieder eine Zeit des Nichtzuteilens an. Er raucht und wartet darauf, dass Nili etwas sagt. Wenn sie fortfährt, ihm Dinge anzuhängen, so kann er das auch. Seine Sinne sind geschärft. Er gebe zu, sagt er, wenn Duclos jetzt anriefe, würde er sich ganz anders verhalten. Aber auch so habe er seine Sache nicht schlecht gemacht, Nili könne sagen, was sie wolle. Im Alter von vierundvierzig, sechs Jahre älter als Nili, hat Nataniel Schoenfeler ein paar feste Vorrechte, zum Beispiel kann er entscheiden, welche Mängel und welche Vorzüge er hat. Und er besitzt das Recht, seine Lebenserfahrung ins Feld zu führen. Seit einigen Jahren joggt er fast jeden Abend, alles hat sich gefestigt. Er regt sich schon nicht mehr darüber auf, dass sich sein Haar lichtet, und er hat sogar gelernt, seine Ohren zu lieben, die ihm selbständiger und absonderlicher denn je aus dem Spiegel entgegenschauen. Eigentlich gefällt ihm die Idee immer besser: Der Dicke will sich also mit ihnen treffen. Er denkt, das könnte ganz lustig werden. Warum nicht? Aber da ist die ganze Zeit auch das Gefühl, das sich kurz nach dem Telefonat eingestellt hat: als verberge sich etwas. Was will er von ihnen? Und Nili, die ihn so anschaut. Woran ist er schuld? Besonders jetzt, da die Mädchen nicht da sind, um das Haus mit Lärm zu erfüllen. Sie haben Duclos nur einmal getroffen. Dabei ist das Wort getroffen wirklich übertrieben. Vielleicht sollte man eher sagen, sie sind ihm und seiner Frau begegnet, anlässlich einer ärgerlichen Begebenheit, bei der sie die Verlierer waren. Es war am Ende ihres Urlaubs in Paris, vor neun Jahren, und dieser Duclos, das muss man zu seinen Gunsten sagen, half ihnen aus der Klemme, doch zugleich ließ er es sie spüren, dass sie Hilfe brauchten. Und seine Frau, mit ihren braunen Haaren und den braunen Schultern, mit dem angeberischen Namen – Pauline Marielle Duclos, ein Name wie aus einer Werbung –, stand daneben und betrachtete sie wie Schoßhündchen. Man muss zugeben: Nachdem es passiert war, nachdem Nati und Nili schon wieder in Jerusalem waren, erzählten sie anderen mit außerordentlichem Vergnügen davon. Es war ihre Lieblings-geschichte aus dem Paris Urlaub, die Tausendundeine-Nacht-Erzählung, die Touristen am Zoll vorbeischmug-geln, ein Skalp am Gürtel. Und ab und zu haben sie, in stillschweigendem Einverständnis, die Version ausgeschmückt. Ein Detail da, ein anderes dort. Sie übertrieben Duclos’ lärmende Stimme, schoben ihm eine Zigarre in den Mundwinkel, verwandelten ihn in ein echtes Schwein mit polierten Schuhen und einer goldenen Uhr. Sie kreierten eine vollendete Geschichte. Und dann das. Plötzlich ruft Duclos an, beruft sich auf eine Einladung, die vor neun Jahren ausgesprochen wurde, die überhaupt nur ein Lippenbekenntnis war. Plötzlich ein einziger Anruf – und ihre Erinnerungsmaschinerie bleibt mit einem verwirrenden Schlag stehen, dann hört man ein heiseres Rasseln der Zahnräder, bevor sie sich rückwärts zu drehen beginnt. Nein, Duclos war kein Zigarre rauchendes Schwein mit polierten Schuhen. Er war ein Fuchs und lebte fern jeder Zeichentrickwelt. Und das war nicht nur eine lächerliche Unannehmlichkeit gewesen, dort in Paris, sondern eine echte Notlage. Alles andere als die amüsante Geschichte, zu der sie später, erst nach ihrem Ende, geworden war. Aber ist sie überhaupt zu Ende? © Berlin Verlag, 2014. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 9 Leseprobe Leseprobe Buber, Martin: Die Erzählungen der Chassidim | Manesse Verlag | 2014 Nachwort von Michael Brocke | ISBN: 978-3-7175-2368-0 | Großformatige Geschenkausgabe in Leinen | 784 Seiten | 29,95 € Am 13. Juni 2015 jährt sich Martin Bubers Todestag zum 50. Mal. Der Chassidismus, die religiöse Bewegung der Juden Osteuropas, entstand im 18. Jahrhundert und brachte eine Fülle legendenhafter Erzählungen hervor. Teils mündlich, teils schriftlich niedergelegt, hatten diese Geschichten lange Zeit keinerlei Anspruch auf literarische Gültigkeit. Es ist das Verdienst Bubers, der sie sammelte, sprachlich formte und philosophisch einordnete. „Die Erzählungen der Chassidim“ stellte er 1949 persönlich für den Manesse Verlag zusammen Zum Jubiläum erscheint die um Register, Anmerkungen und Glossar erweiterte Ausgabe. Michael Brocke, einer der renommiertesten deutschen Judaisten, beleuchtet im Nachwort Bubers epochales Werk aus heutiger Sicht. Martin Buber (1878 bis 1965) war eine der führenden Persönlichkeiten des Judentums im 20. Jahrhundert und ein Vorreiter des jüdisch-christlichen Dialogs. Geboren in Wien, aufgewachsen in Lemberg, studierte er Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte und Psychologie in Wien, Berlin, Leipzig und Zürich. 1924-1933 war er Professor für Allgemeine Religionswissenschaft in Frankfurt a. M. Buber, der sich früh dem Zionismus anschloss, wanderte 1938 nach Palästina aus und lehrte an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Nach dem 2. Weltkrieg war er einer der wenigen ehemals deutschen Juden, die in der Öffentlichkeit wieder eine Brücke zu Deutschland schlugen. 1953 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. ISRAEL BEN ELIESER, DER BAAL-SCHEM-TOW | Am Baum der Erkenntnis Es heißt, die Seele des Baalschemtow sei einst, als alle Seelen in der Adams versammelt waren,* in der Stunde, da er am Baum der Erkenntnis stand, geflohen und habe nicht von der Frucht des Baums gegessen. * Nach der Kabbala waren alle Menschenseelen in der Adams enthalten und haben von da aus ihre Wanderschaft angetreten. | Die sechzig Helden Es heißt, die Seele des Israel ben Elieser habe sich geweigert, in diese niedre Welt hinabzufahren; denn sie scheute sich vor den Brandschlangen, die in jedem Geschlecht einherzüngeln, und fürchtete, sie konnten ihr den Mut schwachen und sie zunichte machen. Da gab man ihr sechzig Helden mit, den sechzig gleich, die das Lager des Königs Salomo umstanden gegen den Schrecken in den Nächten – sechzig Seelen von Zaddikim, sie zu hüten. Das sind die Schüler des Baalschem. | Probe Es wird erzählt: Elieser, der Vater des Baalschem, wohnte in einem Dorfe. Er war ein so gastfreier Mann, dass er am Dorfrand Wachter aufstellte, die mussten die armen Wanderer auffangen und zu ihm bringen, dass er sie verpflege und versorge. Im Himmel freute man sich seines Tuns, und einmal kam man überein, ihn zu prüfen. Der Satan machte sich dazu erbötig; aber der Prophet Elija bat, man möge lieber ihn gehen lassen. In der Gestalt eines armen Wanderers mit Ranzen und Stab trat er an einem Sabbatnachmittag an Eliesers Haus und sprach den Gruß. Elieser achtete der Sabbatverletzung nicht, denn er wollte den Mann nicht beschämen; er lud ihn sogleich zum Mahl und behielt ihn bei sich. Auch am nächsten Morgen, als der Gast Abschied nahm, sprach Elieser keine Rüge aus. Da offenbarte sich ihm der Prophet und verhieß ihm einen Sohn, der die Augen Israels erleuchten werde. | Der Spruch des Vaters Israel wurde seinen Eltern in ihrem Alter geboren, und sie starben weg, als er ein Kind war. Da sein Vater den Tod nahen fühlte, nahm er den Knaben auf den Arm und sprach zu ihm: „Ich sehe, dass du mein Licht zum Leuchten bringen wirst, und mir ist nicht beschieden, dich großzuziehn. Aber, geliebter Sohn, gedenke wohl all deine Tage, dass Gott mit dir ist und du daher kein Ding der Welt zu fürchten hast.“ Der Spruch blieb im Herzen Israels. | Das vergebliche Bemühen Nach dem Tod des Vaters nahmen sich um seines ihnen teuren Gedächtnisses willen die Leute der Stadt des Knaben an und gaben ihn zu einem „Melammed* in die Lehre. Israel lernte zwar eifrig, aber immer nur etliche Tage hintereinander. Dann entwich er stets aus der Schule, und man fand ihn im Walde allein. Man schrieb das dem Umstand zu, dass er eine Waise sei und der rechten Aufsicht entbehre, und brachte ihn immer wieder zum Melammed zurück, und immer wieder floh er in den Wald und erging sich darin, bis schließlich die Leute der Stadt daran verzweifelten, einen Menschen aus ihm zu machen. * Kinderlehrer 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 10 Leseprobe Leseprobe | Der erste Kampf Es wird von Israel ben Elieser erzählt: Als der Knabe heranwuchs, verdingte er sich als Schulhelfer. Er holte am Frühmorgen die Kinder aus den Häusern und brachte sie in die Schule und ins Bethaus. Er sprach ihnen die Worte des Gebets, die im Chor gesprochen werden, wie „Amen, es sei Sein Großer Name gesegnet in Ewigkeit“, mit einer lieblichen Stimme vor. Im Gehen sang er ihnen vor und lehrte sie, zusammen mit ihm zu singen. Zuletzt führte er sie über Wiese und Wald nach Haus. Die Chassidim erzählen, im Himmel habe man sich allmorgendlich dieser Lieder erfreut wie einst des Gesangs der Leviten im Heiligtum zu Jerusalem. Es waren Stunden der Gnade, in denen die himmlischen Scharen sich versammelten, um den Stimmen der Sterblichen zu lauschen. Darunter aber war auch Satan. Er verstand wohl, dass, was sich da bereitete, seine Macht auf Erden bedrohte. So ging er in den Leib eines Zauberers ein, der sich in einen Werwolf zu verwandeln wusste. Als einmal Israel mit seiner Schar singend durch den Wald zog, überfiel sie der Unhold, und die Kinder stoben schreiend auseinander. Etliche unter ihnen erkrankten vom Schreck her, und die Väter beschlossen, dem Treiben des jungen Schulhelfers Einhalt zu tun. Er aber gedachte der Sterbensworte seines Vaters, ging von Haus zu Haus, versprach den Leuten, ihre Kinder zu schützen, und es gelang ihm, sie zu bewegen, dass sie ihm die kleine Schar noch einmal anvertrauten. Mit einem kräftigen Stecken versehen, führte er sie das nächste Mal an, und als der Werwolf wieder hervorbrach, schlug er ihm den Stecken an die Stirn, dass er auf der Stelle verreckte. Tags darauf fand man den Zauberer tot auf seinem Bett. | Die Beschwörungen Es wird weiter erzählt, dass Israel danach zum Diener am Lehrhaus bestellt wurde. Da er nun Tag und Nacht dort zu verbringen gehalten war, aber das Gebot des Himmels empfand, seine Andacht und Versenkung geheim zu halten, pflegte er, wenn die Insassen des Lehrhauses wachten, zu schlafen, und wenn sie schliefen, betend und lernend zu wachen. Sie aber meinten, er schlafe die Nacht über und noch in den Tag hinein. Die Chassidim erzählen von wunderbaren Dingen, die sich damals begaben. Vor der Zeit des Baalschemtow, so wird erzählt, lebte, man weiß nicht mehr wo, aber es heißt, dass es die Kaiserstadt Wien war, ein wundertätiger Mann, Adam mit Namen, der wurde, wie eine Reihe wundertätiger Männer vor ihm, Baalschem, das ist Meister des Namens, genannt, weil er den geheimen vollen Gottesnamen kannte und so auszusprechen verstand, dass er mit seiner Hilfe die seltsamsten Dinge wirkte, insbesondre aber Menschen an Leib und Seele heilte. Als Adam sich dem Tode nah fühlte, wusste er nicht, wem er die uralten, vom Erzvater Abraham her überkommenen Schriften lassen solle, aus denen er die Geheimnisse gelernt hatte. Denn sein einziger Sohn war zwar ein gelehrter und frommer Mann, aber solchen Erbes nicht würdig. So tat er denn die Traumfrage an den Himmel und erhielt zur Antwort, die Schriften seien Rabbi Israel ben Elieser in der Stadt Okup zu übergeben, der zurzeit vierzehn Jahre alt sei. Vor dem Sterben erteilte er seinem Sohn den Auftrag. In Okup angekommen, vermochte der Sohn erst nicht zu glauben, dass der Lehrhausdiener, der allgemein als ein unwissender und ungeschliffener Junge bezeichnet wurde, der Gesuchte sei. Er beobachtete ihn insgeheim, indem er im Lehrhaus saß und sich von ihm bedienen lies, und merkte bald, wie Israel sein wahres Wesen und Tun der Welt verbarg. Nun eröffnete er sich ihm, übergab ihm die Schriften und erbat sich nur, an deren Erforschung unter seiner Anleitung beteiligt zu werden. Israel willigte ein, bedingte aber, dass das Einvernehmen geheim bleibe und er den Fremden weiter bediene wie bisher. Dieser mietete ein kleines, abgeschiedenes Haus außerhalb der Stadt. Mit Freuden überließen die Leute der Gemeinde ihm Israel zu seiner Bedienung und schrieben es dem Verdienst seines Vaters zu, dass der fromme und gelehrte Mann sich seiner annahm. Einmal forderte Rabbi Adams Sohn den Knaben auf, mithilfe der Anweisungen, die in den Schriften gegeben wurden, den Fürsten der Thora herabzurufen, um ihn über Schwierigkeiten der Lehre zu befragen. Lange wehrte Israel das Wagnis ab, endlich aber gab er dem Drängenden nach. Sie fasteten von Sabbat zu Sabbat, tauchten, und nach Sabbatausgang taten sie das Vorgeschriebene. Es schlich sich jedoch, weil der Sinn des Fremden nicht rein genug auf die Lehre selber gerichtet war, ein Irrtum ein: statt des Fürsten der Thora erschien der Fürst des Feuers und wollte die Stadt verbrennen, die es nur mit großer Anstrengung zu retten gelang. Wieder bedrängte Rabbi Adams Sohn den Knaben lange Zeit, den Versuch zu erneuern. Er weigerte sich beharrlich, das offenbar dem Himmel Ungefällige noch einmal zu versuchen. Erst als der Fremde ihn bei der Erinnerung an den Vater, der ihm die Wunderschriften übermacht hatte, beschwor, stimmte er zu. Wieder fasteten sie von Sabbat zu Sabbat, wieder tauchten sie, wieder taten sie nach Sabbatausgang das Vorgeschriebene. Da schrie der Knabe auf, der Tod sei über sie verhängt, es sei denn, sie durchwachten die Nacht in einer unablässigen Ausrichtung der Seele. Sie standen die Nacht durch. In der Morgendämmerung konnte Rabbi Adams Sohn der Müdigkeit nicht langer standhalten und schlief stehend ein. Umsonst versuchte Israel, ihn zu wecken. Man begrub ihn mit großen Ehren. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Manesse Verlag, Zürich 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 11 Leseprobe Leseprobe Büscher, Wolfgang: Ein Frühling in Jerusalem | Rowohlt.Berlin | 2014 ISBN 978-3-87134-784-9 | Gebunden | 240 Seiten | 19,95 € | Auch als E-Book Zwei Monate lebte Wolfgang Büscher in der Altstadt von Jerusalem: in einem arabischen Hostel am Jaffator und in einem griechischen Konvent aus der Kreuzritterzeit. Er bewegte sich auf fast zweitausend Jahre alten Spuren: schon in den ersten Jahrhunderten nach Christus gingen Europäer nach Jerusalem, um eine Weile zu bleiben oder sogar ganz. Ein Ort, aufgeladen mit Religion, Prophetie, Politik. Früh um fünf auf dem Ölberg stehend, kann man es hören und sehen: erst die Muezzins, dann die Glocken, dann das erste Sonnenlicht auf der goldenen Kuppel des Felsendoms. In all das taucht Büscher ein. Er hört Jerusalem zu, nimmt seine Bilder und Stimmen auf, dringt immer tiefer ein in die Geheimnisse der Stadt. Verbringt die Tage im arabischen, christlichen, jüdischen Viertel, in den halbdunklen Gassen und Souks, auf der Via Dolorosa, an der Klagemauer und in Gewölben, in denen arabische Männer Kardamomkaffee trinken und Wasserpfeife rauchen. Er läuft durchs Kidrontal, durch den Garten Gethsemane, wandert über das Dach von Jerusalem und lässt sich eine Nacht lang in der Grabeskirche einschließen. Wolfgang Büscher, geboren 1951, ist Autor der „Welt“. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, u.a. „Drei Stunden Null“, „Berlin – Moskau“, „Deutschland, eine Reise“, „Asiatische Absencen“ und „Hartland“. Büscher erhielt zahlreiche Preise, zuletzt den Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis und den Ludwig-Börne-Preis. Schwarze Fahrt Eine kuriose Fracht war es, die der kleine Bus hinauf nach Jerusalem fuhr, als habe ein Spötter sich das ausgedacht – zehn Fahrgäste in einem Großraumtaxi, blass und ernst und in frommes Schwarz gekleidet fast alle, chauffiert von einem mürrischen Fahrer, der sie am Flughafen aufgelesen hatte. Dort hatten sich die Fluggäste in zwei Gruppen geteilt; die einen fuhren zum Feiern nach Tel Aviv, die anderen fuhren zum Beten nach Jerusalem. Die vorderen Plätze im Taxi nahmen drei Amerikaner ein, orthodox auf den ersten Blick mit ihren Vollbärten, schwarzen Mänteln und schwarzen Hüten, eigentlich schauten nur Hände, Lippen und Augen aus all dem Schwarz hervor. In den Händen hielten sie zerlesene Büchlein, die Augen hingen an den keilschriftartigen Zeichen darin, die Lippen lasen stumm mit. Hinter ihnen saßen sehr aufrecht drei junge russische Nonnen, die Gesichter bleich wie Milch unter den eng gebundenen schwarzen Hauben. Das einzige Zugeständnis an ihre Weiblichkeit waren frei um die Schultern spielende Samtbänder, die dem fußlangen Schwarz ein wenig von seiner Strenge nahmen. Die Rückbank endlich teilten sich ein älteres englisches Ehepaar, ein schläfenlockiger junger Schlaks im glänzenden schwarzen Kaftan, der unentwegt telefonierte, und ich, der das alles sah. Je mehr mein Nebenmann in sein Mobiltelefon hineinredete, einen abgenagten Knochen aus der Frühzeit dieser Technologie, desto schwerer fiel es mir, ihm nicht zuzuhören, und es lag nicht nur an seinem sanft raspelnden Bariton. Die Sprache selbst weckte meine Neugier. Vertraute Wörter blitzten darin auf, helles Treibgut im dunklen Strom seiner Rede. Was ich da aufschnappte, das waren, wenn auch sonderbar intoniert, Brocken meiner Muttersprache. „Die Eltern" fiel mehrmals, und „kein TV". Seine Eltern besäßen keinen Fernseher, das war es wohl, was er dem, mit dem er die ganze Zeit telefonierte, klarzumachen versuchte. Kehlig kam das alles aus ihm heraus. Die „Eltern" sprach er mit breitem „Ä", das „kein" kaute er zu „kejn". Ein altmodisches, irgendwie osteuropäisch klingendes, singendes Kryptodeutsch, fremd und vertraut zugleich. Ich ahnte, was es sein mochte, aber erst als er eine Telefonnummer durchgab, war ich ganz sicher. „Fünneff – zwej – fünneff – drej – sechse – siebene – achte!" „It’s Yiddish", sagte der Engländer in mein spätes Begreifen hinein, „die Sprache der Ostjuden", und mit einer Kopfbewegung zu dem zwischen uns Sitzenden hin: „Bei denen ist sie immer noch in Gebrauch." Dem Schlaks schien es nichts auszumachen, dass nun über ihn geredet wurde, so über ihn hinweg. Er lächelte freundlich und nickte zu allem, was wir über ihn und seine Welt sagten, die Welt der Ultraorthodoxie. Er verstand es wohl nur halb, sein Englisch war, wie sich zeigte, schwach. Inzwischen hatte der Bus die Straße, die von der Küstenebene ins judäische Bergland hinaufführt, verlassen und erreichte nun Jerusalems westliche Vorstädte. Er fuhr aber nicht geradezu in die Stadt hinein, er brachte jeden Fahrgast bis vor seine Tür. Der Fahrer ließ keinen Umweg aus, er nahm all die Hänge und Haarnadelkurven, so schnell er konnte, erfüllt von einer grimmigen Freude, seine schwarze Fracht ordentlich zu rütteln und zu rollen. Linksherum riß er das Steuer, rechtsherum, jagte bergan und bergab, neben mir gerieten die Schläfenlocken ins Schwingen. Tief drangen wir in Jerusalems kalkweiße Vorstädte ein, steil aufragend an den Hängen wie Festungswerke. Jetzt hielt der Bus. Und weil er auf einer Anhöhe hielt, bot sich freie Sicht weit ins Land. Ich sah, wo ich war, und erschrak. Es war aber nicht das Land, es war das Licht. Einer war über die Erde gegangen und hatte Schwefel gesät. Viel Himmel sahen wir, ganz Jerusalem sah ich daliegen, dahinter die Berge von Judäa, wieder dahinter das Land Moab jenseits des Jordantals, und alles in diesem schwefligen Unheilslicht. Es griff nach dem Verstand, nach dem Glauben, dass alles gut wird, es stach in die Gegend des Solarplexus – Innewerden eines unverzeihlichen Leichtsinns, einer Gefahr. Ich war nicht der einzige im Bus, dem so zumute war. Alle ließen von ihren leisen Gesprächen ab, sahen von ihren Büchern auf, schauten hinaus und verstummten. Vielleicht der Chamsin, versuchte ich mich zu beruhigen, der Wind aus der Wüste, der Jerusalem immer wieder in seinen gelben Dunst hüllt und das Gemüt auch, der Idiotenwind, der einen Schweif von Verrücktheit nach sich zieht. Aber der Chamsin kam gewöhnlich im Frühling, und noch war Winter. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 12 Leseprobe Leseprobe Wenn es nicht der Chamsin war, was war es dann? Wo hatte ich dieses Licht schon einmal gesehen, diesen schwefligen Vorschein einer Gefahr? Plötzlich wusste ich es – auf Bildern. Bildern, die nichts Gutes verheißen. Es gab Maler, die dieses Licht kannten. Noch vor einer Stunde war ich unter Menschen gewesen, die guten Mutes waren oder wenigstens so taten, die ein Zutrauen in die Welt an den Tag legten, und die Welt gab sich alle Mühe, ihnen eine vertraute zu sein – die eingespielten Flughafenriten, der gute Espresso an der Flughafenbar, die beruhigenden Ansprachen des Kabinen-personals. Der Bus fuhr wieder an, fuhr durch Straßen und Viertel, in denen lauter Schwarzgekleidete ihrer Wege gingen. Was war das da draußen, ein Leichenbegängnis? Etwas fehlte, das Leichte, der leichte Sinn, der den Tod verlacht. Gesenkten Hauptes gingen die Leute einher, als wagten sie nicht aufzuschauen und fürchteten, etwas zu erblicken. In diesem Licht konnte ein Zeichen erscheinen, eines, das man wünschte, nie gesehen zu haben. Als die anderen Fahrgäste ausgestiegen waren und nur noch das englische Paar und ich im Bus saßen, riß der Mann ein Blatt aus seinem Taschenkalender, schrieb ein Wort darauf und gab es mir – „Akedah". Ein wichtiges Wort, sagte er, ich möge ihm einmal nachgehen. Ich versprach, es zu googeln. Er schüttelte den Kopf. Etwas mehr Mühe würde ich mir schon geben müssen. Er sagte noch, ein Lied heiße so, geschrieben habe es ein spanischer Sepharde im 12. Jahrhundert, „und wir singen es noch immer, am Abend, bevor der Schofar geblasen wird. Sie kennen den Schofar, das Widderhorn?" Ich nickte, es war Zeit für mich. Ich steckte das Blatt ein, zahlte den Fahrer, sprang ab, riß die Hecktür auf, die wilde Fahrt hatte alles Gepäck durcheinandergeworfen, zog meinen zerbeulten, zerschrammten blauen Koffer hervor und stand vor der Mauer, hinter der ich die nächsten Wochen und Monate verbringen würde, vor Sultan Süleymans Mauer um das dreitausendjährige Jerusalem. Den blauen Koffer in der Hand, betrat ich durchs Jaffator die Heilige Stadt. I . Die erste Zeit Das Fenster Sobald das Tor durchschritten war, fiel alle Beklommenheit von mir ab – gerettet. Es war nur ein altes Stadttor, eines von sieben in Jerusalems osmanischer Mauer, aber diese Mauer stand fest. Jerusalem stand fest. Ich war in festen Mauern und würde sie so bald nicht wieder verlassen. Rasch regelte ich, was mit dem arabischen Wirt meines Hostels am Jaffator zu regeln war, schob den Koffer ins Zimmer, das er mir zuwies, die Nummer 29, eine strenge, steinerne Kammer, das Eisenbett füllte sie fast ganz aus, schloss die Tür gleich wieder zu und ging los, einem Bild nach, einer Erinnerung. Jetzt war der richtige Moment, danach zu suchen, die Stunde der Abenddämmerung, in der die Häuser erleuchtet werden und warmes Licht aus den Fenstern fällt. Schon einmal war ich hier gewesen, um diese Abendzeit in diesen stillen Treppengassen, in denen, während hoch am Himmel der Tag in verschwenderischen Farben verglüht, schon die Nacht steht. Da hatte ich das Fenster gesehen – den erleuchteten Raum, den gedeckten Tisch. Der Anblick traf mich wie ein Schlag aufs Herz. Reglos verharrte ich vor dem Fenster und starrte hinein, bis der Gedanke mich aufschreckte, du kannst hier nicht bleiben, man wird dich sehen. Die Tür in die Wohnung hinein stand halb offen, gleich würden die, denen der Tisch bereitet war, eintreten zu ihrem Sabbatmahl. Ich hatte mich losgerissen und war ins Dunkel zurückgetreten, aus dem ich gekommen war, aber ich ging nicht mit leeren Händen. Ich schnitt das Bild aus dem Fensterrahmen und nahm es mit, ein Dieb in der Nacht. Viele Jahre war das her, wieder lief ich durch diese Gassen und suchte das Fenster, dachte darüber nach, was mich damals so getroffen hatte. „Der bereitete Tisch", so hieß das gestohlene Bild, darum ging es. In einer sich auflösenden Welt stand der Tisch da, wie er immer dagestanden hatte, und verweigerte die Auflösung. Jemand wollte es so, jemand hatte ihn für die Seinen festlich gedeckt, jemand hielt diese Stunde heilig, und die Welt legte sich und wurde still, wie der Wind sich legt am Abend, sie wurde heil für ein paar Minuten.. Ich nahm es mir nicht vor, und doch fand ich mich Abend für Abend, wenn die Dämmerung einsetzte, durch die Treppengassen des jüdischen Viertels über der Klagemauer streunend, auf der Suche nach etwas so Lächerlichem wie einem Fenster, an dem ich vor Jahren ein paar Sekunden lang stehengeblieben war. Einige Male ging mein Puls schneller, dann glaubte ich, es gefunden zu haben, aber jedes Mal irrte ich mich und gab die Suche auf, für diesen Abend und schließlich ganz. Hier wird viel gebaut, sagte ich mir, dein Fenster gibt es nicht mehr. Zwei Felsen In einer so strahlenden Frühe erwachte ich in meinem Eisenbett, als wisse die Welt nichts von gestern und kenne kein Morgen. Dann stand ich im eiskalten Wasser, das von der Decke fiel. Nach dem Duschen nahm ich den Feger und schob die Duschwasserlache in das Loch im Steinboden, zog meine wärmsten Sachen an und die Tür von Zimmer 29 zu, beachtete die in Tabletspielen gefangene Hostelwache so wenig wie sie mich, sprang die steile Treppe hinab, zwängte mich an der Wechselstube im Eingang vorbei, hinein ins Gedränge der David Street. Eine enge Ader des alten Jerusalem, in die nie ein Sonnenstrahl fiel, vom Jaffator her strömten unablässig Menschen herein. Ich wartete eine Lücke ab und glitt in den Strom. Darin standen die Händler wie Bären in einem fischreichen Fluss. Wie jene, mussten sie sich keine Mühe geben beim Fischen, sie sperrten einfach den Mund auf. „Hello, Sir! Shopping, Sir! Come see my shop!" Der vertraute Refrain des Basars, der vertraute Reflex stellte sich ein: Augen zu Boden, nur nicht hinsehen. Einige pfiffen nach Kundschaft. Jeden fahrlässigen Blick fingen sie ein, es würde Kraft kosten, sich wieder loszureißen. Einmal hineingelockt in einen dieser schmalen, aber oft tiefen Läden, fällt es dem Nichtorientalen in seiner skrupulösen Unbeholfenheit schwer, freizukommen, die Händler wissen das – die jahrtausendalte Basarschläue der Heiligen Stadt. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 13 Leseprobe Leseprobe Wer nach Jerusalem pilgert oder reist, der will aus Jerusalem auch etwas heimbringen, das ist immer so gewesen, darauf ist Verlaß. Jerusalem, made in China. Souvenirs der religiösen, der politischen, der folkloristischen Art. Falsche Antiquitäten, vielleicht auch ein paar echte darunter. Teppiche, garantiert beduinisch, Ikonen, garantiert altrussisch, „special prize, Sir!". Die meisten Händler sind Moslems, aber natürlich führen sie alle gängigen Kippa-Sorten. Schlichte schwarze, wie fromme Juden sie tragen, und die aus schwarzem Samt für die ganz Frommen. Auch gehäkelte weiße mit Symbolen darauf nach dem weit schlechteren Geschmack der Siedler. „Dazu vielleicht ein T-Shirt, Sir, das hier mit dem Fallschirmjägerlogo? Oder lieber das mit 'Guns N’ Moses'? Katholische Meßgewänder, bitte sehr, in Rot, Grün und Weiß. Oder darf es eine schwarze Ganzkörper-hülle sein, mit Sehschlitz für die Salafistengattin? Doch lieber etwas Traditionelles? Ein Kopftuch vielleicht im haschemitischen Stil, rot-weiß mit schwarzer Kordel, wie der jordanische König es trägt? Kommen Sie, Sir, ich zeige Ihnen, wie man es anlegt. Ah, Sie bevorzugen ein palästinensisches, schwarzweiß wie auf den Jassir-Arafat-Plakaten? Auch nicht, zu politisch, lieber was aus Bethlehem? Eine Krippe, aus Olivenholz geschnitzt, in jeder gewünschten Größe. Oder sind Sie Moslem, Sir? Schauen Sie – die Kaaba, in Kupfer getrieben, dazu gratis den heiligen Qur’an." Das alles dutzendfach, tausendfach, dicht an dicht, ein Angebot, scharf zugeschnitten auf die Segmente Pilger, Tourist. Aber auch für den durchreisenden Fanatiker ist etwas dabei, und selbst die bedauernswerteste aller Gruppen, die ganz Unmusikalischen, die an Jerusalem nur mal nippen wollten und bald merkten, dass das nicht geht – selbst solche Leute fanden hier in der David Street irgendein buntes Tuch, eine armenische Vase, ein Mitbringsel aus dem Morgenland. Wenn ich früh durch die Gassen ging, über Steine manchmal, über die schon Römersandalen gelaufen waren, wuchtige Platten, so weich getreten von Byzantinern, Mamelukken, Kreuzfahrern, Osmanen, dass ich bei Regen auf ihnen ausglitt; wenn ich dann den Basarhändlern zusah, wie sie ihre blechernen Läden, die mitunter ihr ganzes Geschäft enthielten, aufklappten wie Schwarzmarkthändler ihre langen Mäntel, wie sie mit langen Hakenstöcken ihre Köder hochhängten, Morgen für Morgen dieselben Teppiche, Burnusse und lustigen T-Shirts, die durchsichtige Bauchtanzwäsche für das Abenteuer daheim, rot oder quietschgelb und mit falschen Goldmünzen behängt, dann hatte der Basar etwas verzweifelt Trostloses, und es wiederholte, steigerte, vervielfachte sich von Laden zu Laden. Wie auch nicht. Jerusalem hat nichts anderes zu bieten als das, nie zu bieten gehabt. Kein Gold, kein Öl, keine seltenen Erden. Nicht einmal die Orangen und Granatäpfel, die von früh bis spät in seinen vier Vierteln – dem armenischen, christlichen, jüdischen, moslemischen – zu Saft gepresst und zu nicht minder saftigen Preisen den Fremden gereicht werden, nicht einmal diese Früchte kommen von hier. Sie wachsen in der fruchtbaren Küstenebene unten am Mittelmeer, dem Land der Philister, das im Namen der Palästinenser fortlebt. So arm ist Jerusalem, weltlich betrachtet. Bettelarm. Nur eines hat die Stadt zu bieten, ihre Heiligkeit für den Rest der Welt. Ein guter Ort, um das zu begreifen, war das Dach meines Hostels. Ich hatte ohnehin genug vom Trubel, und so stieg ich aus der Schattenwelt der Basargassen wie der die enge Treppe hinauf ins Hostel und die noch engere aufs Dach. Nun sah ich klarer. Hingebreitet im gleißenden Mittagslicht lag das steinerne Jerusalem, und aus dieser weißgrauen Steinlandschaft ragten zwei Hügel heraus, zwei Kuppeln, seine beiden heiligen Felsen: Golgatha und Tempelberg. Was vom Felsen auf dem Tempelberg gesagt wird, reicht so tief wie möglich hinein in die Anfänge alttestamentarischer Erinnerung. Es ist der Fels vieler Namen. Grabhöhle Adams. Verschlußstein der Sintflut. Thronsitz Jahwes. Nabel der Welt. Und noch ein Wort gehörte hierher, der englische Sepharde hatte es mir im Taxi aufgeschrieben. Akedah, das heißt Bindung. Auf den Tempelbergfelsen dort drüben soll Abraham seinen gebundenen Sohn gelegt haben, Isaak, bereit, ihn zu opfern. Akedah – die Bindung des eigenen Sohnes mit Stricken als Bund des Vaters mit Gott, dem Gott, der ein solches Opfer nicht will und Abraham in den Arm fällt. Aber auch die Bindung des Abraham, seine Bereitschaft, so weit zu gehen. Der Fels auf dem Tempelberg ist der alttestamentarische, der jüdische Felsen. Dort zu wohnen, mitten unter seinem erwählten Volk, hatte Gott den Juden verheißen. Auf diesem Fels bauten sie Jahwe ein irdisches Haus, den großen Tempel, den erst die Babylonier und dann endgültig die Römer zerstörten, im Jahre 70 nach Christus. Der Überlieferung nach stand das Allerheiligste im Inneren des Tempels auf dem Felsen selbst. Auf ihn legte der Hohepriester die Schaufel mit glühenden Kohlen, hier räucherte er, hier stand der Brandopferaltar, hier floss das Blut der Opfertiere. Es war der heiligste jüdische Ort der Tempelzeit. Auf dem zweiten Fels hatte das Kreuz gestanden. Nur ein paar hundert Meter von Abrahams Opferstein entfernt – und ihm so fern wie nur möglich, das andere Ende der biblischen Parabel. Dem Abraham, der ihm den Sohn opfern will, verwehrt Gott dieses Opfer im letzten Moment. Auf Golgatha opfert er selbst seinen Sohn. Der eine Felsen antwortet dem anderen. Von meinem Dach aus war das alles nicht zu begreifen. Es war nicht einmal zu sehen, denn zwei Kuppeln verstecken die beiden Felsen – die goldene Kuppel des Felsendoms bedeckt Abrahams Grab, und die graue Kuppel der Grabeskirche überwölbt Golgatha. Und um es noch komplizierter, noch magnetischer zu machen – der Fels auf dem Tempel-berg ist auch ein moslemischer heiliger Ort. Hierher, zum allerheiligsten Stein des jüdischen Tempels, sah sich ein halbes Jahrtausend nach dessen Zerstörung der Prophet Mohammed entrückt. Zum Tempelberg habe er, so glauben die Moslems, al-Isra angetreten, seine mystische Nachtreise von Mekka nach Jerusalem. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 14 Leseprobe Leseprobe Als sein Nachfolger, der Kalif Omar, 638 Jerusalem eroberte, fand er den jüdischen Tempelberg so vor, wie ihn die Römer hinterlassen hatten, zerstört, verwaist. Und er stieß auf die belebte Grabeskirche, denn das Jerusalem, das er einnahm, hatte bis dahin zum christlichen Reich von Byzanz gehört, es war eine weithin christliche Stadt. Omars Nachfolger, der Kalif Abd al-Malik, mochte den Felsendom nicht so einzig und dominant stehenlassen. Er ließ Ende des 7. Jahrhunderts syrische und byzantinische Architekten einen ebenso prächtigen Dom über den Felsen auf dem Tempelberg bauen, nach dem Vorbild der Grabeskirche. Damit legte er den Grundstein für den explosivsten Ort im Jerusalem der Gegenwart – der heiligste Ort der Juden befindet sich im Innersten der ersten moslemischen Moschee der Welt. Die Nacht zog herauf, ich stieg wieder herab vom Dach und lief durch die Gassen, doch der Basar, die tägliche Zirkulation der Menge, das ganze Treiben der heiligen Stadt, das mich noch vor einer Stunde eingenommen hatte, ließ mich nun kalt. Das war nur die Schale, der harte Kern blieben die beiden Stifterfelsen, deren einen ich eben berührt hatte. Grabeskirche und Tempelberg – nichts wäre Jerusalem ohne dieses Magnetfeld. Zu allen Zeiten zog es Suchende an, solche, die Gott und solche, die Zuflucht suchten, und oft war das ein und dasselbe gewesen. Die ersten Pilger aus Europa kamen bald nach der Kreuzigung, und der Strom riß nie ab. Jerusalem wäre nicht Jerusalem, spielte historische Zeit eine Rolle. Überall sonst auf der Welt wären solche Orte abgekühlt, wäre ihr Magnetismus längst erloschen. Nicht hier. Wie stark aufgeladen beide Felsen noch waren, ich würde es bald erfahren. Die Nacht zog herauf, ich stieg wieder herab vom Dach und lief durch die Gassen, doch der Basar, die tägliche Zirkulation der Menge, das ganze Treiben der heiligen Stadt, das mich noch vor einer Stunde eingenommen hatte, ließ mich nun kalt. Das war nur die Schale, der harte Kern blieben die beiden Stifterfelsen, deren einen ich eben berührt hatte. Grabeskirche und Tempelberg – nichts wäre Jerusalem ohne dieses Magnetfeld. Zu allen Zeiten zog es Suchende an, solche, die Gott und solche, die Zuflucht suchten, und oft war das ein und dasselbe gewesen. Die ersten Pilger aus Europa kamen bald nach der Kreuzigung, und der Strom riß nie ab. Jerusalem wäre nicht Jerusalem, spielte historische Zeit eine Rolle. Überall sonst auf der Welt wären solche Orte abgekühlt, wäre ihr Magnetismus längst erloschen. Nicht hier. Wie stark aufgeladen beide Felsen noch waren, ich würde es bald erfahren. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Rowohlt Verlag 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 15 Leseprobe Leseprobe Degen, Michael: Der traurige Prinz. Roman einer wahren Begegnung | Rowohlt.Berlin | ET: 6. März 2015 ISBN: 978-3871347689 | Gebundene Ausgabe | 256 Seiten | 19,95 € | Auch als E-Book Vaduz, 1983: Nach einem Gastspiel kommt ein deutscher Schauspieler mit einem Mann ins Gespräch, er erkennt die unverwechselbare Stimme und erschrickt über das müde Gesicht: Es ist der weltberühmte Oskar Werner, Theatergott und oscarnominierter Filmstar. In dieser Nacht erzählt Werner sein erstaunliches Leben: ein Wiener Bub aus armen Verhältnissen, der früh an der „Burg“ spielte, der gegen die Nazis opponierte, desertierte und knapp dem Tod entkam. Später liegt Werner die Welt zu Füßen, er arbeitet mit Richard Burton, François Truffaut. Dann aber lehnt er Angebote etwa von Stanley Kubrick ab – aus künstlerischen Zweifeln, die er nur noch trinkend erträgt. Der jüngere Kollege blickt in den Abgrund einer gequälten Seele, erkennt die Tragik des Ruhms. Michael Degen ist Oskar Werner („Jules und Jim“, „Das Narrenschiff“ u.a.) wirklich begegnet. Er erzählt Werners Leben, das durch finstere Zeiten, über Glanz und Triumph in die Selbstzerstörung führte und berichtet von prägenden Erlebnissen, mit Gustaf Gründgens oder Ingmar Bergman. Fast eine künstlerische Autobiographie – neben „Nicht alle waren Mörder“ das persönlichste Buch des großen Schauspielers und Autors. Michael Degen, 1932 in Chemnitz geboren überlebte den Nationalsozialismus mit seiner Mutter im Berliner Untergrund. Nach dem Krieg absolvierte er eine Ausbildung am Deutschen Theater in Berlin. Er trat an allen großen deutschsprachigen Bühnen auf und arbeitete mit Regisseuren wie Ingmar Bergman, Peter Zadek und George Tabori zusammen. Seine Autobiographie „Nicht alle waren Mörder“ wurde zum Bestseller, es folgten deren zweiter Teil, „Mein heiliges Land“ (2007), und der Roman „Familienbande“ (2011) über Michael Mann, den jüngsten Sohn der Familie Mann. Während eines Gastspiels in Vaduz fand ich eines Abends einen Zettel auf dem Garderobentisch. Darauf die Mitteilung, man erwarte mich nach der Aufführung in der Kassenhalle des Theaters. Keine Unterschrift. Ich beachtete den Zettel nicht weiter, wurde dann beim Abschminken aber doch neugierig. Also ging ich durch den leeren Saal ins Foyer und lugte durch eine halboffene Tür in den schon abgedunkelten Kassenraum. Ebenfalls gähnende Leere. In einer dunklen Ecke nahe beim Ausgang jedoch entdeckte ich eine männliche Gestalt. Mir den Rücken zugewandt, reagierte sie nicht auf mein Räuspern und sah durch die Türfenster auf die Straße hinaus. Bewegungslos. Nach einer ganzen Weile, in der ich ebenso stillschweigend dastand, wandte sich der Mann in einer raschen Bewegung zu mir um, mit einem solchen Schwung, dass er beinahe seine forciert aufrechte Haltung eingebüßt hätte. Er ging noch einen Schritt auf mich zu und starrte mich nun seinerseits an. Kein Wort fiel. Weder von ihm noch von mir. Keiner von uns beiden machte auch nur die geringsten Anstalten, sich dem anderen zu nähern. Woher kenne ich diese Augen?, fragte ich mich. Im Halbdunkel kamen sie mir unnatürlich hell vor. Es waren Augen von so zwingendem Ausdruck, dass ich mich ihnen nicht entziehen konnte. „Wie sind Sie nur auf die Idee gekommen, den Jean so widerwärtig, so brutal und bösartig darzustellen?", sagte er plötzlich, und mit einem Schlag wusste ich, wen ich vor mir hatte. Diese unverwechselbare, männlich und immer noch jugendlich klingende Stimme, mit diesem leicht wienerischen Tonfall darin. Jeder einschlägige Theatergänger hätte ihn daran sofort erkannt. Ja, das konnte nur er sein. Er, den ich als mein Vorbild bezeichnet hätte – wäre ich unbescheidener gewesen. „Das war wohl mehr der Einfall meines Spielleiters", entschuldigte ich mich leise. Wir hatten „Fräuleicn Julie" von August Strindberg gegeben. „Kein Spielleiter ist es wert, dass man sich ihm so rückhaltlos in die Hand gibt. Nicht einmal Ingmar Bergman." Dann lud er mich in sein Haus ein. „Darf ich Sie auf einen kleinen Drink nach Triesen bitten, hinauf in meine Teixlburg? Es ist nicht sehr weit von hier. Mein Wagen steht gleich vor dem Theater im Parkverbot. Und keine Furcht, ich werde Sie nicht allzu spät ins Hotel zurückbringen. Wenn Sie erlauben?" Ich nahm die Einladung an. Es war eine einmalige Gelegenheit, und der Abend ist mir unvergesslich geblieben. „Übrigens, sprechen Sie mich bitte nicht mit meinem Künstlernamen an", bat er mich auf der Fahrt nach oben. „Ich heiße Bschließmayer. Oskar Josef Bschließmayer." Als ich ihn etwas verwirrt ansah, die Frage nach dem Warum im Gesicht, zuckte er leicht die Achseln und erklärte ein bisschen zögernd, dass das wohl mit der Sehnsucht nach seiner verkorksten Kindheit zu tun habe, die ihm trotzdem bis zum heutigen Tage als eine Art Paradies vorkommen würde. Er nahm in rasantem Tempo, sportlich, wie man sagt, engste Serpentinen. Nach der Ankunft an seinem Haus führte er mich in einen großräumigen Salon, dort bot er mir einen von zwei bequemen Ohrensesseln an, nahe an einem großen Panoramafenster. Von hier aus hatte man tagsüber sicher einen wundervollen Ausblick auf die Berge und ins Tal. Dann ging er zu einem Teewagen, auf dem jede Menge Flaschen standen. „Und für Sie?", fragte er, während er sich einen Fernet-Branca eingoss, den er sofort gierig in einem Zug hinunterstürzte. „Wenn Sie einen Weißwein für mich hätten?" „Grüner Veltliner?" „Meine Lieblingsmarke." „Das sagt man nicht. Nicht beim Wein", berichtigte er mich, während er sich einen weiteren FernetBranca einschenkte. Dann griff er nach einem wertvollen Kristallglas und einer Flasche ohne Etikett. „Ein Geschenk des Hauses Bründlmayer. Mein Lieblingswein. Ich hoffe, Sie wissen ihn zu schätzen." Er nahm mir gegenüber im zweiten Ohrensessel Platz, trank auch den zweiten Fernet-Branca, ohne das Glas abzusetzen, und sah mich an. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 16 Leseprobe Leseprobe Bei Tag müssen Sie hier eine herrliche Aussicht haben", sagte ich und zeigte auf das Panoramafenster, das sich über die Stirnseite des Salons zog. Dann wies ich auf das Bücherregal in seinem Rücken, das die ganze Breitseite des Raums einnahm. Neben der Unmenge von Büchern, die teils zerlesen wirkten, teils kostbare Einbände hatten, war ein ziemlich großes Fach noch halb frei, in dem, ordentlich geschichtet, lose gebundene Manuskriptstapel lagen, in denen ich Drehbücher zu erkennen glaubte. „Sind das all Ihre abgedrehten Filme?", fragte ich in die eingetretene Stille hinein. Er schenkte sich ein und lächelte amüsiert. „Der Adlerblick des Komödianten. Meine Filme?" Sein Lächeln wurde wehmütig, und er sah mich traurig an. „Das sind die Angebote der letzten fünf oder sechs Jahre. Ich habe keines von ihnen gelesen." Ich begriff erst gar nicht, was er da sagte. Dass ein Mann, dessen Talent, dessen Charisma so einzigartig, so überragend war, dass selbst Hollywood vor ihm in die Knie ging, seine Berufung so konsequent aufgegeben haben sollte, wollte mir nicht in den Sinn. „Aber es heißt doch, Sie hätten schon als Teenager nichts anderes als die Schauspielerei im Kopf gehabt." Er lachte, schüttelte den Kopf und bediente sich erneut beim Fernet-Branca. „Nein, eigentlich wollte ich Musiker werden. Die Violine hätte mir sehr gelegen. Oder das Dirigieren. Wo aber sollte das Geld für so ein Studium herkommen? Die Mutter lehnte meinen Wunsch sofort ab und meinte, ich solle mir etwas anderes, weniger Verrücktes suchen. Wahrscheinlich glaubte sie auch nicht, dass es mir mit so einem Beruf wirklich ernst war. Ich weiß ja selbst nicht, wie ich auf den Gedanken kam. Von einem Toscanini oder Furtwängler ahnte ich damals noch nichts, ich war auch noch nie in einem Konzert gewesen. Nur ins Theater bin ich schon gegangen. Meine geliebte Großi, meine Großmutter, hat mich ein paarmal auf die Stehplätze im letzten Rang mitgenommen. Sie schimpfte immer auf diesen 'Rang unterm Dach', weil die Schauspieler von dort aus so winzig wirkten. 'Wie Käfer im Gras, vom Kirchturm aus gesehen', hat sie immer gesagt. Meine Großi liebte ich im Grunde mehr als meine Mutter und meinen Vater zusammen. Bei den Sonntagsausflügen in die Wachau spielte ich der Mutter und der Großi dann einiges von dem vor, das ich gesehen hatte. Und die Großi staunte. 'Das habe ich alles gar nicht sehen können von da oben', versicherte sie meiner Mutter. 'Der Bub hat ja Habichtsaugen.' 'Das ist bisher aber auch das einzige Talent, das mir an ihm aufgefallen ist', erwiderte meine Mutter kalt. Die Frauen warfen sich daraufhin ein paar Grobheiten an den Kopf, wobei die Großi mich vehement in Schutz nahm: 'Über den Oskar wirst du noch staunen', sagte sie immer wieder, 'der hat es in sich. Das spür ich.'" Er schwieg einen Moment und hing seinen Erinnerungen nach. „Sie hat es leider nicht mehr erleben können, meine Großi. Ich hätte sie so gern im Zuschauerraum gewusst, während ich meine großen Rollen an der Burg spielte. Ins Kino ging sie ja nicht. 'Das ist Aftertheater', sagte sie jedes Mal, wenn ich vorgeschlagen hab, mir mit ihr einen Film anzusehen. An der Theaterei aber bekam ich mit der Zeit immer mehr Spaß, und ermutigt wurde ich auch. Sogar von meiner Mutter. 'Oskars Straßentheater' nannte es die Großi, wenn ich den Passanten auf der Gasse etwas vorspielte. Sie war oft dabei und schlug die Hände vors Gesicht, damit man ihren vom Lachen verzerrten Mund nicht sah. Meine erfolgreichste Darbietung war der hilflose blinde Bub, zu dem mir ständig neue Variationen einfielen. Ich konnte fabelhaft stolpern und sogar hinfallen. Sechs Jahre alt, klein, stockdünn, so kreierte ich meinen blinden Oskar – und bis zum heutigen Tag bin ich mir nicht sicher, ob ich es nicht dabei hätte belassen sollen. Das Theaterspielen wird doch ewig ein Beruf für Unerwachsene bleiben. Damals aber faszinierte mich die unmittelbare Nähe der Zuseher, ihre spontanen Reaktionen auf mich. Das hob mich von allen anderen ab. Es kam mir wie Zauberei vor, was ich da tat, und diese Direktheit war viel aufregender als das Spielen über die arrogante Distanz hinweg, mit der wir Komödianten auf dem Theater von den Zuschauern getrennt sind. Denken Sie: Allein in der Burg beträgt der Abstand zwischen Rampe und erster Sitzreihe mindestens zwei Meter. Zum Anfassen taugt das nicht gerade. In der Gasse jedoch, in der ich tagtäglich auf meine Mutter zu warten hatte, bis sie von der Arbeit heimkam, da fiel mir nichts anderes ein, was mir und meiner Großi im Rücken so viel Spaß brachte und die Zeit so rasch vergehen ließ. Das Mutterl gab ja nie den Wohnungsschlüssel aus der Hand. Weder mir noch der Großi. Zum Beispiel spielte ich den Schüchternen, Blinden, der sich vor fremden Stimmen fürchtet und sich tastend an Hauswänden entlangdrückt. Von den Leuten gefragt, wo ich denn zu Hause sei, presste ich die Augen fest zu, schüttelte den Kopf, riss die Augen dann auf und schaute in die falsche Richtung. Einmal kam mir ein älteres Paar entgegen, das mich entgeistert und mit tiefem Mitleid betrachtete. Großi ging als scheinbar uninteressierte Passantin vorbei und flüsterte mir zu, dass ich die beiden in Ruhe lassen sollte. Aber dann fragten die mich, ob ich Hunger hätte. Ich schüttelte den Kopf. Dann berieten sie sich und beschlossen, mich nach Hause zu bringen, da ich ja offensichtlich blind sei und die Orientierung verloren habe. Jetzt konnte ich nicht mehr zurück, auch wenn die Großi mich aus der Entfernung mit gespielten Drohgebärden und lautlosem Gelächter zu stoppen versuchte. Ich wandte mich von dem Paar ab und blickte kurz zu ihr hinüber. Da musste ich auch lachen, konnte es aber mit einem Weinkrampf kaschieren. Ich war selbst verwundert über die Tränen, die sofort aus meinen Augen rollten. Woran ich in dem Augenblick gedacht habe? Ich erinnere mich nicht mehr. Es wird wohl etwas Trauriges gewesen sein. Und wie ist das bei Ihnen? Können Sie aus dem Stand in Tränen ausbrechen?" Er sah mich forschend an. Ich hielt seinem Blick stand: „Wenn es die Situation erfordert, sicherlich." Er nickte, als habe er keine andere Antwort erwartet, und nahm einen Schluck. „Diese Technik habe ich später auch auf die Bühne übernommen. Damals sah ich nur, dass die Großi nun wirklich erschreckt war und auf mich zulief. Ich hörte, wie das alte Paar sie beruhigte, dass sie schon mit mir zurechtkämen. Ich drehte mich wieder zur Hauswand, lachte und weinte in mich hinein und flüsterte etwas von 'Zuhause' und 'Strozzigasse'. Ich tat, als ob ich in großer Aufregung wäre, tastete die Hauswand ab, und die alten Leute nahmen mich bei den Händen, führten mich behutsam über die Josefstädte Straße zur Strozzigasse hinüber und fragten mich nach der Hausnummer. Als ich glaubte, weit genug von der Großi entfernt zu sein, griff ich wieder an eine Wand. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 17 Leseprobe Leseprobe Nach ein paar Metern blieb ich stehen, rief 'Hier, hier ist es!' und fasste an den Knauf einer Haustür. 'Hier muss ich warten, bis die Mama von der Arbeit kommt. Sie ist nämlich eine Hutmacherin und hat viel zu tun.' Die alte Dame strich mir kurz über die Haare, ergriff dann die Hand ihres Mannes und zog ihn fort. Offenbar ging ihr mein gespieltes kleines Schicksal zu nahe, denn sie hatte Tränen in den Augen. Beide nahmen gar nicht wahr, dass ich die Augen offen hatte und sie direkt ansah. Das erzählte ich danach der Großi, die ich auf der Straße wiedertraf, und sie sagte voller Staunen: 'Du hast sie hypnotisiert. In dir steckt etwas ganz Furchtbares.' Dann nahm sie mich in den Arm, und wir gingen nebeneinander her. 'Weißt du eigentlich, warum wir hier in die Josefstadt gekommen sind?', fragte ich. 'Du wolltest dir die Bilder in den Schaukästen vom Theater ansehen', erwiderte sie." Er hielt inne. Nach einer langen Pause, in der er gedankenverloren durch die spiegelnde Scheibe ins dunkle Draußen schaute, sagte er: „Eigentlich hat mir das Theater auf der Straße den meisten Spaß gemacht. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war alles, was ich danach tat, nur geiles Geltungsbedürfnis und Geldmacherei. Niemals mehr hat mir etwas so viel Vergnügen bereitet wie das Spiel damals auf den Wiener Gassen.“ Er füllte sein Glas aufs Neue und schenkte, ohne mich zu fragen, auch mir nach. „Ich war ein Straßenkind und kam früh mit dem Alkohol in Berührung. Mein Elternhaus war so gut wie nicht vorhanden. In den zwanziger Jahren, als ich geboren wurde, 1922, um genau zu sein –“ Er unterbrach sich und fixierte mich. „Welcher Jahrgang sind Sie eigentlich?", fragte er, sprach aber sofort weiter, ohne meine Antwort abzuwarten: „1922, das war ein Jahr vor Hitlers Putschversuch in München. Adolfs Schatten legte sich schon über uns alle. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich. Na, bei so vielen dunklen Vorzeichen musste es bei mir doch schiefgehen. Dabei hatte ich mich so darauf gefreut, das vielgepriesene Licht der Welt zu erblicken, ich glaubte wohl, ein Paradies vorzufinden." Er setzte das Glas an die Lippen, trank, fing zu lachen an und verschluckte sich. Dann lächelte er traurig und trank den Rest. Wie viele Gläser hat er sich seit unserer Ankunft eigentlich schon einverleibt?, fragte ich mich. „Paradies", murmelte er. „Was da auf den ersten Blick so verführerisch aussieht, ist doch mehr oder weniger zum Speiben! Alles, was ich wollte, war mein Spaß und Vergnügen darüber, die Leute zum Lachen zu bringen. Oder auch zum Weinen. Und, hatten sie Spaß? Na klar hatten sie den. Und was für einen. Mit fünfzehn Jahren kam ich einmal an der Albertina vorbei und sah, wie davor alte Frauen mit Zahnbürsten das Trottoir putzen mussten. Viele Leute standen um sie herum und brüllten vor Lachen, immer wieder deutete einer auf eine Stelle, die nicht sauber genug war, wie er meinte. Gleich sprangen ein halbes Dutzend Nazis in kackbraunen Uniformen herbei und stießen eine der Frauen mit Fußtritten zurück an jene Stelle, die nach allgemeiner Meinung übersehen worden war. Ich drängte mich durch und schrie meine Wut und mein Entsetzen heraus. Dann riss ich einer der Damen die Zahnbürste aus der Hand und begann wie verrückt, das Straßenpflaster zu bürsten. Einer der Braunen zerrte mich am Kragen hoch, warf der alten Frau die Zahnbürste wieder zu und gab mir eine mächtige Ohrfeige. 'Ein deutscher Junge hilft diesem Kroppzeug nicht', schnarrte er unaufgeregt. ‚Hau ab.'" Bei dieser Erinnerung hatten sich seine Augen wütend verdunkelt. Er griff erneut zur Flasche. „O ja, und ich hatte auch meinen Spaß damals. Wissen Sie, was mich beinahe von Anfang an gereizt hat? Ich wollte König sein. Von Kindesbeinen an. Als König hätte ich so etwas wie die Nazis nicht zugelassen. Es gibt Kollegen, die das Gegenteil antreibt, natürlich: Sie wollen alles dürfen, alles machen, nach Lust und Laune. Aber bei mir fängt der Mensch dann erst an, Mensch zu sein, wenn er sich aus freiem Willen beherrscht, ohne in Unterdrückung und Tyrannei zu leben und ohne an die Knute göttlicher Rache zu denken." „Glauben Sie denn an Gott?", unterbrach ich ihn. „Schauen Sie, wer glaubt denn heute noch an diesen von uns selbst erfundenen Popanz? Er ist doch ganz offensichtlich der Phantasie frühester menschenähnlicher Kreaturen entsprungen!" „Die Juden tun das noch zum großen Teil." „Nun ja, die Juden! Die haben Gott ja auch nicht getötet. Die haben ihn erfunden. Den einen einzigen. Doch der ist auch längst überholt. Hat nichts mehr zu tun mit der gewaltigen, unfassbaren Geisteskraft eines Schöpfers, der Universum, Endlosigkeit und Ewigkeit geschaffen hat. Was weiß der vom Menschen? Oder achten Sie etwa auf all das Kleingetier unter unseren Füßen? Auf die Insekten, auf die Sie treten? Es mag schon sein, dass Jesus uns darauf aufmerksam gemacht hat. Er war ja ein Revoluzzer. Ein erfolgloser, letzten Endes. Denn um ihn, Gott, auch nur scheibchenweise zu erkennen, bräuchte man eine psychische und geistige Energie, die kein Mensch haben kann. Hierin lag auch Jesus’ schwerwiegender Irrtum. Mit dem Dahingehen seiner physischen Existenz ging allmählich all das wieder verloren, was er gesät zu haben glaubte. Selbst seine Jünger, die Tag und Nacht um ihn gewesen waren, verloren ihn nach der Kreuzigung gewissermaßen aus den Augen. Und was war seine größte Qual, noch größer wahrscheinlich als die der Kreuzigung? Es war das Wissen, was er von der menschlichen Natur zu halten hatte. Sprachen seine Jünger denn noch von ihm, so wie er war? Nein, sie schilderten der Nachwelt einen Mann, den sie nach ihren Wünschen und Vorstellungen schufen. Ein göttliches Wesen. Ein Messias. Und schauen Sie sich die heutige Kirche an. Seine Stellvertretung auf Erden." 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 18 Leseprobe Leseprobe Er verschluckte sich beinahe an seinem Fernet-Branca. „Wo ist heutzutage auch nur der Hauch seiner Gegenwart zu spüren? Und wie kommt es, dass so viele Menschen dieser doch recht primitiven Kreation eines Gottes nachlaufen? Heutzutage, in unserer modernen Welt? Das kann einen schon krank machen. Finden Sie nicht? Auch deshalb bin ich nach wie vor der Überzeugung, dass die Schauspielerei, dieser kindische und unerwachsene Beruf, der einzige war, der für mich in Frage kam. Wenn ich Lust hatte, mich in einen Halunken hineinzuversetzen, konnte ich eine solche Erfahrung machen. Oder auch das Gegenteil davon: Stellen Sie sich vor, Sie verweigern beispielsweise einem dritten Richard den Untertanengehorsam. Das hätte in der Realität die sofortige Hinrichtung bedeutet, Ihren Kopf hätten Sie verloren. Für den Schauspieler dagegen bleibt alles nur Bühnenhandlung. Vielleicht würden Sie mit Ungehorsam die Kollegen zur Verzweiflung treiben, und in extremen Fällen könnte es zu Pfiffen und Protesten aus dem Publikum kommen. Peinlich wär’s, mehr aber auch nicht. Das Schlimmste, das einem Komödianten geschehen könnte, wäre die fristlose Entlassung. Doch die Erfahrung, sich der Macht zu widersetzen, die hätte man erlebt. Oder, wenn man eben den Richard selber spielt, die Erfahrung, Macht auszuüben. Und wo kann man das sonst? Es sei denn, natürlich, man entschließt sich, ein skrupelloser Politiker zu werden. Aber wer will schon sein Leben mit dem Hitlers oder Stalins tauschen? Sie etwa?“ „Aber Macht hatten die Kerle, und zwar mehr als jeder andere vor ihnen. Das können Sie nicht leugnen." „Ja, freilich. Und durch wen? Durch die Hirnlosigkeit des Volkes und den hemmungslosen Einsatz von Gewalt. Ein König dagegen bekam die Macht von Gott, oder von sonst wem, der hinter dieser Bezeichnung steckt.“ „Glauben Sie denn an einen Gott?", fragte ich noch einmal und bemühte mich, es so beiläufig wie möglich klingen zu lassen. „Sie sollten lieber fragen, wer überhaupt noch glaubt. Vorgeben tun es viele. Aber ernsthaft, wer sollte an diese Gebilde, das der Phantasie unserer Vorfahren entsprungen ist, wahrhaft noch glauben? Für die einen ist es die dreigeteilte Gottheit, für die anderen ein strenger Vater, dessen Namen man nur an den höchsten Feier tagen in den Mund nehmen darf. Vom griechischen und römischen Göttergewimmel wollen wir gar nicht erst reden. Und die paradiesischen Versprechungen des Islam kann man ja nicht ernst nehmen. All das hat doch nichts zu tun mit der Allmacht eines Schöpfers – für den sind doch nicht einmal Begriffe wie Endlosigkeit oder Ewigkeit existent. Mich interessiert deshalb nur die eine Frage: Wie konnten so ungeheure Menschenmassen diesen primitiven Götzen bis zum heutigen Tag nachlaufen? Bei unserem kulturellen Entwicklungsstand! Oder sollte man das Adjektiv 'kulturell' besser weglassen? Was meinen Sie?" Ich wollte ihm nicht widersprechen. Konnte ich es überhaupt? Er stand auf und trat dicht vor das große Fenster. „Nein, nein", sagte er nach einer Weile. „Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass mein Beruf für mich der einzig stimmige gewesen ist, dass er mir eine wohltuende Unabhängigkeit, wenigstens für ein paar Stunden am Tag oder besser am Abend, beschert hat." „Und deshalb Ihre königlichen Lieblingsrollen?" „Ja. Ich konnte mich dabei stets mit dem Schild der Gottgewähltheit schützen, mich insgeheim über die Masse der Schafe lustig machen, sie streicheln oder sie abschlachten lassen, wenn mir danach war, und gleichzeitig den Leuten im Parkett den ‚Spiegel vorhalten‘, wie es der größte aller theatralischen Meister einmal so genial formuliert hat. Andererseits schäme ich mich dieser lebenslänglichen Beschäftigung. Denn Theater ist ja doch eher ein Spielchen für halbe Kinder, für die ewig Heranwachsenden. Finden Sie nicht? Wenn ich nach meinem Beruf gefragt wurde, hatte ich immer Hemmungen, das Wort Schauspieler auszusprechen. Auch heute noch." Er drehte sich zu mir herum und kam langsam auf mich zu. „Wie geht es Ihnen damit?" Seltsam, dachte ich bei mir – ich habe ähnliche Hemmungen. Nur sind meine Gründe völlig andere. Ich schäme mich keineswegs. Im Gegenteil: Ich betrachte es als Angeberei, mich so zu titulieren. Er wartete meine Antwort aber nicht ab: „Haben Sie eigentlich schon einmal eine der großen Rollen von Shakespeare gespielt? Sollte Ihnen das noch nicht gelungen sein, ist Ihnen der wahre theatralische Ritterschlag noch nicht zuteilgeworden.“ Er schwieg eine Weile. Es machte den Eindruck, als habe er nun gänzlich den Faden verloren. In die immer länger werdende Stille hinein fragte ich: „Wo finde ich denn hier die Toilette?" Ohne aufzusehen, erklärte er mir in knappen Worten den Weg zu jenem Ort, den wir beide in dieser Nacht noch häufig würden aufsuchen müssen. Als ich zurückkam, griff er gerade wieder zur Fernet-Branca-Flasche und nahm seinen Monolog auf, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. „Wie beginnt man denn sein Leben, wenn man mit dem Namen Oskar Josef Bschließmayer auf die Welt kommt? Wenn ich heute darüber nachdenke, wäre ich am liebsten gleich wieder in den Mutterleib zurückgekrochen. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Rowohlt Verlag 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 19 Leseprobe Leseprobe Diner, Dan: Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage | DVA | ET: 2. März 2015 ISBN: 978-3421046833 | Gebunden | 176 Seiten | 19,99 € | Auch als E-Book Vor 50 Jahren nahmen die Bundesrepublik Deutschland und der Staat Israel diplomatische Beziehungen auf – vorläufiger Endpunkt einer dramatischen Vorgeschichte, die im Luxemburger Abkommen zur sogenannten Wiedergutmachung von 1952 ihren Ausgang nahm. In dichter Erzählung sucht der Historiker Dan Diner die Tiefenschichten jener zwiespältigen deutsch-israelischen Annäherung auszuleuchten, vor allem die politisch-theologischen Aspekte der Diskussion auf israelischer Seite – nur wenige Jahre nach dem Mord an den europäischen Juden. Es geht ihm dabei um Sprache und Habitus, Fluch und Bann, um Erinnern und Vergessen, Anerkennung und Nichtanerkennung und schließlich um die Entscheidung zwischen jüdischer Tradition und israelischer Staatsraison: Durfte man mit dem Land der Mörder in Verhandlungen treten und materielle Entschädigung annehmen? Dan Diner, geboren 1946, lehrt Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Von 1999 bis 2014 war er Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. Ein Zeremonientisch in Luxemburg Frostig war die Stimmung an jenem Morgen des 10. September 1952 im Cercle Municipal der Stadt Luxemburg, dem festlichen Stadtpalais am Place d’Armes. Frostig sollte es zugehen, als die Vertreter des jüdischen Volkes auf der einen und der Bundesrepublik Deutschland auf der anderen Seite einander in dessen Zeremoniensaal, dem Salle Flamande, für alle Welt sichtbar begegneten. Für demonstrative Distanz bestand guter Grund. Nur wenige Jahre nach der Katastrophe und gegen den erbitterten Widerstand nicht unerheblicher Teile der jüdischen, vornehmlich der israelischen Ö6entlichkeit hatten die Vertreter des jüdischen Volkes in Gestalt des Staates Israel sowie der Claims Conference sich dazu durchgerungen, mit dem Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches ein Abkommen über Restitution und Entschädigung zu schließen – die sogenannte Wiedergutmachung. Zwiespältig war das Unternehmen von Anfang an gewesen. Seinen zeremoniellen Ausdruck fand diese Ambivalenz im abends zuvor von den Delegationsführern der vertragsschließenden Parteien erzielten Einvernehmen, während und unmittelbar nach Vertragsunterzeichnung weder Reden zu halten noch Vertraulichkeiten auszutauschen. Nach außen hin sollte, trotz der zuvor diplomatisch erzielten Übereinkunft in der Sache bleibender Dissens demonstriert werden. Einen das Vertragswerk besiegelnden Händedruck galt es zu vermeiden; Stille sollte obwalten. Als nun in aller Frühe beide Delegationen durch gegenüberliegende, zeremoniell sich ö6nende Türen in den Saal schritten, waren allenfalls verhaltene Laute gegenseitiger Vorstellung vernehmbar. Wortlos nahmen die Delegationen am massiven Zeremonientisch des salle des mariages einander gegenüber Platz. Schweigend unterzeichneten Außenminister (und Bundeskanzler) Konrad Adenauer auf der einen Seite und sein israelischer Amtskollege Moshe Sharett auf der anderen das doppelt ausgefertigte Dokument; Nahum Goldmann unterfertigte als Präsidenten der Claims Conference die anliegenden Protokolle. Der vereinbarten Etikette ostentativer Distanz war Genüge getan. Statt ungesagter Worte sind Bilder überliefert. Die „Episode der nicht gehaltenen Reden" wurde für Zeitgenossen wie Nachwelt ausgiebig auf Zelluloid gebannt.3 Die eindrücklichen Bilder schienen zu bezeugen, dass Deutsche und Juden nur wenige Jahre nach der Katastrophe, für die sich erst später das Wort vom Holocaust einstellen sollte, das Fundament für einen Neuanfang legten. Diese Lesart kam der deutschen Seite entgegen. Ein solcher Neubeginn sollte freilich nicht als Wiederanknüpfung an die vormalige, durch die Geschichte dementierte Gemeinsamkeit von Deutschen und Juden verstanden werden. Von nun an waltete ein anders Verhältnis vor, gezeichnet von einer scharf gezogenen Linie kollektiver Unterscheidung. Unter diesen Voraussetzungen und vor dem Hintergrund der Katastrophe erstrebten Juden und Deutsche ein den Erfordernisses des Tages geschuldetes Auskommen. Diese Konstellation nahm in Luxemburg in der Szene sich anschweigender Delegationen choreographisch Gestalt an. Es schien, als laste über der Begegnung die Aura eines Banns. Ein solcher Eindruck entsprach dem Empfinden der jüdischisraelischen Seite. Die Choreographie der mise en scène verhaltener Annäherung bei bleibender Entzweiung war den israelischen Unterhändlern, die am 20. März 1952 im Hotel Oud Castel des holländischen Ortes Wassenaar bei Den Haag die Verhandlungen eröffnet hatten, mit auf den Weg gegeben worden. Wenige Wochen zuvor war es der israelischen Regierung unter großen Mühen gelungen, eine parlamentarische Legitimation für die Aufnahme von Verhandlungen mit Deutschland zu erwirken. Die dreitägige Debatte über die Restitutionsfrage Anfang Januar war die wohl dramatischste, die jemals im israelischen Parlament geführten worden ist. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 20 Leseprobe Leseprobe Nur wenige Jahre nach den kurz aufeinander folgenden Ereignissen von Katastrophe und Staatsgründung hatten aufgebrachte Parlamentarier die Regierung in geradezu liturgisch aufgeladener Sprache beschworen, die Ehre Israels nicht zu beflecken und sich vor dem Frevel einer direkten Kontaktaufnahme mit den Deutschen zu behüten. Die israelischen Unterhändler hatten der Debatte beigewohnt. Noch jahrelang standen sie, wie einer von ihnen später zu berichten wusste, unter dem Eindruck jenes dramatischen Geschehens – ein gewaltiger kollektiver Aufschrei, dessen Echo sie als gleichsam heiliger Auftrag in die Verhandlungen begleiten sollte. Diesem Auftrag galt es, wenn schon nicht in der Sache, so doch der Form nach zu entsprechen: Von den Deutschen galt es Abstand zu halten. Von den Deutschen Abstand zu halten, war für die israelischen Unterhändler nicht leicht gewesen. Allein schon der Umstand, dass sie durchweg deutsch-jüdischer Herkunft, habituell recht eigentlich Deutsche gewesen waren, ließ erahnen, dass die mit ihrer Herkunft verbundenen Prägungen womöglich zu Befangenheiten führen könnten. Bereits vor einer vertraulichen frühen Sondierung, die in Anwesenheit Konrad Adenauers stattfand, hatte Gershon Avner, der Direktor der Abteilung Westeuropa im israelischen Außenministerium – auch er deutschstämmig und später Sprecher der israelischen Verhandlungsdelegation in Wassenaar – derartige Besorgnisse vernehmen lassen: Dem Treffen solle unbedingt eine israelische Amtsperson beiwohnen, die zwar fließend Deutsch spreche, nicht aber durch eine deutsch-jüdische Herkunft beeinträchtigt wäre – handicapé, wie es in der Begründung Avners hieß. Die Wahl fiel auf Maurice Fischer, den israelischen Botschafter in Paris, der früher im belgischen Antwerpen beheimatet gewesen war. Die Vermutung, die deutsch-jüdische Herkunft israelischer Unterhändler könnte sich belastend auf die Gespräche auswirken, bestätigte sich während der Verhandlungen in Wassenaar. Der anfangs demonstrativ eingehaltene Abstand der israelischen Gesandten den bundesdeutschen Unterhändlern gegenüber schmolz zusehends dahin. Auf Dauer erwies sich die vormals geteilte deutsche Verhaltens- und Sprachkultur als stärker denn die beabsichtigte strikte Unterscheidung zweier Kollektive – von Deutschen und von Juden. Für die Erö6nung der Verhandlungen im holländischen Wassenaar hatte die israelische Seite Vorkehrungen zur Wahrung der rituellen Distanz getroffen. So sollten die Delegationen den Raum nacheinander und in einem Abstand von fünf Minuten betreten, damit es nicht zu einer zufälligen Begegnung auf den Fluren käme. Auch der sonst übliche, Vertrauen einflößende Brauch, zur Begrüßung die entgegengestreckte rechte Hand zu ergreifen, galt als unangebracht und sei durch eine angedeutete stumme Verbeugung zu ersetzen. Außer durch verhaltene Körpersprache sollte die Choreographie der Distanz vor allem durch die israelische Weigerung aufrechterhalten werden, Deutsch als Verkehrs- und Verhandlungssprache gelten zu lassen. Tatsächlich hätte nichts näher gelegen, als sich untereinander auf Deutsch zu verständigen. Deutsch war allen Delegierten vertrautes Medium gewesen; Deutsch war die Muttersprache aller an den deutsch-israelischen Verhandlungen beteiligten Unterhändler. Allerdings hätte die Verwendung des Deutschen gegen den Imperativ ostentativer Distanznahme verstoßen. Deutsch, in der Vergangenheit vielleicht die Sprache der Juden Europas, galt Juden, besonders israelischen Juden, inzwischen als kontaminiert, seine Verwendung war anstößig, zumal im ö6entlichen Raum und erst recht von Staats wegen Das geradezu rituelle jüdische Begehren, infolge der Katastrophe alles Deutsche zu exorzieren, erreichte im Moment einer simultanen Bannung Deutschlands und der Staatswerdung Israels seinen Höhepunkt, um davon ausgehend tiefe Wurzeln in das Gewebe des neu gezeugten, untrennbar mit den Zeitikonen 1945/48 verbundenen jüdischen Selbstverständnisses zu schlagen. Ein solcher Exorzismus verwarf Embleme jüdischer Zugehörigkeit, die auf Deutsches zurückgingen, vornehmlich die der Kultur des aschkenasischen Judentums vertraut gewesene deutsche Sprache. Der Rückzug dieses Mediums aus dem öffentlichen Raum – eine Tendenz, die in Palästina mit dem zionistischen Vorhaben einer hebräischen Nationsbildung einherging und schon vor der Katastrophe begonnen hatte –, nahm jetzt den Charakter einer regelrechten Austreibung an. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Deutsche Verlags-Anstalt, München 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 21 Über die Autoren und ihre Bücher Leseprobe Leseprobe Doron, Lizzie : Who the Fuck Is Kafka? | Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler | dtv Premium | ET: Feb. 2015 | Deutsche Erstausgabe | ISBN 978-3-423-26047-3 | 256 Seiten | 14,90 € Eine israelisch-palästinensische Konferenz in Rom. Nadim sitzt mit Lizzie Doron auf dem Podium. Ist Nadim ein arabischer Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürtel? Nein, er hat nur seine Reiseunterlagen mit schwarzem Klebeband am Hosenbund befestigt. Mit der Begegnung zwischen der israelischen Autorin und dem arabischpalästinensischen Journalisten aus Ost-Jerusalem beginnt eine wechselvolle Freundschaft, die beide an die Grenzen der Verständigung treibt. Lizzie hat den Holocaust im Gepäck, Nadim die Naqhba – die große Katastrophe, wie die Palästinenser die Folgen des 48er-Krieges nennen. Israel – Palästina: ein übervölkertes Asyl in Absurdistan. Lizzie und Nadim wollten das Terrain dieses Schauplatzes gemeinsam vermessen. Doch Lizzie muss ihre Concierge beruhigen, wenn sie fragt, ob alles in Ordnung sei, weil der Araber seit einer halben Stunde im Haus ist. Lizzie muss akzeptieren, dass Nadims Frau nicht mit am Tisch sitzt, wenn sie beide besucht, Und Lizzie erfährt, warum in Nadims Wagen immer ein Paar Highheels liegt. Nadim muss ertragen, dass Lizzies friedensbewegten Peace-Now-Freunde ihm misstrauen, und dass sein Kontakt mit einer Israelin seine Leute provoziert. Nach drei Jahren ist Schluss: Nadim erhält Todesdrohungen, er zieht sich zurück. Doch Lizzie setzt ihre Aufzeichnungen fort und kämpft weiter um das Bleiberecht von Nadims Frau, die zwar aus Libyen stammt und in Gaza aufgewachsen ist, die aber trotz ihrer Ehe mit einem Israeli immer noch so etwas wie eine staatenlose Ausländerin ist. Das Ergebnis ist dieses Buch. Lizzie Doron, geboren 1953, lebt in Tel Aviv und Berlin. Sie lehrte Linguistik an der Universität in Tel Aviv, bevor sie Schriftstellerin wurde. „Ich bin Nadim aus Jersualem“, hörte ich einen Mann in fließendem Englisch und mit starkem arabischen Akzent sagen. Ich hatte den Vortragssaal zu spät betreten. Maria, die italienische Gastgeberin, eine etwa vierzigjährige Frau mit mediterranem Aussehen, brünettem Haar und der heiseren Stimme einer Raucherin, drängte mich, schnell meinen Platz auf dem Podium einzunehmen. Ich gab mir Mühe, mich leise auf den freien Stuhl zu setzen, der mich erwartete, und betrachtete neugierig den Menschen, der jetzt sprach. Die dämmrige Beleuchtung erschwerte mir die Sicht. Ich hörte Nadims warme, angenehme Stimme und in meinem Kopf wurde eine andere Stimme laut. „Operation gegossenes Blei" hatte der Nachrichtensprecher den Krieg genannt, der in dem Land herrschte, aus dem ich kam. Er berichtete, die Luftwaffe und Bodentruppen seien in Gaza eingedrungen und hätten das Feuer erwidert, als Reaktion auf Schüsse an der Grenze zum Gazastreifen. Er nannte die Terrororganisationen, die während der letzten Wochen über sechzig Raketen auf die grenznahen Siedlungen abgeschossen hatten. Es war schon Krieg, als mich die Einladung zu einem Wochenende in Rom erreichte. Eine Vereinigung von Träumern, die die Realitäten im Nahen Osten verändern wollten, lud israelische und palästinensische Friedensaktivisten zu einem dreitägigen Kongress ein. Ich hatte zugesagt, war nach Rom gereist und lauschte jetzt den Worten Nadim Abu Hanis aus Ost-Jerusalem. „Ich kam vier Stunden vor dem Abflug zum Flughafen", sagte er, „und gab dem Sicherheitsmenschen mein Ticket. Ich wurde zum Security Check geführt und der Willkür des Metalldetektors überlassen, der mir zu Ehren begeistert zu pfeifen begann. Man brachte mich in einen Nebenraum, und dort ging es los mit den Fragen. Ein Sicherheitsbeauftragter wollte wissen, wohin ich fuhr und warum. Ich sagte, ich führe nach Rom, um Frieden zu bringen. Bei diesen Worten brachen die Umstehenden in lautes Gelächter aus." Bevor ich das Haus verlassen hatte, hatte Dani, mein Mann, beklagt, dass uns dieser Traum viel Geld koste, seit Jahren würden wir meine Reisen in Sachen Frieden finanzieren. Für ihn, als -Finanzberater, lohnten sich solche Ausgaben nicht. „Du bist schon seit dreißig Jahren damit beschäftigt, ohne dass es etwas gebracht hätte. Wärst du meine Klientin, hätte ich dir schon längst geraten, den Laden dichtzumachen." Ich hatte geschwiegen. Ich wusste, dass er Recht hatte. „Vor dreißig Jahren bist du allerdings nur zu Demonstrationen gegangen", erklärte er, „und das hat nichts gekostet." Etwas in mir sagte mir, dass dies eine meiner letzten Friedenskonferenzen sein würde. „Danach werden wir nur noch für Kriege Geld ausgeben", versprach ich, um Dani aufzumuntern. Ich brachte die Gedanken, die mir durch den Kopf schossen, zum Schweigen und konzentrierte mich auf Nadims Worte. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 22 Über die Autoren und ihre Bücher Leseprobe Leseprobe „Ich verstehe", sagte der Securitymensch mit übertriebenem Ernst und bat mich zu warten. Erst, nachdem er in seinem Rechner Informationen eingeholt hatte, erklärte er, ich sei vermutlich in Ordnung und entschuldigte sich dafür, dass er die Gefahr, die von meiner Familiensituation ausgehe, kontrollieren müsse. Er stellte eine Reihe von Fragen zu meiner Frau und meinen Kindern und erkundigte sich, ob unter ihnen ein Terrorist sei. Was Laila, meine Frau, betraf, fiel meine Antwort eindeutig aus, doch in Bezug auf meine Kinder, sagte ich, falle es mir schwer zu antworten, denn mein ältester Sohn sei zehneinhalb und der jüngere neun. Dann kamen die anderen Verwandten an die Reihe. Ich erklärte, dass ich acht Geschwister hätte, oder besser gesagt Schwestern, leider sei ich der einzige Sohn meines Vaters. „Gibt es Terroristen in Ihrer Familie?", wollte er wissen. Falls es einen Terroristen gibt, dachte ich, kann nur ich es sein. Meine Schwestern sind längst verheiratet und haben sich in alle Winde verstreut, sie leben in Jordanien, in Gaza, in Dubai, in Ägypten. „Sind Sie Mitglied einer terroristischen Vereinigung?" „Nein." „Hat sich jemand aus ihrer Familie an Terroraktionen beteiligt? Dafür gespendet? Sich freiwillig gemeldet?" Acht Mal antwortete ich mit Nein. Über zwei Stunden später gestatte er mir zwar auszureisen, ließ mich aber wissen, dass das Flugzeug, mit dem ich fliegen wollte, schon gestartet sei. Er versuchte mich mit der Mitteilung zu beruhigen, dass gleich, das hieß in fünfeinhalb Stunden, die nächste Maschine fliege, und mir war klar, dass ich auch diesmal die Zeit im Duty free shop vertrödeln würde. Bestimmt verstand der Mann nicht, warum ich ihn anlächelte, er konnte ja nicht wissen, dass ich das Duty Free liebte, und das Duty Free liebte mich. Alle dort kannten mich – Nadim Abu Hani aus Ost-Jerusalem, er kauft Schuhe, Hemden, Trainingsanzüge, Unterhosen … er kauft alles, er hat immer Zeit. Wie Sie gewiss verstanden haben, verpasste ich meinen geplanten Flug und kam verspätet in Rom an, dafür aber mit neuen Turnschuhen. Er deutete auf seine Füße. Im Publikum wurde wieder gelacht, und ich merkte, dass ich ebenfalls lachte. „Ich bitte Sie, meine Verspätung zu entschuldigen", schloss er. Er weiß, wie man eine Geschichte erzählt, dachte ich bewundernd. „Was tun Sie? Ich meine beruflich?", erkundigte sich einer der Zuhörer. „Für meinen Lebensunterhalt unterrichte ich Italienisch an der Universität, und in meiner Freizeit arbeite ich für Menschenrechtsorganisationen." „Was tun Sie da?", fragte der Mann. „Ich filme", antwortete er kurz und schwieg. „Sie filmen also das, was sie Ihnen antun?", kam ein Ruf aus dem Publikum. Nadim antwortete nicht, er hatte das Mikrofon schon an Maria weitergereicht. Ich ahnte nicht, dass an diesem Tag etwas zwischen uns begann, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ich drei Jahre später an einem Juniabend in meiner Küche sitzen und mich fragen würde, ob wir uns am folgenden Morgen um elf Uhr dreißig bei Gericht treffen würden. Ich betrachtete ihn genauer, die schön geschwungenen Lippen, das runde Gesicht. Mein Blick blieb an den langen Wimpern hängen, die seine Augen verschatteten. Eine hochgeschobene Brille mit silbernem Gestell schmückte sein Haar wie eine Krone. Araber tragen keine Brille, schoss es mir durch den Kopf, und sofort schob ich diesen rassistischen Gedanken beiseite. Das Publikum dankte Nadim mit einem Applaus für seine Rede. Maria wandte sich mit einer Frage an mich. „Ich bin aus Israel, aus Tel Aviv", antwortete ich. „Sind Sie am Flughafen auch ausgezogen worden?", rief jemand. Ich wollte dem netten Mann antworten, dass wir keine Flugzeuge kidnappten und keine Wohnblocks sprengten oder Bomben in Straßen explodieren ließen, und dass wir im allgemeinen auch keine Sprengladungen in Schultertaschen spazierentrugen, aber ich entschied, den Zwischenruf zu ignorieren. Höflich entschuldigte ich mich für die Verspätung. „Der Abflug verzögerte sich, wie üblich, aus Sicherheitsgründen, und deshalb bin ich zu spät gekommen." Abermals traf mich ein Zwischenruf: „Warum habt ihr wieder einen Krieg angefangen?" Gewiss würde ich die Raketen gegen israelische Ziele nicht gegen die Kampfflugzeuge aufrechnen, die Hintergründe der Kämpfe waren schwer zu erklären, und um die Wahrheit zu sagen, war ich auch über die Einzelheiten nicht informiert. Ich beschloss, mich nicht auf eine direkte Konfrontation einzulassen. „Der Staat Israel hat alle Juden aufgenommen, die in der Diaspora vertrieben wurden", fing ich stattdessen an. „In unser Land kamen Überlebende des Holocaust. Es kamen auch diejenigen, die vor der stalinistischen Bedrohung und vor den Pogromen in den arabischen Ländern flohen. Der Staat Israel ist im Grunde eine psychiatrische Anstalt für posttraumatisierte Juden." Ich überlegte, wie ich es erklären könnte. „Wir alle kamen nach -Israel, um uns gegenseitig zu helfen, um Schutz vor einer existenziellen Bedrohung zu finden. Wir suchten Heilung für unsere Seele und unsere Körper, wir wollten unsere Traumata überwinden.„ © Deutscher Taschenbuch Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 23 Leseprobe Leseprobe Ebbrecht-Hartmann, Tobias: Übergänge: Passagen durch eine deutsch-israelische Filmgeschichte | Neofelis | 2014 | Softcover | 300 Seiten | ISBN: 978-3-943414-51-6 | 26,00 In den vergangenen Jahren zog das israelische Kino auf zahlreichen Festivals weltweit Aufmerksamkeit auf sich. Viele der oft ausgezeichneten Filme sind Koproduktionen und es ist keine Ausnahme, wenn israelische Regisseure durch deutsche Filmförderung unterstützt werden, vor allem dann, wenn Episoden der deutsch-israelischen Geschichte oder grenzüberschreitende Begegnungen thematisiert werden. Solche deutsch-israelischen Filmbeziehungen haben bereits eine lange Tradition, die sogar bis in die Zeit vor der Staatsgründung zurückreicht, als jüdische Filmemacher aus Deutschland Palästina bereisten, um den dortigen zionistischen Aufbau auch in ihrer deutschen Heimat publik zu machen. Spätere Filme erzählten dann Geschichten von deutschsprachigen Einwanderern oder zeigen Israelis in Deutschland und Deutsche in Israel oder Figuren, die sich zwischen beiden Ländern bewegen. Ebbrecht-Hartmann nimmt sich dieser Geschichte an und versucht sie anhand von konkreten Filmen und Ereignissen zu rekonstruieren – von den Anfängen der Filmproduktion im Mandatsgebiet Palästina bis in die Gegenwart Tobias Ebbrecht-Hartmann, geboren 1975, ist Filmwissenschaftler und Spezialist Filmgeschichte. Er lehrt und forscht an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam und war zuvor in Yad Vashem (Jerusalem) und im Graduiertenkolleg Mediale Historiographien (Weimar) tätig. Er ist zudem Kurator des „Paul-Spiegel-Filmfestivals – Jüdische Welten". Tobias Ebbrecht-Hartmann ist an der Hebrew University tätig. 1. Filmgeschichten zwischen Deutschland und Israel Filme sind ein Medium der Begegnung. Sie ermöglichen es, andere Lebenswelten kennenzulernen und die Perspektive eines anderen einzunehmen. Sie dienen aber auch dazu, die eigene Position zu klären und den eigenen Standort aus anderer Perspektive zu betrachten. Filme stellen darum auch immer etwas Imaginäres dar, visualisieren die Vorstellung über den anderen, die von bestimmten Bildern im Kopf, persönlichen und historischen Erfahrungen und von kollektiv geteilten Annahmen geprägt wird. Das gilt auch für das sehr vielschichtige deutsch-israelische Verhältnis. Deutschland und Israel sind auf vielen Ebenen miteinanderverbunden und doch auch wieder fremd. Eine gemeinsame, aber immer auch von Anfeindungen und Vorurteilen geprägte, deutsch-jüdische Vergangenheit verbindet Geschichte und Familiengeschichtenbeider Länder. Die Shoah, der millionenfache Mord an der jüdischen Bevölkerung Europas, prägt ihr Verhältnis bis heute. Die schwierigen, aber letztlich durchaus erfolgreichen diplomatischen, ökonomischen und kulturellen Annäherungen beider Länder nach dem Zweiten Weltkrieg gehören aber auch zu dieser gemeinsamen Geschichte und Gegenwart. Heute stehen wir vor einer widersprüchlichen Situation. Während in Deutschland das Bild Israels und der Israelis hauptsächlich durch den medial verstärkten Nahostkonflikt geprägt ist und ein großer Teil der Bevölkerung den kleinen jüdischen Staat als gefährliche Bedrohung des Weltfriedens wahrnimmt, steigt das Ansehen Deutschlands in der israelischen Bevölkerung. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wird Deutschland in Israel als verlässlicher Partner wahrgenommen. Während die steigende Antisemitismusbeispielsweise in Frankreich Besorgnis in Israel erregt, bekommen deutsche Politiker wie Joschka Fischer und Angela Merkel hohe Sympathiewerte. 2012 bewerteten 88,9 Prozent der israelischen Bevölkerung die deutsch-israelischen Beziehungen als normal. 1998 hatten dies nur 54,7 Prozent so gesehen. 82,8 Prozentbetrachten das heutige Deutschland als „anderes Deutschland“, was sich auch in der hohen Zahl an Israelis ausdrückt, die heute nach Deutschland ziehen oder das Land besuchen.1 17.000Israelis leben derzeit temporär oder dauerhaft in Berlin und 2012besuchten sechsmal mehr Israelis die deutsche Hauptstadt als im Jahr 2000.2 Berlin mit seiner ambivalenten Geschichte ist heute ein neues Jerusalem für viele Israelis. Umgekehrt halten viele Deutsche zu Israel Distanz. Eine Mischung aus Schuldabwehr und moralisch einseitiger Anklage bestimmt das deutsche Verhältnis zu dem jüdischen Staat am Mittelmeer. Das Kino ist ein Ort, an dem diese Distanz aufgebrochen werden kann und aufgebrochen wurde. Israelische Filme sind in den letzten Jahren erfolgreich auf internationalen Festivals gezeigt worden und schafften es auch immer öfter in deutsche Kinos und ins Fernsehen. Sie zeigen oft Bilder vom Land und seiner konfliktreichen Gegenwart, die andere Perspektiven zulassen als die binäre Vorstellung von Besatzern auf der einen Seite und Opfern auf der anderen. Und doch sind die Begegnungen zwischen Deutschen und Israelis, die Übergänge zwischen Deutschland und Israel auf der Leinwand noch immer beeinflusst und geprägt von den Konflikten, Ängsten und Vorurteilen der Vergangenheit und Gegenwart, insbesondere den beiden dominanten Themen Shoah und Nahostkonflikt. Aber sie zeigen auch Neugier, proben den interessierten Blick auf das jeweils andere Land und die dort lebenden Menschen. ----------------------------------------------------------------------------------------------1 Moshe Zimmermann: Facelift. Das Image der Deutschen in Israel seit der Wiedervereinigung. In: José Brunner (Hrsg.): Deutsche(s) in Palästina und Israel. Alltag, Kultur, Politik (= Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 41). Göttingen: Wallstein 2013, S. 288–304, hier S. 288. 2 Gisela Dachs: Berlin. Diaspora der Israelis. In: Zeit Online, 28.10.2013. http:// www.zeit.de/politik/ausland/2013-10/israel-emigration-berlin-yair-lapid (Zugriff am 15.07.2014). 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 24 Leseprobe Leseprobe Dieses Buch möchte einige dieser Filmbegegnungen in Geschichte und Gegenwart vorstellen und zeigen, wie sehr der neugierige Blick des Reisenden diese Begegnungen geprägt und die Wahrnehmung des fremden, aber auch des eigenen Landes dadurch verändert hat. Natürlich möchte es auch etwas von der Faszination israelischer Filme weitergeben und auf diese Weise den Facettenreichtum der israelischen Filmgeschichte vermitteln. Deutsch-israelische Begegnungen vollziehen sich in den hier vorgestellten Filmen meist auf mehreren Ebenen. Sie zeigen sich in der Handlung und den Figuren, die aus den beiden Ländern und Kulturen kommend aufeinandertreffen. Sie zeigen sich aber auch auf der Ebene der Produktion selbst. Um die Filme zu realisieren, kamen meist Filmemacher aus beiden Ländern zusammen, lernten sich so besser kennen und brachten gemeinsame Erfahrungen, Interessen, Bilder und Vorstellungen in die Filme ein. Übergänge Zu dieser Zeit reiste ein deutsch-jüdischer Filmemacher nach Palästina. Sein Handwerk hatte er in Babelsberg beim deutschen Filmunternehmen Ufa gelernt. Er war an verschiedenen Großproduktionen des Weimarer Kinos beteiligt und beeinflusst vom Stil der Avantgarde und des progressiven Filmschaffens in der Weimarer Republik. Im Auftrag des Jüdischen Nationalfonds drehte er in Palästina einen Film, der Land und Menschen dem Publikum in Europa bekannt machen sollte: Avodah (Palästina 1935). Der Filmemacher hieß Helmar Lerski und sein Film – musikalisch untermalt von dem bekannten Komponisten Paul Dessau – beginnt mit einer signifikanten Eröffnungsszene: Ein Mann geht über staubige Landstraßen und steinige Berghänge. Die Kamera filmt ihn von hinten. Er kommt an eine Grenze. Ein Schild weist den Weg nach Palästina. Ein Schlagbaum öffnet sich. Nun schwenkt die Kamera langsam von den Füßen des Mannes über seine abgenutzte Kleidung. Erstmals, darauf macht die israelische Filmwissenschaftlerin Nurith Gertz in dem Dokumentarfilm Historia shel Ha-Kolno‘a Israeli (Israels Kino erzählt, IL/F 2009, R: Raphael Nadjari) aufmerksam, wird das Gesicht des Wanderers sichtbar. Freudig lächelt er in die Kamera, bevor diese in der nächsten Einstellung über eine felsige Wüstenlandschaft schwenkt (Abb. 1). Vom gesichts- und geschichtslosen Wanderer – unverkennbar eine Umkehrung des antisemitischen Zerrbildes des ewig wanderden Juden Ahasver – wird der Einwanderer zum Subjekt seiner Geschichte. Der touristische Blick auf das Land verbindet sich mit einem Moment filmischer Subjektivierung, aber auch mit dem kolonialen Bild vom leeren Land, das nun fruchtbar gemacht werden soll. Aber noch andere Motive in dieser Sequenz sind interessant: das Motiv des Wassers als Symbol des Lebens, aber auch als Spiegel eines Himmels auf Erden, und das Bild der Grenze, die einen Übergang darstellt, eine Transformation und nicht notwendig eine Trennung. All diese Motive tauchen später immer wieder auf: die Grenze, der Übergang, der Einwanderer, die Frage nach Herkunft und Geschichte – und natürlich das Thema Identität. Das israelische Kino ist bis heute von diesen Fragen und Motiven geprägt. Auch die bereits in einem jüdischen Staat geborenen Generationen sind mit ihnen beschäftigt, suchen sogar in den letzten Jahren verstärkt nach der Herkunftsgeschichte ihrer Familien, die für lange Jahre ins Private abgedrängt war. Die Einwanderer/innen, die das Land aufbauten, waren nicht immer freiwillig gekommen. Oft wurden sie aus Ländern vertrieben, die sie als ihre Heimat betrachteten. Dies galt auch und in besonderer Weise für einen Teil der aus Deutschland emigrierten Juden, die es oft schwer hatten, sich den klimatischen und kulturellen Bedingungen in Palästina und Israel anzupassen, die neue Sprache Hebräisch zu lernen und die Liebe zur Kultur gegen harte Landarbeit einzutauschen. Der Filmemacher Arnon Goldfinger hat sich dieser Erfahrung in seinem autobiographischen Dokumentarfilm Ha-Dira (Die Wohnung, IL/D 2011) am Gegenstand der Wohnung seiner aus Deutschland eingewanderten Großmutter genähert. Das nach ihrem Tod verwaiste Apartment wird zur Zeitkapsel, zu einem Ort des Übergangs, des Transits, ein kleines Deutschland und Berlin inmitten von Tel Aviv, zu einem Ort der Begegnung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Deutschland und Israel, der sich von einem privaten in einen transnationalen Zwischenraum transformiert. Siegfried Kracauer hat einmal den Historiker mit einem Touristen verglichen und dabei betont, dass die „Aufgabe des Besichtigens“ ein „bewegliches Ich“ erfordere.3 Filme können das Material für solche Forschungsreisen bilden. Sie lassen uns nicht nur manchmal fremd wirkende Welten erkunden und entfernte Zeiten kennenlernen, sondern sie ermöglichen auch einen distanzierten Blick auf das scheinbar bereits Vertraute. Nähe und Distanz durchweben sich. Die Leinwand wird durchlässig. Bilder, Geschichten, eigene Erinnerungen und Projektionen kommen zusammen. Im besten © Neofelis Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten --------------------------------3 Siegfried Kracauer: Geschichte – vor den letzten Dingen. Werke, Bd. 4. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 93. 4 Kracauer: Geschichte, S. 95–96. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Vgl. ebd., S. 104. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 25 Leseprobe Leseprobe Gareis, Fredy: Tel Aviv – Berlin: Geschichten von tausendundeiner Straße | Malik | 2014 Gebunden | 288 Seiten | ISBN: 978-3-89029-438-4 | 19,99 € Fredy Gareis fährt vier Monate lang von Tel Aviv nach Berlin, mit einem alten Stahlrad, ohne jedes Training. 5000 Kilometer, die ihn durch Länder wie Jordanien, Libanon, Albanien und Kosovo führen. Auf seiner Fahrt durch blühende und vernarbte Landschaften sammelt er die Geschichten der Bewohner mit über vierzig Konfessionen ein – mit Gespür für politische und geschichtliche Hintergründe. Er trifft auf Saddam, den Obsthändler, und auf alte UCK-Kämpfer. Auf Menschen, die von Deutschland träumen, und auf Priester, die ihn mit Raki abfüllen. Er muss mit Überfällen und Nahtoderlebnissen klarkommen und wird zum philosophierenden Radnomaden und Asphaltcowboy. Fredy Gareis, 1975 in Alma-Ata, Kasachstan geboren, arbeitet seit 2007 als freier Journalist. Für eine Undercover-Reportage recherchierte er fünf Monate lang verdeckt bei Scientology. Früh begann er durch die Welt zu reisen, etwa nach Sibirien, wo er seiner Familiengeschichte bis an den Himbeersee folgte. 2010 bis 2012 berichtete er als freier Korrespondent aus Israel und dem Nahen Osten u.a. für den Tagesspiegel, Die Zeit und Deutschlandradio. Twenty years from now you will be more disappointed by the things you didn’t do than by the ones you did do. MARK TWAIN PROLOG Die Sonne bringt die Luft zum Flirren, sie strahlt auf die judäischen Wüstenberge, sie brezelt auf meinen glatt rasierten Kopf, bringt mich zum Schwitzen: In Strömen läuft es an mir herunter, so viel Wasser sieht das Westjordanland nicht alle Tage. Ich muss kämpfen auf dieser steilen Straße zwischen Bethlehem und Ma’ale Adumim, zwischen palästinensischem Westjordanland und israelischem Siedlungsgebiet. Ich keuche, trete rhythmisch, bin aber so langsam, dass ich auch schieben könnte. Der Verkehr röhrt an mir vorbei. Ich versuche, nicht auf die grauen Befestigungen des israelischen Checkpoints am Ende der Straße zu schauen, hefte meinen Blick auf den Asphalt, bewege mich auf meinem Rad von der einen zur anderen Seite, schwankend wie ein Wüstenkamel. Ich konzentriere mich auf meine Atmung, auf die Muskeln in meinen Beinen, auf die Körnung des Asphalts. Ein Auto schiebt sich von links in mein Blickfeld, eine schwarze Skoda-Limousine, sie schneidet mir den Weg ab und kommt direkt vor mir zum Stehen. Zwei Männer steigen aus. Zwei bleiben im Fond und werfen mir durch das Rückfenster Blicke zu, die scharf sind wie gewetzte Messer. „POLICE!", schreit einer der Ausgestiegenen, ein breitschultriger Mann mit Schnauzer und schwarzem, dreckigem TShirt. Sein Unterarm ist voller Tätowierungen, primitiven Stechereien, ohne Maschine in die Haut geritzt. Police my ass. Sein Kollege geht um mich herum, schneidet mir den Fluchtweg ab. Er legt die Hand an die Hüfte, als wäre er bereit, ein Messer, eine Knarre zu ziehen. Er ist schmal und hat einen krummen Rücken, schulterlange, fettige Haare. Hinterhältig sieht er aus, fies wie ein Schurke aus „Tausendundeiner Nacht". Schnauzer tritt dicht an mich ran. Er rüttelt an meiner Lenkertasche. „Can I see ID?", frage ich und weiß doch, dass ich keine sehen werde. Schnauzer rüttelt weiter an der Lenkertasche, er will sie aufreißen, scheitert am Ortlieb-System. Er schreit mich wieder an: „MONEY! TELEPHONE!" Ich rieche seinen fauligen Atem. Meine Scheiße, wie bin ich bloß auf diese verrückte Idee gekommen, hier durchzufahren? Ah ja, ich wollte ein Abenteuer. Nach zwei Jahren als Korrespondent im Nahen Osten war ich konfliktmüde, nach sieben Jahren als freier Journalist medienmüde. Fühlte mich wie ein Parasit, der nur von den Geschichten der anderen lebt. Aber wo war meine eigene dabei geblieben? Wann hatte ich zum letzten Mal meiner Stimme zuhören können? Immer übertönt vom Grundrauschen des Arbeitsalltags. Vor Jahren hatte ich über ein paar sehr mutige Frauen geschrieben. Eine von ihnen war Roz Savage (wie großartig ist denn dieser Nachname?), eine Bankerin in der Londoner Hochfinanz, sie hatte Haus, Auto, Mann und noch eine Menge mehr, aber eines Tages, in Sichtweite ihres 40. Geburtstages, setzte sie sich hin und seufzte. Sollte das alles sein? Sie schrieb auf ihrem teuren, persönlichen Papier ihren Nachruf. Sie las die kurzen Zeilen, sie zerknüllte das Blatt, sie machte einen neuen Versuch. Diesmal flossen die Zeilen nur so aufs Papier. Roz schrieb auf, wie man sich an sie erinnern sollte. Sie kündigte ihren Job. Ruderte die Themse runter. Dann überquerte sie den Atlantik. Dann den Pazifik. Alles alleine. Ich traf sie auf Hawaii. Roz hatte ihre sandblonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und packte Lebensmittel in ihr Boot für die letzte Etappe nach Australien. Zu Hause sagten Freunde, wie geil, dass dich jemand dafür bezahlt, ein Interview auf Hawaii, Mensch, Journalisten haben vielleicht ein Leben. Dabei wäre ich am liebsten mit in das Boot gehüpft und hätte mich in den nächsten Monaten von Erdnussbutter und Sardinen aus der Dose ernährt und dem Schlagrhythmus der Ruder hingegeben. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 26 Leseprobe Leseprobe Der Redakteur kam mit diesem Wechsel von der Hochfinanz auf einen niedrigen Rudersitz überhaupt nicht klar. „Warum", fragte er immer wieder, „warum macht die das? Ist die verrückt?" Manche verstehen einfach nicht, dass es um mehr geht, als das Leben nur der Länge nach abzuleben. Auch die Breite will genutzt werden. Die Gedanken waren mir nicht neu. Aber dann frisst der Alltag dich auf. Die Wochen und Monate vergehen – und kommen nie wieder zurück. Es ist so, wie der römische Philosoph Seneca einst geschrieben hat: „Nur ein kleiner Teil des Lebens ist es, den wir leben. Die gesamte übrige Spanne ist nicht Leben, sondern Zeit." True, true. Etwas für den Körper wäre gut, sagte ich mir. Den Kopf defragmentieren. Sich des ganzen digitalen Mülls entledigen, der sinnlosen Nachrichten, Posts, Tweets. Zu viel Oberfläche, zu wenig Tiefe. Mir zumindest frittiert die Datenflut das Gehirn. Ich muss raus, muss auf Infodiät. Nur, was tun? Rudern wie Roz oder wandern wie Wolfgang Büscher? Ich dachte an meine Reise nach Russland, schon ein paar Jahre her, und an Björn, meinen dänischen Freund – zwei Meter groß, Bart, Typ Wikinger –, den ich in Odessa getroffen hatte. Ich war auf dem Rückweg von Sibirien, wo ich meiner Familiengeschichte bis ins ehemalige Straflager meiner Oma gefolgt war, an den Himbeersee und den Ort gleichen Namens, in der Nähe der kasachischen Grenze. Dorthin war meine Oma mit ihrer Familie deportiert worden, hatte zehn Jahre für Stalin im Winter gefrorenes Soda aus den kleinen, wirklich himbeerfarbenen Seen in der Umgebung brechen müssen. Russlanddeutsche, die zwangsrepatriiert worden waren. Björn war damals gerade unterwegs in den Iran. Mit dem Rad. Sein Bart war so buschig, dass er ein Vogelnest darin hätte verstecken können. Abends in der Nähe der Potemkinschen Treppe saßen wir in einer Bar, vor uns eine Karaffe Wodka, eine Karaffe Wasser, getrockneter Fisch, und Björn erzählte mir von dem Dorf in der Ukraine, wo ihn die Lokalzeitung auf die Titelseite gezerrt hatte, mit einem Zwei-Kilo-Stück Speck, Geschenk der Gemeinde, abgelichtet hatte. Er erzählte von der Familie in der Nähe von Tschernobyl, die ihn für ein paar Tage aufgenommen hatte. Der Vater redete von den Kindern, die die Eltern hatten wegschicken müssen, damit sie nicht in der Strahlung aufwuchsen. Die Familie teilte mit Björn Essen und Tränen. Im Kaukasus war er Menschen begegnet, die mit Kalaschnikows in den Bäumen saßen und ihn schon von Weitem mit seinem Rad kommen sahen. „Es gibt keine bessere Art zu reisen", sagte Björn. „Warum?" „Entweder denken die Leute, du bist harmlos, und das „noch in der gefährlichsten Gegend. Oder sie haben einfach so viel Mitleid mit dem armen Tropf, der sich keinen anderen Transport leisten kann, dass sie dir Tür und Tor öffnen." „MONEY!! TELEPHONE!!" Der Schnauzer schreit immer noch, Krummrücken hält die Umgebung im Blick. Die beiden sind nicht im Geringsten nervös. Die haben schon viel Schlimmeres gemacht, denke ich mir. Ich verhalte mich ruhig, kann sowieso weder vor noch zurück. So viel zu Mitleid mit dem armen Tropf. Der Verkehr fließt weiter an mir, an uns vorbei. Wie sieht diese Szene wohl aus den Autofenstern aus? Mein Herz schlägt schnell, ich kann es hören in meiner Brust, laut und deutlich. Obwohl die Typen mich eingekeilt haben, denke ich an Flucht. Soll ich es wagen? Die Straße in entgegengesetzter Richtung runterrasen? Was dann? Ich bin nicht naiv. Ich habe damit gerechnet, überfallen zu werden. Aber doch nicht hier. Nicht in meinem Revier. Über mir der azurblaue Himmel. Neben mir die sandbraunen Wüstenberge. Unter mir die graue Straße. Vor mir der Schnauzer. „MONEY!!! TELEPHONE!!!", schreit er zum wiederholten Mal, und ich fühle seinen Speichel auf meinem Gesicht. Er reißt an der Lenkertasche, endlich hat er sie offen, von hinten tritt Krummrücken näher ran, ich schaue zu den grauen Befestigungstürmen des israelischen Checkpoints. Sie sind verdammt weit weg. Super Urlaub. KAPITEL I „Junge, du bist doch bescheuert!" Wo, bitte, geht’s denn hier zum Nahostkonflikt? Schlaflose Nächte in den letzten Tagen. Geträumt von wilden Hunden, geplatzten Reifen und Überfällen in der einsamen Wüste. Ich habe ein bisschen Angst vor der ganzen Sache. Aber nur ein bisschen. Is’ klar. Doch jetzt stehe ich hier, in Tel Aviv am Strand bei 25 Grad, und umarme meine Freundin. Ich drücke ihr die Luft aus dem schmalen Körper und verstecke meine Nase in ihren blonden Haaren. Sie weint ein wenig, mein Herz klopft, und vor mir liegen etwa 5000 Kilometer mit dem Rad nach Berlin. Zumindest haben das meine amateurhaften Berechnungen ergeben. Ich küsse meine Freundin. Wische ihr eine Träne aus dem rechten Auge. Die Sonne über dem Mittelmeer wirft ein Schlaglicht auf uns. „Geh jetzt, bitte", sagt mein Liebling. Zwischen all den Menschen, die Bier trinken, Strandball spielen, sich in der Sonne aalen und lachen, steige ich auf mein mit fünf Taschen bepacktes Rad – und sage einfach Tschüss. Als würden wir uns morgen, spätestens übermorgen wiedersehen. Das ist dieser erste sprichwörtliche Schritt. Hoch auf den Ledersattel, der sich in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten meinem Arsch anpassen wird. Hoffentlich. Mein Rad fühlt sich schwer an unter mir. Es ist ein solides Teil aus Stahl mit zwölf Gängen, noch gebaut in Westdeutschland. Die Kette, die Reifen – alles noch original, also mehr als 20 Jahre alt. Dafür hat es nur 90 Euro gekostet. Ich habe es auf eBay geschossen. Ich muss mich erst noch daran gewöhnen, navigiere es wie einen schweren Tanker durch das sanft dahinwogende Meer aus Menschen, ihre mediterrane Bräune leuchtet im hellen Schein der Januarsonne. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 27 Leseprobe Leseprobe Wenn das Meir Dizengoff, der erste Bürgermeister Tel Avivs, sehen könnte, diesen puren Hedonismus, diese friedvolle Strandbesatzung. Der wollte nämlich das Gelände am liebsten industriell erschließen. Weil er sich nicht vorstellen konnte, warum Juden Interesse am Baden zeigen sollten. Der Journalist Sholem Asch hingegen schrieb 1937: „Jeder Jude hat zwei Bitten an Gott: einen Platz im Paradies im Jenseits – und im Diesseits einen Platz am Strand von Tel Aviv." Die Stadt als leuchtender Gegenentwurf zu den grauen und ärmlichen Schteteln im östlichen Europa. Tel Aviv, der „Frühlingshügel", ist gerade mal 104 Jahre alt. Israelis nennen die Stadt mit ihrer 24-Stunden-Kultur auch gerne The Bubble, die Blase. Weil du hier alle Sorgen vergessen kannst. Der Strand ist 14 Kilometer lang, die Biergläser sind immer voll und eiskalt, die Frauen filmhaft schön, die Nächte feucht und dampfend. Über mir fliegen Kampfhubschrauber Richtung Gaza. Es sind gerade mal 60 Kilometer dorthin, und doch ist es Welten entfernt. In Tel Aviv ist man hedonistisch liberal, gerade weil die Konflikte in der Region gefühlt so weit weg sind. Während die Linken am Strand zu Bronzestatuen werden, Volleyball spielen oder das neueste Restaurant belagern, betreiben die Rechten in Jerusalem knallharte Politik, rühren die Trommeln gegen die Flüchtlinge aus Afrika, gegen die Palästinenser, gegen den Iran. Theoretisch könnte ich diese wundervolle Küste immer Richtung Norden entlangfahren, durch den Libanon, durch Syrien, und ratz, fatz wäre ich schon in der Türkei. Theoretisch. Alles nicht so leicht im Nahen Osten. Grenzen sind hier noch echte Hindernisse. Ich fahre vorbei an den Segelbooten in der Marina, den ganzen Restaurants. Denke nur: shit, shit, shit. Weil mir klar wird, dass ich nicht morgen und auch nicht übermorgen zurück sein werde. Weil das nur die ersten Pedaltritte von Millionen sind. Weil ich mich frage, wann ich meine Freundin wiedersehen werde. Werde ich sie überhaupt wiedersehen? Die Region ist nicht gerade bekannt für ihre rücksichtsvollen Autofahrer. Links schwappt das Meer sanft an den Strand, rechts in den Gassen zwischen den Häusern regieren die Katzen, ganze Banden marodieren durch die Straßen, mit vernarbten Gesichtern, abgebissenen Ohren, lahmen Beinen. Abends warten sie an den Ecken auf die alten Frauen, die in der Dunkelheit, damit sie keiner dabei erwischt, kleine Türmchen aus Trockenfutter auf dem Bürgersteig errichten. Tel Aviv riecht salzig nach Meer und sauer nach Katzenpisse. Im Norden der Stadt biege ich auf den Radweg am Yarkon-Fluss ab, fahre unter den Kronen von Platanen und Eukalyptusbäumen entlang, atme die Luft dieser grünen Lungen, die um diese Jahreszeit noch frisch ist. Der Fluss liegt faul in seinem Bett, ein türkisgrünes Eldorado für Moskitos. Im Altertum war der Yarkon die Grenze zwischen den Stämmen Ephraim und Dan, zwei von den zwölfen, aus denen sich Jahwes auserwähltes Volk„ zusammensetzte. Jetzt führt er mich aus der „Weißen Stadt". Der Name kommt von den etwa 4000 Gebäuden im Bauhausstil. Schüler von Gropius und Mies van der Rohe flohen vor den Nazis und ließen hier in der neuen Heimat ihre Ideen von Aufbruch, Modernität und Weltbürgertum in die Architektur Tel Avivs einfließen. Immer am Fluss entlang, raus aus diesem Großstadtknäuel, in dem 42 Prozent der israelischen Bevölkerung leben, lieben und sterben. Vor zwei Jahren bin ich in Israel aus dem Flugzeug gestiegen, die Grenzbeamtin strich ihre schwarzen Locken nach hinten, und während ich noch dachte, ganz hübsch, die Kleine, blaffte sie mich an: „Was willst du hier?" In der Tat, was wollte ich hier? Eigentlich hatte ich keinen Schimmer von Israel. Ich schaute auf den kaugummikauenden Mund der Beamtin (hatte ich jemals in Deutschland ein so schönes Wesen im Staatsdienst gesehen?) und sagte: „Ich bin Journalist. Ich werde für die deutschen Medien berichten. "Wichtig schob ich nach: „Als Korrespondent" und zeigte ihr das entsprechende Schreiben einer deutschen Redaktion. Ja, Korrespondent, das hatte einen guten Klang. Das wollte ich immer werden, seit ich mir mit 16 Jahren von meinem ersten selbst verdienten Geld (Zeitungen austragen – allerdings muss ich beichten, dass ich die Zeitungen auch oft einfach zur nächsten Papiertonne „ausgetragen" habe) ein Abo der Zeitschrift Geo geleistet hatte. Sie warf einen Blick auf meine Papiere, dann einen auf mich und sagte: „Ah, großartig, noch mehr Journalisten." Mag sein, Israel brauchte mich also nicht. Aber ich brauchte Israel. Denn in Berlin gab es für mich als Journalisten keine Perspektive, Deutschland ist irgendwie so … fertig. Die letzte wirklich große Sache war doch die Wende; Menschen, die eine Mauer, ein System zum Einsturz brachten. Da war ich erst 15 und hätte vor dem Fernseher Rotz und Wasser geheult. Wenn meine Mutter nicht neben mir gesessen hätte. Kann doch nicht vor der Mutter flennen. Israel also. Alle Rechte bei Malik Verlag 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 28 Leseprobe Leseprobe Ghandtschi, Ali: Mein Israel. Juden und Palästinenser erzählen | Suhrkamp | ET: 8. März 2015 Taschenbuch-Originalausgabe | ISBN: 9783518465783 | 16,00 € Der Berliner Fotograf Ali Ghandtschi porträtierte in Israel Schriftsteller und Künstler; er wollte sich ein Urteil über das Land bilden und Fragen stellen. Um mit seinen Gesprächspartnern nicht gleich über Politik zu sprechen, fragte er sie nach ihrer Kindheit. Fast alle freuten sich, dass sich jemand für ihre persönliche Geschichte interessiert. Natürlich handeln die Gespräche, die Erinnerungen immer auch von der Gegenwart, der aktuellen Lage: in Israel hat eben alles mit Politik zu tun – und so sind auch Kindheitserinnerungen politisch. Ghandtschis Bilder zeigen einen scheinbar normalen Alltag. Sie erzählen vom Übertönen, Ausstreichen, Rechthabenwollen, von der Suche nach der einen Wahrheit. Aus unterschiedlichsten Stimmen – moderat religiöse, orthodoxe und säkulare Juden, Zionisten und palästinensische Israelis – ergibt sich ein Bild mit unerwarteten Perspektiven. Ali Ghandtschi, 1969 in Teheran geboren, arbeitet seit 1995 als freier Fotograf. Er fotografiert für nationale und internationale Musik- und Kulturmagazine, Theater und Museen, ist Fotograf der Berlinale und des Internationalen Literaturfestivals Berlin. Für Laura, Elias und Maja Ich erinnere mich, wie ich als Kind, im Teheran der siebziger Jahre, auf unserem Schwarzweißfernseher Moshe Dayan sah. Ich war beeindruckt von seiner Augenklappe und musste an Schlachten auf Seeräuberschiffen denken. Später, nach der iranischen Revolution und unserer Übersiedlung nach Deutschland, zeigte unser neuer Farbfernseher die Bilder der Intifada: Jugendliche, die Steine schleuderten gegen Soldaten mit Maschinengewehren. Dann explodierende Busse, zerfetzte Körper, Drohungen von Politikern; 2005 schließlich Israels Rückzug aus Gaza. In meiner Jugend hatte ich israelische Freunde, die nach dem Libanonkrieg von 1982 aus der Armee ausgeschieden waren und nun die Welt bereisten, um das Erlebte zu verarbeiten. Israel hat mich immer begleitet, Diskussionen zum Thema Israel gehörten zu meinem Leben. Jeder hatte eine Meinung, auch ich. Gleichzeitig hatte ich immer das Gefühl, eigentlich viel zu wenig über dieses Land zu wissen. Als Fotograf des internationalen Literaturfestivals in Berlin hatte ich Kontakt zu israelischen Lyrikern und Schriftstellern. Im April 2011 beschloss ich, nach Israel zu reisen, Porträts von Künstlern zu machen und diese in einer Ausstellung zu zeigen. Am Flughafen Ben-Gurion befragten mich sieben Beamte mehrere Stunden lang, was ich – Deutscher, Perser, Nichtjude – in Israel wolle. Schließlich ließ man mich einreisen. Und plötzlich fühlte ich mich merkwürdig zu Hause. Die Freundlichkeit und der Umgang der Menschen miteinander erinnerten mich an den Iran. Ich war im Nahen Osten angekommen, in einem Land, dass sich von den umgebenden Ländern abgrenzte und dennoch von der Mentalität des Orients durchdrungen schien. Am ersten Tag meiner Reise besuchte ich die Altstadt von Jerusalem. An der Klagemauer geriet ich in Feierlichkeiten von orthodoxen Juden zu Ehren eines reichen Amerikaners, der dem Rabbiner der Klagemauer eine neue Torarolle übergeben hatte. Hunderte tanzten ausgelassen zu den Klängen eines Kinderchors, der von verzerrten, ohrenbetäubenden E-Pianoklängen begleitet wurde. Ich fotografierte das Fest und wurde bald von den Feiernden aufgefordert, mitzutanzen. Mit meiner Pappkippa auf dem Kopf sah ich wahrscheinlich aus wie ein Diasporajude auf Heimatbesuch. Nach einer Weile fragte mich der Assistent des Rabbiners, woher ich käme. Als ich ihm von meiner Herkunft erzählte und auf Nachfrage verneinen musste, Jude zu sein, war die Party für mich vorbei. Ich wurde aufgefordert, die Veranstaltung zu verlassen. Dann ging ich zum Felsendom. Als ich meinen islamischen Namen nannte, wurde ich eingelassen. Ein freundlicher Mann zeigte mir jede Ecke des Doms, zu dem wiederum Juden keinen Zutritt haben. Israelische Freunde, denen ich am Abend von meinen Erlebnissen erzählte, bezeichneten mich – halb im Ernst, halb scherzhaft – als „Religionshure". Für jemanden, der wie ich in einer Gesellschaft lebt, in der Religion im öffentlichen Raum so gut wie keine Rolle spielt, waren das ganz neue Erfahrungen. Mir wurde bald klar, dass es nicht genügen würde, in Israel einfach nur Porträts zu machen. Dieses Land faszinierte mich, ich wollte einen anderen Zugang dazu finden. Ich hatte ein Aufnahmegerät dabei und begann, die Künstler zu interviewen. Um das Gespräch nicht gleich auf Politik zu lenken, bat ich sie, mir eine Kindheitserinnerung mit Bezug zu Israel beziehungsweise dem damaligen Palästina zu erzählen. Fast alle waren begeistert von der Idee, dass sich jemand für persönliche Geschichten interessierte und nicht zwingend über Politik sprechen wollte. Dennoch spannten die Erzähler den Bogen fast immer bis zur heutigen Zeit. Da alles in Israel mit Politik zu tun hat, sind auch Kindheitserinnerungen politisch. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 29 Leseprobe Leseprobe Nach drei Wochen hatte ich achtzehn Interviews geführt und war von den Geschichten so gefangen, dass das fotografische Porträt in den Hintergrund trat. Es war etwas anderes, das ich im Bild festhalten wollte. Ich begann, Nachrichten, die Menschen in der Öffentlichkeit hinterlassen hatten, zu fotografieren: Wandzeitungen, Graffiti, Parolen. Zurück in Deutschland zeigte ich eine Auswahl der Geschichten und Bilder im Rahmen einer Ausstellung während des internationalen Literaturfestivals im Haus der Berliner Festspiele, was auf reges Interesse stieß. Ich beschloss, das Projekt weiter zu verfolgen. Auf fünfmehrwöchigen Reisen nach Israel sammelte ich fast achtzig Geschichten verschiedenster Persönlichkeiten und machte zahllose Aufnahmen – insbesondere von Wänden und Mauern. Mein Plan, ein ausgewogenes Bild Israels aufzuzeigen, ging allerdings nicht auf. Die israelische Gesellschaft ist weit vielfältiger, als wir sie durch die Medien wahrnehmen. Viele Intellektuelle, insbesondere linke und moderate, stehen der israelischen Politik sehr kritisch gegenüber und sind für Gespräche offen. Ultranationalistische und ultraorthodoxe Juden sowie islamische Würdenträger dagegen waren meist gar nicht bereit, mit mir zu sprechen. Der Radiomoderator und Rechtsanwalt Yoram Sheftel zum Beispiel, der den ehemaligen KZ-Aufseher John Demjanjuk bei seinem Prozess 1986 in Israel verteidigte, beschimpfte mich am Telefon lauthals, was ich als Deutscher mir erlaube, ihn anzurufen. Ich war froh, dass sich Israel Har’el bereit erklärte, mir seine Geschichte zu erzählen. Er gehört zu den Gründern der nationalistischen und messianischen Siedlerbewegung „Gush Emunim". Außerdem veröffentlicht er seit vielen Jahren Kolumnen in der Tageszeitung Haaretz. Das macht ihn auch jenseits der rechten Kreise zu einer Stimme des öffentlichen Lebens. Auch der kontrovers diskutierte Musiker Ariel Zilber wollte anfangs nicht mit mir sprechen. Erst als ich ihm sagte, dass ich den auch von Siedlern verehrten Rabbiner Adin Steinsaltz getroffen hatte, war er bereit, mir seine Geschichte zu erzählen. Linke und moderate Kräfte des Landes lehnen Ariel Zilber ab, weil er seit einigen Jahren extrem nationalistische Positionen einnimmt. Selbst die aktuelle Regierung unter Benjamin Netanjahu und Avigdor Lieberman findet er zu linksgerichtet. Als wir nach unserem Gespräch in einem schäbigen Café in einem Industriegebiet Tel Avivs auf die Straße traten, wurde er indes von jungen Bauarbeitern, die am Nachbargebäude beschäftigt waren, erkannt und frenetisch bejubelt. Chaim Gouri, einer der beliebtesten Lyriker des Landes und bei weitem kein Extremist, sagte höflich ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg, so erzählte er mir am Telefon, half er, ehemalige KZ-Häftlinge zu betreuen, und begleitete als Journalist den Eichmann-Prozess. Dies mache es ihm bis heute unmöglich, an einem deutschen Projekt teilzunehmen. Er wisse, dass ich ein junger Mann und unschuldig sei, ich solle es ihm aber bitte nachsehen. Einige arabische Israelis wiederum wollten sich nicht interviewen lassen, weil sie nicht zusammen mit Juden in einem Buch erscheinen wollten, auch aus der Angst heraus, dadurch in der arabischen Welt angefeindet zu werden. Wenn ich zwei Bücher herausbringen würde, eines mit Interviews von Juden, eines mit Interviews von Arabern – dann wären sie bereit, mit dabei zu sein. Mein Israel? Wessen Israel ist also damit gemeint? Das Land ist voll der verschiedensten Biographien. Innerhalb der jüdischen Gesellschaft gibt es so viele verschiedene Strömungen: Juden aus dem europäischen und dem arabischen Raum, eritreische und persische Juden, moderat religiöse, messianische, orthodoxe und ultraorthodoxe. Es gibt säkulare Juden, Zionisten und absolute Antizionisten, die mit HolocaustLeugnern gemeinsame Sache machen. Dazu gibt es die Siedler, und wer die richtig schlimm findet, der kennt noch nicht die Hilltop-Gangs. Dazwischen und darum herum gibt es natürlich noch Beduinen, Drusen und die mit 20% Bevölkerungsanteil nicht ganz kleine Gruppe der von den Juden „arabische Israelis" genannten moslemischen und christlichen Araber, die sich selbst aber als „palästinensische Israelis" bezeichnen. Und obwohl das Land so klein ist, ist es den einzelnen Gruppen möglich, ein Leben zu führen, ohne mit Mitgliedern der jeweils anderen Gruppierungen in Berührung zu kommen. Das war eine Erkenntnis, die mich mit am meisten irritierte. Ein bisschen fühle ich mich wie in dem Witz, den mir der Rabbiner Adin Steinsaltz erzählte: Ein Journalist kommt nach Israel und wird gefragt, was er tue. Er schreibe an einem Buch, antwortet dieser. Seit wann er denn im Land sei? „Seit gestern." Und wann er denn wieder abreise? „Morgen." Und wie das Buch heißen soll? „Israel gestern, heute und morgen". Das, was ich in den drei Jahren, in denen ich regelmäßig in Israel war, gehört und erfahren habe, kann nur ein winziger Einblick in die Komplexität dieses Landes sein, das sich in stetigem Wandel befindet. Es bleibt interessant, in welche Richtung es sich entwickeln wird. Ali Ghandtschi Die Gespräche wurden auf Englisch geführt, nur die mit Uri Avnery, Asher Reich, Micha Ulman und Ruth Peled-Ney auf Deutsch. Alle Gespräche fanden vor dem Gazakrieg „Operation Protective Edge" vom Sommer 2014 statt. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 30 Leseprobe Leseprobe Guggenheimer, Michael: Tel Aviv – Hafuch Gadol und Warten im Mersand | edition clandestin | 2013 Gebunden | ISBN: 9783905297423 | 29,00 € Michael Guggenheimers 50 Geschichten über Menschen des pulsierenden Tel Avis sind ein Buch für alle, die Tel Aviv lieben. Er lebt und arbeitet als Publizist arbeitet in Zürich. Wenn man ihn fragt, wo er geboren wurde, sagt er Tel Aviv, nicht Israel. Er liebt Tel Aviv und die Literatur des Landes. Wenn er Tel Aviv besucht, dann fotografiert er regelmäßig, liest in einem der Boulevardcafés die Tageszeitung Ha’aretz oder schreibt eine Geschichte, die in Tel Aviv stattfindet. Der vertauschte Name Nachmittags um vier begann am 14. Mai 1948 im grossen Ausstellungssaal des Museums von Tel Aviv die Zeremonie. David Ben Gurion, Vorsitzender des Exekutivkomitees der Jewish Agency for Palestine, eröffnete die Versammlung, in der er die Unabhängigkeitserklärung des neuen Staates verlas. Die ernst dreinblickenden Männer, welche den etwa 200 anwesenden Gästen auf einer leicht erhöhten Tribüne hinter einem langen Tisch gegenüber sassen, unterschrieben einer nach dem anderen das Dokument. Herzl Rosenblum durfte mit dem Namen, den er seit seiner Geburt trug und auf den seine Ausweise lauteten, das Dokument nicht unterschreiben. Herzl Rosenblum, 1948 Chefredakteur der Tageszeitung Yedioth Acharonot, gab nach und unterschrieb mit seinem Pseudonym Herzl Vardi. Herzl Vardi ist eine der 37 Personen, deren Unterschrift unter der Unabhängigkeitserklärung Israels steht. Unterschrieben hat Herzl Vardi die Erklärung mit einem Füllfederhalter der Marke Parker, der in der Papeterie Lautmann in unmittelbarer Nähe des damaligen Museums der Stadt Tel Aviv am Tag der Unabhängigkeitserklärung gekauft wurde. Der Teppich, auf dem David Ben Gurion, der erste Ministerpräsident Israels und die anderen Unterzeichner des Dokuments im Museumssaal am Rothschild Boulevard 16 zur Bühne schritten, wurde drei Stunden vor dem Anlass um die Ecke im Teppichladen von Georg Stumpf zusammengerollt und von zwei starken Männern als Leihgabe von kurzer Dauer zum Museum getragen. Das Holz für die Bühne, am Vormittag desselben Tages in Eile gezimmert, stammte aus dem Laden „Hamaschbir Le Tsarchan“ neben Stumpfs Laden. Die grosse Fotografie von Theodor Herzl, vor der Ben Gurion die Unabhängigkeitserklärung verlas, holte Zeev Sharef, der Organisator des Anlasses, ebenfalls erst am selben Tag in den Büros von Keren Hajessod nebenan ab. Rudi Weissenstein, Fotograf an der nahen Allenby Road, verfolgte den Anlass mit seiner Kamera und Raffi Meyersteyn von der Shalom Aleichem Strasse 18 in Tel Aviv, besser bekannt unter dem Namen „Radio-Doktor“, sorgte dafür, dass die Ansprache auf einer Langspielplatte aufgenommen wurde. „Der Anlass wurde nicht im Habimah Theater durchgeführt, weil das Theater von der Luft aus leichter zu orten gewesen wäre. Es kam nämlich damals noch vereinzelt zu Luftangriffen der ägyptischen Luftwaffe, daher wurde ein weniger auffälliges Gebäude gewählt“, erzählt Michael Levin. Levin, der seit 1984 in Frankreich lebt, ist Grafiker in Paris, Levin ist ein Sammler. Es gibt nichts rund um die Unabhängigkeitserklärung Israels vom 5. Iyar 5708, das Levin nicht erforscht, erbeten, erbettelt, gekauft hätte. Anfang Juni 1970 schrieb der damals 17-jährige Schüler an David Ben Gurion, er werde sich von jetzt an der Erforschung der Unabhängigkeitserklärung widmen. Ben Gurions handgeschriebene Antwort auf Hebräisch zeigt Levin 42 Jahre später mit Stolz. „Lieber Michael, lerne! Und sei nach deinem Militärdienst ein Pionier“, antwortete der Ministerpräsident dem Gymnasiasten, der damals in Ramat Gan bei Tel Aviv lebte. Levin hat seinen Plan mit Hartnäckigkeit umgesetzt: Alles über den Festakt im Tel Aviver Kunstmuseum vom Freitag, den 14. Mai 1948 um 16.00 Uhr weiss der hagere Grafiker. Wer die 350 geladenen Gäste waren, wie die ersten Textentwürfe der Einladung lauteten, dass die Gäste in dunkler, festlicher Kleidung zu erscheinen hatten, wie die sieben Musiker des Philharmonischen Orchesters unter der Leitung von Dirigent Georg Singer hiessen, die den Anlass musikalisch umrahmten, wer der Grafiker war, der die Unabhängigkeitserklärung gestaltete, nämlich Otto Wallish – nichts ist dem Sammler entgangen. Alle 37 Unterzeichner oder deren Angehörige hat er kontaktiert, von jedem kennt er die Biografie, er weiss sogar, wer unter ihnen die Erklärung erst nach der Verkündung im Museumssaal unterschrieben hat und weshalb erst dann. Wenn Michael Levin Bekannten seine Sammlung zeigt, weist er darauf hin, dass am Tag der Unabhängigkeitserklärung noch nicht feststand, dass der neue Staat auch Israel heissen werde. Die ersten Briefmarken, gedruckt am Tag nach der Unabhängigkeitserklärung, tragen noch die Bezeichnung „Doar Ivri“, Hebräische Post. „Der neue Staat hätte auch genauso gut Zion heissen können“, erzählt der umtriebige Forscher mit der schwarzumrandeten Designerbrille, der trotz seinen 55 Jahren wie ein Pfadfinder aussieht. Dass der Staat Israel heisse, sei dem Umstand zu verdanken, dass Zion sich auf Englisch ausgesprochen ähnlich wie das hebräische Wort für Beischlaf anhöre. Nein, das ist kein Witz!, fügt er an. Michael Levin hat sich Abzüge der offiziellen Fotos von Fotograf Weissenstein besorgt, die Langspielplatte mit der Stimme Ben Gurions, den Musikstücken und der Nationalhymne Hatikva, die von den Anwesenden gesungen wurde, hat er bei Radio-Doktor Meyersteyn kopieren lassen. Alles weiss Michael Levin. Sogar, dass es Ben Gurion wichtig gewesen sei, dass die Bilder, die im Museumssaal hingen, von bekannten jüdischen Malern stammten. Und die Geschichte, dass Herzl Rosenblum nicht mit seinem eigenen Namen hat unterschreiben dürfen, hat ihm Herzl Rosenblum alias Herzl Vardi persönlich erzählt. © edition clandestin, 2013. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 31 Leseprobe Leseprobe Gundar-Goshen, Ayelet: Löwen wecken | Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama Kein & Aber | Feb. 2015 | ISBN: 978-3-0369-5714-2 | Hardcover | 432 Seiten | 22,90 € Als Neurochirurg Etan Grien mitten in der Nacht einen illegalen Einwanderer überfährt und erkennt, dass der Mann sterben wird, trifft er eine folgenschwere Entscheidung: Er lässt den Mann liegen und meldet den Unfall nicht. Doch am nächsten Morgen steht die Frau des Opfers vor seiner Haustür und macht Etan einen ungewöhnlichen Vorschlag, der sein Leben komplett umkrempelt. Löwen wecken ist die Geschichte eines Mannes, der einen falschen Schritt tut und diesen Weg dann weiterverfolgen muss. Ein Roman, der sich in der Grauzone zwischen Liebe und Hass, Schuld und Vergebung, Gut und Böse bewegt, und der zeigt, wie zerbrechlich unser geordnetes Leben sein kann. Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, lebt und arbeitet als Autorin und Psychologin in Tel Aviv. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihr erster Roman, „Eine Nacht, Markowitz“ (2013) wird derzeit von der BBC verfilmt; er wurde mit dem renommierten Sapir-Preis für das beste Debüt Israels zugesprochen. Für Yoav Und er dachte sich gerade, dies sei der schönste Mond, den er je gesehen habe, als er diesen Mann umfuhr. Und als er ihn umfuhr, dachte er im ersten Moment immer noch an den Mond, dachte weiter an den Mond und hörte dann mit einem Schlag auf, als hätte man eine Kerze ausgeblasen. Er hört die Tür des Jeeps aufgehen und weiß, er ist derjenige, der sie öffnet, er derjenige, der nun aussteigt. Aber dieses Wissen ist nur lose mit seinem Körper verbunden, wie das Wandern der Zunge übers Zahnfleisch kurz nach der Betäubungsspritze, alles da, aber anders. Seine Füße treten auf den groben Wüstensand, er hört ein Knirschen bei jedem Schritt, und dieser Laut beweist ihm, dass er tatsächlich geht. Und irgendwo am Ende des nächsten Schritts erwartet ihn der Mann, den er umgefahren hat, von hier kann man ihn nicht sehen, aber er ist dort, noch einen Schritt, und er ist da. Der Fuß ist schon in der Luft, verlangsamt jedoch, möchte ihn hinausschieben, den nächsten, den endgültigen Schritt, nach dem nichts anderes mehr übrig bleibt, als den am Straßenrand liegenden Mann anzusehen. Könnte man diesen Schritt nur einfrieren, aber natürlich kann man diesen Schritt nicht einfrieren, ebenso wenig wie man den Moment davor einfrieren kann, den genauen Moment, in dem ein Jeep einen Menschen umfuhr, das heißt, den genauen Moment, in dem der Mann, der den Jeep lenkte, den Mann, der zu Fuß ging, umfuhr. Dieser Mann, der zu Fuß ging – erst der nächste Schritt wird zeigen, ob er noch ein Mensch ist oder bereits etwas anderes, ein Wort, das man nur denken braucht, und schon erstarrt der Fuß in der Luft, mitten im Schritt, denn am Ende des Schritts könnte sich zeigen, dass der Mann, der zu Fuß ging, kein gehender Mensch mehr ist, oder überhaupt kein Mensch mehr, nur noch die Hülle eines Menschen, eine aufgesprungene Hülle, und der Mensch ist weg. Und wenn der liegende Mann kein Mensch mehr ist, dann ist kaum auszudenken, was mit dem stehenden, bebenden Mann wird, der sich nicht einmal überwindenkann, einen einfachen Schritt fertig zu tun. Was mit ihm wird. Erster Teil 1 Der Staub war überall. Eine dünne, weiße Schicht, wie der Puderzucker auf einer Geburtstagstorte, die kein Mensch wollte. Er sammelte sich auf den Wedeln der Palmen, auf den erwachsenen Bäumen, die von Lastwagen angekarrt und auf dem Hauptplatz in den Boden gesteckt worden waren, weil niemand jungen Setzlingen zutraute, in dieser Erde Wurzeln zu schlagen; er bedeckte die Wahlplakate, die drei Monatenach den Kommunalwahlen immer noch von den Balkonen der Häuser baumelten: Glatzköpfige, schnurrbärtige Männer spähen durch den Staub auf ihre potenziellen Wähler, einige mit kompetentem Lächeln, andere mit ernstem Blick, je nach Empfehlung des angeheuerten Medienberaters. Staub auf den Reklameschildern, Staub auf den Busstationen, Staub auf den Bougainvilleen, die schlapp vor Durst am Straßenrand rankten, Staub überall. Trotzdem schien kein Mensch darauf zu achten. Die Einwohner von Beer Scheva nahmen den Staub genauso hin, wie sie alles Übrige hinnahmen – Arbeitslosigkeit, Kriminalität, mit zerbrochenen Flaschen übersäte Grünanlagen. Die Stadtbewohner erwachten allmorgendlich in staubbedeckten Straßen, gingen verstaubt zur Arbeit, machten Sex unter einer Staubschicht und gebaren Kinder, denen der Staub aus den Augen schaute. Manchmal überlegte er, wen er mehr hasste – den Staub oder die Einwohner von Beer Scheva. Vermutlich den Staub. Die Einwohner von Beer Scheva klebten ihm nicht jeden Morgen auf dem Wagen. Der Staub ja. Eine dünne, weiße Schicht, die das leuchtende Rot des Jeeps trübte und es in ein verblichenes Rosa verwandelte, eine Parodie seiner selbst. Wütend fuhr Etan mit einem Zeigefinger über die Windschutzscheibe und wischte etwas von der Schmach ab. Der Staub klebte auch noch an seiner Hand, als er sie an der Hose abgewischt hatte, und er wusste, er würde bis zum Händewaschen im Soroka-Krankenhaus warten müssen, um sich wieder wirklich sauber zu fühlen. Beschissen, diese Stadt. (Manchmal hörte er seine eigenen Gedanken und erschrak. Dann erinnerte er sich daran, dass er kein Rassist war. Er wählte die Menschenrechtspartei Meretz. Er war mit einer Frau verheiratet, die früher, bevor sie sich in Liat Grien verwandelte, Liat Samocha geheißen, also einen echt irakischen Familiennamen getragen hatte. Nach dieser Aufzählung beruhigte er sich ein wenig, und dann konnte er diese Stadt wieder reinen Gewissens hassen.) 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 32 Leseprobe Leseprobe Als er ins Auto stieg, achtete er darauf, jede Berührung mit dem beschmutzten Finger zu vermeiden, als sei er gar nicht Teil seines Körpers, sondern eine Gewebeprobe, die er zur Untersuchung in der Hand hielt. Gleich würde er sie Prof. Sakkai vorlegen, damit sie sie gemeinsam mit wissbegierigen Blicken prüfen konnten – verrate uns, wer du bist! Aber Prof. Sakkai war jetzt viele Kilometer weit weg, erwachte an einem staubfreien Morgen in den grünen Straßen Raananas, setzte sich gemütlich in seinen silbrigen Mercedes und schlängelte sich durch die Verkehrsstaus der Landesmitte zum Krankenhaus. Während Etan noch zügig durch die leeren Straßen von Beer Scheva fuhr, wünschte er Prof. Sakkai mindestens eine Stunde und fünfzehn Minuten Stillstand an der Geha-Kreuzung, mit kaputter Klimaanlage und verschwitztem Hemd. Doch er wusste sehr wohl, Mercedes-Klimaanlagen gingen nicht kaputt und die Staus an der Geha-Kreuzung waren nur eine süße Erinnerung an das, was er bei seinem Umzug hierher zurückgelassen hatte – die Metropole. Den Ort, wo alle hinwollten. Stimmt, in Beer Scheva gab es keine Verkehrsstaus, und das betonte er auch in jedem Gespräch mit Bekannten aus dem Landeszentrum. Aber wenn er das tat – mit dem gefälligen Lächeln und dem klaren Blick eines edlen Wüstenbewohners – , dachte er immer, dass es auch auf dem Friedhof keine Staus gebe, und doch wollte er dort nicht wohnen. Die Häuser entlang der Reger-Allee erinnerten tatsächlich an einen Friedhof. Eine verblichene, einheitliche Reihe von Steinklötzen, die einmal weiß gewesen waren, heute jedoch an Grau grenzten. Riesige Grabmäler, aus deren Fenstern hier und da ein müdes, staubiges Gespenstergesicht blickte. Auf dem Parkplatz des Soroka traf er Dr. Zendorf, der ihn mit breitem Lächeln fragte, „und wie geht es Dr. Grien heute?", worauf Etan sich ebenfalls ein schiefes Lächeln abrang, es nach besten Kräften übers Gesicht verteilte und antwortete, „alles in Ordnung". Dann passierten sie gemeinsam das Krankenhaustor, tauschten das Klima und die Uhrzeit, die die Natur ihnen aufzwang, gegen die dreiste Anmaßung von Klimaanlagen und künstlicher Beleuchtung, die ewigen Morgen und nie vergehenden Frühling verhießen. Am Eingang zur Station verließ Etan Dr. Zendorf, um sich den staubigen Finger lange am Waschbecken zu schrubben, bis eine junge Schwester vorbeikam und anmerkte, er habe die Finger eines Pianisten. Das stimmt, dachte er, er hat die Finger eines Pianisten. Frauen sagten ihm das immer. Aber das einzige Instrument, das er spielte, waren defekte, angeknackste Neuronen, auf denen er mit behandschuhten Händen klimperte, um zu sehen, ob er ihnen eine Melodie entlocken konnte. Ein sonderbares Instrument, das Gehirn. Man wusste nie richtig, welchen Ton man bekam, wenn man diese oder jene Taste anschlug. Natürlich würde jemand, dessen Occipital- oder Hinterhauptslappen man mit einem leichten Stromstoß reizte, mit hoher Wahrscheinlichkeit Farben sehen, ebenso wie ein Druck auf die Neuronen im Temporal- oder Schläfenlappen in den meisten Fällen die Illusion von Tönen und Stimmen erzeugte. Aber welche Töne? Welche Bilder? Da wurde die Sache kompliziert. Denn während die Wissenschaft klare, einheitliche Gesetze liebte, hoben sich die Menschen offensichtlich liebend gern voneinander ab. Wie erschreckend zäh versteiften sie sich darauf, neue, abweichende Symptome zu entwickeln, die zwar nichts als Variationen eines musikalischen Themas sein mochten, aber doch zu weit auseinanderlagen, um sie in einer allgemeingültigen Aussage zusammenzufassen. Zwei Patienten mit der gleichen Schädigung des orbitofrontalen Kortex würden niemals so gut sein, sich auf dieselben Nebenerscheinungen zu einigen. Der eine wurde grob und raubeinig, der andere lachte obsessiv. Einer gab unsinnige Witze von sich, den zweiten befiel der unbeherrschbare Drang, jeden Gegenstand, der ihm in die Quere kam, aufzuheben. Stimmt, die Erklärung gegenüber den entsetzten Angehörigen würde immer gleich lauten: Aus irgendeinem Grund (Verkehrsunfall? Krebsgeschwür? Querschläger?) ist der orbitofrontale Kortex geschädigt, der das Verhalten steuert. In neurokognitiver Hinsicht ist alles in Ordnung: Das Gedächtnis arbeitet, und die Denkfunktionen sind gleich geblieben. Aber der Mensch, den Sie gekannt haben, ist nicht mehr. Wer würde an seine Stelle treten? Das war unklar. Bisher. Von diesem Punkt an: eine Welt der Zufälle. Die Zufälligkeit, dieses aufreizende Hürchen, tanzte zwischen den Betten der Station herum, spuckte auf die Arztkittel, kitzelte die Ausrufezeichen der Wissenschaft, bis sie sich gesenkten Hauptes zu Fragezeichen rundeten. Wie soll man denn dann überhaupt noch was wissen?!, hatte Etan mal zum Holzpodium im Hörsaal emporgerufen. Fünfzehn Jahre war das her, und immer noch erinnerte er sich an seine jähe Erregung, als ihm an einem schläfrigen Novembermittag aufgegangen war, dass sein Studienfach nicht berechenbarer war als jeder andere Tätigkeitsbereich. Eine Studentin, die neben ihm eingenickt war, schreckte bei dem Zwischenruf auf und blitzte ihn feindselig an. Die übrigen Hörer warteten auf die Fortsetzung der Vorlesung, deren Inhalt sicher Prüfungsstoff sein würde. Der Einzige, der die Frage nicht als störend empfand, war Prof. Sakkai selbst, der ihm einen belustigten Blick vom Lehrerpult zuwarf. „Und wie ist Ihr Name, bitte?" „Etan. Etan Grien." „Die einzige Möglichkeit, Erkenntnis zu erlangen, Etan, besteht darin, dem Tod nachzuspüren. Der Tod lehrt Sie alles, was Sie wissen müssen. Nehmen Sie zum Beispiel den Fall von Henry Molaison, einem Epileptiker aus Connecticut. 1953 vermutete ein Neurochirurg namens William Scoville, die Epilepsie gehe von den beiden medialen Temporallappen aus, und Henry Molaison wurde einer neuartigen Operation unterzogen, bei der die angeblich krankheitsauslösenden Hirnpartien entfernt wurden, darunter ein Großteil des Hippocampus. Wissen Sie, was danach passiert ist?" „Ist er gestorben?" „Ja und nein. Henry Molaison war nicht tot, denn er überstand die Operation und lebte weiter. Aber in anderer Hinsicht war Molaison doch gestorben, denn nach seinem Erwachen aus der Narkose war er unfähig, auch nur eine einzige neue Erinnerung zu bilden. Er konnte sich nicht verlieben oder einen Groll nachtragen oder einen neuen Gedanken entwickeln, denn nach zwei Minuten war das Objekt der Liebe oder des Grolls oder der neue Gedanke schlichtweg ausgelöscht. . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 33 Leseprobe Leseprobe Er wurde als Siebenundzwanzigjähriger operiert, und obwohl er erst mit zweiundachtzig starb, blieb er praktisch ewig siebenundzwanzig. Verstehen Sie, Etan, erst nachdem man ihm den Hippocampus weitgehend entfernt hatte, erkannte man, dass der die Speicherung im Langzeitgedächtnis steuert. Wir müssen warten, bis etwas zerstört ist, um zu begreifen, was vorher richtig funktioniert hat. Das ist praktisch die Basismethode der Hirnforschung – wobei Sie nicht einfach hingehen und jemandem Hirnteile entnehmen können, um zu prüfen, was dabei herauskommt, sondern Sie warten ab, bis der Zufall für Sie arbeitet. Und dann stürzen sich die Wissenschaftler wie die Aasgeier auf das, was nach der Arbeit des Zufalls übrig geblieben ist, und versuchen, dasselbe zu erlangen wie Sie – ein wenig Wissen." War damals, in jenem Hörsaal, der Köder ausgelegt worden? Hatte Prof. Sakkai da bereits erfasst, dass dieser strebsame, faszinierte Student ihm wie ein treuer Hund überallhin folgen würde? Als Etan jetzt seinen weißen Kittel überzog, war er fast amüsiert über seine damalige Naivität. Er, der nicht an Gott glaubte, der schon als Kind keine Geschichte hören wollte, die auch nur einen Hauch von Übernatürlichem aufwies, hatte diesen Dozenten zum wandelnden Halbgott erhoben. Und als der treue Hund sich dann partout nicht tot stellen oder den Taubblinden mimen wollte, hatte der wandelnde Halbgott seinen Zorn über ihn ausgegossen, ihn aus dem Tel Aviver Garten Eden in diese Ödnis, ins SorokaKrankenhaus vertrieben. „Dr. Grien?" Die junge Schwester blieb bei ihm stehen und berichtete ihm von den Vorkommnissen der Nacht. Er hörte mit einem Ohr zu und begab sich dann auf den Weg zur Kaffeemaschine. Beim Gang durch den Korridor warf er einen kurzen Blick auf die Patienten: Eine junge Frau weinte leise vor sich hin. Ein Russe mittleren Alters versuchte sich mit zitternden Händen an einem Sudoku. Vier Angehörige einer Beduinenfamilie starrten mit glasigen Augen auf einen Fernseher an der Wand. Etan blickte schräg auf den Bildschirm: Ein Gepard knabberte stur die letzten Fleischreste von dem, was vorher einmal – wenn man dem Sprecher Glauben schenkte – ein Fuchs gewesen war. Siehe da, die Tatsache, dass alles Leben dem Vergehen geweiht ist, diese Tatsache, die man um Himmels willen nicht auf den Krankenhausfluren erwähnen durfte, konnte also wenigstens noch im Fernsehen folgenlos thematisiert werden. Würde Dr. Etan Grien durch diesen Betondschungel namens Soroka wandern und schlicht und einfach vom Tod reden, würden die Patienten ausrasten. Tränen, Schreie, tätliche Angriffe auf das Krankenhauspersonal. Unzählige Male hatte er einen gerührten Patienten sie „Engel in Weiß" nennen hören. Und obwohl er wusste, es steckten keine Engel, sondern Menschen aus Fleisch und Blut unter den weißen Kitteln, reagierte er nicht kleinlich. Wenn die Menschen nun mal Engel brauchten – wie käme er dazu, sie ihnen zu verweigern? Was machte es, wenn eine Schwester nur haarscharf einer Anklage wegen Fahrlässigkeit entgangen war, weil sie einer heiseren Kehle ein Medikament eingeflößt hatte, das für eine andere heisere Kehle bestimmt war? Auch Engel irrten sich mal, besonders, wenn sie dreiundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatten. Wenn von Trauer und Wut überwältigte Angehörige sich auf einen verängstigten Praktikanten oder eine erschrockene Fachärztin stürzten, wusste Etan, sie wären über wahre Engel genauso hergefallen, um ihnen die Federn aus den Flügeln zu reißen, damit sie nicht durchs goldene Himmelreich schwirrten, während ihr geliebter Anverwandter in Grabesfinsternis verbannt wurde. Und all diese Seelen, die dem Tod sonst nicht mal flüchtig ins Gesicht sehen konnten, betrachteten ihn nun gelassen, sogar wohlwollend, als er seinen Schrecken in der afrikanischen Savanne verbreitete. Denn jetzt schauten nicht mehr nur die Beduinen auf den Bildschirm – auch der Russe löste sich von seinem Sudoku und reckte den Hals, und sogar die tränenerstickte Frau verfolgte das Geschehen durch feuchte Wimpern. Der Gepard kaute emsig an den letzten Fleischresten des Fuchses mit dem roten Schwanz. Der Sprecher redete von Dürre. Bei Regenmangel fingen die Savannentiere an, ihre Jungen zu fressen. Die Szene wechselte, und die Besucher der neurochirurgischen Station betrachteten nun fasziniert „die seltene Dokumentation", wie der Sprecher sagte, eines afrikanischen Löwen, der seine eigenen Nachkommen verspeiste, und Etan Grien wusste in tiefstem Herzen, er hatte dem Gott der Wissenschaft nicht für das Morphium zu danken, sondern für den Toshiba-33-Zoll. Vor vier Jahren hatte eine kahlköpfige Patientin ihn einen Zyniker geschimpft und ihm ins Gesicht gespuckt. Er spürte im Geist immer noch den Speichel über seine Wange rinnen. Sie war jung, nicht besonders hübsch. Trotzdem war sie mit einer Grazie durch die Flure gewandelt, die Mitpatienten und Schwestern veranlasste, ihr unwillkürlich den Weg freizumachen. Doch eines Tages, bei der Morgenvisite an ihrem Bett, hatte sie ihn als Zyniker beschimpft und ihm ins Gesicht gespuckt. Vergeblich hatte er über den Auslöser dieses Verhaltens gerätselt. Bei den früheren Visiten hatte er stets sachliche Fragen gestellt und knappe Antworten erhalten. Nie war er von ihr auf dem Korridor angesprochen worden. Gerade weil er keinen Grund finden konnte, betrübte ihn der Vorfall. Unwillkürlich kamen ihm Gedanken über Blinde, die einen bestens durchschauten, über kahlköpfige Frauen, denen der nahe Tod möglicherweise einen Herz und Nieren durchdringenden Röntgenblick verliehen hatte. In jener Nacht, auf dem Doppelbett, dessen Laken nach Sperma roch, hatte er Liat gefragt: Bin ich ein Zyniker? Sie hatte gelacht, und er war eingeschnappt gewesen. Ist es so schlimm? Nein, hatte sie gesagt und ihm einen Kuss auf die Nasenspitze gegeben, nicht zynischer als andere. Und er war wirklich kein Zyniker. War nicht zynischer als andere. Dr. Etan Grien wurde seine Patienten nicht mehr – und nicht weniger – leid als üblich auf den Stationen. Und doch hatte man ihn über den Ozean von Staub und Sand hinweg ins Exil geschickt, ihn aus dem Schoß des Krankenhauses im Landeszentrum in die Betonwüste des Soroka verbannt. „Du Idiot", fauchte er sich an, als er das ratternde Klimagerät in seinem Dienstzimmer in Gang zu setzen versuchte, „du naiver Idiot." Denn was hätte einen begnadeten Mediziner zu einem Frontalzusammenstoß mit seinem Chef bewegen können, wenn nicht Idiotie? Was, wenn nicht die reinste Idiotie, hatte ihn veranlasst, auch dann noch auf seiner Meinung zu beharren, als dieser Chef, sein ehemaliger Mentor, ihm geraten hatte, sich vorzusehen? © Kein & Aber, 2015. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 34 Leseprobe Leseprobe Gysi, Gregor | Schorlemmer, Friedrich: Was bleiben wird. Gespräche über ein schwieriges Land | Aufbau ET: 9. März 2015 | ISBN: 978-3-351-03599-0 | Gebunden | 320 Seiten | 19,95 € | Auch als Hörbuch Vor der Wende standen Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer auf verschiedenen Seiten. Heute erinnern sie sich, wie sie das verschwundene Land erlebten. Sie sprechen über das, was bleibt und das, was auf den Müll der Geschichte gehört. Gysi, Sohn des Widerstandskämpfers und späteren DDR-Kulturministers Klaus Gysi, gehörte zu den eher systemnahen, wenn auch von der Nomenklatura beäugten Persönlichkeiten der DDR. Schorlemmer, Pfarrer, Oppositioneller und Mitinitiator der Bürgerrechtsbewegung Schwerter zu Pflugscharen, stand der DDR und ihren Oberen immer kritisch gegenüber. Ohne Scheuklappen und falsche Ressentiments sprechen sie mit dem Journalisten Hans-Dieter Schütt über das, was bewahrenswert sein könnte an diesem schwierigen Land, das sie, wie 17 Millionen andere auch, geprägt hat. Angesichts eines entfesselten Kapitalismus versucht dieses Buch, eine Alternative zu beschreiben. Gregor Gysi, geboren 1948, ist Rechtsanwalt und Politiker. Der Sohn des DDR-Kulturministers Klaus Gysi und Neffe von Doris Lessing trat 1967 in die SED ein und vertrat als Rechtsanwalt u. a. Robert Havemann, Rudolf Bahro und Bärbel Bohley. Er war Vorsitzender der SED-PDS, seit 1990 sitz er im Bundestag, seit 2005 als Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke. Friedrich Schorlemmer, geboren 1944, ist Publizist und Theologe. 1978 bis 1992 Dozent am Evangelischen Predigerseminar und Prediger an der Schlosskirche in der Lutherstadt Wittenberg. Er wurde u. a. mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 1. Hans-Dieter Schütt: Hinter allem steckt die Frage: Wieso überstanden Kommunisten die schweren Prüfungen der Nazizeit, hielten ihren Kopf hin im Kampf gegen Barbaren – und dann, in der Bürokratie der Bonzen, knicken sie ein in die Duldung, ins Schweigen, in die Mittäter-schaft in einem drögen Parteistaat. Unfassbar eigentlich. Wie ist das zu erklären? Gregor Gysi: Ich habe das meinen Vater gefragt und bekam da, es war entgegen seiner sonstigen Art, eine höchst unbefriedigende Antwort; das übliche Ausweichen: Disziplin, vor dem Klassengegner keine Blößen zeigen, also das geläufige Beschwichtigungsvokabular, das ihn selber auch quälte. Ja, diese Menschen, diese Antifaschisten, hatten gegen Hitler die Kraft für einen lebensgefährlichen Mut. Mein Vater und meine Mutter zum Beispiel waren in Frankreich. Als Hitler Polen besetzte hatte, blieben sie dort, wurden interniert, wussten danach nicht, wie und wovon sie ihr Leben fristen sollten. Eines Tages beschloss die Partei die Rückkehr meines Vaters nach Hitlerdeutschland - schon das war der helle herzlose Wahnsinn, meine Mutter hatte einen jüdischen Großvater, mein Vater eine jüdische Mutter, und er war Mitglied der KPD. Aber sie machten sich auf die Reise. Dorthin, wo man viele Gründe haben würde, meinen Vater umzubringen. Er folgte dem Auftrag trotzdem. Sie stiegen in den Zug, und meine Mutter hat das Folgende später als ein schreckliches Erlebnis bezeichnet. Die beiden saßen nämlich im Abteil, und sechs SS-Leute stiegen ein. Und dann verstieg sich mein Vater zu etwas Unfassbarem: Er erzählte nur jüdische Witze. Einen nach dem anderen. Unaufhörlich. Die SS-Leute lachten lautschallend. So praktizierte mein Vater den Angriff als beste Verteidigung, und meine Mutter starb in dieser Situation schon mal alle vorstellbaren Tode. In Berlin arbeiteten sie für einen Verlag, der Firmenfestschriften verfertigte, trieben Spionage. Meine Mutter blieb immer resolut und reaktionsschnell und clever, und sie versteckte auch gefährdete Personen. Und dann in der DDR, wie gesagt, diese disziplinierte Mutlosigkeit, auch meines Vaters, vor den eigenen Genossen. Ich habe über das Thema mal mit Helmut Kohl gesprochen – man stelle sich das vor: Helmut Kohl erklärt mir meinen Vater! –, aber er sagte tatsächlich etwas Einleuchtendes. Kohl meinte, die Antifaschisten hätten sich im Kampf gegen die Nazis gleichsam in einer Familie gefühlt, mit der Gewissheit tiefer und verpflichtender Solidarität selbst noch weit über den möglichen Tod hinaus. Aber der Widerstand gegen die verknöcherte eigene Partei, der mit Bannfluch geendet hätte, der hätte in die totale Einsamkeit, in die Isolation geführt. Wer habe davor nicht Angst: dem Empfinden, als aussätzig zu gelten? Diese Angst sei doch nur zu verständlich, und sie konnte so erfolgreich zur Züchtigung, zur Beschneidung des Charakters benutzt werden. Meine Schwester sagte zudem: Vergiss nicht, dass die Kapitalismuserfahrung dieser Kommunistengeneration mit deren Faschismuserfahrung zusammenfiel. Und angesichts dieser Erfahrungen galt der Sozialismus als großartige Möglichkeit, und dafür trug man gern alles mit, was die Realität an Schmutz und Unvollkommenheit zumindest noch mitschleppte. Schütt: Und nie mehr würde man wahrscheinlich zulassen, dass einem andere zu nahe kommen, Menschen außerhalb des eigenen Erfahrungshorizontes. Gysi: Ich habe den Jazzmusiker Coco Schumann kennengelernt, als jüdischer Junge wurde er von Berlin nach Theresienstadt verschleppt, von dort nach Auschwitz. Weil er schon als Kind Gitarre spielen konnte, kam er in die Kapelle. Die spielte „La Paloma”, wenn die Juden, vor allem Kinder, zur Gaskammer geführt wurden. Ich fragte ihn, ob er das Lied heute noch hören könne. Er sagte nur: „Die Musik kann doch nichts dafür.” Ich empfand diesen Satz als etwas Großartiges und zugleich Unfassbares. Was so ein Bewusstsein alles ordnen, bewältigen muss. Er hat während seiner Musikkarriere - er spielte in großen Bands und Orchestern - nie über diese Erlebnisse gesprochen. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 35 Leseprobe Leseprobe Er hat mir gesagt, warum: Er wollte nicht wie ein Sonderfall behandelt werden, nicht besonders feinfühlig oder rücksichtsvoll. Er habe Angst gehabt, so erzählt er, dass ihn seine Kollegen nicht mehr unverblümt auf mögliche falsche Töne aufmerksam gemacht hätten, sei es aus Scham oder schlechtem Gewissen. Er wollte angenommen, normal behandelt, nicht seltsam angestarrt werden. Erst sehr spät im Leben schrieb Schumann seine Geschichte auf. Für eines allerdings hatte er stets vorgesorgt: Er hat zu Hause einen Koffer, einen kleinen Koffer nur. Aber da ist das Nötigste drin, er kann jederzeit weggehen, er ist immer auf einen schnellen Abschied vorbereitet und gefasst. Friedrich Schorlemmer: Es macht mich frösteln, was Sie da erzählen. Mir kommt da immer die Frage, wo ich gestanden hätte in so verfluchten Zeiten. Es gibt ja in jedem Menschen auch einen negativen Möglichkeitssinn. Du weißt nicht wirklich, wozu du fähig wärest, änderten sich die Verhältnisse nur um ein entscheidendes Quäntchen Druck und Fanatismus. Schütt: Es gibt einen Aufsatz von Thomas Mann, „Bruder Hitler“, und ein Theaterstück von Heinar Kipphardt, „Bruder Eichmann“. Schorlemmer: Worauf verweist solch eine Beschwörung beklemmender verwandtschaftlicher Nähe zum Bösen? Darauf, dass die Sorgfalt in geschichtlicher Betrachtung dort wächst, wo man sich selber in die Variante einschließt, verführbar zu sein fürs Grässlichste. So wie man freilich unbestritten auch fürs Gütigste verführbar bleibt. Sei niemand zu gewiss, wenn über Anfechtbarkeit geredet wird. Ich habe mal geschrieben: „Ich bin Kain, der den anderen nicht erträgt. Ich bin Absalom, der Vatermörder. Ich bin das blöde Volk. Ich bin Petrus, der Treue schwört und dann als Erster Jesus verleugnet, einen Moment depressiv wird, dann sofort wieder obenauf ist, erneut in der Rechthaberpose. Ich bin froh, dass ich das alles nicht durchleben muss. Und alles durchlebe ich doch – in meiner Seele.“ Gysi: Soll ich Ihnen sagen, Herr Schorlemmer, was als Kind mein größtes Problem war? Dass ich wusste: Ich hätte nie Nazi werden können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Also irgendwie ist das ein irrer, wirrer Gedanke, ich weiß. Ich war mir immer des Glücks bewusst, das jüdische Schicksal der Generationen vor mir nicht miterlebt haben zu müssen, aber ich dachte auch daran, dass ich nicht die geringste Chance einer sogenannten normalen Entwicklung gehabt hätte wie andere Jungs. Ich hätte mir nie den Wunsch erfüllen können, dazuzugehören. Ich muss mir keine Gedanken darüber machen, wie ich mich in der Nazizeit verhalten hätte. Das ist mein biographisches Privileg. Ich atme bei so einem Gedanken auf und bin zugleich tief betroffen. Schorlemmer: Das gehört zur Perfidie dieses zwanzigsten Jahrhunderts. Die Juden waren zwangsläufig Opfer, das war ihnen von diesen deutschen Menschenverächtern vorbestimmt worden, sie kamen qua Geburt in die Hölle. Das war die eine Entsetzlichkeit. Die andere: Kommunisten, die vor die Schranken der Schauprozesse gezerrt wurden, die sollten ihr Schicksal auch noch klassenbewusst annehmen, die sollten mit ihrer Verurteilung, ihrer Verschleppung, ja Auslöschung auch noch einverstanden sein, die sollten sich noch vor den Gewehrmündungen der Erschießungskommandos als gute, einsichtige Genossen zeigen. Gysi: Mein Vater hat seine auch jüdische Herkunft eher heruntergespielt. Er wollte nicht nur Opfer sein. Er war Kommunist, das war eine bewusste Entscheidung gewesen, die zählte. Damit war der geschichtliche Weg gewiesen. Schorlemmer: Wie gesagt, ich komme aus der tiefen Überzeugung von der Ambivalenz des Menschen. Ihr Kommunisten aber hattet den Weltgeist gepachtet, die Wahrheit im Besitz und das Grundgesetz der geschichtlichen Entwicklung in der Tasche. Gysi: Sie reden, als sei ich mit gigantisch ausgebeulten Hosen durch die kleine DDR-Welt gegangen. Ich hatte nüscht diesbezügliches in der Tasche. Schorlemmer: Aber ohne zielgewissen Kompass ist der Kommunist nicht Kommunist. Die Geschichte als technische Zeichnung, ihr Gang ist am Reißbrett planbar, das Beglückungsprogramm wird umgesetzt nach unumstößlichen Bauanleitungen, so, wie sie ein Tischler für seinen Tisch hat. Elementare Widersprüche wurden in diversen dialektischen Verrenkungen verharmlost. Gysi: Ja, ja, und wo gehobelt wird, fallen Späne. Schorlemmer: War doch so! Das Sprichwort, das Sie zitieren, ist übrigens eine frohgemute, unbekümmerte Wahrheit des Tischlers, nicht des Holzes. Gysi: Geschichte als technische Zeichnung! Na ja, ich muss schon sagen, ich habe da natürlich meine Lektion auch hinter mir. Ich glaube inzwischen weit weniger an geschichtliche Gesetzmäßigkeiten als früher. Es gibt ausrechenbare Konstellationen, aber letztlich ist der Zufall ein weit größerer Geschichtemacher, als ich das früher anerkennen wollte. Es war nicht vorherbestimmt, dass die Griechen in der Schlacht bei Marathon siegen würden. Die Wahrscheinlichkeit sprach sogar dafür, dass die Perser siegen. Aber die Griechen gewannen, und ohne diesen Sieg hätten wir keine griechische Kultur in dem Sinne, wie wir sie jetzt kennen, erlebt. Damit ist nicht gesagt, dass es keine Ursachen gibt für die Dinge, natürlich gibt es ursächliche Zusammenhänge, und es gibt Verantwortliche. Aber unanfechtbare historische Gesetze? Man kann wahrscheinlich sagen: Geschichte läuft wie ein Fußgänger, dessen Weg beständig auf Gabelungen und Kreuzungen stößt. Er entscheidet sich mal für diese und mal für jene Abbiegung. Sackgassen werden meist zu spät bemerkt, und wer in sie einbiegt, lässt die meiste Zeit und die meiste Energie. In der DDR galt es aus besprochenen Gründen nicht als opportun, Geschichte als eine Art Wahl zwischen mehreren denkbaren Alternativen zu sehen. Schorlemmer: Schon gar nicht Sozialismus und Parteigeschichte. Gysi: Ja, das hatten immer nur zwangsläufige Abfolgen notwendiger und unaufhaltsamer Siege zu sein. Niederlagen waren höchstens kurzzeitige Rückschläge und wurden entsprechend dialektisch interpretiert. Schorlemmer: Das erlebt man aber heutzutage auch, und zwar an jedem Wahlabend, wenn die Parteichefs die erhaltenen Stimmen kommentieren – Ihre Partei, Herr Gysi, eingeschlossen. Geschichte schreiben ist bei einigen immer noch die Methode, sich das Vergangene und dessen Wahrheiten unbedingt vom Hals zu halten. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 36 Leseprobe Leseprobe Gysi: Erbe ziert nicht nur, es klebt auch. Geschichte ist Geschichte, soll Erich Honecker immerhin mal gesagt haben, als er die Frage beantwortete, ob auf einem bestimmten Bilddokument weiterhin ein geschmähter Genosse wegretuschiert werden solle. Das plötzliche Auftauchen des Verstoßenen auf dem Foto nach Honeckers Votum hat man wohl allenthalben mit Beifall quittiert, statt sich zu Recht über die bis dahin vorgenommene Bildfälschung zu empören. Ich sag das nur, um darauf hinzuweisen, dass aus dem, was Sie über das marxistisch-leninistische Denken äußerten, über dieses Denken in Determiniertheiten, also dass daraus etwas resultiert, das besonders bei Linken aus der DDR anzutreffen ist: eine gewisse Unwilligkeit und wenig Übung darin, spielerisch mit Vergangenheit umzugehen. Ja, man will die Logik, die Gesetzmäßigkeit, man hat viel drauf bei Welterklärungen, aber Metaphysik ist nicht so das Ding. Man hat kein freies, einverständiges Verhältnis zum Zufall, zur Unerklärlichkeit bestimmter Dinge. Schorlemmer: Das war für viele der gute Grund, zum Marxismus zu stoßen: geschichtliche Verlässlichkeit, ein klarer Weg durch den Dschungel der Geschichte, endlich auf der Seite der Sieger - vor lichten Horizonten - sein! Gysi: Das schafft Sicherheit. Was immer auch bedeutet, ein wenig das Hoheitsrecht über das eigene Leben aufzugeben. Und sich so darüber hinwegzutäuschen, dass wir doch in dem, was wir tun, weit weniger frei sind, als wir immer denken. Wir setzen auf Rot und Schwarz, die Kugel rollt ins Bunte. Das ist im Großen so wie im Kleinen. Schorlemmer: Wir wissen nicht wirklich, was an unserer eigenen Biographie freier Wille und was Fremdbestimmung ist. Aber Leben ist für mich eine Dennoch-Existenz. Ist Grundvertrauen. Ist mehr, als mir die Verhältnisse zugestehen wollen. Die Welt will immer, dass wir ihr gerecht werden, so wie sie ist. Und nie ist sie gut. Gut ist, was mir gut tut. Indem ich Gutes tue. Und manchmal auch sage: Lass es gut sein, also etwas so tue, dass es gut wird, andern gut tut. Oder aber etwas sein lassen. Das kann auch gut sein. Man ist wirklich Momenten und deren Konstellation ausgesetzt. Man weiß nie, wo die Weiche steht, die dem Leben Richtung gibt. Gysi: In meiner Gesprächsreihe am Deutschen Theater war Mario Adorf zu Gast. Er erzählte Folgendes: Er war in einem katholischen Kinderheim. Alle stürmten eines Tages an die Fenster, denn rundum brannten Häuser. Es war die sogenannte Reichskristallnacht. Die Synagogen standen in Flammen. Am nächsten Morgen trat eine der Franziskanerschwestern an Marios Bett, legte dem Jungen die Hand auf die Stirn, stellte Fieber fest und verordnete Ruhe statt Schule. Er sah später, wie sie ans Fenster trat und weinte. Mario ging hin und sah, wie Menschen auf Lastkraftwagen geladen und weggefahren wurden. Er fragte, wer das ist. "Juden", sagte sie. Er fragte weiter, was sie getan hätte. Sie sagte, nichts, außer das sie Juden seien. Er war betroffen. Am Nachmittag kamen seine Mitschüler vom Unterricht zurück und präsentierten stolz ihre vollen Taschen. Sie waren durch die Stadt gelaufen und hatten in den aufgebrochenen und verwüsteten Geschäften der Juden alles geklaut, was nicht nietund nagelfest war. Mario Adorf sagte: “Sehen Sie, Herr Gysi, so zufällig kann das Leben sein. Wenn ich mit den anderen zur Schule gegangen wäre, hätte auch ich geplündert und gestohlen. Aber da ich neben der weinenden Franziskanerschwester stand, wurde es zu einem traurigen Grunderlebnis für mich." Das ist er, der Zufall im Leben. 2. Schütt: Kann man mit Ihnen über Gott reden, Herr Gysi? Gysi: Unbedingt. In Fjodor Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“ kehrt ein Satz immer wieder: Wenn es Gott nicht gäbe, wäre alles erlaubt. Schorlemmer: Ja, dann wäre unser gesamtes Menschsein nicht mehr bestimmbar. Leben ist ein Entgrenzungsangebot – gegen das die Religion Begrenzungsgebote setzt. Gysi: Ja, und deshalb denke ich, dass eine gottlose Gesellschaft verhängnisvoll wäre. Schorlemmer: Der Marxismus verstand sich letztlich auch als Religion, und man sollte da nicht bloß gläubig sein, sondern im Geist der Dogmen - rechtgläubig. Immer auf der vorgegebenen Linie entlang „Bewusstsein haben" und Parteidisziplin üben. Und immer dieses eine Schlag-Wort: Dialektik. Die SED handhabte die Dialektik nicht für die Wahrheitssuche, sondern meist nur, um in Widersprüchen Schmerzfreiheit zugunsten der eigenen Ideologie herzustellen. Wenn du unbequem bliebst in deinen Ansichten, dann wurdest du forsch oder hochnäsig oder mitleidig zurechtgewiesen: „Das müssen Sie dialektisch sehen.” Schütt: Zu jeder Sache gab es zwei Ansichten – unsere und die falsche. In marxistisch-leninistischen Köpfen war die Dialektik die unantastbare Lehre von der immerwährenden Schuld der anderen. Gysi: Ethik lässt sich nach dem Niedergang des ersten Sozialismusversuches nicht mehr uneingeschränkt mit sozialistischen Ideen begründen. Es bleiben da für viele Menschen nur die Religionen, in denen übrigens auch die Menschenrechte ihre Wurzeln haben. Einzig die katholische und die evangelische Kirche sind in Deutschland in der Lage, einen Moralkodex aufzustellen und aufrechtzuerhalten, der die Mehrheit der Gesellschaft auch erreicht. Die Politik kann das nicht. Schütt: Aber Sie selber sind nicht religiös. Gysi: Stimmt. Aber Nichtreligiosität verlangt keinen Kampf gegen die Religionen, wie das in der DDR zeitweise der Fall war. Nichtreligiosität kann den Wert der Religion für die Gesellschaft durchaus anerkennen. Es gibt Menschen, und ich zähle mich dazu, die sind ungläubig, aber deswegen nicht geschichtslos. Ich weiß doch zum Beispiel um den Wert meiner kulturellen, jüdischchristlichen Prägung für mein Leben. Existenz in politischen Gemeinschaften kann nicht als profaner Bezirk abgegrenzt werden, in dem wir es nur mit Fragen der Rechts- und Machtorganisation zu tun haben. Die Gemeinschaft ist immer auch ein Bereich religiöser Ordnung. Ich finde, die religiösen Kräfte, die es in einer Gesellschaft gibt, dürfen nicht missachtet werden. Eins ist in der DDR gründlich gelungen: die Entkirchlichung der Gesellschaft. Lothar de Maizière hat immer zu mir gesagt: „Gregor, es gibt doch irgendwas außerhalb von uns." Ja, der Mensch endet im Elend, wenn er alle Himmel über sich einreißt und nur noch sich selber als Gott feiert. Deshalb möchte ich keine Entkirchlichung der Gesellschaft. Ich möchte allerdings auch nicht, dass Religionen den Staat, die Politik bestimmen oder dass man mich missioniert. Weder religiös noch politisch. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 37 Leseprobe Leseprobe Schütt: Herr Gysi, Sie sagen, Sie seien nicht gläubig. Sie haben eine schwere Operation hinter sich ... Gysi: Man darf das deutlicher formulieren: Ich lag schon mal im Sterben. Viele sagen ja, spätestens in solchen Stunden beginnst du, an Gott zu glauben. Bei mir blieb das aus. Schütt: Glauben Sie nicht dennoch - etwa an eine wissenschaftliche Weltanschauung? Schorlemmer: So was ist ja nun der Grundirrtum allen ideologischen Geländer-Denkens! Gysi: Eine Weltanschauung kann zumindest nicht nur aus wissenschaftlichen Elementen bestehen. Aber die Aufklärung - und damit auch das Weltbild, das ihr entsprang - ist ohne Wissenschaft nicht zu denken. Schorlemmer: Wissenschaftliche Weltanschauung! Wissenschaftlicher Kommunismus! So eine Schimäre habt ihr in der DDR mitgemacht, obwohl ihr Abitur hattet. Diesen geistigen Götzendienst konnte ich nie begreifen. Ernst Bloch, ein gläubiger Marxist, sagte: „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.” Das war sein Bekenntnis zur Transzendenz. Die Welt, die wir erforschen können, sollten wir erforschen - und gleichzeitig nach Kriterien fragen, sie sinnstiftend zu nutzen. Aber es gibt auch die Welt, vor der wir staunend stehen sollten, ohne ihre Geheimnisse zu zerstören. Es geht immer um das friedliche Verhältnis von Drang und Demut. Fassungslosigkeit gehört zur Anschauung der Welt, im schönen wie im aufschreckenden Sinne. Gysi: Im Augenblick hat die Finanzwirtschaft mehr Einfluss auf unser Leben als Gott. Das ist die Tragik. Schütt: Gott ist ein „unaussprechlich Wesen", sagt Luther. Wie erfährt man Gott? Schorlemmer: Mein Vater betete abends für uns Kinder, wir lagen bereits in den Betten, er wirkte groß und stark, er war groß und stark, und er faltete die Hände, und wir sangen dann in die Nacht hinein ein Lied von Paul Gerhardt. „Will Satan mich verschlingen,/ so lass die Englein singen: ,Dies Kind muss unverletzt sein.'" Bei diesem Gesang fühlte ich immer: Ich bin gemeint. Das Lied nimmt meine Ängste ernst, und es gibt etwas, das mir hilft, mich tröstet, mir gut zuredet. Gut zusprechen, das ist es doch. Schütt: Sie haben mal gesagt, Herr Schorlemmer, Ihr Beruf des Predigers sei im Grunde eine Anmaßung. Also, was maßen Sie sich eigentlich an? Schorlemmer: Die Anmaßung besteht darin, dass ich, um über Gott reden zu dürfen, kein Berufungserlebnis vorweisen kann. Und vom Unnennbaren so rede, als hätte ich gestern eine persönliche Audienz bei IHM gehabt. Gysi: Kann ein Politiker auch nicht. Genau genommen, kennt er das Ziel, für das er redet, wenn er denn programmatisch redet, auch nicht. Schütt: Woraus schöpfen Sie denn? Schorlemmer: Ich schöpfe aus einem Leben, das sich durch sich selber bezeugt, das sich auf biblische Texte konzentriert, das Poesie wahrnimmt und dubezogen bleibt, ein Leben also, das im Reden von Gott hoffentlich immer ein menschliches, ein menschenbezogenes Reden ist. Wie sagt Heinrich Böll in seinen „Ansichten eines Clowns“ so wunderbar: Die Katholiken mag er nicht, weil die so falsch sind; die Protestanten mag er nicht, wegen ihrer dauernden Gewissensfummelei; und die Atheisten mag er nicht, weil die ihm zu viel von Gott reden. Wir sollen als Theologen von Gott reden, wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen beides: um unser Sollen wissen wie auch um unser Nichtkönnen – und eben damit Gott die Ehre geben. So etwa sagte es Karl Barth. Gysi: Im Augenblick hat die Finanzwirtschaft mehr Einfluss auf unser Leben als Gott. Das ist die Tragik. Schütt: Gott ist ein „unaussprechlich Wesen", sagt Luther. Wie erfährt man Gott? Schorlemmer: Mein Vater betete abends für uns Kinder, wir lagen bereits in den Betten, er wirkte groß und stark, er war groß und stark, und er faltete die Hände, und wir sangen dann in die Nacht hinein ein Lied von Paul Gerhardt. „Will Satan mich verschlingen,/ so lass die Englein singen: „Dies Kind muss unverletzt sein.“ Bei diesem Gesang fühlte ich immer: Ich bin gemeint. Das Lied nimmt meine Ängste ernst, und es gibt etwas, das mir hilft, mich tröstet, mir gut zuredet. Gut zusprechen, das ist es doch. Schütt: Sie haben mal gesagt, Herr Schorlemmer, Ihr Beruf des Predigers sei im Grunde eine Anmaßung. Also, was maßen Sie sich eigentlich an? Schorlemmer: Die Anmaßung besteht darin, dass ich, um über Gott reden zu dürfen, kein Berufungserlebnis vorweisen kann. Und vom Unnennbaren so rede, als hätte ich gestern eine persönliche Audienz bei IHM gehabt. Gysi: Kann ein Politiker auch nicht. Genau genommen, kennt er das Ziel, für das er redet, wenn er denn programmatisch redet, auch nicht. Schütt: Woraus schöpfen Sie denn? Schorlemmer: Ich schöpfe aus einem Leben, das sich durch sich selber bezeugt, das sich auf biblische Texte konzentriert, das Poesie wahrnimmt und dubezogen bleibt, ein Leben also, das im Reden von Gott hoffentlich immer ein menschliches, ein menschenbezogenes Reden ist. Wie sagt Heinrich Böll in seinen „Ansichten eines Clowns“ so wunderbar: Die Katholiken mag er nicht, weil die so falsch sind; die Protestanten mag er nicht, wegen ihrer dauernden Gewissensfummelei; und die Atheisten mag er nicht, weil die ihm zu viel von Gott reden. Wir sollen als Theologen von Gott reden, wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen beides: um unser Sollen wissen wie auch um unser Nichtkönnen – und eben damit Gott die Ehre geben. So etwa sagte es Karl Barth Schütt: Was heißt Erlösung? Schorlemmer: Das ist der Kern einer anthropologisch-ethisch begründeten Nachhaltigkeit. Es geht um ein gelöstes Leben – ohne Überhebung oder Beweisnot, sondern in jenem erwähnten Bewusstsein: Ich bin begnadet, weil es mich gibt. Ich bin ein geliebtes Wesen. Ich bin wertvoll. Luther fragt nicht nur, wie wir mit dem Leben gut zurechtkommen, er fragt, wie kommen wir zu einem geheilten Leben. Schütt: Heil statt Wohl-Stand. Gysi: Das Heil nicht ohne Wohl, Gott nicht ohne Brot. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 38 Leseprobe Leseprobe Schorlemmer: Leben aus Vertrauen: Ich gebe mich mit allem hin, was mir gegeben ist – und gewinne so Kraft, etwas zu tun, was dieser Welt guttun möge. Aber ich muss die Welt nicht retten. Ich kann sie auch nicht retten. Ich bleibe der Gnade bedürftig und bin der Gnade gewürdigt. Schütt: Es gibt ein Foto, Schorlemmer unter einem Luther-Wandspruch: „Niemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott an ihm eine große Tat will.“ Gysi: Das ist ja eigentlich unser Grundgesetz, nur anders formuliert: Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie ist unbedingt zu schützen. Der Indikativ geht dem Imperativ voraus. Schütt: Sie sprechen vom Glauben in das Voraussetzungslose unserer Existenz. Was nützt dies aber in einer Welt, in der wir von Interessen und Kalkülen geradezu verätzt sind? Schorlemmer: Wenn ich das nur beantworten könnte … sagt, wir seien die Lieblingsidee Gottes, die ersten Freigelassenen der Schöpfung. Ich füge despektierlich hinzu: Gott hat bei der Erschaffung Adams auch noch geübt. Da ist manches schief gelaufen, angefangen vom Kampf zwischen der nomadischen und der sesshaften Existenz. Beides kennzeichnet ein grundverschiedenes Verhältnis zu Besitz und Natur. Gesiegt hat die Besitz ergreifende sesshafte Welt, auch das könnte die Erde kaputtmachen. Schütt: Die Alternative? Schorlemmer: Wir sprachen sie doch an! Keinem gehört, was allen gehören muss, weil alle davon leben, aber alle fühlen sich für alles verantwortlich. Das wäre nomadisch. Schütt: Dostojewski fragt, wie man eigentlich an einem Baum vorbeigehen könne, ohne glücklich zu sein! Schorlemmer: Schön! Heute eine gelungene Zeile von Goethe lesen, ein paar Bagatellen Beethovens hören, Cellokonzerte mit Casals. Davon noch einen Tag und noch einen Tag! Die Tage werden nicht reichen! Natürlich gibt es Stunden, da erreicht mich nichts. Aber auch dann weiß ich, dass ich über einen Resonanzraum in mir verfüge, den die Sorgen nicht zubetonieren können. Schütt: Es ist schwer, sich so gar nicht von einer Sintflut-Mentalität oder aber einer Mentalität des fortwährenden Agierens und der Agilität für noch bessere Effektivität anstecken zu lassen. Gysi: Längerfristige Probleme brauchen zu deren Lösung längerfristiges Engagement. Längerfristiges Engagement jedoch ist nicht lusterfüllt, sondern unglaublich mühsam. Dazu gehören Durststrecken, also ein Bedarf an täglichem Niederlage-Training. Mitunter wird einen das Gefühl der Sinnlosigkeit überkommen, der Zweifel wird nagen, klar. Schorlemmer: Du sagst dir dann, und Sie, Gysi, kennen das sicher auch: Während andere ins Theater oder gut essen gehen, rennst du fortwährend und ohne messbaren Erfolg auf Aktionstagen oder anderen thematischen Veranstaltungen zu Beförderung und Wahrung der Schöpfung herum. Manchmal sage ich mir, du hast dich Jahrzehnte mit gemüht, hast die Ohnmächtigkeit durchgestanden bis in die letzten Fasern deiner Kraft. Nun sind die Jüngeren dran. Aber Ich kann auf Dauer so nicht denken. Mir tut sie weh, diese häufig anzutreffende Kurzlebigkeit der Zivilcourage. Durch meine Beschäftigung mit Albert Schweitzer bin ich auf einen Gedanken gestoßen, der mich neuerdings regelrecht verfolgt. Es geht darum, den Impuls zur Veränderung der Dinge, etwa beim Schutz der Natur, nach wie vor aus dem Staunen über das Wunderbare, aus der Dankbarkeit heraus zu beziehen, nicht primär aus der Sorge. Nicht, weil etwas gefährdet ist, sondern weil etwas so schön ist, kann der Verlust nicht tatenlos hingenommen werden. Das Aufbringen von Gegenkraft darf uns nicht die Sinne dafür töten, warum wir sie in uns aufrufen, diese Kraft. Ich rede einer Umkehr der Empfindungen das Wort, dem Überschwang, der Grundbegeisterung, etwas nicht fassen zu können und deshalb Sorge zu tragen, dass es nicht angegriffen, zerstört wird. Zuerst Loblieder singen. Gysi: Was nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Modells als neue Qualität des Miteinanders gedacht war, hat nunmehr ein anderes furchtbares Gesicht. Was als Aufbruch zu neuen Ufern gefeiert wurde, gilt heute als merkwürdige Verirrung des Geistes und hat mit dem 11. September 2001 endgültig seine Versprechenskraft verloren. Die Mischung aus Marktwirtschaft und Demokratie, aus Rechts- und Sozialstaat, kurz: die westliche Lebens- und Wirtschaftsform, hat weltweit Desintegration und Ungleichheit hervorgebracht. Plötzlich wurden der Terrorismus gegen den Westen und der westliche Kampf gegen diesen Terrorismus zur Nachfolgefront des Kalten Krieges. Der Westen führt im Grunde Krieg mit sich selbst. Er schleift nämlich per Globalisierung just das, was ihn einigermaßen friedlich hält – Moderation durch den Wohlfahrtsstaat und Verzicht darauf, Freiheit und Demokratie zum Imperialismus zu erheben –, und damit produziert er immer neue Terroristen. Und: Innerhalb der westlichen Grenzen produziert er Unmut und Protest, die irgendwann ebenfalls die Verankerung im Gemäßigten sprengen könnten. Schorlemmer: Weil das Wünschen nicht mehr hilft. Weil die Versprechen ausgehen. Weil alles so organisiert wird, dass die Gelder weiter auf die eine Seite, die Härten aber nur auf die andere Seite verteilt werden. Gysi: Das Gewaltmonopol der westlichen Ökonomie, das den Menschen erbarmungslos aus seiner sicheren Erwartung auf Arbeit jagt, wird in anderen Teilen der Welt begleitet von einem Schreckensmonopol, das diejenigen an sich gerissen haben, die offenbar gar nichts mehr erwarten – und die genau diese Erschütterung in kriegerische Religion oder rächendes Nationalgefühl umsetzen, in einen zerstörerischen Stolz jedenfalls, mit dem immer stärker an immer neuen Tatorten zu rechnen sein wird. Schorlemmer: Die Diplomatie findet nicht länger auf dem Parkett statt, und sie ist kein gepflegtes Geschäft der Hinterzimmer mehr, vielmehr wurde sie zum Nervenkrieg zwischen Verschanzten und Spezialeinheiten; wo Annäherung geschieht, ist es in zunehmendem Maße eine auf Schussweite. Schütt: Könnte man erklären, wer Gott ist? Schorlemmer: Nein. Den will ich auch nicht erklären. Er erklärt mich. Aber diese Fragen zu Gott bringen mich wieder auf meine Schulsituation: Als Juri Gagarin ins All flog, stand nach seiner Rückkehr in irgendwelchen Agitationsheften: „Gagarin war im Weltall. Er hat keinen Gott gesehen.” 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 39 Leseprobe Leseprobe Schütt: Heiner Müller lässt seinen Gagarin in „Germania 3" sagen: „Dunkel, Genossen, ist der Weltraum, sehr dunkel." Gysi: Ich hatte in der Gesprächsreihe am Deutschen Theater Sigmund Jähn zu Gast. Schütt: Der erste Deutsche im All - immerhin: ein DDR-Bürger. Gysi: Wir lagen eben nicht überall nur hinterm Mond. Ich habe Jähn gefragt, was für ihn das Schönste gewesen sei da oben. Das größte Wunder war für ihn, dass er aufgrund der Fluggeschwindigkeit jede Stunde einen Sonnenaufgang und einen Sonnenuntergang erlebte. Schorlemmer: Aber Gott hat er bestimmt auch nicht gesehen. Gysi: Ich kann mich an einen sowjetischen Film erinnern, in dem zumindest ein einziger witziger Dialog vorkam. Ein gläubiger junger Mann trifft auf einen Atheisten, und der haut ihn an: „Was du immer für einen Quatsch erzählst, von wegen Gott! Gagarin war oben und hat Gott nicht gesehen.” Fragt der andere: „Hast du Gagarin schon gesehen?” - „Nein." - „Na, dann gibt’s den auch nicht.” © Aufbau Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 40 Leseprobe Leseprobe Hajaj, Claire: Ismaels Orangen | Blanvalet | ET: 6. März 2015 | Deutsche Erstausgabe | ISBN: 978-3-7645-0516-5 | Gebunden | 448 Seiten | 19,99 € | Auch als Audio-CD, Hörbuch Download + E-Book Jaffa, April 1948. Der siebenjährige Salim Al-Ismaeli, Sohn eines palästinensischen Orangenzüchters, freut sich darauf, die ersten Früchte des Orangenbaums zu ernten, der zu seiner Geburt gepflanzt wurde. Doch der Krieg bricht aus und treibt die ganze Familie in die Flucht. Von nun an hat Salim nur noch einen Traum: Eines Tages zu seinem Baum zurückzukehren und im Land seiner Väter zu leben. Zur selben Zeit wächst Judith als Tochter von Holocaust-Überlebenden in England auf – und sehnt sich danach, irgendwann ein normales und glückliches Leben führen zu dürfen. Als Salim und Judith sich im London der 60er Jahre begegnen und ineinander verlieben, nimmt das Schicksal seinen Lauf und stellt ihre Liebe auf eine harte Probe … Hajaj erzählt in ihrem Debütroman eine Geschichte, die auf Erlebnissen und Erfahrungen ihrer eigenen Familie beruh Claire Hajaj, wurde 1973 als Tochter einer jüdischen Mutter und eines palästinensischen Vaters in London geboren. Sie verbrachte ihr bisheriges Leben zwischen der jüdischen und der palästinensischen Kultur und versucht, beide zu vereinbaren. In ihrer Kindheit lebte sie sowohl im Nahen Osten als auch im ländlichen England. Ihren Master in Klassischer und Englischer Literatur machte sie in Oxford. Hajaj bereiste vier Kontinente und arbeitete für die UN in Kriegsgebieten wie Burma oder Bagdad. Sie schrieb Beiträge für den BBC World Service, außerdem veröffentlichte sie Artikel in Time Out und Newsweek. Zur Zeit lebt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Beirut. 1948: „Yalla, Salim, los! Die Juden werden dich holen, Bauernjunge! Sie schmeißen dich raus und verhauen dir den knochigen Hintern wie einem Esel.“ Zwei Jungen standen einander auf der Staubstraße zwischen Jaffas Orangenhainen und dem Meer gegenüber. Der eine war älter, kräftig gebaut und schwarzhaarig. An Kinn, Armen und Bauch wabbelten Fettwülste wie an einem schlachtreifen Lamm. In einigen Jahren würden sie sich in die respekteinflößende Leibesfülle eines A’yan verwandeln – eines wohlhabenden Mannes, der im Kaffeehaus herumsaß, in einer weißen Villa wohnte und eine teure Ehefrau hatte. Doch bis jetzt brachte die Körpermasse nur den Vorteil der kräftemäßigen Überlegenheit. Ansonsten musste sich ihr Besitzer eben schwitzend durch die warme Frühlingsluft quälen. Der Jüngere der beiden hatte sich dem sich allmählich verdunkelnden Wasser zugewandt. Er hatte einen Fußball in der Hand und trug geschnürte schwarze Schulschuhe und ordentliche braune Shorts. Das weiße Hemd war manierlich in den Hosenbund gesteckt und bis zum Kinn zugeknöpft; sein schmales, blasses Gesicht sei wie ein offenes Buch, pflegten die Frères zu scherzen, eine leere Seite, auf die jeder schreiben konnte. „Nenn mich nicht Fellah“, erwiderte er zögernd und drehte den Fußball zwischen den Händen hin und her. Es war nicht ratsam, sich mit Masen anzulegen, der mit seinen knapp zehn Jahren schon ordentlich hinlangen konnte. „Ich bin kein Bauer.“ „Warum nicht? Du wohnst auf einer Farm, und dein Vater lässt dich Obst pflücken wie die Fellahin.“ Salim lag eine zornige Antwort auf der Zunge, doch er schluckte sie, plötzlich verunsichert, hinunter. Hatte er letzte Woche nicht selbst darum gebettelt, mit zu den Orangenhainen zu dürfen? Die Erntezeit neigte sich dem Ende zu, und die Arbeiter seines Vaters hatten das Obst auf der Farm der Familie gepflückt – fünfzehn ganze Dunums, fünfzehntausend Quadratmeter gutes Orangenland. Er hatte es sich zum Geburtstag gewünscht, bei der Ernte mithelfen zu können: Er war jetzt sieben, und eines Tages würde er sich die Haine mit Hassan und Rafan teilen. Lass mich mitkommen, hatte er gebeten. Aber sein Vater hatte Nein gesagt, und Salim hatte zu seiner Schande geweint. „Mein Vater gibt Fellahin Arbeit, deiner steckt sie ins Gefängnis“, wechselte er die Strategie. Masens Vater war einer der obersten Richter von Jaffa, ein Kadi. Hassan sagte, dass er vor Geld stank. „Wenn die Juden kommen und in eurem Haus wohnen, kann dein Vater ihnen helfen, uns alle einzusperren.“ Masen grinste. „Keine Angst“, sagte er. „Wenn du mich nett bittest, kümmere ich mich um dich und deine hübsche Mama. Aber Hassan, dieser Blödmann, kann schauen, wo er bleibt.“ Er nahm Salim den Fußball weg und schlug den Weg zum Meer ein. Der kleine Junge folgte ihm, ohne nachzudenken, und schritt, die Arme seitlich herabbaumelnd, in den Sonnenuntergang hinein. „Die Juden kommen sowieso nicht. Nicht, solange die Briten hier sind“, verkündete Salim, dem plötzlich einfiel, was Frère Philippe ihm heute Morgen in St. Joseph gesagt hatte. In der Pause war es zu einer Rauferei zwischen zwei Jungen gekommen: Der eine hatte den Vater des anderen als Verräter bezeichnet, weil er seine Dunums an die Juden verkauft hatte. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 41 Leseprobe Leseprobe Daraufhin hatte der andere zurückgebrüllt, zumindest sei er nicht wie ein Feigling aus seinem Haus geflohen. Die beiden schlugen sogar noch aufeinander ein, als sie an den Ohren gepackt und abgeführt wurden. Salim hatte dagestanden wie erstarrt, während Masen sie lachend angefeuert hatte. Danach hatte Frère Philippe ihm sanft die Wange getätschelt. „Keine Angst, Habibi“ – mein Freund –, sagte er, während im Hintergrund das Schnalzen der Peitsche ertönte, als die beiden Raufbolde ihre Tracht Prügel bezogen. „Dieses ganze Gerede von den Juden und Armeen … Es sind nicht alle wild darauf zu kämpfen, nicht, solange die Briten hier sind und Gott über seine Schäflein wacht.“ „Gott hilft denen, die sich selbst helfen“, entgegnete ein anderer Frère mit finsterer Miene. „Wollen wir es hoffen …“, meinte ein anderer. „Denn auf die Briten würde ich mich nicht verlassen.“ „Du bist ja so ein Esel, Salim“, höhnte Masen und holte ihn damit in die Gegenwart zurück. „Den Briten ist es egal, ob wir leben oder sterben. Sie wollen dieses Land zerteilen wie eine Orange und den Juden das größte Stück geben. Aber bei Gott, wir werden bereit sein. Sollen sie die Najjada nur herausfordern. Ich kann es kaum erwarten, einen Juden abzuknallen.“ „Du darfst ja gar nicht zur Najjada“, verkündete er, steckte die Hände in die Hosentaschen und straffte die Schultern. „Du bist nämlich noch ein Junge. Mama sagt, die nehmen nur Männer.“ „Deine Mama hat eben den Verstand einer Frau“, höhnte Masen. „Al-Hawari ist ein Freund meines Vaters. Außerdem würde ich es dir sowieso nicht sagen, wenn ich mich freiwillig melde. Kleine Esel wie du dürfen da nicht mitmachen.“ „Ich bin kein Esel“, flüsterte Salim, als Masen vorauslief. Manchmal, in seinen kühnsten Träumen, malte Salim sich aus, dass er Masen zu Boden stieß und ihn trat wie einen fetten Fußball. Doch Masen war mit seinen riesigen Fäusten und seinem grausamen Spott sogar noch angsteinflößender als die Juden. Hoffentlich kriegen die Juden Masen, wenn sie kommen. Und die Juden würden kommen. Das tuschelten die Frères in der Schule einander zu. Die Landbevölkerung floh vor den herannahenden feindlichen Kämpfern, sodass es in Jaffa von Flüchtlingen mit ihren schmutzigen Säcken und ihren quengelnden Kindern nur so wimmelte. Salims Vater hatte sich beim Bürgermeister über sie beschwert, doch seine Mutter ließ Lebensmittelpakete an die Frauen mit Kleinkindern verteilen. Salim begriff nicht, warum diese Leute lieber in Jaffas Moscheen und Kirchen schliefen anstatt bei sich zu Hause. © Blanvalet Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 42 Leseprobe Leseprobe Haratischwili, Nino: Das achte Leben (Für Brilka) | Frankfurter Verlagsanstalt | 2014 ISBN 978-3-87134-784-9 | Gebunden | 240 Seiten | 19,95 € | Auch als E-Book Georgien, 1900: Mit der Geburt Stasias, Tochter eines angesehenen Schokoladenfabrikanten, beginnt der Roman über sechs Generationen. Stasia wächst in der wohlhabenden Oberschicht auf und heiratet jung den Weißgardisten Simon Jaschi, der am Vorabend der Oktoberrevolution nach Petrograd versetzt wird. Als Stalin an die Macht kommt, sucht Stasia mit ihren beiden Kindern in Tbilissi Schutz bei ihrer atemberaubend schönen Schwester. Doch als ein Geheimdienstler auf sie aufmerksam wird, hat das fatale Folgen... Deutschland, 2006: Nach Mauerfall der Mauer und Auflösung der UdSSR herrscht in Georgien Bürgerkrieg. Stasias hochintelligente Urenkelin Niza hat mit ihrer Familie gebrochen und ist nach Berlin ausgewandert. Als ihre zwölfjährige Nichte Brilka nach einer Reise in den Westen nicht mehr nach Tbilissi zurückkehren möchte, spürt Niza sie auf. Ihr wird sie die ganze Geschichte erzählen... Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi, ist preisgekrönte Theaterautorin und -regisseurin. 2010 erhielt sie den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Ihr Romandebüt „Juja“ gewann 2011 den Debütpreis des Buddenbrookhauses Lübeck. Zuletzt erschien ihr Einakter „Die zweite Frau“ in der Anthologie „Techno der Jaguare. Neue Erzählerinnen aus Georgien“ (2013). Für ihren „Das achte Leben (Für Brilka)“ erhielt sie ein „GrenzgängerStipendium“ der Robert-Bosch-Stiftung für Recherchen in Russland und Georgien. Die Autorin lebt in Hamburg. PROLOG oder DIE PARTITUR DES VERGESSENS 2006 Eigentlich hat diese Geschichte mehrere Anfänge. Ich kann mich schwer für einen entscheiden. Da sie alle den Anfang ergeben. Man könnte diese Geschichte in einer Berliner Altbauwohnung beginnen – recht unspektakulär und mit zwei nackten Körpern im Bett. Mit einem siebenundzwanzigjährigen Mann, einem gnadenlos talentierten Musiker, der gerade dabei ist, sein Talent an seine Launen, an die unstillbare Sehnsucht nach Nähe und an den Alkohol zu verschenken. Man kann die Geschichte aber auch mit einem zwölfjährigen Mädchen beginnen, das beschließt, der Welt, in der sie lebt, ein Nein ins Gesicht zu schleudern und einen anderen Anfang für sich und ihre Geschichte zu suchen. Oder man kann ganz weit, zu den Wurzeln, zurückgehen und dort beginnen. Oder man fängt die Geschichte mit allen drei Anfängen gleichzeitig an. In dem Moment, wo Aman Baron, den man meist unter dem Namen „der Baron" oder auch nur „Baron" kannte, mir gestand, dass er mich herzzerreißend schlimm, unerträglich leicht, zum Schreien laut und sprachlos leise liebte – das mit einer etwas kränkeln-den, geschwächten, illusionslosen und bemüht harten Liebe –, verließ meine zwölfjährige Nichte Brilka ihr Amsterdamer Hotel und ging Richtung Bahnhof. Sie trug nur eine kleine Sporttasche bei sich, besaß kaum Bargeld und hatte ein Thunfischsandwich in der Hand. Sie wollte nach Wien und kauft e sich ein billiges Wochenendticket, das an Regionalzüge gebunden war. An der Rezeption hatte sie einen handgeschriebenen Zettel hinterlassen, auf dem stand, dass sie nicht vorhabe, mit der Tanzgruppe wieder in ihre Heimat zurückzukehren, und es vergeblich sei, nach ihr zu suchen. In genau diesem Moment zündete ich mir eine Zigarette an und bekam einen Hustenanfall – teils aus Überforderung wegen dem, was ich zu hören bekam, teils wegen des Rauches, an dem ich mich verschluckt hatte. Aman, den ich selbst niemals „den Baron“ nannte, kam sofort zu mir, klopfte mir so hart auf den Rücken, dass mir die Luft wegblieb, und sah mich fassungslos an. Auch wenn er nur vier Jahre jünger war als ich, fühlte ich mich um Jahrzehnte älter, und außerdem war ich gerade auf dem besten Weg, eine tragische Figur zu werden. Ohne dass es jemandem groß auffiel, denn ich war mittlerweile eine Meisterin der Blendung. An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich seine Enttäuschung – meine Reaktion hatte er nach seinem Geständnis nicht erwartet. Vor allem nicht, nachdem er mir angeboten hatte, gemeinsam mit ihm auf die Tournee zu gehen, die er in zwei Wochen antreten wollte. Draußen begann es leicht zu regnen, es war Juni, ein warmer Abend mit schwerelosen Wolken, die den Himmel schmückten wie kleine Wattebäuschchen. Als ich den Anfall überstanden und Brilka den ersten Zug ihrer Odyssee bestiegen hatte, riss ich die Balkontür auf und ließ mich auf das Sofa fallen. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Ich lebte in einem fremden Land, hatte den Kontakt zu den meisten Menschen, die ich einst geliebt hatte und die mir früher etwas bedeutet hatten, abgebrochen und eine Gastprofessur angenommen, die zwar meine Existenz sicherte, aber nichts mit mir zu tun hatte. An dem Abend, an dem er mir sagte, dass er mit mir normal werden wolle, fuhr Brilka, die Tochter meiner toten Schwester und meine einzige Nichte, nach Wien, an einen Ort, den sie sich als ihre Wahlheimat ausgemalt hatte, als ihre persönliche Utopie, und das alles aus Verbundenheit mit einer toten Frau. Diese tote Frau, meine Großtante und somit Brilkas Urgroßtante, hatte sie in ihrer Fantasie zu ihrer Heldin gemacht. Sie plante, in Wien die Rechte für die Lieder ihrer Urgroßtante zu bekommen. Und den Spuren dieses Gespensts folgend, hofft e sie auf Erlösung und die endgültige Antwort auf die gähnende Leere in sich. Aber das alles ahnte ich damals noch nicht. Nachdem ich mich auf das Sofa gesetzt und mein Gesicht in die Hände gelegt hatte, nachdem ich mir die Augen gerieben und Amans Blick so lange es ging ausgewichen war, wusste ich, dass ich wieder würde weinen müssen, aber nicht jetzt, nicht in diesem Moment, wo Brilka aus dem Zugfenster das alte, neue Europa an sich vorüberziehen sah und zum ersten Mal seit ihrer Ankunft auf dem Kontinent der Gleichgültigkeit lächelte. Ich weiß nicht, was sie beim Verlassen der Stadt mit diesen winzigen Brücken sah, das sie zum Lächeln brachte, aber das ist nicht mehr wichtig. Hauptsache, sie lächelte. . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 43 Leseprobe Leseprobe Ich würde weinen müssen, dachte ich in gerade dem Moment. Um es nicht zu tun, drehte ich mich um, ging ins Schlafzimmer und legte mich hin. Lange musste ich nicht auf Aman warten, eine Trauer wie die seine kann man sehr schnell heilen, wenn man Heilung mit dem Körper anbietet – vor allem, wenn der Kranke siebenundzwanzig ist. Ich küsste mich selbst aus meinem Dornröschenschlaf. Und als Aman seinen Kopf auf meinen Bauch legte, verließ meine zwölfjährige Nichte die Niederlande und fuhr in ihrem nach Dosenbier und Einsamkeit stinkenden Abteil über die deutsche Grenze, während viele hundert Kilometer entfernt ihre nichts ahnende Tante einem siebenundzwanzigjährigen Schatten die Liebe vortäuschte. Sie durchquerte Deutschland, in der Hoffnung, voranzukommen. 12 Nachdem Aman eingeschlafen war, stand ich auf, ging ins Bad, setzte mich auf den Rand der Badewanne und begann zu weinen. Mit Jahrhunderttränen beweinte ich die Vortäuschung der Liebe, die Sehnsucht nach dem Glauben an die Worte, die einst mein Leben so stark geprägt hatten. Ich ging in die Küche, ich rauchte eine Zigarette und starrte aus dem Fenster. Es hatte aufgehört zu regnen, und aus irgendeinem Grund wusste ich, dass etwas geschah, etwas in Gang gesetzt worden war, irgendetwas außerhalb der Wohnung mit den hohen Decken und den verwaisten Büchern. Mit den vielen Lampen, die ich so eifrig gesammelt hatte, als Ersatz für den Himmel, als eine Illusion des wahren Lichts. Die Beleuchtung meines eigenen Tunnels. Aber der Tunnel war geblieben, die Lichter hatten mich nur kurz, nur vorübergehend trösten können. Vielleicht muss man noch sagen, dass Brilka ein sehr hochgewachsenes Mädchen war, fast zwei Köpfe größer als ich, was bei meiner Größe nicht so schwer ist, eine raspelkurze Jungenfrisur und eine John-Lennon-Brille trug, in alte Jeans und ein Holzfällerhemd gekleidet war, mit perfekt gerundeten Kakaobohnenaugen, die stets nach Sternen suchten, mit einer endlos hohen Stirn – hinter der viel Kummer verborgen lag. Gerade war sie ihrer Tanzgruppe entflohen, die einen Gastauftritt in Amsterdam hatte, sie tanzte die Männerparts, weil sie für die folkloristischen, sanft en Frauentänze aus unserer Heimat ein wenig zu schrill, zu groß, zu düster war. Nach langem Bitten erlaubte man ihr schließlich, als Mann verkleidet aufzutreten und die wilden Gebärden zu tanzen; ihr langer Zopf war im letzten Jahr dieser Erlaubnis zum Opfer gefallen. Sie durfte Kniesprünge und Degengefechte aufführen, die ihr schon immer besser gelangen als die wellenförmigen, verträumten Bewegungen der Frauen. Sie tanzte und tanzte für ihr Leben gern, und nachdem man ihr für das holländische Publikum auch einen Solopart gab, weil sie so gut war, so viel besser als die jungen Männer, die sie anfangs belächelt hatten, verließ sie die Truppe, auf dem Weg zu ihren Antworten, die ihr auch der Tanz nicht geben konnte. Am nächsten Abend rief mich meine Mutter an, die mir jedes Mal drohte, zu sterben, wenn ich nicht bald zurückkäme in meine Heimat, aus der ich vor vielen Jahren geflohen war. Sie teilte mir mit zittriger Stimme mit, dass „das Kind" verschwunden sei. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, von welchem Kind die Rede war und wie das Ganze mit mir zusammenhing. – Also, noch mal, wo genau ist sie gewesen? – In Amsterdam, was ist mit dir los, verdammt? Hörst du mir nicht zu? Sie ist gestern abgehauen und hat eine Nachricht hinterlassen. Ich wurde von der Gruppenleiterin angerufen. Man hat alles auf den Kopf gestellt und … – Warte, warte, warte. Wie kann ein elfjähriges Mädchen aus einem Hotel verschwinden, vor allem, wenn sie … – Sie ist zwölf. Sie ist im November zwölf geworden. Du hast es natürlich vergessen. Wie konnte es denn auch anders sein. Ich nahm einen tiefen Zug von meiner Zigarette, bereitete mich auf das Unheil vor, das mir bevorstand. Denn nach der Stimme meiner Mutter zu urteilen, würde ich mich nicht so schnell aus der Affäre ziehen und verschwinden können; meine allerliebste Beschäftigung der letzten Lebensjahre. Ich wappnete mich für die obligatorischen Vorwürfe, die allesamt darauf zielten, mir weiszumachen, welch eine schlechte Tochter und welch ein gescheiterter Mensch ich war. Dinge, die ich auch ohne meine Mutter allzu gut wusste. – Okay, sie ist zwölf geworden, ich habe es eben vergessen, aber das trägt nun nichts zur Sache bei. Hat man die Polizei eingeschaltet? – Ja, was denkst du denn? Man sucht sie. – Dann wird man sie auch finden. Sie ist ein kleines, verzogenes Mädchen mit einem Touristenvisum, wie ich vermute, und sie … – Hast du eigentlich noch einen Funken Menschlichkeit in dir? – Tut mir leid. Ich versuche nur, laut zu denken. – Umso schlimmer, wenn es deine Gedanken sind. – Mama! – Sie werden sich bei mir melden. In maximal einer Stunde, sagten sie, und ich bete, dass man sie findet, schnell findet. Und dann will ich, dass du hinfährst, wo immer sie auch ist, sehr weit wird sie nicht gekommen sein, und ich will, dass du sie holst. – Ich … – Sie ist die Tochter deiner Schwester. Und du wirst sie holen. Versprich es mir! – Aber … – Tu es! – Oh Gott. Ist ja gut. – Und nimm den Namen Gottes nicht in den Mund. – Darf ich jetzt nicht mal „Oh Gott" sagen, oder was? – Du wirst sie zu dir holen. Und dann setzt du sie in den Flieger. . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 44 Leseprobe Leseprobe In der gleichen Nacht fand man sie in einer kleinen österreichischen Stadt, kurz vor Wien. Wo sie auf einen Anschlusszug wartete und von der österreichischen Polizei aufgegriffen und auf die Wache mitgenommen wurde. Meine Mutter weckte mich und teilte mir mit, ich solle nach Mödling fahren. – Wohin?– Mödling heißt die Stadt. Schreib es dir auf. – Ist ja gut. – Du weißt doch nicht mal, welchen Tag wir heute haben. – Ich schreibe es mir auf! Wo zum Teufel ist das? – In der Nähe von Wien. – Und was hat sie dort verloren? – Sie wollte wohl nach Wien. – Wien? – Ja, Wien. Muss dir doch bekannt vorkommen. – Ich habe es verstanden. – Und nimm deinen Ausweis mit. Sie wissen, dass die Tante das Kind abholt. Und haben deinen Namen notiert. – Können die sie nicht einfach in einen Flieger setzen? – Niza! – Okay, ich ziehe mich schon an. Ist gut. – Und ruf an, sobald du sie hast. Sie knallte den Hörer auf. So fängt diese Geschichte an. Warum Wien? Warum das alles nach der Nacht meiner Flucht vor den Tränen? Das hatte alles seinen Grund, aber dann müsste ich an einer ganz anderen Stelle zu erzählen beginnen. Ich heiße Niza. In meinem Namen ist ein Wort enthalten, ein Wort, das in unserer Muttersprache „Himmel" bedeutet. „Za". Vielleicht war mein bisheriges Leben die Suche nach diesem einen Himmel, den man mir schon von Geburt an als Versprechen mit auf den Weg gegeben hatte. Meine Schwester hieß Daria. In ihrem Namen ist das Wort „Chaos“ enthalten. „Aria“. Das Zerwühlen und Aufwühlen, das Durcheinanderbringen und Nicht-mehr-Zurechtrücken. Ich bin ihr verpflichtet. Ich bin ihrem Chaos verpflichtet. Ich bin immer schon verpflichtet gewesen, in ihrem Chaos meinen Himmel zu suchen. Vielleicht geht es aber einfach um Brilka. Um Brilka, deren Name in der Sprache meiner Kindheit nichts bedeutet. Deren Name unbeschriftet und unstigmatisiert ist. Um Brilka, die sich diesen Namen selbst gegeben hat und so lange darauf beharrt hat, dass man sie so nennt, bis die anderen ihren wirklichen Namen vergaßen. Und auch wenn ich es dir nie gesagt habe: Ich würde dir dabei so gern helfen, Brilka, so unglaublich gern, deine Geschichte anders und neu zu schreiben. Um dies nicht nur sagen, sondern auch beweisen zu können, schreibe ich dies hier nieder. Nur deshalb. Ich verdanke diese Zeilen einem Jahrhundert, das alle betrogen und hintergangen hat, alle die, die hofft en. Ich verdanke diese Zeilen einem lange andauernden Verrat, der sich wie ein Fluch über meine Familie gelegt hatte. Ich verdanke diese Zeilen meiner Schwester, der ich nie verzeihen konnte, dass sie in jener Nacht ohne Flügel losgeflogen ist, meinem Großvater, dem meine Schwester das Herz herausgerissen hat, meiner Urgroßmutter, die mit mir einen Pas de deux tanzte, als sie dreiundachtzig war, meiner Mutter, die Gott suchte … Ich verdanke diese Zeilen Miro, der mich mit Liebe wie mit einem Gift infizierte, ich verdanke diese Zeilen meinem Vater, den ich nie wirklich kennenlernen durfte, ich verdanke diese Zeilen einem Schokoladenfabrikanten und einem weiß-roten Oberleutnant, einer Gefängniszelle, aber auch einem Operationstisch mitten in einem Klassenraum, einem Buch, das ich nie geschrieben hätte, wenn … Ich verdanke diese Zeilen unendlich vielen vergossenen Tränen, ich verdanke diese Zeilen mir selber, die die Heimat verließ, um sich zu finden, und sich doch zunehmend verlor; ich verdanke aber diese Zeilen vor allem dir, Brilka. Ich verdanke sie dir, weil du das achte Leben verdienst. Weil man sagt, dass die Zahl Acht gleichgesetzt ist mit der Ewigkeit, mit dem wiederkehrenden Fluss. Ich schenke dir meine Acht. Uns verbindet ein Jahrhundert. Ein rotes Jahrhundert. Auf immer und Acht. Du bist dran, Brilka. Ich habe dein Herz adoptiert. Ich habe meines weggeschleudert. Nimm meine Acht an. Du bist das Zauberkind. Du bist es. Durchbrich den Himmel und das Chaos, durchbrich uns alle, durchbrich diese Zeilen, durchbrich die Gespensterwelt und die wirkliche Welt, durchbrich die Umkehrung der Liebe, des Glaubens, verkürz die Zentimeter, die uns immer vom Glück trennten, durchbrich das Schicksal, das keines war. Durchbrich mich und dich. Durchlebe alle Kriege. Passiere alle Grenzen. Ich widme dir alle Götter und alle Rosenkränze, alle Verbrennungen, alle geköpft en Hoffnungen, alle Geschichten. Durchbreche sie. Denn du hast die Mittel dazu, Brilka. Die Acht, denke daran. In dieser Zahl werden wir alle für immer miteinander verwoben sein und immer aneinander lauschen können, durch die Jahrhunderte hindurch. Du wirst es können. Sei alles, was wir waren und nicht waren. Sei ein Leutnant, eine Seiltänzerin, ein Matrose, eine Schauspielerin, ein Filmemacher, eine Pianistin, eine Geliebte, eine Mutter, eine Krankenschwester, eine Schriftstellerin, sei rot und weiß oder blau, sei Chaos und Himmel und sei sie und ich und sei all dies nicht, tanze vor allem unzählige Pas de deux. Durchbrich diese Geschichte und lass sie hinter dir. Geboren wurde ich am 8. November 1973, in einer Dorfklinik, nicht weiter erwähnenswert, in der Nähe von Tbilissi, Georgien. . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 45 Leseprobe Leseprobe Es ist ein kleines Land. Es ist auch schön, dem kann ich nichts entgegensetzen, sogar du wirst mir zustimmen, Brilka. Mit Bergen und einer steinigen Küste am Schwarzen Meer. Die Küste ist zwar im Laufe des letzten Jahrhunderts um einiges geschrumpft , dank der großen Zahl an Bürgerkriegen, dämlichen politischen Entscheidungen, hasserfüllten Konflikten, aber ein schöner Teil davon ist noch da. Auch wenn du die Legende allzu gut kennst, Brilka, möchte ich sie an dieser Stelle kurz erwähnen, um dir deutlich zu machen, worauf ich hinauswill; die Legende, nach der unser Land folgendermaßen entstand: Gott teilte eines schönen, sonnigen Tages seine von ihm erschaffene Erdkugel in Länder auf (das muss noch lange vor dem Turmbau zu Babel gewesen sein) und veranstaltete einen Jahrmarkt, auf dem alle Menschen sich lautstark überboten, um die Gunst von Gott buhlend, in der Hoffnung, so das beste Fleckchen Erde abzukriegen (ich vermute, die Italiener waren die Effektivsten in der Kunst der Beeindruckung und die Tschuktschen hatten es nicht so recht drauf). Nach einem langen Tag war die Welt in viele Länder aufgeteilt und Gott müde. Aber Gott – so weise wie eh und je – hatte für sich natürlich eine Art Urlaubssitz zurückbehalten, das schönste Fleckchen Erde: reich an Flüssen, an Wasserfällen, an saftigen Früchten und – er muss es geahnt haben – mit dem besten Wein der Welt. Und als sich die aufgeregten Menschen auf den Weg in ihre neue Heimat gemacht hatten, wollte sich der liebe Gott unter einem schattigen Baum ausruhen, wo er einen schnarchenden Mann entdeckte (bestimmt mit einem Schnurrbart und einer gemütlichen Wampe, so habe ich ihn mir zumindest immer vorgestellt). Er war bei Aufteilung nicht dabei gewesen, und Gott wunderte sich. Er weckte ihn und fragte, was er hier tue und warum er kein Interesse an einer eigenen Heimat habe. Der Mann lächelte mild (vielleicht hatte er sich bereits ein, zwei Gläschen Rotwein genehmigt) und meinte (da gibt es verschiedene Versionen der Legende, aber einigen wir uns auf diese), dass er auch so zufrieden sei, die Sonne scheine, es sei ein herrlicher Tag und er würde sich mit dem begnügen, was Gott für ihn übrig hätte. Und der liebe Gott, gütig wie eh und je, beeindruckt von der Lässigkeit und dem nicht vorhandenen Ehrgeiz des Mannes, schenkte ihm sein eigenes Urlaubsparadies, also Georgien, das Land, aus dem du, Brilka, ich und die meisten Menschen, von denen ich in unserer Geschichte berichten werde, stammen. Was ich damit sagen will, ist: Bedenke, dass diese Lässigkeit (sprich Faulheit) und der nicht vorhandene Ehrgeiz (das Fehlen von Argumenten) in unserem Land als wahrlich erhabene Eigenschaft en gelten. Bedenke auch, dass trotz einer tiefreichenden Identifikation mit dem lieben Gott (natürlich dem orthodoxen Gott und keinem anderen) es die Menschen dieses Landes nicht davon abhält, an alles zu glauben, was auch nur ansatzweise märchenhaft , geheimnisvoll oder legendär anmutet – und das muss keineswegs nur die Bibel sein. Ob es die Riesen in den Bergen sind, die hauseigenen Gespenster, die bösen Blicke, die einen Menschen ins Unglück stürzen können, die einen Fluch nach sich ziehenden schwarzen Katzen, die Macht des Kaffeesatzes oder die Wahrheit, die nur die Karten enthüllen (heutzutage, sagtest du ja, ließe man sich sogar neue Autos mit Weihwasser bespritzen, um möglichst unfallfrei zu bleiben.) Das Land, ehemals die goldene Kolchis, die den Griechen das Geheimnis der Liebe in Form des Goldenen Vlieses hat mitgeben müssen, da die widerspenstige und bis zur Besinnungslosigkeit verliebte Königstochter Medea das so befahl. Das Land, das bei seinen Bewohnern liebenswerte Eigenschaften wie die heiliggesprochene Gastfreundschaft und weniger liebenswerte Eigenschaft en wie Faulheit, Opportunismus und Konformismus begünstigt (das wird keineswegs von der Mehrheit so wahrgenommen, auch darin sind wir uns beide einig). Das Land, in dessen Sprache es kein Geschlecht gibt (keineswegs gleichzusetzen mit Gleichberechtigung). Ein Land, das im letzten Jahrhundert nach 135 Jahren zaristischer und russischer Schirmherrschaft es genau vier Jahre lang schafft e, eine Demokratie zu errichten, bis sie dann schließlich erneut von den größtenteils russischen, aber auch georgischen Bolschewiken gestürzt und als Sozialistische Republik Georgien und somit als eine Teilrepublik der Sowjetunion proklamiert wurde. In dieser Union blieb das Land für die nächsten siebzig Jahre. Es folgten mehrere Umbrüche, blutig niedergemetzelte Demonstrationen, etliche Bürgerkriege, schließlich die lang ersehnte Demokratie, obwohl die Bezeichnung eine Frage der Perspektive und der Auslegung geblieben ist. 20 Ich finde, dass unser Land durchaus sehr komisch sein kann (nicht nur tragisch, will ich damit sagen). Dass in unserem Land auch das Vergessen sehr gut möglich ist, einhergehend mit dem Verdrängen. Verdrängen von eigenen Wunden, von eigenen Fehlern, aber auch von zu Unrecht zugefügtem Schmerz, von Unterdrückung, von Verlusten. Trotzdem hebt man ja das Glas und lacht. Das finde ich beeindruckend, wirklich, angesichts der wenig erfreulichen Dinge, die das letzte Jahrhundert mit sich gebracht hat und an deren Folgen die Menschen bis heute leiden (auch wenn ich dich hier bereits widersprechen höre!). Es ist ein Land, aus dem außer den großen Henkern des 20. Jahrhunderts auch viele wunderbare Menschen stammen, die ich persönlich sehr liebte und liebe. Manche von ihnen sind geflohen, manche haben sich auf der Suche verlaufen, manche leben nicht mehr, manche sind zurückgekehrt, manche haben ihre großen Tage bereits hinter sich oder hoff en noch auf sie, aber die meisten kennt keiner. Ein Land, das bis heute seinem Goldenen Zeitalter zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert nachweint und hofft , eines Tages wieder den einstigen Glanz zurückzugewinnen (ja, Progress heißt in unserem Land gleichzeitig immer auch Regress). Traditionen erscheinen wie ein fahler Abglanz dessen, was sie einst waren. Das Streben nach Freiheit gleicht der sinnlosen Suche nach ungewissen Ufern, denn man hat sich vor allem in den letzten achtzehn Jahren nicht einmal darauf verständigen können, was genau man unter Freiheit versteht. Und so gleicht das Land, in dem ich vor zweiunddreißig Jahren auf die Welt gekommen bin, heute einem König, der immer noch mit einer glänzenden Krone und einem prachtvollen Mantel dasitzt, Befehle erteilt, schaltet und waltet – ohne wahrzunehmen, dass sein ganzer Hof längst geflohen und er allein ist. © Frankfurter Verlagsanstalt, 2014. Alle Rechte vorbehalten . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 46 Leseprobe Leseprobe Herzberg, André: Alle Nähe fern | Ullstein Verlag | ET: 6. März 2015 ISBN-13 9783550080562 | Hardcover | Gebunden | 272 Seiten | 21,00 € André Herzberg erzählt die Geschichte einer jüdischen Familie, drei Generationen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Der Großvater Heinrich Zimmermann hatte es vom einfachen Lederhändler zum mittelständischen Unternehmer gebracht, pflegte ein deutsch-nationales Weltbild. In buchstäblich letzter Sekunde gehen er und seine Frau ins Exil. Den Sohn Paul haben sie schon vorher nach England in Sicherheit gebracht. Nach dem Krieg geht Paul als überzeugter Kommunist in die DDR, verdrängt dort seine Herkunft, lebt „bescheiden“ als ranghoher Funktionär. Sein Sohn Jakob, der Erzähler des Romans, wird nach einer schwierigen Kindheit Sänger, durchlebt nach dem Mauerfall eine existentielle Krise und findet nach langem Suchen zum Judentum und zu sich selbst. Lakonisch und bildgewaltig erzählt André Herzberg von der generationsübergreifenden lebenslangen Sehnsucht nach Bindung und Zugehörigkeit: zu einem Land, zu einer Partei, zu einer Familie. Und von Fremdheit zwischen Vätern und Söhnen. André Herzberg, 1955 in Ostberlin geboren, ist seit über dreißig Jahren Musiker und vor allem als Frontmann und Sänger der in der DDR gegründeten Rockband Pankow berühmt geworden. Seine Familie lebt heute in Afrika, England und Deutschland. Von Herzberg erschienen bisher eine Erzählungssammlung und der autobiografische Roman „Mosaik“. Ich, Jakob Zimmermann, bin die Mitte. Ich habe den Stein ins Rollen gebracht. Meinetwegen findet das Familientreffen statt. Da sitze ich also, man hat mich für das Foto auf den Sessel gesetzt, ich sitze da und reiße die Augen auf, ich achte nicht darauf, wer mich fotografiert, höchstens drehe ich den Kopf herum wegen des Blitzes. Ich bin damit beschäftigt, die Stimmen um mich herum zu hören, solange es nicht plötzlich laut wird, gar schrill, bleibe ich entspannt, es kann Deutsch, Englisch oder sogar Hebräisch sein, ganz egal, nur Angst soll es mir nicht machen. Ich kann ihre Auren sehen, obwohl ich noch nicht sehen kann, ich weiß nicht, warum sie nicht richtig miteinander lachen, sprechen, lieben, warum sie nur im Korsett sind. Es würde alles explodieren, wenn nur einer explodiert, aber trotzdem, in mir wird etwas geweckt, was mich nie mehr verlassen wird, eine Sehnsucht, eine Behaglichkeit, eine Zufriedenheit, dieses Gewirr von Stimmen, dieses Brummen, die mittleren Töne, die hellen, wie eine Sinfonie, ich werde von ihnen allen gehalten, ich gehe durch ihre Hände. Ich bin Familie. Ich spüre sie, von einem zum anderen, wie sie um mich sitzen, stehen, reden, mich schon nicht mehr beachten, Großvater Heinrich mit seinen grauen Haaren, seiner Brille, Großmutter Rosa mit ihrer hohen Stimme, ihren weichen Händen, meinen Onkel Konrad, auch mit Brille, wie er dem Alten grollt, aber Platz macht, meinen Vater Paul, wie er ständig die junge Republik lobt, aber niemals Heinrich in die Parade fährt, meine Mutter Lea, wie sie Paul verachtet, aber im Augenblick trotzdem glücklich ist, denn sie hat keine eigene Familie mehr, und ich sehe meine Geschwister, meinen Bruder Johann, der dem Vater nacheifert, ihn zu übertreffen sucht, und meine Schwester Lena, wie sie still auf dem Ecksofa sitzt, von Opa und Oma verwöhnt, wären sie bloß nicht nur zu Besuch. Dahinter sind noch mehr Leute, die aber so durchsichtig scheinen, dass ich sie nur unscharf sehen kann, meine Tante Gertrud, äußerlich meiner Großmutter ähnlich, aber mit hochmütigem Blick, ihre Augen unter ihrem Schleier am Hut blitzen, sie verachtet Männer, das spüre ich, besonders in diesem Moment, wo wir alle beisammen sind, da ist mir meine Tante Fanny neben ihr schon viel lieber, sie ist schön, hat diesen wunderbaren Bubikopf, sieht verwegen aus, und sie liebt Kinder, sie lacht. Sie hat den Onkel Franz, ihren jüngeren Bruder, auf dem Schoß. Dahinter sind noch andere aus der Familie, alle Vorfahren zurück bis zu unserem Stammvater Abraham und seiner Frau Sara, ihrem Sohn Isaak, seiner Frau Rebecca. Es ist wunderbar für mich, weil wir so viele sind. Ich sehe noch ein besonders warmes Licht, eine Aura, aber ohne Gesicht, ich spüre die Wärme, die Aura gehört meiner Großmutter Johanna, sie steht hinter meiner Mutter, die kann sie aber nicht spüren, deshalb ist meine Mutter oft so traurig. Die Familie ist riesengroß, der Raum ist voller Menschen, ich ahne schon, das werde ich mein ganzes Leben lang vermissen. Jetzt aber kommt der Mohel, er reist in der Welt umher, um Beschneidungen vorzunehmen, er sieht mich, mit dem anderen Auge sucht er schon einen Platz, wo er seine Instrumente hinpacken kann. Die Kommode wird abgeräumt. Er packt aus, mir wird die Windel geöffnet, mein kleiner Schwanz herausgeholt, fest packt der Mohel zu, ich kann nichts sehen, all diese Köpfe, die über mir zusammengebeugt stehen, aber ich schreie, ich spüre ein Brennen zwischen den Beinen, was schnell nachlässt. Dann reiben sie da unten an mir herum, Mutter ist weit weg, sie hat Angst, will es nicht mit ansehen, Großvater hat schon alles unter Kontrolle. Er hat ein Glas Kognak in der Hand und prostet den Männern zu, unser Blut geht schon lange in deutsche Erde, setzt er zu seiner Rede an, und alle verziehen das Gesicht, ganz besonders Konrad, weil er die Leier schon sein ganzes Leben kennt. Dann kommt die Aufzählung der Familiengeschichte von vierzehnhundertdreiundneunzig, als wir aus Spanien rausgeschmissen wurden, weshalb wir früher Spanier hießen, bis heute. Noch ahne ich nichts von dem Schmerz, der in dem Satz liegt, den Heinrich so triumphierend dahersagt, ich bin mit dem kleinen Ritz an meinem Schwänzchen beschäftigt, unser Blut geht schon lange in deutsche Erde. Sie verpacken mich wieder, dann stehen die Männer zusammen, Mazeltov prosten sie sich zu, die Frauen glucksen, bis auf meine Großmutter Rosa, die mich in den Armen hält. . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 47 Leseprobe Leseprobe Der Mohel sagt die Segenssprüche, mein Vater blickt nach unten, grinst meine Mutter an, aber er würde nichts sagen, nicht gegen seinen Vater, sogar Konrad unterdrückt eine wütende Bemerkung, er weiß, dass sich so schnell keine Gelegenheit für die Familie wieder ergeben wird. Und richtig, wir werden nie alle zusammentreffen, alle haben sich schon lange verabschiedet, von Gott, von dieser Art Tradition, dieses Familien-treffen wegen meiner Brit Mila hat nie statt-gefunden, und ich bin plötzlich kein Baby mehr, ich bin auch nicht beschnitten, ich sehe im Halbdunkel die digitalen Ziffern meines Weckers aus dem Supermarkt, dieses unerbittliche Folterinstrument, was nur auf hört mit der Bewegung, wenn die Batterie leer ist, ich muss aufstehen. 1. Ja, Vater , mach ich, ich muss los, so verabschiedet sich Heinrich aus dem Büro, rennt zum Bahnhof und setzt sich in den Frühzug nach Bremen. Den Herrn Mayer hat er schon mal getroffen, er weiß, wer der Mann ist, Arthur hat ihm natürlich die Frachtpapiere mitgegeben, die Heinrich unter dem Revers fühlt. Er soll das eingetroffene Leder prüfen. Als er im Hafen ankommt, sieht er schon von weitem das Schiff mit dem roten Schornstein am Kai, das wird es sein. Heinrich muss sich sputen, das Abladen hat bereits begonnen. Da stehen sie, Mayer in der Mitte. Er drängelt sich zu ihm durch, als er neben ihm eine junge Frau stehen sieht, die müde und desinteressiert aussieht, sie muss eine Tochter vom Mayer sein, warum ist sie dabei, denkt Heinrich, er spürt plötzlich eine Trockenheit im Hals, dass er sich räuspern muss. Er gerät in einen seltsamen Zustand, nimmt nur noch wie im Nebel wahr, was um ihn herum vorgeht, was er selber tut. Das macht ihn ängstlich, aber er hat keine Zeit nachzudenken, er sagt höflich guten Morgen in die Runde, sagt seinen Spruch wegen des Lederpostens, den das Schiff mitgebracht hat, dabei starrt er in ihre Richtung. Sowie sich ihr Vater umdreht, um mit dem Zollbeamten zu verhandeln, schiebt Heinrich seine Hand in ihre, bringt seinen Mund an ihr Ohr und flüstert, ich will mit dir schlafen, und Rosa, die Tochter von Karl Mayer, ist in diesem Moment im selben Rausch wie Heinrich, sie sieht ihn nicht an, schaut, wie sie vorher geschaut hat, höchstens lächelt sie ein klein wenig, sagt, ohne die Lippen zu bewegen, na, dann mach mal. Diese Antwort löst eine Explosion in Heinrichs Kopf aus, er denkt nach, sagt ihr Treffpunkt, Datum und Uhrzeit, sie schaut weiter desinteressiert und nickt nach einer Weile ganz leicht. Drei Tage später ist er wieder in Bremen, wartet auf sie im Zimmer des Hotels, die vereinbarte Uhrzeit ist lange vorüber, und Heinrich will schon aufgeben, als es leise klopft. Ich bin nicht losgekommen, sagt Rosa atemlos, da hat er sie schon in den Armen, öffnet ihr das Kleid, und Rosa macht auch keinen Versuch der Erklärung mehr. Er ist nicht besonders zart, sondern dringt schnell in sie ein, dass es ihr weh tut, aber Rosa, die schon viel über das erste Mal gehört hat, genießt es trotzdem, weil der Moment ihrer ersten Begegnung ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte, im Gegenteil, sie hat die Nächte nicht mehr schlafen können, sie war nur noch abwesend, es war wie ein Sog, der sie gezogen hat bis hierher, bis er von ihr heruntergleitet, erst da sind sie beide ruhiger. Als Heinrich sie ansieht, wie sie neben ihm auf dem Bett liegt, und sagt, ich möchte dich heiraten, lächelt sie und lacht dann los, wieder setzt das Brausen, das Schweben in ihrem Kopf ein. © Ullstein Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 48 Leseprobe Leseprobe Himmelfarb, Jan: Sterndeutung | C.H. Beck | ET 21. Januar 2015 ISBN 978-3-406-67486-0 | Gebunden | 394 Seiten | 21,95 € Anfang der 90er Jahre. Kurz vor seinem 51. Geburtstag versucht sich Arthur Segal, Übersetzer und fast seriöser Autohändler, seiner selbst und der Geschichte seiner jüdischen Familie zu vergewissern. Es ist eine Geschichte von Liebe und Arbeit, Verfolgung und Überleben, Glück und Chuzpe. Wie fühlt es sich an, wenn man den eigenen Geburtsort nicht genau angeben kann, wenn man als Jude im Osten der Geburt schon zum Tode verurteilt war? Wenn man den Holocaust durch ein Wunder überlebte und spät, als Kontingentflüchtling, mit der Familie aus der Ukraine ins Land der ehemaligen Täter zog und sich dort sogar ein gutes Leben aufbauen konnte? Wenn die blitzgescheite Tochter plötzlich Elitestudentin wird, einen deutschen Freund hat und auf dem Weg in eine schöne, neue Normalität ist? Allmählich entsteht eine Erzählung von Vergangenheit und vor allem von der Gegenwart, eine Familien- und Generationengeschichte, lebendig, komisch, hart. Jan Himmelfarb, geboren 1985 in der Ukraine, zog 1992 mit seiner Familie nach Deutschland. Er studierte Betriebswirtschaftslehre und arbeitet seit 2009 als Betriebswirt bei einem Industrieunternehmen in NordrheinWestfalen. 2013 nahm er am Klagenfurter Literaturkurs teil. Halstuch und Fleischkombinat Die Schrift auf Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden ist nicht immer leicht zu entziffern. Kam meine Großmutter am 5. oder am 6. Oktober 1898 zur Welt? Eine rundliche Fünf oder eine eckige Sechs auf knittrig-vergilbtem Papier. Die zusammengefaltete Heiratsurkunde meiner Eltern habe ich auseinandergebreitet; die Zeichen verlieren sich in den Falten. Aber ein Wort erkenne ich mühelos. Ein Wort springt mir auf fast jeder Seite entgegen. Ich legte die Urkunden zurück in die Schublade. All meine Vorfahren waren Juden. Meine Eltern, meine vier Großeltern, meine acht Urgroßeltern und meine sechzehn Ururgroßeltern waren Juden. Außerdem war ein Drittel aller Schachweltmeister Juden, ein Viertel aller großen Geiger und Pianisten, ein Fünftel aller Nobelpreisträger. Aber was ändert das? Meine Familie hat nur eine Geschichte. Mutter und Vater lernten sich 1939 in Kamenez-Podolsk kennen, das im ukrainisch-sowjetischen Westen an der Grenze zu Polen lag. Sie arbeitete als Schreibkraft in der Bauverwaltung, er wurde als junger Ingenieur nach Kamenez-Podolsk abkommandiert, um die Inbetriebnahme eines Fleischkombinats zu beschleunigen. Die Planbauzeit des Kombinats betrug zwölf Monate, der Verarbeitungsumfang sollte sich auf 50 Schweine, 15 Rinder und 20 Tonnen Geflügel täglich belaufen. Als Endprodukte waren verschiedene Wurstsorten, Würstchen, Speck vorgesehen. Das bei Baubeginn entrollte Plakat zeigte ein zufriedenes rosarotes Schweinchen und einen sowjetischen Arbeiter mit kurzen blonden Haaren. Darüber war ein knallroter Slogan gemalt: Gesunde Ernährung für unser arbeitendes Volk! Und unter das appetitliche Tier und den lächelnden Menschen: Das Leben ist besser, das Leben ist schöner geworden! Als Vater im Frühling 1939 zur Bautruppe stieß, waren dreizehn von zwölf Planmonaten verstrichen. Er stürzte sich auf die losen Schrauben und rostenden Gewinde. Ab dem ersten Tag, da er Hand anlegte, wuchs der Bau in die Höhe. Nachdem Haken zu Seilen und Messer zu Bändern gefunden hatten, schlug der Betriebsleiter am ersten ordentlichen Arbeitstag vor versammelter Belegschaft die rechte Faust in die linke Handfläche und verkündete: In einem halben Jahr haben wir den Produktionsrückstand von sechs Monaten aufgeholt, Genossen! Wir werden hier in Kamenez-Podolsk eine unseres Landes würdige Arbeit verrichten. Beifall, zustimmendes Gemurmel. Die Frauen und Männer maßen einander mit kritischem Blick, wer sah besonders motiviert aus, wer würde die Norm übererfüllen, sie dadurch erhöhen und die Zulagen senken? Dann flogen sie den Arbeitsplätzen zu, um gleich am ersten Tag 100 Schweine, 30 Rinder und 40 Tonnen Geflügel abzufertigen. Wie groß wird ihre Enttäuschung gewesen sein, als sich im Verlauf der symbolträchtigen ersten Schicht nur 28 Schweine, vier Rinder und fünfeinhalb Tonnen Geflügel einfanden? Die vorhandene Kapazität wurde während der zwei Friedensjahre an keinem einzigen Tag auch nur annähernd ausgeschöpft, weil ein Fleischkombinat zwar Unmengen geräucherter Salami, leckerer Würste und knackiger Würstchen, aber keine Schweine, Rinder, Hühner und Truthähne herzustellen vermag. Es gab erfolgreichere Betriebe, die den Plan konstant nach oben durchbrachen. Aber was ging dort als ein Schinken in die Bücher ein? Nur allzu oft ein geringeltes Schweineschwänzchen. Und wies man Hühnerkrallen nicht dann und wann als Brustfilets aus? Und Klauen als Rinderwürste? Nein, ich halte es lieber mit dem Fleischkombinat von Kamenez-Podolsk, das schlechte Zahlen, aber Qualitätsware ablieferte. Ohne das Plansoll je erfüllt zu haben, wurde es im Juni 1941 von einer deutschen Bombe zielgenau getroffen und zerstört. Aber weil mein Vater am Bau des Fleischkombinats mitwirkte, weil meine Mutter ebendort Schreibarbeiten verrichtete, blühte in Kamenez-Podolsk die Liebe. Nach der Fertigstellung des Kombinats nahm Vater die frischgewonnene Braut mit sich zurück nach Charkow, wo er mit seinen Eltern lebte. Auch dort wurde ihr eine Anstellung als Schreibkraft zugewiesen. Im friedvollen Bauch, der von der feindlichen Welt abschirmte, trug sie mich täglich zur Arbeit. Mutter trat herein. Ich schob ein Wörterbuch über das angegriffene Papier. . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 49 Leseprobe Leseprobe Das Essen ist fertig. Wie oft muss ich euch noch rufen?, sagte sie. Ich ging mit ihr in die Küche. Wo ist Julia?, fragte ich. Sie hat gesagt, dass sie bei einer Freundin zu Abend essen wird. Und deine Tochter braucht wieder mal eine gesonderte Einladung. Wenn man dich schon zweimal rufen muss, muss man sie mindestens dreimal rufen. Anna, zum Dritten! Komm endlich! Anna stürmte herein. Auch von ihr muss ich sprechen. Schließlich ist sie mein einziges Kind. Ich könnte mit dem Wann und Wie ihres späten Auftritts beginnen, der auf eingeübte Unpünktlichkeit und fehlende Aufmerksamkeit gegen andere schließen lässt. Aber Wichtigeres beherrschte beim Abendessen die Gemüter. Dass Anna im nächsten Herbst ein Wirtschaftsstudium beginnen und bis dahin Deutsch gelernt haben wird, ist beschlossene Sache. Nur die Wahl der Universität sorgt nach wie vor für Gespräche, die mir Schmerzen unter der linken Schulter bereiten. Grundsolide staatliche Hochschulen liegen ja um die Ecke, in Düsseldorf, Bochum, Dortmund. Anständig studieren, sagte ich, kannst du auch hier. Und dabei zu Hause wohnen bleiben. Nein, sagte sie, es gibt Besseres, die UWF Wehnau … Die zufällig so weit weg ist, dass du ruhigen Gewissens ausziehst, ergänzte ich. Meine Schuld ist es nicht, dass die Absolventen der UWF doppelt so viel verdienen wie die von anderen Universitäten. Oma, ich habe es Mama und Papa tausendmal erklärt. Die beste Universität in Deutschland! Ein ganzes Jahr werde ich im Ausland verbringen, in England, Amerika oder Italien. Vielleicht sogar in Japan! Was heißt UWF?, fragte Mutter. Universität für wirtschaftliche Finanzen. Und nur weil ich will, werde ich nicht gleich genommen. Es gibt mehr Bewerber als freie Plätze. Erst muss ich zwei Prüfungen bestehen. Wo ist dieses Institut?, fragte Mutter. In Wehnau. Das ist eine kleine Stadt, dreihundert Kilometer von hier. Oma, wir fahren unbedingt hin, nur wir beide. Das ist weit weg. Dann kannst du nicht jeden Abend nach Hause kommen. Du kannst kein bisschen kochen. Wer wird dir Suppen zubereiten? Anna, du verdirbst dir dort den Magen. Nein, das sagte Mutter nicht, in Wahrheit sagte sie: Verplappere dich bei den Prüfungen bloß nicht, sag nicht, dass du Jüdin bist. So ein Blödsinn! Woher hast du das, Oma? Wenn du solche Angst hast, warum bist du dann hierhergekommen? War es dort etwa besser?, flüsterte Mutter, allein Anna hörte sie nicht. Warum habt ihr Angst zuzugeben, dass wir Juden sind?, rief sie. Ich habe keine Angst, sagte ich. Aber an die große Glocke hängen muss man es nicht. Das ist Blödsinn. Bei dieser Universität! Die ist so international ausgerichtet, die freuen sich über ausländische Studenten. Mutter seufzte und sagte: Sie lernt dort noch einen Russen oder Deutschen kennen. Und dann heiraten sie. Meinst du, es gibt in Wehnau mehr Deutsche und Russen als hier?, fragte ich. Hier können wir wenigstens etwas tun, sagte Mutter. Ihr könnt gar nichts tun. Ich tue, was ich will, rief Anna. Ein dumpfer Schmerz machte sich unter meiner linken Schulter breit; dies war ein Gespräch, das wir schon, wenn auch ohne Mutter, viele Male erbittert geführt hatten, und wir bedienten uns nicht nur der gleichen Argumente, sondern derselben Ausdrücke, die uns in der Vergangenheit am überzeugendsten erschienen waren. Trotzdem sagte ich, weil ich Wichtiges ungern verschweige und dadurch in der Schwebe lasse: Die Universitäten hier sind vielleicht etwas bescheidener, dafür verlangen sie kein Geld. Mutter schreckte auf. Bezahlt man dafür? Wie viel? Dreitausend Mark pro Semester, antwortete ich. Wirklich? Stimmt das, Anna? Ja. Na und? Erstens lohnt sich das. Zweitens ist nicht ausgemacht, dass ich zahlen muss. Studenten aus weniger wohlhabenden Familien brauchen vielleicht keine Studiengebühren zu zahlen. Dann brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, du wirst umsonst studieren, sagte ich. Mutter sagte noch: Das ist sehr viel Geld, wer soll dafür aufkommen? Doch weil ständig über Wichtiges zu reden die Nerven strapaziert, fügte sie hinzu: Julia meinte, du sollst die Getränke für die Geburtstagsfeier besorgen. Saft, Limonade, zwei Flaschen … eine Flasche … steht alles auf dem Zettel hier. Wir würden vielleicht zu viert feiern, hätten wir nicht die ersten drei Monate im Wohnheim verbracht, wo man mit anderen Leuten spätestens vor der Dusche auf Tuchfühlung geht. So werden übermorgen einige neue Freunde eintrudeln und denken: Nun, er sieht aus, wie er aussieht, seine Haare werden grau, er wird schließlich nicht dreißig. Bevor ich zu den Prüfungen nach Wehnau fahre, muss ich richtig gut Deutsch können, sagte Anna. Aber ich schaffe das nicht, wenn die Regeln nicht klar sind. Im Sprachkurs heute haben wir Präpositionen durchgenommen. Sie stehen oft mit anderen Fällen als im Russischen! Das ist schlimm genug. Aber die Lehrerin behauptete auch noch, wegen stehe meist mit dem Genitiv, manchmal mit dem Dativ, gelegentlich sei das Ansichtssache. Wie? Sie soll uns sagen, was richtig ist. Kurz ist die Atempause gewesen. Der Oktober bleibt sich treu: Nässe, unwirtlicher Wind, lockende Baumalleen. Nach dem Essen sind Mutter und Anna zu einem Spaziergang in das nahe gelegene Wäldchen aufgebrochen. Welke Blätter haben sich von den Bäumen gelöst, rascheln unter den Schritten. Schön, traurig und bunt sind diese Zeit und dieses Wäldchen und sind es wert, in Augenschein genommen zu werden, selbst bei anbrechender Dunkelheit. Doch warum schloss ich mich meiner Mutter und meiner Tochter, die meinten, ein bisschen frische Luft täte auch mir gut, nicht an? Sagen wir: wegen der Nachkommen. Natürlich kann ich meiner einzigen Tochter einfach alles erzählen oder sie fragt ihre Großmutter. Indes wird sie vielleicht einmal Kinder haben, die, wenn alles gut geht, wiederum Kinder haben werden. Neugierig mögen die werden und sollen wissen, wie alles war – oder wenigstens gewesen sein könnte. Sagen wir: weil es sein muss. Weil man aus dem Bekannten kommt, ins Unbekannte geht. Das einzig Fassbare ist die Vergangenheit. Oder etwa nicht? Mein Großvater mütterlicherseits, Israel Mendel, Sohn eines Tischlers, Lehrer der Mathematik, der Geschichte und des Deutschen, zeugte zwei Mädchen und einen Jungen, die seine Frau Hannah zur Welt brachte. . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 50 Leseprobe Leseprobe Der Junge starb so früh, dass Mutter sich an seinen Rufnamen nicht erinnert. Einen Friedhof, der seinen Namen wieder vergegenwärtigte, gibt es nicht, weil die Grabsteine im Krieg beim Straßenbau verwendet wurden. Lange hatten sie in einem kleinen ukrainischen Ort gelebt. Als nach der Russischen Revolution die Rote Armee einmarschierte, wähnte sich die vierköpfige Familie ob des Machtwechsels so glücklich, dass sie westwärts floh. Der Flüchtlingsstrom ergoss sich bis nach Frankreich und Amerika, doch Israel und Hannah hielten bald in Kamenez-Podolsk, freiwillig, denn sie hatten keine weitreichenden Absichten. Ich hörte, wie Mutter die Wohnungstür öffnete, und trat zu ihr hinaus in den Flur. Die Möhren und Rosinen!, sagte sie. Die habe ich bei euch vergessen. Ich will für deinen Geburtstag einen Salat vorbereiten. Gute Nacht! Warte!, sagte ich. Um nach der Revolution nach Kamenez-Podolsk zu gelangen, seid ihr da mit einem Fuhrwerk zur nächsten Station gefahren? Liefen die Großeltern daneben und stützten die Bündel und Koffer, und auf dem Karren saßen die Tante und du? Hieltet ihr die wertvollsten Habseligkeiten fest? War es so? War es andersherum? Mutter starrte mich an, dann antwortete sie: Arthur, bist du verrückt? Woher soll ich es wissen? Ich war zwei oder drei. Warum fragst du mich das jetzt? Warum ausgerechnet Kamenez-Podolsk? Warum seid ihr nicht anderswohin gegangen, weit weg? Woher soll ich es wissen? Warum nicht KamenezPodolsk? Dein Großvater war ein sehr kluger und gebildeter Mensch. Aber was hat es uns genutzt? Wir sind immer arm gewesen. Das Leben war schwer. Aber es gab andere große Städte. In Kamenez-Podolsk haben bis zuletzt die Konterrevolutionäre gehaust. Was interessierten die meinen Vater? Sie waren bestimmt nicht mehr da, als wir hinkamen. Hat Großvater in Kamenez-Podolsk auch Deutsch, Geschichte und Mathematik unterrichtet? Nein, nur Mathematik. Er meinte, für Geschichte seien mittlerweile andere Lehrer zuständig. Und dann? Was war dann? Nach dem Krieg war ich in Kamenez-Podolsk. Mir wurde erzählt, eine Nachbarin habe deiner Großmutter, als die Deutschen einmarschierten und die Juden sich auf dem Marktplatz versammeln sollten, das Halstuch entrissen und gemeint: Das brauchst du sowieso nicht mehr. Mutter schwieg, ich schwieg. Der folgenschwere Transit eines leichten Kleidungsstücks von einem Hals zum anderen – nie wird Mutter sagen, was geschah, nachdem das Halstuch einen neuen Besitzer gefunden hatte. Für sie ist diese Enteignung Erinnerung genug, daran krallt sie sich fest und schweigt sich sonst aus. Lass mich nach Hause gehen, sagte sie. Ich bin müde. Ein im Unwetter geknicktes Bäumchen treibt Blätter, auch wenn ein Sturm naht, der es mit den Wurzeln herausreißen wird. Obwohl im fernen Deutschland jede Jüdin Sara und jeder Jude Israel als zweiten Rufnamen annehmen musste (was freilich wie ein fauler, sozusagen jüdischer Trick anmutet, die Bedeutung des Weltjudentums herunterzuspielen, indem aus vielen Juden zwei gemacht wurden), unterrichtete mein Großvater Israel Mendel in Kamenez-Podolsk Kinder. Als im Großdeutschen Reich jüdische Gebetshäuser und Geschäfte in Flammen aufgingen und Fensterscheiben klirrten, sorgten die Mendels für die kalte Jahreszeit vor, hamsterten Kartoffeln oder was sich sonst noch auftreiben ließ. Das Unheil nahte in riesigen Stiefeln, zertrat ganze Länder, aber sie versuchten, möglichst satt und warm durch den Winter zu kommen, lebten in ihrer eigenen Zeit und schlugen sich durch wie andere auch. Aber dazu sagt Mutter auch nicht viel. Als am 22. Juni 1941 der Krieg begann, Kamenez-Podolsk gleich in den ersten Kriegsstunden bombardiert wurde, flohen viele mit der Eisenbahn, auf Fuhren, zu Fuß. Israel Mendel, Lehrer der Mathematik, der Geschichte und des Deutschen, nunmehr ein alter Mann, der mit Mühe die Beine bewegte, floh nicht. Scharf geschossen wird überall und unglücklich getroffen werden kann man überall. Was hatte ein unpolitischer Lehrer schon zu erwarten? Wozu fliehenden Parteileuten und Verwaltungsbonzen nachlaufen? Warum vor den zwar nicht immer liebenswürdigen, doch selten ungerechten Deutschen Reißaus nehmen? Schnell endete der für die Rote Armee ruhmlose Kampf um die Stadt, marschierten die Deutschen ein, rollten ihre Panzer weiter nach Osten. Gespräche auf Deutsch aus dem Wohnungsfenster wird mein Großvater nicht geführt haben. Aber die Korrektheit der neuen Herren äußerte sich bald darin, dass gelbe Sterne gegen kleine Gebühr verteilt, ein Ghetto eingerichtet, Zwangsarbeit angeordnet und eine Kontribution in Höhe von 110 000 Rubel und acht Kilogramm Gold auferlegt wurde. Als in der zweiten Julihälfte Tausende Juden aus Ungarn in das Ghetto abgeschoben wurden, weitere Juden aus den umliegenden Dörfern hinzukamen, mochte dem alt gewordenen Israel Mendel schwanen, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging, seine Erfahrungen verjährt waren und die von ihm gelehrte Sprache – Deutschlehrer war er ja gewesen – zu den Eroberern gehörte wie das Fertigladen zum Gewehr. Doch für solche sprachlichen Erkenntnisse war es zu spät. In den letzten Augusttagen, zwei Monate nach Kriegsbeginn, erlöste der Höhere SS- und Polizeiführer Jeckeln mit seiner Brigade und einem Polizeibataillon den Feldkommandanten, der kundgetan hatte, dass er nicht wisse, was er mit den Juden in der Umgebung anfangen solle. An zwei Tagen wurden mehr als 23 000 Juden in Gruben bei Kamenez-Podolsk erschossen. Auch die Großmutter Hannah, der, wie es scheint, auf dem Weg zum Sammelplatz das Halstuch geraubt wurde, und der Großvater Israel Mendel und deren jüngere Tochter. Daher habe ich Mutters Verwandte nie kennengelernt. Sie ist die einzige geborene Mendel, die ich kenne. Meine Großmutter väterlicherseits kannte ich dagegen gut. Sie hatte eine Singer’sche Nähmaschine und nähte. Ihr Mann, Arthur Segal, der Vater meines Vaters, war Schuster gewesen. Mein Name ihm zu Ehren, da er im September 1940, ein Jahr vor meiner Geburt, am kranken Herzen starb. Ich kannte meine Großmutter väterlicherseits sehr gut, wir lebten lange unter einem Dach, und als ich elf oder zwölf Jahre alt war, konnte ich sie fragen: Was hast du vor meiner Geburt gemacht, Oma? . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 51 Leseprobe Leseprobe Sie antwortete auf Russisch mit jiddischem Akzent: Schwer war das Leben und traurig. Als hätte sie sich mit meiner Mutter, ihrer Schwiegertochter, abgesprochen. Doch es genügte, gemeinsam zu leben, um auf die gleiche Weise zu antworten. Eine Zeit, sagte Großmutter, gab es, da aßen hungernde Menschen die Rinde von den Bäumen. Verstehst du, so wurde gehungert, dass sie die Rinde von den Bäumen aßen. Kinder machten Jagd auf Ratten. Nicht um zu spielen, sondern um sie zu essen. Nie wurden Lebensmittel sichtbar auf offener Straße getragen, weil sie einem aus den Händen und dem Mund gerissen wurden. Oder eine Schar bettelnder Waisen mit großen Augen verfolgte dich. Arthur, wir waren arm, wir besaßen fast nichts, aber wir überstanden das, Gott sei Dank. Wir waren eine ganze Familie, dein Vater, möge er für uns beten, war da. Wenn du erwachsen bist, heirate schnell. Ich sage dir, finde schnell eine jüdische Frau und zögert nicht mit den Kindern. Zuweilen geriet ihr die Geschichte durcheinander. Sagte ich: Und die Oktoberrevolution?, bekam ich eine Begebenheit aus der Nachkriegszeit zu hören. Fragte ich nach dem Kriegsausbruch, kam sie auf das Kriegsende zu sprechen. Was soll ich erzählen?, sagte sie. Ich habe dir alles gesagt. Was ich dir zu erzählen hatte, habe ich erzählt. Das Leben war hart. Wir haben viel gearbeitet und alles verloren. Wir haben das ganze Leben lang gearbeitet, und was haben wir? Nichts, außer dieser Wohnung. Trotzdem haben uns die Antisemiten immer verfolgt. Die Ukrainer sind alle Antisemiten. Einmal stießen sie mich aus der Straßenbahn, als sie merkten, dass ich Jüdin bin. Der Waggon war überfüllt, ich stand direkt neben der Tür, zwei Banditen sagten: Jidowka, was nimmst du den Leuten den Platz weg! und stießen mich hinunter. Ach, Großmutter, sie haben dich bloß aus der Straßenbahn geworfen, aber nirgendwo hineingezwängt. Nein, das sagte ich nicht, ich fragte: Hast du dich verletzt? Gott sei Dank stand die Straßenbahn an einer Haltestelle. Und was passierte dann? Was soll passiert sein? Ich war auf der Straße. Ich kam erst zu mir, nachdem die Straßenbahn abgefahren war. Und was geschah im Waggon? Wurden die beiden bestraft? Ach wo! Die haben Beifall geerntet. Merke dir das und hüte dich vor den Ukrainern. Die Russen sind auch schlimm, aber nicht so. Selbst bei deiner Geburt! Die Schaffnerin, diese Antisemitin, ließ deine Mutter in absoluter Dunkelheit gebären. Oma, es gab einen Schimmer. Außerdem half die Zugführerin. Blödsinn! Woher willst du das wissen? Sie schrie und drohte, wenn wir Licht machten, werfe sie uns aus dem Zug. Ich würde, was ich über meine Vorfahren weiß, so zusammenfassen: Bürger ihrer Zeit, nicht hervorstechend in irgendeiner Hinsicht, getrieben von dem Wunsch nach der Verbesserung ihrer irdischen Lage, sich vor den stürmischen Zeiten duckend, unvermögend bis arm, einflusslos, manchmal an kleinen Rädchen drehend, religiös bisweilen, mehr oder weniger in der jüdischen Kultur verwurzelt und noch nicht vollkommen mit der Ausbeutung der nichtjüdischen Nachbarn vertraut. Und was ist mit wilder Liebe, komplizierten Charakteren, spannenden Verwerfungen, gemeinen Intrigen, Tulpen auf dem Dach und Rosen im Schnee? Die wird es gegeben haben, irgendwo, irgendwann. Wie gerne, neugierig, doch behutsam, holte ich Tulpen vom allerhöchsten Dach herunter, wie zärtlich grübe ich Rosen aus dem tiefsten Schnee. Ich möchte nicht mit dem Finger auf Schuldige zeigen, doch ich benenne die Verantwortlichen: Großmutter, die nie von sich aus erzählte, und Mutter, die sofort müde wird, wenn die Rede auf Kamenez-Podolsk kommt. Frage ich, verschleiert sich ihr Blick, Worte tröpfeln oder sie stellt Gegenfragen, denen ich, um eine Antwort nie verlegen, mit Gegengegenfragen begegne. Dann gibt sie ausgesuchte Ereignisse preis – immer dieselben. Mehr höre ich nicht und hake um ihretwillen selten nach. Ich bin nicht dabei gewesen, ich weiß nichts von jener Zeit, mich trifft keine Schuld. Die Geschichte vom Fleischkombinat habe ich einem Kamenez-Podolsker Archiv entnommen. Schon schreit ein Vogel. Zwei Hängebirken, Sträucher, Gras, mehr ist nicht vor unseren Fenstern. Was zieht das kleine geflügelte Wirbeltier an? Warum trumpft es ausgerechnet hier auf? Warum die mageren, bleichen Birken (schief, mit Moos bewachsen) und nicht die vor Kraft strotzende, einladende Buche vor den Nachbarfenstern? Hören Sie diese Vogelschreie? Es stört überaus, nicht?, fragte ich den Nachbarn einmal im Vorbeigehen. Warum, ich habe nie darauf geachtet, sagte er. Sollen sie singen, wenn sie wollen. Bald weicht die Dunkelheit, doch hell wird es nicht. Dieser Oktober ist kalt und dunkel und kündigt eine unwirtlichere Zeit an. Die Vögel erheben stur die Stimmen, und wenn sie keine Lust mehr haben, fliegen sie weg. Und ich bin nur ein kleiner jüdischer Sowjetbürger, der im fortgeschrittenen Alter nach Deutschland ausgewandert ist. Morgen werde ich 51. © Verlag C. H. Beck, 2015. Alle Rechte vorbehalten . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 52 Leseprobe Leseprobe Joffe, Josef: Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß! Der jüdische Humor als Weisheit, Witz und Waffe | Siedler ET: 9. März 2015 | Gebunden | ca. 240 Seiten | ca. € 19,99 | ISBN: 978-3-8275-0054-0 | Auch als E-Book erhältlich Der jüdische Witz ist aggressiv, entlarvend, selbstironisch. Seine eigentliche Pointe lautet: Ihr müsst uns gar nicht niedermachen, das machen wir selber viel besser. Und damit zeigen wir, dass wir schneller und gewitzter sind als ihr. Kundig und mit viel Esprit erzählt Josef Joffe vom jüdischen Humor: von seiner Tradition, seinen Eigenheiten, seinen Figuren, auch von antisemitischen und sonstigen Verfremdungen, nicht zuletzt von seinen Tradierungen bis in die Gegenwart. Eine deutsch-jüdische Kultur, die von Moses Mendelssohn bis zu Franz Kafka reicht und die ein Drittel der deutschen Nobelpreisträger vor 1933 hervorgebracht hat, gibt es nicht mehr, auch die osteuropäische ist verschwunden. Aber der jüdische Humor lebt. Und er funktioniert wie eh und je: das Wortspiel, die Aggression, die sich in Selbstironie auflöst, die zugespitzte, aber nicht verletzende Pointe, der schnelle Stich in die Blase der Selbstgefälligkeit, das Hangeln im Absurden, ein atemloses Tempo – die Melancholie verfliegt im befreienden Gag, das Menschlich-Allzumenschliche wird mit einer Prise Lebensweisheit serviert. Josef Joffe ist seit dem Jahr 2000 Herausgeber der ZEIT. Davor war er Ressortleiter Außenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung. Er lehrte Internationale Politik in München, an der Johns Hopkins University und in Harvard, in Stanford unterrichtet er seit 2004. Als Kenner der amerikanischen Politik veröffentlichte Joffe zahlreiche Sachbücher, zuletzt „The Myth of America’s Decline" (2013). Joffe ist Mitglied im Aufsichtsrat des Leo Baeck Institut New York, das ein reichhaltiges Archiv der deutsch-jüdischen Geschichte pflegt. In Deutschland ist er Vorsitzender des Kuratoriums des Abraham-Geiger-Kollegs an der Universität Potsdam. Gewidmet meiner Frau Christine Brinck Joffe, die klaglos meine Witze ertragen hat – auch die endlosen Wiederholungen Vorwort Der jüdische Witz – die Fortsetzung Mensch sein, heißt Geschichten erzählen. Gute Geschichten haben einen Anfang, eine Mitte und ein Ende – drei Elemente, die möglichst eng beieinander liegen sollten. Gute Geschichten mäandrieren nicht. Sie sind knapp, gradlinig und zur Pointe zugespitzt. Die besten enden im Gelächter. Das ist schon die Definition eines gelungenen Witzes. Sigmund Freud, von dem in diesem Buch noch öfters die Rede sein wird, hat es so ausgedruckt: Was der Witz zu sagen hat, erzählt er nicht bloß mit wenigen, sondern zu wenigen Wörtern. Witze haben sich die Urmenschen (Homo sapiens) wahrscheinlich schon am Lagerfeuer erzählt, nachdem sie mit ihren größeren Gehirnen vor etwa 60 000 Jahren die Neandertaler zu verdrängen begannen. So lange vor TV und Smartphone gab es kaum einen anderen Zeitvertreib. Das Leben bestand aus Essen, Jagen, Rauben, Sex – und Geschichten erzählen. Wer die Aufmerksamkeit der Gruppe auf sich lenken oder sie zum Lachen bringen konnte, kriegte Punkte nicht nur bei den anderen Kerlen, sondern auch bei den Mädchen. Hier, auf dem Weg von Afrika nach Mittelost und dann Europa, wurde der Ur-Vorläufer des Stand-up Comic geboren. Der Witz ist freilich eine mindere Form des Humors, weil er nicht dem eigenen Kopf entspringt, sondern in anderen Köpfen vorfabriziert worden ist. Er erfordert keinen Geistesblitz, der Funken sprühen lasst. Der Erzähler muss nur ein gutes Gedächtnis haben, die passende Situation erkennen und die Frechheit besitzen, die Aufmerksamkeit der Gruppe zu kapern. Das geht nicht immer gut aus. Wir kennen den Typen, der mit seinen Witzen nervt und anödet, weil sie bezugslos von der Festplatte purzeln und die Unterhaltung abtöten, statt sie zu animieren. Dennoch hat dieser Autor Zeit seines Lebens Witze ebenso gern gehört wie erzählt – das ganze Spektrum vom Wortspiel bis zur nicht-salonfähigen Sorte. Insbesondere hatten es ihm jüdische Witze angetan. Wenn die gut sind, sind sie besonders gut, weil sie Doppelbödigkeit, Ironie, Selbstironie, Verbalakrobatik und Galgenhumor mischen. Das Ganze wird serviert mit Frechheit, Selbstverspottung (wie schon Freud notierte) und Auflehnung gegen Gott und Geistlichkeit. Oben drauf kommt eine Portion des Absurden und scheinbar Widersinnigen. Wenn er richtig gut ist (und es gibt reichlich platte Beispiele), ist der jüdische Witz so geistreich wie weise – und mit garantiertem Gelächter. . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 53 Leseprobe Leseprobe Nach Aberhunderten von Witzen begann der Autor darüber nachzusinnen, wie man die „mündliche Überlieferung" zu Papier zu bringen könne. Doch rasch wurde ihm klar, dass es beim reinen Aufschreiben nicht bleiben konnte. Denn: So mancher jüdischer Witz erfordert eine (leider pointentötende) Erklärung, die sich auf den kulturellen Kontext bezieht – auf Ritus und Speisegesetze, auf das Verhältnis zu Gott, Glauben und Religion. Wenn man schon Witze erklären muss (eine Todsünde), warum nicht umgekehrt mit Witzen die Kultur und Religion begreiflich machen – umso mehr, als ein jüdischer Witz ein ganzes TheologieSeminar in ein paar Satze fassen kann? Also macht dieses Buch aus der Not eine Tugend, indem es Witze als spielerische Einführung ins Judentum nutzt, das den meisten deutschen Lesern unvertraut ist. Unvertrautheit trifft inzwischen mehr und mehr auch für das Christentum zu. Vor zwei Generationen kannte fast jeder das Neue, aber auch das Alte Testament; die Bibel war das einigende Band zwischen „oben" und „unten", Stadt und Land, Nord und Sud. Heute kann man nicht mehr auf diese Kenntnisse zahlen. Wie viele kennen noch das Gleichnis vom Weinberg? Oder, wie der Autor einer TV-Umfrage entnahm, den Unterschied zwischen „Golgatha" und einer bekannten Zahnpasta. Ein zweiter, noch wichtigerer Gesichtspunkt kam hinzu. Zwar gibt es reichlich Jüdische-Witze-Sammlungen auf Deutsch. Aber diese schöpfen aus inzwischen verschütteten Quellen: der untergegangenen jüdischen Kultur Osteuropas und Russlands. Die klassischen Witze, die immer wieder auftauchen, haben sozusagen einen Bart, auch die allerbesten. Außerdem: Selbst Juden kennen die alte Welt nicht mehr, die bevölkert war von Schnorrern und Schadchen (Heiratsvermittlern), Fuhrleuten und Hausierern, Wunderrabbis und Zweiflern, Zaren, Butteln und Gutsherren. Folglich konnte es im 21. Jahrhundert bei den alten Witzen nicht bleiben; neue Quellen mussten angezapft werden. Manche klassischen Witze sind zwar zeitlos oder lassen sich weitgehend getrennt von ihrem historischen Hintergrund erzählen. Aber der lebendige jüdische Witz hat inzwischen eine neue, eine anglophone Heimat gefunden, vorweg in Amerika, gefolgt von Großbritannien und Kanada. Kein Wunder. In der EU leben etwa 1,1 Millionen Juden, um 1900 waren es in Europa inklusive Russland neun Millionen. In der anglo-amerikanischen Welt wohnen nunmehr knapp sieben Millionen Juden; rechnet man Menschen jüdischer Herkunft hinzu, die keine oder eine andere Religion haben, werden es (geschätzt) 9,5 Millionen. Dazu kommen knapp sieben Millionen in Israel, welche die kaum beantwortbare Frage aufwerfen, ob die nun „jüdischen" oder „israelischen" Humor produzieren (davon mehr im Haupttext). Der anglophone jüdische Humor, der in diesem Buch viel Raum einnimmt, ist in der Moderne des 20. und 21. Jahrhunderts zu Hause – nicht mehr im Ghetto, sondern in den großen Städten von New York Uber Montreal bis London und deren grünen Vororten. Die Figuren und Situationen sind neu, die Strukturen bleiben aber „jüdisch"; was das ist, wird im Anfangskapitel ausgebreitet. Auf jeden Fall hat die größte jüdische Gemeinde auf Erden dem alten Kanon reichlich neue Kapitel hinzugefugt. Aus diesem Grund versucht dieses Buch etwas Neues im deutschen Sprachraum anzubieten, und nicht nur einen Aufguss jener Klassiker, welche die vielen deutschen Sammlungen bevölkern. Der Autor zehrt dabei von seinen langen Aufenthalten in den USA, wo er studiert, geforscht und gelehrt hat. Typisch „amerikanisch" sind zum Beispiel die Witze Uber die „Jewish Mother", die im alten Europa so gut wie keine Rolle spielte. Typisch sind auch die Witze, die um Aufstieg, Assimilation und Entfremdung vom Judentum kreisen, obwohl deren Wiege in der deutschsprachigen Moderne des frühen 20. Jahrhundert stand. In Berlin, Wien, Prag und Budapest begannen die Juden das Bethaus mit Kanzlei, Buhne, Schreibtisch und Ordinationszimmer zu vertauschen – und eine neue Kultur zu begründen. Dieses Buch will sozusagen „Der jüdische Witz – die Fortsetzung" sein, also die alteuropäische Tradition mit der anglo-amerikanischen Neuen Welt verknüpfen. Der jüdische Witz ist nicht tot, wie der Verlust der alten Heimat vermuten ließe. Er hat nur seinen Wohnort und seine Sprache gewechselt. Der Weg über Atlantik und Kanal hat ihm nicht geschadet. Der Umzug hat den jüdischen Witz befruchtet und beflügelt. Die Fortsetzung ist ein neuer Baum auf dem Boden des Vertrauten. Josef Joffe Frühjahr 2015 . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 54 Leseprobe Leseprobe Kapitel 1 Vom osteuropäischen Schtetl zur amerikanischen Sitcom Das Wesen des jüdischen Humors Warum noch ein Buch über den jüdischen Witz? Amazon bietet über 50 Bande auf Deutsch an. Auf Amazon-Englisch sind es 220. Die beste Antwort liefert ein jüdischer Klassiker: „Warum muss ein Jude eine Frage immer mit einer Gegenfrage beantworten?“ – „Warum denn nicht?" Die simpelste Antwort auf die Frage „Warum noch ein Buch über den jüdischen Humor?" wäre demnach „Warum denn nicht?" Es gibt offenbar einen bleibenden Bedarf, selbst in Deutschland, wo im Vergleich zur Vor-Nazizeit kaum noch Juden leben. Offiziell sind es hunderttausend Gemeindemitglieder; vor 1933 waren es rund sechshunderttausend – in bedeutend sichtbareren Positionen als heute: Journalismus und Literatur, Theater und Film, Forschung und Lehre, Politik und Wirtschaft. Eine deutsch-jüdische Kultur, die von Mendel(s)sohn (dem Komponisten wie dem Architekten) bis zu Freud, Kafka und Zweig führt und ein Drittel der deutschen Nobelpreisträger vor 1933 gezeugt hat, gibt es nicht mehr, die osteuropäische, den Urquell des jüdischen Humors, auch nicht. Aber der jüdische Witz lebt. Dieses Buch enthalt nicht nur unverzichtbare Klassiker, sondern auch neuere Witze. Manchmal werden sie richtig, öfter falsch erzählt, wobei das „Jüdeln" – was manche für Jiddisch halten – zum peinlichen Pointenkiller gerat und das Gegenteil von Vertrautheit signalisiert. Außerdem: So mancher jüdischer Witz ist keiner, sondern entstammt dem Ur-Schatz der Menschheit. Deshalb will dieses Buch versuchen, nur echte jüdische Witze vorzulegen – was, etwas hochtrabend, eine Art Theorie des jüdischen Humors erfordert. Wie unterscheidet sich dieser von Humor als solchem? Was macht ihn aus? Was ist der Unterschied zwischen einem jüdischen und einem Judenwitz, der zur antisemitischen Gattung zu rechnen ist, also mit uralten Vorurteilen Uber Juden arbeitet? Zum zweiten will dieses Buch versuchen, auf spielerische, „witzige" Art und Weise das Wesen des Judentums auszuleuchten: das Verhältnis zu Gott, Glauben und Ritus. Das Judentum ist zwar die Mutter der beiden weitaus größeren Buchreligionen, aber in Deutschland so gut wie unbekannt, weil es hier anders als in Amerika, England und Frankreich kaum noch Juden gibt. Vor 1933 machten Juden fast ein Prozent der deutschen Bevölkerung aus; heute sind es ein achtel Prozent (oder ein viertel, rechnet man die geschätzte Zahl der Nicht-Gemeindemitglieder dazu). Noch unvertrauter ist jedoch der Islam, und selbst das Christentum – mit Athen, Rom und Jerusalem eine Mutter der westlichen Kultur – nimmt hierzulande immer weniger Raum im kollektiven Bewusstsein ein. Deutschland, ja Europa (abzüglich Polen und Irland) „entchristianisiert" sich. Wer kennt sich noch halbwegs in der Bibel aus, ohne die man die Hälfte der Kunst, Musik und Architektur, auch einen Großteil der Literatur – Dostojewski, Joyce, Mann – nicht verstehen kann? Selbst ein durch und durch verweltlichter Dichter und AgitpropGenie wie Bertolt Brecht antwortete auf die Frage, welche Literatur ihn am stärksten inspiriert hatte: „Sie werden lachen, die Bibel." Jüdische Witze Uber Gott und Rabbiner, Speisegesetze und Riten fugen sich nebenbei zum „Religionsunterricht" zusammen. Die gut gesetzte Pointe transportiert im Lachen das Ernste wie das Ernsthafte, sei’s die jüdische Conditio humana, sei’s der schwierige Umgang mit einem Gott, der sich zum christlichen so verhalt wie ein gelegentlich strenger, aufbrausender und unberechenbarer Vater zu einer stets gütigen, verzeihenden Mutter. Was wäre denn ein echter jüdischer Witz? Vor gar nicht allzu langer Zeit erzählte ein bedeutender deutscher Verleger während der Grabrede für einen alten jüdischen Freund einen jüdischen Witz, der keiner ist: Ein Jude kommt allabendlich in die Bar und bestellt zwei Whiskys, die er nacheinander austrinkt. Irgendwann fragt ihn der berätselte Barkeeper, warum er nicht gleich einen Doppelten bestelle. Der Gast klärt ihn auf: „Mein Freund und ich sind Kriegskameraden. In einem fast tödlichen Hinterhalt haben wir einander geschworen, nur noch zu zweit zu trinken, wenn wir lebend davon kämen. Also bestelle ich immer zwei Drinks, und er macht das Gleiche ein paar Tausend Kilometer weiter." – „Verstehe", murmelt der Barkeeper und serviert den nächsten Whisky. Ein paar Wochen später ordert der Stammgast nur einen Whisky. „Was ist los", fragt der Barmann, „ist Ihr Freund etwa gestorben?" – „Nein, nein, um Gotteswillen. Aber in der Gemeinde haben sie mir ins Gewissen geredet, und deshalb habe ich aufgehört zu trinken. Er darf natürlich weiter trinken." Das ist kein jüdischer Witz, wie gleich erklärt werden soll, sondern ein irisch-katholischer Klassiker, der so lauft: Paddy bestellt regelmäßig drei Pint Guinness, setzt sich in eine Ecke, wo er nacheinander jeweils einen Schluck aus den drei Gläsern nimmt. Nach einigen Wochen überwältigt Neugier die Diskretion, und der Barkeeper fragt: „Sie wissen doch, dass Bier abgestanden schmeckt, wenn es nicht frisch getrunken wird. Warum bestellen Sie nicht ein Glas nach dem anderen?" – „Sie haben Recht, aber die Sache ist so: Ich lebe hier in Dublin, meine beiden Brüder leben in Boston und Melbourne. Wir haben einander versprochen, immer zu dritt zu trinken. Also trinke ich ein Bier für mich selber und die beiden anderen für meine Brüder. Die machen es genauso." 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 55 Leseprobe Leseprobe Eines Tages bestellt Paddy nur zwei Guinness. Der Barkeeper setzt eine ernste Miene auf: „Ich will nicht Ihre Trauer stören, aber nehmen Sie bitte mein Beileid entgegen." Paddy blickt verwirrt, dann lacht er: „O nein, nicht was Sie denken – kein Todesfall. Wir sind aber gerade in eine Baptistengemeinde eingetreten, und da hat meine Frau mir den Alkohol verboten. Das gilt aber nicht für meine beiden Brüder." Die irische Version stimmt; der Paddy-Witz ist ein katholischer Seitenhieb gegen den angelsächsischen Protestantismus, vor allem gegen die gestrengen Baptisten, eine Speerspitze der amerikanischen Prohibition. Das Judentum hingegen, anders als der Islam oder manche protestantische Gemeinschaft, achtet Alkohol nicht. Im Gegenteil – Wein in Maßen ist integraler Bestandteil des Rituals, und weil Alkoholgenuss kein Tabubruch ist, gibt es auch kaum jüdische Besäufnis-Witze. Zu Pessach, das den Auszug aus Ägypten feiert und aus dem das christliche Ostern wurde, müssen während des Seder-Mahls* vier Glaser Wein getrunken werden. In diesem Fall symbolisiert der Wein, der Sklaven vorenthalten wurde, die wiedergewonnene Freiheit. Vorgeschrieben ist auch das erste Glas Wein, das zusammen mit dem Gebet das Sabbat-Mahl am Freitagabend einläutet. Während des PurimFestes, das mit dem christlichen Karneval zusammenfallt und mit diesem gewiss den gemeinsamen heidnischen Ursprung in der Tagundnachtgleiche teilt, ist Alkoholgenuss bis zur Trunkenheit geradezu Pflicht (im Fasching ist es keine Pflicht, aber Sitte). Das Besäufnis markiert die Freude über die Rettung der Juden vor der Vernichtung durch den persischen Erzschurken Haman, der als erster Minister unter Ahasveros (Xerxes) diente. Wir werden im Lauf dieses Buches öfter auf den Unterschied zwischen echten und sogenannten jüdischen Witzen zurückkommen. Vorweg aber eine nicht minder gravierende Frage: Gibt es denn überhaupt noch neue jüdische Witze? Witzologen behaupten, es existiere ohnehin nur ein Dutzend „Urwitze", die seit Jahrhunderten um die Welt wandern; die Abertausende von anderen seien Fußnoten und Variationen – so, wie laut Alfred North Whitehead alle Philosophie seit zweitausendfünfhundert Jahren bloß Fußnoten zu Platon seien. Richtig ist, dass die meisten jüdischen Witze einer langst untergegangenen Kultur entstammen. Diese hatte sich nach den Kreuzzügen und den Vertreibungen der Juden aus Deutschland, England, Frankreich und Spanien in einem weiten, nach Osten ausgreifenden Bogen entfaltet. Im 16. Jahrhundert beherbergte Polen die größte jüdische Gemeinde Europas. Warschau, Wilna (Vilnius, die Hauptstadt Litauens) und Krakau waren Zentren des jüdischen Lebens. Es ging weiter nach Osten und Südosten: nach St. Petersburg in Russland, Kowno im heutigen Belarus, Czernowitz in der Bukowina, Lemberg und Odessa in der Ukraine. Diese „Produktionsanlage" ist ein für alle Mal geschlossen, aus den bekannten Gründen. Die Restbestände der jüdischen Kultur fielen im Kommunismus der Flucht zum Opfer, dann, nach dem Kollaps der Sowjetunion, der Massenauswanderung. Und trotzdem: Die Herstellung lauft weiter, hauptsächlich in Amerika. Hier darf man inzwischen mit nur gelinder Übertreibung behaupten, dass der Humor ein jüdischer ist: verbal, aggressiv, selbstironisch – ein Genre, das mit scharfer Pointe das Absurde in der Conditio humana aufspießt und zugleich im wohligen Gelächter auflöst. Weil die größte jüdische Gemeinschaft seit dem Holocaust inzwischen anglo-amerikanisch ist (sieben Millionen in den USA und in Kanada, rund eine halbe Million in Großbritannien), tauchen in diesem Buch zahlreiche Witze aus dieser neuen Welt auf. Die „Witzfabrik" ist von Europa über den Kanal und den Atlantik gewandert, wo zwar bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Diskriminierung und gesellschaftliche Ausgrenzung herrschten, aber weder Unterdrückung noch Verfolgung. Die Grundstruktur ist die alte, die Lebenswelt eine neue. In der angloamerikanischen Welt fehlen Zar und Gutsherr, Wunderrabbi und Schadchen (Heiratsvermittler), Pogrom und mörderischer Judenhass. Die Witze handeln stattdessen von Assimilation und Aufstieg, von Neureichen und Emporkömmlingen, vom Verlust des Glaubens und Familienzusammenhalts in einer Welt, in der das Ghetto nicht aufgezwungen und bald, im Laufe des Aufstiegs, auch nicht mehr selber gewählt wurde. Die historische Quelle des jüdisch-amerikanischen Humors im 20. Jahrhundert war der sogenannte „Borscht Belt" („BorschtGürtel") in den Catskill-Bergen von New York. Bis in die sechziger Jahre zogen Generationen von Einwanderern mit ihren Familien von New York und Ostküste in die Sommerfrische der Catskills, um in der Natur Sentimentales aus dem „Old Country" und Witze über ihre neue Heimat zu genießen. Das ist vorbei, weil Ausgrenzung wie Selbstausgrenzung weitgehend verschwunden sind, und damit auch die Reibungsflächen, an seinerzeit legendäre Ferienanlagen wie Grossinger’s und Kutsher’s sind seit Jahrzehnten geschlossen. Amerikas Juden sind langst angekommen; auf die Ferienghettos von gestern sind sie nicht mehr angewiesen. Heute verbringt die Mittelschicht ihren Urlaub in Naples und Boca Raton in Florida, die Geldelite in den Hamptons auf Long Island, auf Martha’s Vineyard bei Boston und in Aspen, Colorado, wo überall die Preise dezidiert hoher liegen. Der Grundstein des jüdischamerikanischen Humors jedoch wurde im Borscht-Gürtel gelegt. Hier begannen die Karrieren von Woody Allen, Mel Brooks, Billy Crystal, Jerry Lewis, den Marx Brother, Danny Kaye oder Henny Youngman, von dem übrigens der beste Kommentar zum Verhältnis der Generationen stammt: „Warum vertragen sich Großeltern und Enkel so gut? Weil sie denselben Feind haben." ------------------------* Das Seder-Mahl mutierte im Christentum zum Abendmahl. So zeigen die großen Gemälde von Leonardo, Tizian und Rubens Jesus mit den Aposteln beim Pessach-Seder, dem Letzten Abendmahl. Im christlichen Ritual ist das ungesäuerte Brot (Mazze, etwa zwanzig mal zwanzig Zentimeter groß) als Hostie symbolisch zum Leib Christi, der Wein zum Blut des Erlösers geworden. Laut der biblischen Legende hatten die Israeliten bei der Flucht aus Ägypten nicht mehr die Zeit, um den Teig mit Hefe zu versetzen. In der Eile wurde offensichtlich auch der weltliche Cracker geboren. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 56 Leseprobe Leseprobe Schnell, böse und dennoch weise – mit garantiertem Gelächter. Dieser Humor ist zum amerikanischen geworden, bei Juden und Christen, Schwarzen, Braunen und Weisen. Und wir kennen ihn hierzulande, ohne den Ursprung zu erkennen. Denken wir nur an die Sitcoms, die auch in Deutschland laufen: Friends, How I Met Your Mother, The Big Bang Theory, Two-and-a-Half Men, Cheers, Der Prinz von Bel Air (die im afro-amerikanischen Milieu spielt), Chaos City, Scrubs – Die Anfänger, Ally McBeal. In all diesen Serien tauchen zwar jüdische Schauspieler auf, aber selten Juden als solche, und doch ist der Humor, wenn man so will, jüdisch. Die hervorstechende Ausnahme ist Die Nanny, eine Serie aus den Neunzigern, die heute im deutschen Fernsehen gezeigt wird und in der jüdische Figuren im Zentrum stehen. Die Hauptfigur ist Miss Fine, ein Kindermädchen aus dem jüdischen Kleinbürgertum von Queens, das an der Upper East Side drei blonde Oberschichtenkinder betreut. Sie übertreibt und verhohnepiepelt ihre „typisch jüdischen" Eigenschaften, während sie gleichzeitig über WASP-Eigenheiten herzieht – und selbstverständlich die besten Spruche kriegt. Apropos WASP („Wespe"), die alte Elite der „White Anglo-Saxon Protestants", ein Wortspiel, wo die Pointe nur auf Englisch funktioniert: Zwei Bienen treffen sich zufällig im Central Park, und die eine stöhnt: „Ich habe seit Tagen kein Futter mehr gefunden. Ich sterbe vor Hunger." Die andere: „Kein Problem. Flieg rüber zur Ostseite des Parks, 62. Straße und Fifth Avenue. Da läuft gerade eine prächtige jüdische Hochzeit – Blumen, Kuchen und Süßigkeiten in Hülle und Fülle, mehr als ein ganzes Bienenvolk je essen könnte.„ Zwei Stunden später kommt der Kamerad glücklich zurück: „Es war herrlich – wie du es versprochen hast. Ich bin bis zu den Fühlern vollgestopft." Da unterbricht ihn der Freund: „Was ist das für eine kleine Kappe, die du auf dem Kopf hast." – „Das ist eine Kippa." – „Wieso trägst du die?" – „So they would not think I was a WASP." Ob in Nanny, How I Met Your Mother oder Seinfeld, das Prinzip ist stets das gleiche: das Wortspiel, die Aggression, die sich in Selbstironie auflöst, die zugespitzte, aber nicht verletzende Pointe, der schnelle Stich in die Blase Selbstgefälligkeit, das Hangeln im Absurden, das atemlose Tempo der Gags*, die Beleidigung, die im Wortwitz verdampft. Die Melancholie verfliegt im befreienden Gag, das Menschlich-Allzumenschliche wird mit einer Prise Lebensweisheit serviert. Gelacht wird mit- und übereinander, nicht über den Trottel, der über seine eigenen Füße oder vom hohen Ross fallt wie bei Laurel und Hardy (Dick und Doof). Juden lachen hauptsächlich sich selber aus. Der Erste, der das Prinzip des Sich-selbst-auf-den-Arm nehmen in gelehrter Sprache analysiert hat, war Sigmund Freud in seinem Buch Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Uber die „Theorie" des jüdischen Humors wird noch zu reden sein. Zuerst die kritische Unterscheidung zwischen „Judenwitz" und „jüdischem Witz". Der Judenwitz ist ein antijüdischer Witz, weil er klassische Vorurteile über die Juden bestätigt, etwa über ihre Geldgier, Anatomie oder ihr Hygiene-Defizit. Zwei Beispiele: Ein Jude trifft einen anderen nach einem Jahr im Badehaus wieder und begrüßt ihn: „So schnell sieht man sich wieder.„ Frage: Warum haben Juden so große Nasen? Antwort: Weil Luft umsonst ist. Das sind keine jüdischen Witze; ihre Funktion ist die Reproduktion antisemitischer Klischees.* Der Bad-Witz unterstellt den Juden mangelnde Sauberkeit. Dies ist umso erstaunlicher, als dass das ständige Waschen integraler Teil des Rituals ist, das schon im Buch Levitikus eingefordert wird. Waschen ist Pflicht vor und nach dem Essen sowie vor dem Gebet. Nach der Menstruation müssen gläubige Frauen in die Mikwe, das rituelle Tauchbad, wo das Wasser fliessen muss und nicht stehen darf. Sauberkeit ist sozusagen eine jüdische Obsession. Echte jüdische Witze im Wasser-und-Bad-Segment laufen als Wortspielereien: Am Hotelempfang: „Wünscht der Herr ein Zimmer mit fließend Wasser?" – „Wieso? Bin ich eine Forelle?" „Hast Du ein Bad genommen?" – „Wieso? Fehlt denn eines? ------------------------* Hier muss ein kleines Denkmal für Henri Regnier, den großen Unterhaltungschef des NDR, gesetzt werden, der sozusagen ein Anhänger des jüdischen Prinzips war: „Es gilt", dozierte er, „den Knochen kurz hoch zu halten und gleich wieder fallen zu lassen" – also die Pointe nicht durch endloses Herumnagen abzutöten. * Ein anschauliches Beispiel bietet der große preußische Kriegsphilosoph Carl von Clausewitz, der aus Litauen von Juden berichtet, die „wie Ungeziefer in Schmutz und Elend wimmeln". Er wünschte sich ein „Feuer", damit „dieser Schmutz von der reinlichen Flamme in reinliche Asche verwandelt wurde" (Militärische und politische Schriften, „Aus Briefen 1812: In russischen Diensten"). 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 57 Leseprobe Leseprobe Der Nasen-Witz ist ebenfalls kein jüdischer, sondern ein anti-jüdischer, der rassistische Klischees aufnimmt. Den richtigen, hier gerafft wiedergegeben, erzählt Friedrich Torberg in seinem unnachahmlich geistreichen Buch „Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten" Ein Reisender aus Wien, der mit Judentum nichts mehr am Hut hat und noch weniger mit der englischen Küche, erspäht 1930 in London ein koscheres Restaurant. Es serviert jene jüdische Kost, die so eng mit der mitteleuropäischen verwandt ist. Durch und durch assimiliert, bestellt der Jude aus purer Sentimentalität einen Rindsbraten, wie er ihn aus der Heimat kennt, und zur Abrundung einen Käse. Der Kellner bedauert: „Sorry, Sir, wir sind streng koscher, und milchig und fleischig dürfen nach dem Speisegesetz nicht gemischt werden" (sozusagen eine frühe Version der Trennkost). – „Aber der Herr am Fenster hat doch auch einen Braten, dann Käse bekommen." – „Gewiss doch", flötet der Kellner, „aber der ist kein Jude, deshalb gilt das Gesetz für ihn nicht." – „Ich", entgegnet der Wiener, „bin es auch nicht." Woraufhin der Kellner den Chef holt, der im Anmarsch sein Käppchen zurechtrückt und einen bohrenden, wütenden Blick auf das Gesicht des Gastes wirft. Dann schießt sein Finger nach vorn, zu dessen Nase: „No cheese!" Auch hier gibt die „typisch jüdische" Nase die Pointe her, aber der Unterschied zum Judenwitz ist so breit wie die Themse. Die Geschichte nimmt das Vorurteil ins Visier und auf den Arm. Sie macht sich lustig über die eigenen Glaubensgenossen, die für ein Stück Käse ihre Identität verleugnen, ihr aber nicht entfliehen können. Auf der zweiten Ebene aber verspottet die Anekdote die Antisemiten. Statt das Stereotyp zu entkräften – etwa: „Auch Christen haben krumme Nasen" –, wird es übernommen und umgedreht, um Unverwundbarkeit und Überlegenheit zu beweisen. Die Botschaft: „Ihr könnt uns gar nicht treffen, das machen wir selber viel besser."* So auch der knappe böse Witz über den Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF), einen besonders patriotischen Verein, der 1919 gegründet wurde, um antijüdische Hetze über Feigheit und Drückebergerei im Ersten Weltkrieg auf gründlich-deutsche Weise zu widerlegen – also mit Fakten wie dem, dass 85 000 deutsche Juden gekämpft hatten und 12 000 gefallen waren. Sein Motto: „Der RjF sieht die Grundlage seiner Arbeit in einem restlosen Bekenntnis zur deutschen Heimat. Er hat kein Ziel und kein Streben außerhalb dieser deutschen Heimat und wendet sich aufs schärfste gegen jede Bestrebung, die uns deutsche Juden zu dieser deutschen Heimat in eine Fremdstellung bringen will." Es hat bekanntlich nicht viel geholfen. Deshalb dieser böse Witz, wonach der RjF – wahlweise auch der „Verband nationaldeutscher Juden" – Plakate geklebt hatte, auf denen stand: „Raus mit uns!" Oder: „Nieder mit uns!“ Zum Unterschied zwischen Judenwitz und jüdischem Witz lese man Friedrich Torbergs fulminanten Verriss von Salcia Landmanns „Der jüdische Witz“, eines Bestsellers, der 1960 erschienen und inzwischen in die vierzehnte Auflage gegangen ist. Der Essay tragt den Titel „Wai geschrien! Oder: „Salcia Landmann ermordet den jüdischen Witz" und wurde zum ersten Mal im Oktober 1961 in Der Monat veröffentlicht. Er gipfelt in dem akribisch belegten Vorwurf, sie habe neben echten jüdischen Witzen (unbewusst) auch viele antisemitische Witze gesammelt, diese aber nicht richtig erzählen können (was leider manchmal auch zutrifft). Viele Beispiele, so Torberg, dienten dem Beweis, „dass die Juden betrügerisch und geldgierig sind, verlogen und verschlagen, schmutzig und unappetitlich, dummdreist und ungebildet, Gefühlsrohheit und wehleidig, pietätlos und taktlos, feig und wasserscheu …" Es handele sich demnach um Judenwitze. Gerade deshalb, steigert sich Torberg, „ist das Buch ein Erfolg geworden, weil es antisemitisch ist, weil es den Vorstellungen entgegenkommt, die sich ein deutscher Durchschnittsbürger von den Juden macht". Ohne dass dieser, so fügt er hinzu, ein eingefleischter Judenhasser, geschweige denn ein verkappter Nazi wäre. Allein die „typisch jüdischen" Namen, die Landmann benutzt! Torberg zählt sie alle auf: Fleckseif, Katzenschein, Bruchband, Mehlklos, Wasserfleck, Grünschwanz, Quadratstein, Vogeldreck, Sonnenstich, Papierkragen, Wassergeruch… Nomen ist hier nicht bloß Omen, sondern Diffamierung. Dieses Buch verzichtet deshalb weitgehend auf sogenannte jüdische Namen, obwohl es die selbstverständlich gibt: von Kohn und Levi, den Hohe und gewöhnlichen Priestern im alten Tempel, über eine ganze Reihe von Steinen, Bergen und Baumen zu Städten: Rubinstein, Goldstein, Eisenstein; Goldberg, Silberberg; Mandelbaum, Citrinbaum, Birnbaum; Breslauer, Berliner, Frankfurter, Prager … Ein richtig jüdischer Witz, der sich über jüdische Namen lustig macht, lauft so: Im Zug stellt sich ein Spross des baltischen Uradels commentgemäß einem jüdischen Reisenden vor: „Ich heiß UngernSternberg." Der Jude: „Das glaube ich Ihnen.“ Alle Rechte bei und vorbehalten durch Siedler Verlag, München ------------* Der klassische Versuch der Entkräftung findet sich in Shakespeares Der Kaufmann von Venedig, wo Shylock deklamiert: „Wen ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?" 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 58 Leseprobe Leseprobe Hellmuth Karasek: Das find ich aber gar nicht komisch. Geschichte in Witzen und Geschichten über Witze Quadriga Verlag | ET: 12. März 2015 | Hardcover | ISBN: 978-3-86995-075-4 | Auch als E-Book, Hörbuch + Audio-Download Warum erzählt man (einander) Witze? Wo erzählt man sie, wann und wann nicht? Warum lacht man über manche Witze, und warum lacht man nur eine bestimmte Zeit über sie? Vor allem aber: Wie erzählt man Witze? In welchen Situationen entstehen sie? Hellmuth Karasek war mehr als ein Jahrzehnt Mitstreiter von Marcel ReichRanicki im Literarischen Quartett, zehn Jahre Ratefuchs in Günther Jauchs legendärer 5 Millionen SKL-Show und Witze-Duellant in zahlreichen Auftritten mit Eckart von Hirschhausen. Sein Buch „Soll das ein Witz sein?“ hat er mit seinem Publikum erprobt und dabei vor allem Witze erzählt. Dabei entstand ein erstaunlicher Dialog, auch in Witzen. Eine Reise durch die weite Welt des Komischen. Ein Buch, das Spaß macht. Kein Witz. Hellmuth Karasek, geboren 1934 im tschechischen Brünn, leitete mehr als 20 Jahre lang das Kulturressort des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, war Herausgeber des „Berliner Tagesspiegels“ und ist jetzt Kolumnist und Autor von „Die Welt“ und der „Welt am Sonntag“. Zu seinen Büchern gehören u.v.a. „Billy Wilder. Eine Nahaufnahme“, „Go West!“, die Autobiografie „Auf der Flucht“ und „Soll das ein Witz sein?“. STATT EINES VORWORTS: VON KANT ZUM ELEFANT Pünktlich zum Jahreswechsel wählte die Welt am Sonntag in ihrem ersten Themenbuch zum neuen Jahr das Thema „Wie lustig sind die Deutschen?“. Sind wir zu Recht weltweit für unsere Humorlosigkeit verschrien, oder ist dies ein dumpfes Vorurteil? Sind wir wirklich die Nation, die zum Lachen in den Keller geht, die sich auf die fünfte Jahreszeit des Karneval bezieht und sonst den Kabarettisten ihr Lachbedürfnis anvertraut? Der Lachsack seligen Angedenkens ist schon eine Weile außer Gebrauch. Eckart von Hirschhausen brach für den deutschen Humor in einem langen Interview eine Lanze. Ich hatte das Glück, mit Eckart von Hirschhausen einen gemeinsamen Abend unter dem Titel „Ist das ein Witz?“ zu bestreiten. Die Premiere war in Berlin, in der Bar jeder Vernunft, und Hirschhausen tat, was er in fast allen seinen öffentlichen Veranstaltungen macht: Er ging am Schluss ins Publikum und sammelte dort Witze ein. Auf diese Weise hatten wir ein schönes Feedback und lösten die Einseitigkeit des Witzeerzählens von der Bühne herab zu einer Art kommunikativem Stammtisch auf, jedenfalls in Ansätzen. Damals war Günther Jauch im Publikum, meldete sich im Auftrag von seinem und meinem Freund Marcel Reif zu Wort, um einen neuen Witz beizusteuern. Seit einigen Jahren gehen Günther Jauch, Marcel Reif und ich, unsere Frauen und ein befreundetes Ehepaar von Jauch im Sommer an einem gemeinsamen Abend auf Sylt essen, und das endet zwangsläufig, möchte ich fast sagen, im Witzeerzählen. Die Witze spiegeln sicher auch unsere Gemütslagen, Zeitstimmungen und persönliches Ungemach und Gemach wider. In Berlin also war es der folgende Witz, den Jauch uns öffentlich erzählte: Ein Mann in einer Bar. Er hat einen Hund bei sich, den er auf den Tresen setzt. Der Barkeeper bringt dem Mann einen Drink und setzt vor dem Hund einen Blechnapf mit Wasser hin. Der Gast bedankt sich entschuldigend, indem er sagt: „Ich musste meinen Hund auf den Tresen setzen, er hat leider keine Beine.“ Der Barkeeper zeigt, auch um seine Verlegenheit zu überbrücken, mit der Frage „Wie heißt denn Ihr Hund?“ Anteilnahme. „Ach“, sagt der Mann, „der Hund hat auch keinen Namen, denn wenn ich ihn rufe, kommt er ja ohnehin nicht.“ Darauf schiebt der Barkeeper, noch verlegener, die Frage nach: „Was machen Sie denn so mit Ihrem Hund?“ Und der Mann antwortet: „Um die Häuser ziehen.“ Eckart von Hirschhausen erzählt den Witz viel, viel kürzer und allgemeiner. Bei ihm lautet der Witz so: Was macht man mit einem Hund ohne Beine? Antwort: Um die Häuser ziehen. Hirschhausen, so habe ich daran gemerkt, kommt es auf die knappe, kurze, kahle Pointe an. Für mich sind Witze eher Erzählungen, die eine Atmosphäre schaffen. Die Atmosphäre des Bar-Witzes ist die vom einsamen Mann, der am Tresen seinen Kummer mit einem oder mehreren Drinks löscht. Es ist der Kummer der Einsamkeit. In einer bestimmten Zeit galten Bartender als die Tröster, Beichtväter und Gesprächspartner der einsamen Trinker. Am schönsten kommt das in dem Frank-Sinatra-Lied One for my baby and one for the long, long road zum Ausdruck. Der Witz hat eine Beckett’sche Stimmung. Becketts Figuren und Helden sitzen sozusagen beinlos in Urnen oder in Sandbergen eingegraben, die Heldin des Stücks Glückliche Tage steckt bis zum Hals in einem Sandberg, kann sich kaum bewegen, blinzelt aber der Sonne zu und sagt: „Das wird wieder ein glücklicher Tag gewesen sein.“ Womit sie den Sonnenuntergang meint, den sie genauso reglos wie den Sonnenaufgang erlebt hat. Um die Häuser ziehen, das ist die entsprechende Beckett-Pointe dieses in Wahrheit trostlosen Witzes, der mit seiner absurden Trostlosigkeit Solidarität und Trost für alle einsamen Bar-Hocker liefert. . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 59 Leseprobe Leseprobe Wie gesagt: Ich habe den Witz als Erzählform für mich entdeckt, als eine eigene literarische Gattung, ähnlich wie das Volkslied und das Volksmärchen anonym, und natürlich gibt es sowohl gute wie schlechte Erzählungen, aber immer hat der Witz die Aufgabe, in einem Erzählkreis soziales Mitgefühl zu stiften und dem meist traurigen Anlass wenigstens ein fröhliches Gelächter zu entlocken. Hirschhausen erzählt noch einen anderen Witz: Ein Berliner, dem sein Fahrrad gerade gestohlen worden ist, sagt: „Ein Wunder ist geschehen! Ich kann wieder laufen! – Jemand hat mein Fahrrad geklaut.“ Dieser Witz ist hier sozusagen seines historischen Ursprungs beraubt. Es ist ein Witz, der sich blasphemisch über Wunder lustig macht, indem er ein Wunder ad absurdum führt. Die Lahmen wieder gehen zu machen, die Toten aufzuerwecken, das sind die Wunder der christlichen Religion. Und der Witz, der hier in Berlin nach einem banalen Fahrraddiebstahl auftaucht, gehört natürlich in den Kontext eines der berühmtesten Wunderorte, nach Lourdes, wo die Mühseligen und Beladenen hingehen, in der Hoffnung, auf wunderbare Weise geheilt wieder abreisen zu können. Also: Riesengedränge in Lourdes. Auf einmal hört man einen Mann: „Jetzt kann ich wieder gehen! Jetzt kann ich wieder gehen!“ Alle drehen sich nach dem Geheilten um, der ärgerlich fortfährt: „Jetzt haben sie mir mein Auto gestohlen.“ Auch dieser Witz also braucht einen historischen Kontext, eine atmosphärische Umgebung, aus der er nicht beliebig gerissen werden kann, weil er mit den Wurzeln seinen Humus verliert. Auch das macht ihn mit Märchen, Volksliedern und Kalendergeschichten verwandt: dass er im Lachen oder im erlösenden Gelächter, das eine Pointe auslöst, die Schmerzen zeigt, die die Menschen gerade bedrücken, und sich damit in einen bestimmten Kontext stellt. Schon Immanuel Kant hat über das Wesen des Lachens und des Witzes keine blanke theoretische Abhandlung geliefert, sondern einfach Geschichten über das Lachen erzählt: Wenn jemand erzählt: daß ein Indianer, der an der Tafel eines Engländers in Surate eine Bouteille mit Ale öffnen und alles dies Bier, in Schaum verwandelt, herausdringen sah, mit vielen Ausrufungen seine große Verwunderung anzeigte, und auf die Frage des Engländers: was ist denn hier sich so sehr zu verwundern? antwortete: Ich wundere mich auch nicht darüber, daß es herausgeht, sondern wie ihrs habt hereinkriegen können; so lachen wir, und es macht uns eine herzliche Lust: nicht, weil wir uns etwa klüger finden als diesen Unwissenden, oder sonst über etwas, was uns der Verstand hierin Wohlgefälliges bemerken ließe; sondern unsre Erwartung war gespannt, und verschwindet plötzlich in nichts. Oder wenn der Erbe eines reichen Verwandten diesem sein Leichenbegängnis recht feierlich veranstalten will, aber klagt, daß es ihm hiermit nicht recht gelingen wolle; denn (sagt er): je mehr ich meinen Trauerleuten Geld gebe betrübt auszusehen, desto lustiger sehen sie aus; so lachen wir laut, und der Grund liegt darin, daß eine Erwartung sich plötzlich in nichts verwandelt. Man muß wohl bemerken: daß sie sich nicht in das positive Gegenteil eines erwarteten Gegenstandes – denn das ist immer etwas, und kann oft betrüben –, sondern in nichts verwandeln müsse. Denn wenn jemand uns mit der Erzählung einer Geschichte große Erwartung erregt, und wir beim Schlusse die Unwahrheit derselben sofort einsehen, so macht es uns Mißfallen; wie z. B. die von Leuten, welche vor großem Gram in einer Nacht graue Haare bekommen haben sollen. Dagegen, wenn auf eine dergleichen Erzählung zur Erwiderung, ein anderer Schalk sehr umständlich den Gram eines Kaufmanns erzählt, der, aus Indien mit allem seinem Vermögen in Waren nach Europa zurückkehrend, in einem schweren Sturm alles über Bord zu werfen genötigt wurde, und sich dermaßen grämte, daß ihm darüber, in derselben Nacht die Perücke grau ward; so lachen wir, und es macht uns Vergnügen, weil wir unsern eignen Mißgriff nach einem für uns übrigens gleichgültigen Gegenstande, oder vielmehr unsere verfolgte Idee, wie einen Ball, noch eine Zeitlang hinund herschlagen, indem wir bloß gemeint sind ihn zu greifen und festzuhalten. Es ist hier nicht die Abfertigung eines Lügners oder Dummkopfs, welche das Vergnügen erweckt; denn auch für sich würde die letztere mit angenommenem Ernst erzählte Geschichte eine Gesellschaft in ein helles Lachen versetzen; und jenes wäre gewöhnlichermaßen auch der Aufmerksamkeit nicht wert. Zurück in die Zukunft: vom Witzeerzähler Kant zum heutigen Witzeerzähler an sich, dem dreisten, unvorsichtigen, zwanghaften, der sich oft auf schlüpfriges Parkett begibt. Für ihn wiederhole ich einen Witz, der eigentlich nur erzählt werden kann und der den Titel für dieses Buch liefert, Das find ich aber gar nicht komisch: In einer Abendgesellschaft erzählt ein junger Mann einen Witz über einen Elefanten, der durstig zum Nil gelangt und endlich trinken kann, nachdem er lange durch die Hitze gelaufen ist. Er tunkt seinen Rüssel ins Wasser, will sich das Wasser in den Mund schaufeln, da taucht ein Krokodil auf, schnappt nach dem Rüssel, beißt ihn ab und lacht höhnisch und laut: „Ha ha haha!“ Da sagt der arme Elefant ohne Rüssel: „Daf find iff aber gar nift komiff!“ Als er kurz vor der Pointe ist, fällt dem unbedachten jungen Mann fast zu spät, aber siedend heiß ein: Um Gotteswillen! Der Gastgeber hat denselben Sprachfehler wie der Elefant im Witz, nachdem ihm der Rüssel abgebissen wurde. Er ist also schon an der Stelle, als das Krokodil den Rüssel abgebissen hat und höhnisch lacht. Wie den rüssellosen Sprachfehler nicht wiederholen und doch noch die Kurve kriegen? Und so erzählt er: „Das Krokodil lacht ‚Ha ha ha!‘, und der Elefant ohne Rüssel läuft und läuft und läuft.“ Darauf der Gastgeber mit dem Sprachfehler: „Daf find iff aber gar nift komiff.“ Das ist ein Witz über das Witzeerzählen, über das Erzählen von Witzen par excellence. Den Witz, den ich hier noch einmal erzähle, weil er meinem Buch den Titel gegeben hat, ist ein Witz, der sich schriftlich nur sehr schwer wiedergeben lässt. Erzählen Sie ihn laut! Und verziehen Sie Ihre Lippen so, als hätten Sie keinen Rüssel mehr, indem Sie Zähne und Lippen nicht benutzen. Also! Geht doch! Alfo! Geht doff! 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 60 Leseprobe Leseprobe 1. AUS GEGEBENEM ANLASS: ALT UND ÄLTER Man wird, wenn man alt wird, immer älter. In Sprüngen, in Schüben, die einen wie ein Unwetter überfallen. Oder die einen niederdrücken wollen und das auch schaffen, langsamer oder schneller, weil man, wie der Volksmund sagt („Volksmund“, auch so ein veraltetes Wort, längst aus dem Gebrauch gekommen und genommen), immer mehr Jahre auf dem Buckel hat. Merkwürdigerweise ist der Komparativ von alt, also älter, meist jünger als älter, erst recht als alt. Ein „älterer Herr“ ist jünger als ein „alter Mann“, das hat auch mit der sozialen Konnotation zu tun. Ein „älterer Herr“, das ist einer, der mit bedächtigen Schritten im Kurpark beim Kurkonzert entlangschlendert, das Stöckchen mehr zur Zier in der Hand als zur Hilfe. Ein „alter Mann“, das ist meist jemand, dem man es ansieht, dass er sich ein Leben lang krummgemacht hat, um seinen Lebensunterhalt unter Aufbietung seiner Kräfte zu erwerben, wobei er dem Verschleiß, der Abnutzung unterworfen war. Ich erinnere mich an einen angeheirateten Großonkel, Gerbermeister in Metzingen, der von der jahrzehntelangen Arbeit an den Laugebecken mit der Lohgerbe, die penetrant stank und in der er die schweren Häute mit Stöcken und Stangen bewegt und herausgehoben hatte, klein und gichtig geworden war und in seinen späten Jahren mit Ächzen und humpelnden Schritten durch sein Haus schlich, den kurz geschorenen Kopf ab und zu an den grauweißen Stoppeln kratzend. Er hatte nur noch völlig abgenutzte Zahnstummel im Mund, und es hatte ihm die Hände gekrümmt und den Körper schief verzogen. Er wirkte wunderbar knorrig und sprach, wenn er sich unbeobachtet fühlte, mit sich allein, brummend, schwer verständlich, nach innen artikulierend. Er war zehn Jahre jünger, als ich es heute bin, und wirkt in meiner Erinnerung zehn Jahre älter. Im Übrigen war er in seinen Sinnesäußerungen viel vitaler als mancher Stöckchen schwingende ältere Herr. Der Stöckchen schwingende ältere Herr im Park und der durch sein Haus humpelnde alte Mann, das sind zugegebenermaßen Vignetten, wie sie ein Achtzigjähriger in seine Erinnerung schneidet, sie stammen alle noch aus einer Zeit, die längst nicht mehr die unsere ist, eher an Bad Gastein oder an Karlsbad erinnernd. Fahre ich heute durch Vorstädte, dann sehe ich, wenn es dunkelt, fast überall Wohnheime und in der Nähe Kliniken mit neonbeleuchteten Zähnen mit Wurzeln als Werbe- und Wahrzeichen, die die totale Stille und Menschenleere erleuchten. Den mümmelnden Greis gibt es nicht mehr. Er trägt Implantate. Nicht nur im Mund, auch in Hüfte und Knie. Oder er hat einen festsitzenden Zahnersatz im Mund, was mich prompt zu meinem ersten Kalauerwitz führt. Was entsteht, wenn ein Gebiss in einen Teller Spaghetti fällt? Antwort: Zahnpasta. Dieser Kalauer zeigt, dass man an allen Witzen ihre Entstehungszeit ablesen kann, ja, dass Witze ein Zeitgradmesser für ihre Entstehungszeit und ihr Verfallsdatum sind. An ihnen lässt sich eine Archäologie der Zeitläufe ablesen. Die Menschen müssen mit der italienischen Küche lange vertraut sein, also längst wissen, was Pasta ist. Und sie müssen, das ist noch länger her, über Zahnersatz verfügen. Von Helmut Schmidt, dem kernig bissigen Altkanzler, schrieb ein Sportreporter als „Schmidt-Schnauze“, die noch über Biss und Macht verfügte – und noch nicht nur das gern befragte Altersorakel der Nation war. Kanzler Schmidt grüßte mit seinen Zähnen. Gemeint war das bleckende Lächeln der Dritten. Alt, älter, am ältesten. Früher, als die Menschen noch nicht alt wurden, hatte man einen Riesenrespekt vor den Alten, jedenfalls im Regelfall, bevor Freud entdeckt hatte, dass die Urhorde sich in einem Aufstand der Jungen durch Morden und Totschlag der Alten entledigte. In frühkulturellen Zeiten hat sich das als Ödipus-Mythos niedergeschlagen, und in jedem Adoleszenten entdeckte der Vater der Psychoanalyse den Ödipus-Komplex. Als die Alten in Wahrheit noch nicht alt wurden, machte man die Ältesten, also den Superlativ des Alten, zu Häuptlingen: zum Dorfältesten, zum Stammesältesten. Das spukt noch im Ältestenrat des Bundestages als Bezeichnung nach. Und in der Tatsache, dass nach Neuwahlen, wenn sich das Parlament neu konstituiert, der älteste Parlamentarier die erste Sitzung leitet, in der dann der Bundestagspräsident gewählt wird, der nicht mehr der Älteste sein muss und meist auch nicht ist. Alterspräsident des Bundestages, das ist eine kurze Ehre. Andere Institutionen wie die Senate diverser Parlamente und Gerichtshöfe lassen wenigstens noch im lateinischen Namen (ein Senat setzt sich aus Senioren zusammen) diese Altersstufung anklingen. Außerhalb dieser parlamentarischen Ordnungen ist das Adjektiv „alt“ eigentlich nur noch despektierlich gemeint: „alter Esel“, „alter Sack“, altmodisch spöttisch „alter Herr“ (der aus der Hierarchie der Studentenverbindungen kommt) oder gar „altes Haus“, was so alt klingt wie „bemoostes Haupt“, das seinen Namen wohl den Bronzedenkmälern verdankt, die sich mit Grünspan bedecken, also verwittern, wenn sie lange dem Altern in der Luft ausgesetzt sind, und so an bemooste alte Steine erinnern. Dass man im Slang noch bei Jugendbanden „Alter“ sagt, ist wohl noch eine Reminiszenz an die (türkische) Urhorde. „He, Alter“ hat etwas gleichzeitig Bewunderndes und Spöttisches. Im Alten Testament der Bibel wurden die Menschen in der Legende angeblich uralt, mehrere Hundert Jahre. Darin gibt es die Geschichte von Lot und seinen Töchtern, die mangels anderer junger Männer, die alle bei Sodom und Gomorrha untergegangen waren, ihren alten Vater zum Beischlaf nötigten, um der Menschheit das Weiterleben zu garantieren. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 61 Leseprobe Leseprobe Die mehrhundertjährigen Methusaleme sind wahnwitzige Übertreibungen – zu viel des Guten, wahrlich. Das sogenannte biblische Alter, das selten erreicht wurde, währte siebzig Jahre und, wenn es hochkommt, achtzig. Erreichte man das einigermaßen gesund, bekam man als bemoostes Haupt den Ehrennamen „rüstiger Greis“ – was sich zugegebenermaßen lächerlich anhört, wie der „Jüngling“ für den jungen Mann verrostet klingt oder gar die „Maid“, die die Jungfrau und Jungfer ersetzte, weil mit ihr der Zustand der Unschuld vor der Defloration gemeint war. Das alles hat in der Gegenwart wenig oder gar nicht zu suchen – es sei denn, man schaut auf die enthemmte Soldateska afrikanischer Muslime, die einfach in der Schule junge Mädchen raubten. Ich möchte nicht verhehlen, dass dies sich mit einem hehren römischen Mythos trifft – dem Raub der Sabinerinnen. Aber das ist römische Geschichte und Kunstgeschichte seit der Renaissance und hatte in der Gegenwart wenig zu suchen und wenig zu bedeuten. Bis wir es auf einmal in der Tagesschau als krude religiöse Barbarei wiedersehen müssen. Wenn wir Alten übrigens beim Einkaufen „junger Mann“ genannt werden, meist von jüngeren Verkäuferinnen, dann ist das die pure Schmeichelei, die aber außer einer spöttischen Ironie keine Wahrheit hat, außer vielleicht der: „Sie halten sich noch für jung, also gut, dann will ich Ihnen den Gefallen tun, Sie so zu nennen, aber Sie wissen schon, dass ich das keinesfalls ernst nehme. Im Theaterrollenfach wären Sie längst der komische Alte, der Kauz, der Hagestolz, eine Commedia dell' Arte-Figur.“ Da wir inzwischen immer älter werden, gibt es dafür natürlich auch eine passende Geschichte. In der sagt ein Achtzigjähriger zu einem anderen Achtzigjährigen: „Sag mal, wie hast du es geschafft, das bildschöne 22-jährige Model zur Heirat rumzukriegen?“ Antwortet der andere: „Indem ich ihr vorgelogen habe, ich sei Neunzig!“ Das ist, um mit Wien zu sprechen, eine „mörtelmäßige“ Geschichte, die auf den Opernball gehört, zum ewig jungen Playboy Hugh Hefner oder dem New York-Bebauer Donald Trump. Mit anderen Worten: Den Achtzigjährigen darf man sich als betucht vorstellen. Da steht er seiner Angeheirateten, wenn er neunzig ist, nicht mehr lange im Wege. Es ist die abstruse Sehnsucht nach der ewig währenden Liebe und unerlöschlicher Lendenkraft. Archäologie des Alters im Witz: 1986 lernte ich Billy Wilder kennen. Und bei einem der langen Gespräche, die wir erst über Wochen, später über Monate führten, erzählte er mir eine Geschichte aus der Zeit, als er noch Drehbuchautor in Hollywood war. 1986 war Wilder achtzig Jahre alt. Drehbuchautor war er in den späten Dreißigern und frühen Vierzigern. 1939 schrieb er an Lubitschs unsterblicher Komödie Ninotschka mit, in der „die Garbo lacht“ und in „Europa die Lichter ausgingen“. Nun also die Geschichte. Sie handelt davon, dass im Alter die Würde des Altwerdenden bedroht ist, und stemmt sich mit sardonischem Grimm dagegen. Wie sich Alte bekleckern, wie sie vergesslich werden, ja, wie ihre Gebrechen und Schwächen sich nicht mehr kontrollieren lassen. Also, Wilder war zum Hollywood-Mogul Zanuck geladen, der damals um die achtzig war. Wilder erzählte, dass er eine junge Assistentin bei sich hatte und als Zanuck ihm öffnete, bemerkte er, dass dessen Hose offen stand. Um dem alten Mann gegenüber der jungen Frau eine Peinlichkeit zu ersparen, raunte er von Mann zu Mann dem Alten zu: „Verzeihung, Mr. Zanuck, your fly is open, Ihr Hosenstall.“ Der alte Zanuck reagierte laut und zornig. Er herrschte Billy Wilder vor der jungen Frau an: „Sie glauben wohl, ich wäre alt, weil ich meine Hose nach dem Pinkeln nicht mehr schließe. Aber alt, wirklich alt, bin ich erst, wenn ich sie vor dem Pinkeln nicht mehr öffne.“ Wie gesagt, das erzählte ein Achtzigjähriger einem Mittdreißiger (Zanuck-Wilder), der mir nun seine Geschichte erzählte, als er selbst achtzig war und ich dreißig Jahre jünger. Und jetzt, wo ich sie hier wieder erzähle, ist sie sozusagen von einem Achtzigjährigen über einen Achtzigjährigen erzählt, der selbst über einen Achtzigjährigen erzählte. Also (falsch gerechnet, aber richtig gedacht): eine bleibende, sich ewig wiederholende Geschichte von 80+80+80. Ist gleich 240. Nun ist das keine umwerfende Geschichte, aber doch eine wahre, wütende, über den Zerfall, den das Alter jedem, der alt wird, zumutet. Und ich bin die einzige Quelle, die sie überliefern kann. Das gilt auch für die folgende über einen späten Besuch bei Marcel Reich-Ranicki. Er war ein großartiger alter Mann, der zu einer zornigen Wahrheit, auch dem eigenen Alter gegenüber, neigte. Er schloss keinen faulen Frieden mit dem Zustand, von dem Philip Roth sagte, er sei ein Massaker. Philip Roth hat so weit vor ihm kapituliert, dass er aufgehört hat zu schreiben. Nun also zu einem meiner letzten Besuche, wenn nicht dem letzten Besuch bei Marcel Reich-Ranicki. Ich fragte ihn also: „Wie geht es dir?“ Und er antwortete schlicht und einfach: „Schlecht!“ Er sagte es laut, so als wolle er keine Beschönigungen mehr machen. „Schlecht!“ Und ich versuchte, mich in eine besänftigende, tröstende Formel zu retten, indem ich sagte: „Du siehst aber gut aus!“ Worauf er ungnädig antwortete: „Im Gesicht fehlt mir ja auch nichts!“ Copyright 2015 by Quadriga Verlag in der Bastei Lübbe AG Bastei Lübbe AG, Köln. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 62 Leseprobe Leseprobe Kron, Norbert + Shalev, Amichai (Hrsg.): Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen. Israelische und deutsche Autoren schreiben über das andere Land (Anthologie) | S. Fischer ET: 5.3.2015 | ISBN: 978-3-10-002391-9 | Hardcover | 18,99 € Vor 50 Jahren nahmen die Staaten Israel und Deutschland ihre diplomatischen Beziehungen auf. Ging es früher vorrangig um Vergangenheitsbewältigung, um die Auseinandersetzung mit historischer oder familiärer Schuld, so sind heute auch freundschaftliche Begegnungen und kulturelle Verbundenheit Normalität. Politik, Literatur, Party – wie erlebt dies die „dritte Generation“ vor dem Hintergrund der Geschichte? Davon erzählen die hier versammelten Erzählungen aus beiden Ländern. Das Buch erscheint parallel in einer hebräischen Ausgabe. Mit Erzählungen von Yiftach Aloni, Yiftach Ashkenazy, Yair Asulin, Sarah Blau, Anat Einhar, Liat Elkayam, Idit Elnathan, Asaf Gavron, Galit Dahan Karlibach, Amichai Shalev sowie Julia Franck, Norbert Kron, Marko Martin, Eva Menasse, Rainer Merkel, Albert Ostermaier, Moritz Rinke, Jochen Schmidt und Sarah Stricker. Norbert Kron, geboren 1965, lebt als Schriftsteller und Journalist in Berlin. Amichai Shalev, geboren 1973, lebt als Schriftsteller in Herzliya. Vorwort der Herausgeber Immer sind es die Schicksale einzelner Menschen, die die faszinierendsten Geschichten erzählen, Geschichten, die sich in Büchern oft wie erfunden anhören. Wie diese zum Beispiel, die sich vor ein paar Jahren ereignete. Sie handelt von einem Mann, der zu einem der größten Stars auf Youtube avancierte, zu einer Art Popstar, der mit seinem Tanz Millionen von Usern begeisterte und verstörte, und das im Alter von 90 Jahren. Adolek Kohn war nämlich nach Auschwitz, Theresienstadt und zu anderen ehemaligen Konzentrationslagern gefahren, um dort vor den Toren zu Gloria Gaynours weltberühmten Dancefloorhit ‚I will survive‘ zu tanzen, zusammen mit seiner Familie, mit seiner Tochter und drei Enkelkindern. Zuerst unbeholfen, fast täppisch, dann sich zu fröhlicher Lebenslust steigernd, sieht man den alten Herrn im Video dort vor dem Tor mit der Aufschrift ‚Arbeit macht frei‘ tanzen oder den Kopf zu den Diskorhythmen aus einem der ausgestellten Güterwaggons stecken. Ein Tabubruch, natürlich, eine aufwühlende Provokation. Aber Adolek Kohn durfte das. Er ist selbst einer der Überlebenden, wurde als junger Mann mit seiner Mutter nach Auschwitz deportiert, wo diese an der Rampe selektiert und in die Gaskammer geschickt wurde, während er selbst Glück hatte und im Arbeitslager überlebte. Oder ging auch er damit zu weit? Die erhitzte Diskussion wurde in den User-Kommentaren des Videos, das seine Tochter, die Künstlerin Jane Korman, als Video Art Work initiiert hatte, zigtausendfach mit großen Emotionen geführt. Der Tanz des alten Mannes und seiner Familie beschäftigte die jüdischen Gremien und die Feuilletons, in Israel, Amerika, Deutschland. Was die einen als Geschmacklosigkeit gegenüber den Opfern empfanden, nannte der (sonst nicht um scharfe Worte verlegene) Berliner Publizist Henryk M. Broder „eines der größten Kunstwerke zur Geschichte des Holocaust". Adolek Kohn selbst war völlig überrumpelt von der medialen Wirkung seines Auftritts. Er, der nach der Befreiung der Lager zu Fuß von Auschwitz nach Lodz zurückgegangen war und auf diesem Marsch seine Frau kennenlernte, die er drei Wochen später heiratete, war sein ganzes Leben lang ein begeisterter Tänzer. 1949 siedelte er mit seiner Frau nach Melbourne um, wo er ein kleines Geschäft eröffnete und eine Familie gründete. Bis heute, mittlerweile 93, lebt er dort mit seiner Frau. Zu allen Gelegenheiten wurden bei ihm zu Hause Maskenbälle veranstaltet, wurde ausgiebig getanzt, ein immer neuer Ausdruck der Freude, am Leben zu sein. In einem Interview für das deutsche Fernsehmagazin ‚titel thesen temperamente‘ erklärte er das Tanzen in Auschwitz wie folgt: „Wenn mir damals im Lager jemand gesagt hätte, dass ich sechzig Jahre später hierherkommen würde, um mit meinen Enkeln hier zu tanzen – ich hätte ihm gesagt, er gehört in eine Irrenanstalt. Jetzt schrieb mir jemand in einem Brief, dass ich den Krieg gegen Hitler gewonnen hätte. Wir tanzen, weil wir eine neue Generation hervorgebracht haben." Adolek Kohns Enkel leben in Israel und in den USA. Die 26-jährige Yasmin zum Beispiel sagte im Gespräch: „Mir ging es darum, diese Reise mit meinem Großvater zu machen. Wir waren noch nie zusammen in Auschwitz. Dabei redet er über nichts anderes als den Krieg." Für ihre Generation, die dritte Generation, ist der Holocaust in eine weite, abstrakte Ferne gerückt. Bald wird man darüber nur noch aus Bildern, Dokumenten und gefilmten Interviews erfahren, nicht mehr von den Zeitzeugen selbst. Dadurch dass der Holocaust in die Ferne rückt, hat sich freilich auch das Verhältnis der Menschen untereinander verändert. In den zwei, drei Jahrzehnten, in denen diese dritte Generation erwachsen wurde, hat sich nicht nur auf politischer Ebene eine andere Beziehung zwischen Israel und Deutschland herausgebildet, auch der Blick der Israelis auf die Deutschen und umgekehrt hat sich verändert. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 63 Leseprobe Leseprobe Während die zweite Generation oft noch einen beschwerten distanzierten Dialog führte, in dem es immer auch um die Wahrung einer diplomatischen Etikette ging, ist unter den Zwanzig- bis Vierzigjährigen eine neue Selbstverständlichkeit im Umgang eingekehrt, eine neue israelisch-deutsche Lässigkeit. Das ist schon eine Revolution, wenn man bedenkt, wie schwer es war, nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt wieder diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Es dauerte zwanzig Jahre, bis 1965, bis dieser Schritt am 12. Mai vor fünfzig Jahren auf offizieller Ebene besiegelt wurde. Auch danach war Deutschland für Israelis als Reiseland alles andere als beliebt. Juden, die in Deutschland lebten, mussten sich nicht selten von ihren Angehörigen in Israel oder anderswo die Frage stellen lassen, wie sie im Land der Täter leben könnten. Deutsche Produkte zu verwenden war sogar noch vielen der heute Vierzigjährigen in der Kindheit „verboten". Und ein deutsches Fußballnationaltrikot am Strand von Tel Aviv zu tragen – das war selbst für deutsche Juden, die Israel besuchten, ein No-Go. Und heute? Heute werden am Frishmann Beach die WM-Spiele der Deutschen auf Großleinwänden übertragen, schauen die Tel Aviver zusammen mit deutschen Touristen die Spiele nicht selten mit Begeisterung. Heute gilt Berlin, Hitlers Reichshauptstadt und Ausgangspunkt des Holocaust, als eine der beliebtesten Urlaubsdestinationen für jüdische Touristen, leben in Berlin zwanzigtausend jüngere Israelis (sehr wahrscheinlich schon mehr), die nicht selten die in der Popkultur so beliebten deutschen Turnschuhe mit den drei Streifen tragen, allerlei andere Aspekte der lokalen Kultur adaptieren und offen erklären, dass hier ihr neues Zuhause ist, womit sie des Öfteren in den Medien Wellen schlagen. Auch Yasmin Korman, die Enkelin von Adolek Kohn, war schon mehrfach in Berlin. Bei jungen Israelis ist diese Reise geradezu Pflicht, aber nicht weil die Vergangenheit dabei die ausschlaggebende Rolle spielen würde. Es ist die kreative liberale Atmosphäre, die die jungen Leute anzieht, die günstigen Mieten und das Partyleben, bei dem die Nächte genauso lang und heiß sind wie in Tel Aviv. Sowenig es im Nightlife von Tel Aviv noch jemandem aufstößt, dass in der Menge der feierwütigen Partypeople junge Deutsche sind, so oft hört man in Berlins Szenebezirken neben Spanisch oder Englisch Hebräisch. Man trinkt zusammen, man feiert zusammen, man tanzt zusammen. Ein lebendigerer Ausdruck für eine grenzüberschreitende Veränderung der dritten Generation, deren Familien die dunkle Geschichte wie ein tiefer schmerzlicher Graben trennte, lässt sich nicht finden. Doch ist das die vielbeschworene Rückkehr zur „Normalität"? Wird heute, wo die meisten Opfer und Täter tot sind, ein Schlussstrich gezogen und die Vergangenheit ausgeblendet? Oder finden Erinnerungskultur und Schuldbewusstsein auf einer anderen, tieferen Ebene statt? Wie ist es wirklich bestellt um das Verhältnis der Israelis und Deutschen der dritten Generation? Keine Frage, viele Tabus sind gefallen. Alle heute Zwanzig- bis Vierzigjährigen sind mit der globalen Pop- und Massenkultur aufgewachsen, die eine verbindende Erfahrungsbasis darstellt, ja mehr als das: ein ganzes Baukastensystem der eigenen Identität. Man hat die gleiche Popmusik zu den gleichen Lebensphasen gehört, man begeistert sich für dieselben amerikanischen Fernsehserien, man kauft die gleichen internationalen Markenprodukte, benutzt dieselben Internetdienste. So wie unter Europäern dieser Generation nur noch regionale kulturelle Unterschiede zu bestehen scheinen, scheint die kulturelle Ähnlichkeit auch zwischen Deutschen und Israelis mittlerweile stärker als die einstige historische Kluft, die die geradezu metaphysische TäterOpfer-Dichotomie für immer und ewig zementiert zu haben schien. Oder täuscht das? Sind nur die jüngeren Israelis so wild auf ein neues Verhältnis zum anderen Land? Ist das angespannte, schuldbewusste Gefühl, das jede deutsche Israelreise einst zur Bußfahrt machte, in Deutschland einer neuen Gleichgültigkeit gewichen, die durch den kritischen Blick auf den Nahostkonflikt kompensiert wird? Oder schwingt die Geschichte des Holocaust in einer tieferen Parallelrealität mit, während man sich im Nachtleben, in der Kulturszene, am Strand vergnügt? Wie sehr belastet das ungelöste Palästina-Problem mit den immer wieder aufflammenden Kriegen die Situation? Was denken israelische und deutsche Schriftsteller der dritten Generation über all das? Kein anderes Medium ist so geeignet, unter die Oberfläche des neuen Verhältnisses zu schauen wie die Literatur. Wo Feuilletons und Fernsehsender den israelischen Run auf Berlin als Modephänomen beleuchten, können literarische Texte tiefer dringen, können Moden hinterfragen und subtilere Erfahrungsmomente zur Sprache bringen. Was ist heute erzählbar (und wie), was vorher nicht erzählbar war? Genau diese Frage haben wir israelischen und deutschsprachigen Autoren gestellt und sie gebeten, Texte über ihren Blick auf das andere Land zu schreiben. Jeder von uns wandte sich dabei in seinem Land an die Autoren, die ihm in der dritten Generation am interessantesten erschienen, aufgrund unterschiedlicher Stile, ihres Talents für die kurze pointierte Form, ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichte des Dritten Reichs, ihrer Beziehung zum anderen Land. Es war den Autoren dabei freigestellt, welche Form sie wählen wollten – Erzählungen, literarische Journale, Gedichte, Essayistisches. Das Ergebnis ist so facettenreich und vielschichtig wie die verschiedenen Familiengeschichten, die auch hinter diesen Autoren stehen. Alle Texte sind Originalbeiträge. Das Schreiben wurde erschwert durch den Umstand, dass in der entscheidenden Phase der Arbeit der letzte Gaza-Krieg ausbrach und die Frage, wie sich über das andere Land erzählen lässt, noch verkompliziert hat. Die, die nun in diesem Band versammelt sind, haben sich dieser komplexen Aufgabe gestellt und ihren Blick auf das Thema Israel– Deutschland auf höchst persönliche Weise in Worte gefasst. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 64 Leseprobe Leseprobe Dabei steckt in jeder Geschichte, so persönlich sie auch sein mag, immer die blutige Vergangenheit, jenes schreckliche Loch, in das man unvermeidlich hineinblicken, jedoch nicht unbedingt hineinfallen muss. Es finden sich viele Ähnlichkeiten bei den Autoren beider Länder, doch wenn man nur die israelische Seite betrachtet, entdeckt man, dass die Auseinandersetzung mit der ungeheuren Last der Vergangenheit fast immer über persönliche, intime Beziehungen läuft. Umgekehrt haben wir während unserer Arbeit erfahren, dass die Israelis keine Verbindung zwischen ihrer gegenwärtigen Situation, dem Nahostkonflikt, und der größeren Vergangenheit herstellen, wozu die Deutschen sehr wohl neigen. So reicht das Themenspektrum von Liebe und Sex bis zu Selbsthinterfragung und von der Erinnerung des Holocaust bis zur Reflexion der heutigen politischen Situation. Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede unmittelbarer zu zeigen, haben wir das Buch in drei Teile eingeteilt. Der erste Teil versammelt Texte, die in fiktionaler, oft humorvoller Form von realen Annäherungen im Hier und Heute erzählen, von Begegnungen mit Menschen, die nicht selten Liebhaber sind. Die Autoren, die im zweiten Teil vertreten sind, betrachten ihr Verhältnis zum anderen Land dagegen aus autobiographischer Perspektive oder verwenden den Gestus des Autobiographischen, um das Nachdenken eines Ich-Erzählers über Israel und Deutschland zu schildern. Die Geschichten im letzten Teil reizen die literarischen Mittel schließlich am weitesten aus, hier werden Fiktionen entworfen, die die Realität überzeichnen oder poetisieren, bis ins Utopische oder Groteske. Natürlich geht es auch in diesem Kapitel oft um den „Paarungstanz" zwischen Israelis und Deutschen, um das Zusammenfinden und die Annäherung an den anderen, der irgendwie nah und fremd zugleich ist und gerade deshalb lockt. Manche dieser Geschichten haben dabei etwas von dem Brückenschlag, der ganz am Beginn dieses Buches stand, als sich die beiden Herausgeber nämlich bei zwei Fußballspielen ihrer Autorennationalmannschaften kennenlernten. Damals, 2008, hatte die DFB-Kulturstiftung die israelischen Schriftsteller zu einem Fußballmatch mit anschließendem Symposium nach Berlin eingeladen, worauf die deutschen Autoren ein halbes Jahr später zum Rückspiel und einer Lesung nach Tel Aviv reisten (in Deutschland gewannen übrigens die Deutschen und in Israel die Israelis). Beide Herausgeber standen dabei in der Startelf und lernten sich wie viele ihrer anderen Mitspieler zuerst auf dem Platz und dann im realen Leben kennen. Mit diesem Sammelband soll es ähnlich sein. Was Israelis und Deutsche in dem Buch über ihre Erfahrungen und Sichtweisen erzählen, soll bei Lesungen und Diskussionen, die in beiden Ländern begleitend zu den Jubiläumsveranstaltungen zum 50. Jahrestag der diplomatischen Beziehungen stattfinden, in die Öffentlichkeit getragen werden. Mit anschließender Party, versteht sich. Von Anfang an war es die Idee, dass dieses Buch zeitgleich in einer deutschen und einer hebräischen Fassung erscheint, in einem deutschen und einem israelischen Verlag, was die Voraussetzung für mehr als nur einen literarischen Dialog zwischen beiden Ländern sein soll. „Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen": Unter diesem Titel möchten wir Lust machen auf reale israelisch-deutsche Begegnungen auf der Tanzfläche des Lebens. Norbert Kron/Amichai Shalev Berlin/Tel Aviv, im Dezember 2014 Viten der Autorinnen und Autoren Yiftach Aloni wurde 1955 im Kibbuz Gvulot geboren und wuchs dort auf. Er ist Schriftsteller, Lyriker, Publizist, Architekt und Unternehmer. Außerdem ist er der Begründer des „Block Magazins" und des „Maaboret Literaturmagazins" und produzierte die TV-Serie „Geschichte aus dem Kino". Er erhielt den Israel Museum Preis und das Britische Konsularstipendium. Yiftach Ashkenazy, geboren 1980 in Carmiel, lebt heute in Jerusalem. Er ist Schriftsteller und Literaturkritiker bei „Haaretz" und arbeitet im Yad Vashem Institut. Er veröffentlichte den Roman „Die Geschichte vom Tod meiner Stadt", der 2007 auch auf Deutsch erschien, und den Erzählungsband „Mein erster Krieg" (deutsch 2008). Er nahm am „Yangiero Projekt" teil und publiziert immer wieder Kolumnen im deutschen Radio und in deutschen Zeitungen. Yair Asulin, geboren 1986, ist Schriftsteller und Lyriker. Für seinen ersten Roman „Drive" erhielt er 2012 den Sapir-Preis für den besten Debütroman sowie die Auszeichnung des Kulturministeriums. 2012 erschien sein Gedichtband „München (Du kannst es Erinnerung nennen)" sowie sein zweiter Roman „Die Dinge an sich". Er schreibt regelmäßig für „Haaretz" und unterrichtet an verschiedenen Orten Kreatives Schreiben. Sarah Blau, geboren 1973, wuchs in einer orthodoxen religiösen Familie in Bnei Brak auf. Ihre Großeltern mütterlicherseits waren im Konzentrationslager Auschwitz inhaftiert, ihr Großvater väterlicherseits wurde im Konzentrationslager Buchenwald ermordet. Sie ist Schriftstellerin und veröffentlichte Romane und Theaterstücke. Ein wichtiger Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Rekonstruktion von jüdischen Symbolen. Sie begründete die Alternativen Holocaustzeremonien in Israel und arbeitete als Lehrerin am Institut für Holocauststudien. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 65 Leseprobe Leseprobe Galit Dahan Carlibach, geboren 1981 in Sderot, veröffentlichte die Romane „Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, meine Braut" und „Rand" und erhielt dafür den Prime Minister’s Award für Literatur und das Pardes-Stipendium der Nationalbibliothek. Für die Jugendphantasie „Arpileya" erhielt sie den Acum- und den Dvora-Omer-Preis. Sie lebt in Jerusalem, unterrichtet Kreatives Schreiben und arbeitet als Touristenführerin. Anat Einhar, geboren 1970 in Petach Tikva, lebt als Schriftstellerin, Designerin und Comiczeichnerin in Tel Aviv. Für „Feinde des Sommers" erhielt sie 2010 sowohl den Sapir-Preis wie auch den Vinner-Preis. Außerdem veröffentlichte sie das Kinderbuch „Der Elefant reißt aus". Liat Elkayam, geboren 1975 in Tel Aviv, arbeitet seit dem achtzehnten Lebensjahr als Journalistin. Sie schloss ein Kunststudium in New York ab und erlangte einen B.A. in Film- und Rechtswissenschaft an der Universität Tel Aviv. Sie lebt in Tel Aviv als Autorin und Redakteurin von „Haaretz" und unterrichtet außerdem am Sapir College. Sie veröffentlichte mehrere Kurzgeschichten in Magazinen und Anthologien. Idit Elnatan, geboren 1970 in Petach Tikva, lebt als Schriftstellerin, Redakteurin und Journalistin in Jaffa. Sie hat einen B.A. in Englischer Linguistik und Hebräisch und einen M.A. in Kognitiver Sprachwissenschaft. Sie veröffentlichte den Roman „Gegen die Gebrauchsanweisung " und arbeitet heute beim „National Geographic Magazin". Assaf Gavron, geboren 1968 in der Nähe von Jerusalem, ist einer der erfolgreichsten jüngeren Autoren Israels und lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Tel Aviv. Er veröffentlichte fünf Romane, die in zehn Sprachen übersetzt wurden, davon ins Deutsche u. a. „Ein schönes Attentat" (2008), „Auf fremdem Land" (2013). Neben zahlreichen Auszeichnungen, u. a. dem Bernstein-Preis, dem Prime Minister’s Award sowie dem Prix Courrier International in Frankreich, erhielt er 2010 ein einjähriges DAAD-Stipendium für Berlin. Derzeit hat er eine Gastprofessur in den USA. Katharina Hacker, geboren 1967 in Frankfurt am Main, studierte ab 1986 Philosophie, Geschichte und Judaistik an der Universität Freiburg. 1990 wechselte sie an die Hebräische Universität Jerusalem. Seit 1996 lebt sie als freie Autorin in Berlin. 1997 debütierte sie mit „Tel Aviv. Eine Stadterzählung". Für ihren Roman „Die Habenichtse" erhielt sie 2006 den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien von ihr „Eine Dorfgeschichte". Norbert Kron, geboren 1965, lebt als Schriftsteller und ARD-Fernsehjournalist in Berlin und reist regelmäßig nach Israel. Viele Veröffentlichungen, u. a. die Romane „Autopilot" (2002), „Der Begleiter" (2008). Seine TV-Beiträge, u. a. in „titel thesen temperamente", behandeln oft Themen der deutschen Geschichte. Er erhielt zahlreiche Stipendien (u. a. in Lion Feuchtwangers Villa Aurora, Los Angeles) sowie das Stipendium des Deutschen Literaturfonds für seinen in Arbeit befindlichen Israel-Roman. Marko Martin, geboren 1970, lebt, sofern er sich nicht gerade in Tel Aviv aufhält, als freier Schriftsteller in Berlin. 2012 erschien sein Band „Kosmos Tel Aviv" mit literarischen Porträts der Stadt, 2014 die Essays „Treffpunkt ’89. Von der Gegenwart einer Epochenzäsur". Zuletzt erschienen in der Anderen Bibliothek die Erzählbände „Schlafende Hunde" und „Die Nacht von San Salvador". Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin beim österreichischen Nachrichtenmagazin „Profil". Als Redakteurin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" begleitete sie den Prozess um den Holocaustleugner David Irving in London. Nach Aufenthalten in Prag und Wien lebt sie seit 2003 als Publizistin und Schriftstellerin in Berlin. Ihr Debütroman „Vienna" sowie ihr Erzählungsband „Lässliche Todsünden" waren große Erfolge. Für ihren Roman „Quasikristalle " wurde sie mit dem Gerty-SpiesPreis und dem Heinrich-Böll-Preis ausgezeichnet. 2015 ist sie Stipendiatin der Villa Massimo in Rom. Rainer Merkel, geboren 1964 in Köln, lebt in Berlin. Er veröffentlichte mehrere Romane und lebte u. a. in den USA, in Irland und in Liberia, wo er ein Jahr als Psychologe für eine NGO arbeitete. Dies inspirierte seine literarischen Reportagen „Das Unglück der Anderen" (2012) und seinen Roman „Bo" (2013). Nach einem Stipendium in Beirut besuchte er mehrfach den Libanon und bereiste zuletzt Israel und das Westjordanland. Albert Ostermaier, 1967 geboren, lebt in München. Seine Theaterstücke wurden von namhaften Regisseuren inszeniert. 2013 erschien sein jüngster Roman „Seine Zeit zu sterben", 2014 die Lyrikbände „Flügelwechsel – Fußballoden" und „Außer mir". Er erhielt viele Auszeichnungen, u. a. den Kleist-Preis, den Bertolt-Brecht-Preis sowie den „Welt"-Literaturpreis für sein literarisches Gesamtwerk. Seit 2010 ist er mit der Schriftstellerin Zeruya Shalev befreundet. Für die Nibelungenfestspiele 2015 in Worms verpflichtete ihn Nico Hofmann als Autor. Moritz Rinke, 1967 geboren, zählt zu den erfolgreichsten Dramatikern Deutschlands. Seine Stücke wurden mehrfach ausgezeichnet und verfilmt (u. a. „Republik Vineta"). „September", seine erste Filmarbeit, bei der er auch als Schauspieler debütierte, wurde 2003 zu den Filmfestspielen nach Cannes eingeladen. 2010 erschien sein erster Roman-Bestseller „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel". Sein neuestes Stück „Wir lieben und wissen nichts" wird an über 40 Bühnen national und international gespielt. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 66 Leseprobe Leseprobe Jochen Schmidt wurde 1970 in Ost-Berlin geboren, wo er immer noch lebt. Er studierte Romanistik in Berlin und Brest. 1999 gründete er die Leseshow „Chaussee der Enthusiasten", bei der er seitdem wöchentlich auftritt. Wichtige Veröffentlichungen waren „Schmidt liest Proust", „Meine wichtigsten Körperfunktionen", „Gebrauchsanweisung für Rumänien", „Schneckenmühle". 2004 erhielt er den Förderpreis zum Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor. Amichai Shalev, geboren 1973 in Holon, lebt als Schriftsteller, Lektor, Herausgeber und Kritiker in Herzliya. Er veröffentlichte die Romane „Tage des Pop", „Die Übergeschnappten", „Großes Mädchen" sowie den Essay „Über Subversion" und gab mehrere Anthologien heraus. Er arbeitet als Verlagslektor beim Am Oved Verlag, unterrichtet Kreatives Schreiben an verschiedenen Universitäten und erhielt 2012 den Prime Minister’s Award für Literatur. Sarah Stricker, geboren 1980 in Speyer, studierte deutsche, französische und englische Literaturwissenschaften und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Nach Jahren als Redakteurin (u. a. für „Vanity Fair") verliebte sie sich 2009 während eines Israel-Aufenthalts in das Land und lebt seither in Tel Aviv, wo sie für deutsche und israelische Medien schreibt. 2013 erschien ihr Roman „Fünf Kopeken", für den sie unter anderem den Mara-Cassens-Preis erhielt. © S. Fischer Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 67 Leseprobe Leseprobe Lustiger, Gila: Die Schuld der anderen | Berlin Verlag | ET: 19. Januar 2015 ISBN: 978-3-8270-1227-2 | Gebunden | 496 Seiten | 22,99 | Auch als E-Book erhältlich Ein Jahrhundertsommer in Frankreich, ein Mordfall, dessen Lösung viele Fragen offen lässt und ein hartnäckiger Journalist, der den Zweifel zum Prinzip erhebt. Gila Lustiger entwirft ein Bild der Grande Nation, das Land und Leute lebendig werden lässt und präsentiert einen der empörendsten Wirtschaftsskandale Frankreichs in einem fesselnden Gesellschaftsroman. Mehr als zehn Zeilen wollte Marc Rappaport einem siebenundzwanzig Jahre zurückliegenden Prostituiertenmord, der jetzt durch DNA-Abgleich gelöst sein soll, nicht widmen. Und doch will er mehr über die Geschichte der jungen Frau erfahren, die mit 18 Jahren aus der Enge ihrer Industriekleinstadt nach Paris floh, um zu studieren, und dort in die Prostitution schlitterte. Dabei stößt er bald auf einen Skandal von schockierendem Ausmaß, der die unlösbaren Verstrickungen von Wirtschaft, Geld und Politik durchscheinen lassen. Was als klassische Ermittlungsgeschichte beginnt, entpuppt sich bald als ein atmosphärisch dichter und mit Leichtigkeit erzählter Gesellschaftsroman über ein ganzes Land und unsere Gegenwart. Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1987 lebt sie als freie Autorin in Paris. Ihr erster Roman, „Die Bestandsaufnahme“, erschien 1995, zwei Jahre später „Aus einer schönen Welt“. Mit dem Familienroman über die Geschichte der europäischen Juden „So sind wir“ stand sie auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien ihr Roman „Woran denkst Du jetzt“ (2011). "Kam endlich eine Zeit, wo alles, was die Menschen bisher als unveräußerlich betrachtet hatten, Gegenstand des Austausches, des Schachers, veräußert wurde. Es ist dies die Zeit, wo selbst Dinge, die bis dahin mitgeteilt wurden, aber nie ausgetauscht, gegeben, aber nie verkauft, erworben, aber nie gekauft: Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen etc., wo mit einem Wort alles Sache des Handels wurde." Karl Marx 1. Es hatte ununterbrochen geregnet, doch schon in den frühen Morgenstunden war sämtliche Feuchtigkeit wieder verdunstet. Paris, für Sonne geradezu erschaffen, strahlte unter einem makellos blauen Himmel. Das Licht tanzte auf dem Fluss, während ein Boot voller träger, selbstvergessener Touristen vorbeizog und unter einer Brücke hindurchglitt. Die Ufermauern waren wie weiß gewaschen. Überhaupt schien dieses Vormittagslicht alle Farben zu schlucken. Nur noch hell, dunkel, Weiß, Ocker, Blau. Und dort, bei den akkurat gepflanzten Bäumen neben der Mauer des Seineufers, ein paar Flecken Grün. Marc ließ den Blick zum Quai weiterschweifen. Autos, Lieferwagen, Busse, Motorradfahrer: Ungeduld, wie immer. Noch war der Verkehr fast flüssig und dennoch war das Geräusch, das die Reifen auf dem Pflaster der Uferstraße machten, so ohrenbetäubend, dass Pierre, der neben ihm schritt, sein Telefongespräch mit Simone mehrmals unterbrechen musste, um auf das Rot für die Autofahrer zu warten. Er hörte, wie Pierre seine Sekretärin damit beauftragte, einen jungen Journalisten namens Stan zum Palais Bourbon, dem Sitz der Assemblée nationale, zu schicken, weil dort Landwirte demonstrierten. Natürlich hätte Pierre den zuständigen Redakteur auch direkt anrufen können, aber alles lief beharrlich über Simone, die, obwohl erst Ende zwanzig, eine Art Mutterrolle für ihn übernommen hatte. Ein roter Touristenbus füllte aus ihrer Perspektive die ganze Spannweite der Arkade des Louvre aus und rollte, als die Ampel auf Grün umsprang, gemächlich an ihnen vorbei. Ein paar helle Gesichter mit überdimensionierten Sonnenbrillen wandten sich ihnen vom offenen Oberdeck aus zu, musterten sie, als seien sie beide eine weitere Attraktion dieser an Attraktionen so grenzenlosen Stadt. Ein Kind winkte, und er winkte zurück, während Pierre seiner Sekretärin auseinander-setzte, warum er den Landwirten, die nun schon zum vierten Mal in diesem Jahr demonstrierten und gerade Obst und Kuhmist vor dem Parlament auszuschütten gedachten, höchstens zehn Zeilen zukommen lassen wollte. "In den Acht-Uhr-Nachrichten kriegen die so kurz vor den Sommerferien höchstens dreißig Sekunden", sagte Pierre, und er, Marc, wusste, dass er sich nicht vor Simone, sondern wegen seines schlechten Gewissens zu rechtfertigen versuchte und dass die geduldige, die freundliche Simone, schon das Nötige erwidern würde, damit Pierre, sein Chefredakteur, wohlgelaunt den Nachmittag in Angriff nehmen konnte. Der Bus rumpelte über die Brücke und bog rechts ab zum Musée d’Orsay. Ein Inder oder Pakistani, der im Schatten der Arkaden sein Geschäft aufgebaut hatte, bestehend aus einem mit Eiswürfeln und Getränken gefüllten Kübel, streckte ihm eine Wasserflasche zu horrenden fünf Euro entgegen. Marc kannte ihn. Er war ihm schon mehrmals begegnet. Im Herbst verkaufte er vor dem Louvre Regenschirme Made in China, und abends streifte er durch die umliegenden Terrassen und versuchte, verliebt dreinblickenden Paaren Rosen aus Holland anzudrehen. Marc winkte ab, und der Mann mit den großen Zähnen und dem pechschwarzen Haar legte seine Wasserflasche wieder in den Kübel und hielt nach Touristen Ausschau. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 68 Leseprobe Leseprobe Es war kurz vor halb eins. Ein jeder eilte seinem Ziel zu, nur er, Marc Rappaport, schlenderte über eine Brücke und nahm sich Zeit zu schauen. Es war kurz vor halb eins, und ihm gehörten die Brücke, die Bäume, das Ufer und dieses Trottoir, auf dem die Sonne jeden Schatten verdrängte und wo alles im gleißenden Mittagslicht miteinander verschmolz. Eigentlich hatten sie wie jeden Dienstag bei Lipp essen wollen, aber die CRS hatten in Erwartung der Kuhmist-Demo den gesamten Boulevard St. Germain abgesperrt. Marc hatte vierzehn Einsatzfahrzeuge gezählt. Aus den Augenwinkeln hatte er verfolgt, wie die Polizisten vom Viertel Besitz nahmen, aus den Bussen stiegen, sich mit Helm, Polycarbonat-Schildern und Schlagstöcken bewehrt aufbauten, so die Straße verriegelten und auf den Einsatzbefehl warteten, alle mit dieser unverkennbaren Spannung im Gesicht. Beide hassten sie die Männer in Dunkelblau und hatten kurzweg beschlossen, in einen anderen Stadtteil auszuweichen. Sie hassten die Art, wie sie sich aufstellten, sich Kommandos zuriefen, mit-einander redeten, dieses ganze militärische, durchtrainierte Gehabe. Sie sahen sie, wie nur ehemalige Sympathisanten der autonomen Szene sie sehen konnten, die sich in ihrer Jugend selbst kleine Scharmützel mit der Staatsgewalt geliefert hatten und die nun den Umstand, dass man sie einfach so passieren ließ, ohne auch nur nach ihren Ausweisen zu fragen, als besonders schmerzliche Beleidigung empfanden. Älter werden, das ließ sich nicht vermeiden, aber nun waren sie, gerade einmal knapp über vierzig, an einem Punkt angelangt, an dem sie in ihren dunkelgrauen Designerklamotten mindestens so harmlos wirkten wie ihre Väter früher in ihren Anzügen. "Schick auch jemanden hin, der ein paar Fotos macht, zur Sicherheit, falls das doch irgendwie ausartet", sagte Pierre zu Simone und warf ihm einen kurzen Blick zu. „Wohin gehen wir eigentlich?" "In die Rue Sainte-Anne", sagte Marc. Noch vor ein paar Jahren hätte das bedeutet, einen der zahllosen Massagesalons aufsuchen zu wollen, die dort reihenweise ihre Dienste angeboten hatten. Aber eine Stadt verändert sich, wie schon Baudelaire bemerkt hatte, schneller als ein Menschenherz. Die Schwulenclubs hatten geschlossen, und aus irgendeinem unerklärbaren Grund hatten vor allem japanische Restaurants das Quartier übernommen. 2. Die Prostituierte hieß Emilie Thevenin, das zu erfahren hatte ihn eine gute halbe Stunde Telefonrecherche gekostet. Es war eine von diesen Informationen, die er nicht unbedingt zu verwenden gedachte. Denn wen interessierte der wirkliche Name einer Hure, die vor dreißig Jahren erdrosselt worden war? Und dennoch gehörten für ihn zu jeder seiner Geschichten auch Namen. Andere hätten sich damit begnügt, Emilie „das Opfer" zu nennen, aber die anderen waren auch nicht so gut wie er. Sie war nicht älter als neunzehn geworden. Und obwohl er eigentlich nur von ihr wusste, dass sie mit achtzehn aus einer Kleinstadt nach Paris gekommen war, um Geschichte an der Sorbonne zu studieren, hätte er nun bis ins Detail genau beschreiben können, wie das alles abgelaufen war. Wie sie sich neben dem Studium als Verkäuferin oder Kellnerin ihren Lebensunterhalt zu verdienen versucht. Wie sie an irgendeinem Wochenende in irgendeiner Disco irgendeine alte Freundin wiedertrifft. Wie sie sich beschwatzen lässt, es wenigstens ein Mal zu probieren. Sie solle doch keine große Sache daraus machen und das Thema einmal nüchtern angehen. Ob sie sich denn wirklich von Montag bis Samstag herumkommandieren lassen wolle? Das sei doch völlig unlogisch, sich für ein kümmerliches Gehalt derart abzuschinden. Was denn schon dabei sei, ein paar gutsituierten Geschäftsmännern zum Orgasmus zu verhelfen und mit ihnen, sozusagen als Escort-Bonus, außerdem noch guten Wein und gute Küche zu genießen? Ob sie sich etwa für den Einzigen aufsparen wolle? Na also. Wie sie sich am Ende selbst davon überzeugt, sogar stolz darauf zu sein. Nein, sie ist nicht eine von diesen unglücklich hineingeschlitterten Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden. Sie nicht. Sie vögelt freiwillig, gegen eine finanzielle Zuwendung, die sich stattlich nennen kann. Denn sie ist jung, gebildet (zweites Semester Geschichte), Französin, hübsch. Und wer da etwas zu beanstanden hat, ist sowieso nur ein kleiner Spießer. Ein makelloser Frauenkörper, die unbestreitbare jugendliche Frische und Naivität, die ihr ein leicht verdientes Geld verschaffen, dazu die völlig selbstbestimmte Zeiteinteilung, ja, daran kann sie sich schnell gewöhnen. Und es hätte noch ein, zwei Jahre so weitergehen können, vielleicht sogar länger, hätte sie nicht an einem späten Nachmittag im Mai der Banklehrling Gilles Neuhart erdrosselt. Geschlagen, gefesselt, missbraucht, stranguliert. Getötet. © Berlin Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 69 Leseprobe Leseprobe Menasse, Eva: Lieber aufgeregt als abgeklärt | Verlag Kiepenheuer & Witsch | ET: 9. Februar 2015 ISBN: 978-3-462-04729-5 | Gebunden | 256 Seiten | 18,99 € Eva Menasses Essays und Reden sind liebevoll-boshafte Langzeitbeobachtungen über Deutsche, Österreicher, über engagierte politische Interventionen. Sie sind auch leidenschaftliche Bekenntnisse zu Lieblingsautoren wie Richard Yates, Alice Munro und Ulrich Becher. Ihr besonderes Augenmerk gilt der öffentlichen Rolle des Schriftstellers. Die Heinrich–Böll-Preisträgerin 2014 versucht zu ergründen, was der Preispatron heute denken, schreiben, tun würde. Sie hadert mit Günter Grass und hält ihm doch eine Geburtstagsrede, sie preist das literarisch-musikalische Genie Georg Kreislers und dankt Imre Kertész für die Mühe, die er sich und seinen Lesern mit seiner unerbittlichen literarischen Genauigkeit macht. Eva Menasses pointierte und elegante Texte werfen erfrischende Blicke auf die Gegenwart und beweisen die Relevanz von Literatur. Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin beim österreichischen „Profil“. Als Redakteurin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ begleitete den Prozess um den Holocaust-Leugner David Irving in London. Nach einem Aufenthalt in Prag arbeitete sie als Kulturkorrespondentin in Wien. Sie lebt seit 2003 als Publizistin und freie Schriftstellerin in Berlin. Ihr Debütroman „Vienna", ihr Erzählungsband „Lässliche Todsünden" und zuletzt ihr Roman „Quasikristalle" waren ein großer Erfolg. Für „Quasikristalle" wurde sie u.a. mit dem GertySpies-Preis und dem Literaturpreis Alpha ausgezeichnet. 2015 ist sie Stipendiatin der Villa Massimo in Rom. Jubeltag für Schriftsteller Zum Literatur-Nobelpreis für Alice Munro Hellmuth Karasek seien ihre Bucher oft empfohlen worden, doch habe er nie eins gelesen. Martin Walser, befragt, was ihm zur neuen Literatur-Nobelpreisträgerin einfalle, antwortet: null. Das kann schnell nachgeholt werden und sagt gar nichts aus, auch nicht über Bildungslücken, die schließlich jeder hat, der Bildung hat (je mehr Bildung übrigens, desto auffälliger die Lücken – ein magisches Verhältnis). Alice Munro als „große Unbekannte der nordamerikanischen Literatur „ zu bezeichnen, wie es nun gelegentlich geschieht, ist dagegen schon höherer, eurozentrischer Unsinn. Ebenso hatten Nordamerikaner im Jahr 2004 Elfriede Jelinek als große Unbekannte der deutschsprachigen Literatur bezeichnen müssen. Vielleicht haben sie es ja, zum Gaudium der Hiesigen, getan. Jedenfalls: Alice Munro ist seit Jahrzehnten eine der berühmtesten angloamerikanischen Autorinnen, ihre Erzählungen erscheinen regelmäßig in den literarischen Zeitschriften bis hin zum „New Yorker“, sie hatte jahrelang geradezu ein Abo auf die höchsten Literaturpreise ihrer Heimat Kanada, bekam den „International Man Booker Preis“ für ihr Lebenswerk. Über sie zu schreiben ist aber deshalb verflixt schwer, weil es hierzulande zwei scharf getrennte Gruppen gibt: die einen, die, wie der große, herrliche Martin Walser, „null“ wissen und kennen, und die anderen, die dann meistens alles oder sehr, sehr viel kennen. Dazwischen gibt es nichts. Den Leser nämlich, der nur eine einzige ihrer 160 Erzählungen liest und mit einem Schulterzucken weglegt, den will ich mir nicht einmal vorstellen. Der verdient den Ehrentitel „Leser „ gar nicht. Ein richtiger, anständiger Leser (in achtzig Prozent der Fälle sowieso: eine Leserin) entwickelt meistens eine schwere Munro- Sucht, die erst ein halbes Jahr und mehrere Bande später zu einem vorläufigen, erschöpft-glücklichen Zwischenhalt kommt. Ab dann lebt man mit ihr und an der Hand ihrer Geschichten weiter, beschützt und kluger. Trotzdem wollen wir hier auch zu den Walsers unter den Leserinnen und Lesern sprechen. Versuchen wir es so: Von vielem, was nun über die Literatur der Alice Munro gesagt und geschrieben wird, stimmt ebenso das Gegenteil. Ja, ihre Geschichten handeln von Frauen und spielen immer in Kanada, und nein, sie schreibt nicht „immer dieselben Geschichten“, wie ein ahnungsloser Kritiker einmal sagte, dessen Name mir deshalb sofort entfallen ist. Sie schreibt mit den gleichen Gründen und mit dem gleichen Recht über Kanada, mit denen Proust über Frankreich oder Tschechow über die russische Gesellschaft geschrieben haben: weil sie Landschaft und Mentalität kennt, weil die Quelle ihrer Weltliteratur eben hier entspringt. Über Frauen (und Männer) wiederum schreibt sie so, wie Männer seit jeher über Männer (und Frauen) geschrieben haben: als Menschen mit hässlichen oder ergreifenden Eigenschaften, deren Geschlecht erst mal nicht mehr aussagt, als es das im Alltag tut. Frauen bei Alice Munro haben keine ideologische Funktion über ihr individuelles Menschsein hinaus, auch wenn die Welt aus weiblicher Sicht natürlich etwas anders aussieht. Ja, Alice Munros Geschichten sind extrem anschaulich, geradezu filmisch, und kommen ganz leicht daher, als waren sie nichts. Dabei sind sie hochkomplex gebaut. Und, Himmel, sie sind keine „Frauenliteratur“! Wenn aber doch, dann mochte man gar keine andere mehr lesen und schreiben. Alice Munro hat die klassische Gabe, mit ganz wenigen, scheinbar einfachen Sätzen eine Szene, eine Stimmung hinzutupfen: „Mein Vater kam übers Feld, in den Armen den Körper des Jungen, der ertrunken war. Es war eine Gruppe von mehreren Männern, die von der Suchaktion zurückkamen, aber er war es, der den Leichnam trug. Die Männer waren schlammbedeckt und erschöpft, und sie gingen mit gesenkten Köpfen, als ob sie sich schämten. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 70 Leseprobe Leseprobe Selbst die Hunde waren entmutigt, triefnass von dem kalten Fluss.“ Und dennoch findet sich bei ihr keine Geschichte, von der man sagen kann, sie hatte das, was sie erzählt, geklärt. So, wie der glückliche Munro- Leser noch tagelang über die Rätsel, Leerstellen und Wendepunkte in ihren Büchern nachdenken kann (und welchen Sinn hatte das Lesen denn, wenn man das Buch nicht, ausgelesen, noch weiter in Gedanken herumtragen und benagen konnte?!), ist es fast unmöglich, eine ihrer Geschichten nachzuerzählen. Ja, da war diese Story mit der Tochter, der erst als Erwachsener, bei der Rückkehr ins Landarzt-Haus ihres Vaters, aufgeht, dass die vornehmen Damen, die immer zu ungewöhnlichen Zeiten kamen, illegale Abtreibungen machen ließen. Doch beim Wiederlesen scheint es, als ob es viel mehr um die peinvolle Vater- Tochter-Beziehung ginge. Oder um die unheimliche Haushalterin? Oder doch um das Drama der privat gescheiterten Tochter, die gerade ihr Kind zur Adoption freigegeben hat? Das ist ganz typisch: dass in allen Erzählungen mehrere Energiestrome laufen, die einander umspielen und nähren. Und noch so ein Gegensatzpaar: Obwohl sie sich so süffig, so rund und organisch lesen, stellt sich bei genauer Textanalyse heraus, dass Munro eher flächig schreibt als linear, mit schrägen Einstiegen und Schnitten, unauffällig wechselnden Perspektiven, heftigen Zeitsprüngen und Abbrüchen. Dadurch weitet sie ihr Erzählen ins Malerische, Musikalische, den Leseeindruck ins Sinnliche aus. Und ja, Alice Munro hat, bis auf einen frühen und weniger gelungenen Roman, ausschließlich Erzählungen geschrieben. Jede davon, so redet man jetzt dem widerstrebenden, notorisch erzählungsphobischen deutschen Leser gut zu, sei „eigentlich ein kleiner Roman. Falls das insinuieren soll, dass Romane per definitionem komplexer sind als Erzählungen (und nicht, wie oft, bloß bleich aufgedunsene Erzählungen), rauft man sich als Schriftsteller sowieso die Haare im Weltschmerz. Richtiger ist wohl, dass Munro die ihr gemäße Form einfach entwickelt hat, als sie sie im Sortiment nicht fand, Kurzromane, Langerzahlungen, meist zwischen vierzig und sechzig Seiten. Einen biographischen Vorteil hatte die heute zweiundachtzig jährige Alice Munro, der ein Nobelpreis ansonsten wahrlich nicht in die „bildungsferne“ Wiege gelegt war: dass sie, wie sie einmal sagte, eigentlich noch „mitten im 19. Jahrhundert“ aufwuchs – so primitiv und bitterarm waren die Verhältnisse auf der Farm ihres Vaters –, dann aber all die rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen, sexuelle Revolution, Emanzipierung der Frau, im bewussten Erwachsenenalter erlebte. So scheint sie mehrere Leben in einem gelebt und für ihre Literatur fruchtbar gemacht zu haben. Die Mutter litt an Parkinson, der Vater war erfolglos, die Geschwister waren klein: Der einzige Ausweg aus der Haushalts- und Pflegefalle war Bildung. Mit den besten Noten des ganzen Countys errang Alice Laidlaw ein Universitätsstipendium. Auf der Uni wurde sie von Jim Munro errungen. Mit zwanzig war sie verheiratet, mit fünfundzwanzig Mutter von zwei Töchtern, und kaum ein Text über sie kommt ohne Hinweis darauf aus, dass ihre Schreibmaschine damals in der Wäschekammer stand, zwischen Waschmaschine, Trockner und Bügelbrett. Die Vancouver Sun titelte 1961: „Housewife finds time to write short stories”. Per Ehe also in die nächste Falle gegangen? Munros Tochter Sheila wies darauf hin, dass sich bis heute „häusliches Leben gut mit Schreiben kombinieren lasst“, worauf unsere Generation, fest durchemanzipiert (die Frau muss raus!), erst mal gar nicht gekommen wäre. Aber ja doch, gilt genau wie für Männer (denen halt das Kochen und Putzen erspart blieb): Konzentration durch Gleichförmigkeit und vertraute Umgebung, keine Extra- Aufregungen wie Mobbing oder Karrierestress. Alice Munro berichtete, dass das Problem nicht die Kinder – die schlafen viel oder gehen in die Bildungsanstalten – waren, sondern die tratschsüchtigen Nachbarinnen, die alle naslang hereinschneiten. Da zogen die Munros um. Und so wurde aus dem Landmädchen, das den Schluss von Andersens „Kleiner Meerjungfrau“ so unerträglich traurig fand, dass es sich einen neuen erfand, aus der halbverhungerten Studentin, deren Talent sofort erkannt wurde, aus der schreibenden (und das Familieneinkommen deutlich aufbessernden!) Hausfrau, die mit immenser Disziplin, gegen Wäscheberge und Verwandtenbesuche, ihre Kunst immer weiter vervollkommnete, eine der grusartigsten Schriftstellerinnen unserer Zeit, handwerklich perfekt, psychologisch brillant, liebevoll ironisch, höchst lesbar und immer wieder überraschend. Dass Alice 164 Munro den Literatur- Nobelpreis 2013 bekommt, ist eine Nachricht, die mehr Schriftsteller auf der ganzen Welt mit tiefer, ehrlicher Freude und Zustimmung erfüllt als in den meisten Jahren zuvor. Jede Wette. Mehr Herz als Verstand auf Papier Die Briefe von Virginia Woolf Es gibt kaum einen größeren Gegensatz: An Virginia Woolf zu denken, ruft Bilder pittoresker Düsternis auf – Depressionen, Schlaflosigkeit, der schaurige letzte Gang in den märzkalten Fluss Ouse, die Taschen voller Steine. Doch die ungebügelten Briefe der Virginia Woolf zu lesen, fegt diese Nachtschwarze nach wenigen Seiten hinweg. „Du mochtest etwas über Mrs. Clifford wissen“, schreibt sie am 2. April 1920 an ihre Schwester Vanessa Bell,“ – die in der Tat alles war, was Du Dir je unter ihr vorgestellt hast – mit einem wabbeligen Hals, wie ein orientalischer Truthahn ihn hat, und einem Mund, der sich öffnete wie eine alte Ledertasche, oder die intimen Teile einer großen Kuh.“ Was für eine boshafte Klatschbase! Was für eine überschäumende Schreib- und Spottlust! Am 25. Januar 2007 jährt sich Virginia Woolfs Geburtstag zum 125. Mal. Zu diesem Anlass veröffentlicht der Fischer Verlag ihre ausgewählten Briefe in zwei Banden, über tausend Seiten dick. Sie sind eine fast unheimliche Ergänzung zu ihrem Werk, etwas Unerwartetes, Ungebärdiges, Blutvolles. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 71 Leseprobe Leseprobe Wenn Virginia Woolfs Romane kostbare höfische Gewänder sind, voll schimmernder Farben und filigranster Verzierungen, und ihre Tagebücher die eigenbrötlerischen Alltagskutten dazu, dann sind ihre Briefe knallbunte Accessoires, gestreift, kariert, kokett, zerfranst und manchmal bestürzend zärtlich: „Ich habe das Gefühl, gemütlich im Beutel von Mutter Wallaby, dem Känguruh, eingekuschelt zu sein. Meine kleinen Pfoten schmie166 gen sich an meine pelzigen Wangen. Ist Mutter Wallaby sanft und zärtlich zu ihrem Kleinen? Es wird kommen und ihr armes, mageres, räudiges Gesicht lecken", schreibt die fast Fünfundzwanzigjährige, die als kleines Mädchen ihre Mutter verlor, an die viel altere Jugendfreundin Violet Dickinson. Briefe schrieb Virginia Woolf ohne Fesseln. Sie schrieb sie eilig, ohne zu korrigieren, in gestohlenen Minuten zwischen der literarischen Arbeit am Vormittag und dem Handwerk am Nachmittag in der Hogarth Press, dem ambitionierten Kleinverlag der Woolfs. Deshalb bilden sie Virginia Woolfs typischen schöpferischen Prozess so genau ab, dieses „hinter der eigenen Stimme herstolpern", wie es in ihrem Tagebuch heißt. Leonard Woolf hat es ihr plötzliches „Abheben „ genannt, wenn mitten im Gespräch die Inspiration Uber sie kam und sie „irgendeine verrückte, faszinierende, ergötzliche, traumhafte, fast lyrische Beschreibung eines Ereignisses, eines Ortes oder einer Person „ gab. In den Briefen ist nichts zu spüren von ihren Qualen beim Schreiben der Romane, die oft Reisen an die Grenzen ihrer geistigen Gesundheit waren. Nichts zu spüren auch von ihrer lebenslangen Schüchternheit, ihrer pathologischen Verletzlichkeit, ihrer panischen Angst vor Kritik, die vor Erscheinen ihres ersten Romans zum Selbstmordversuch führte. Von den oft introspektiven Tagebüchern unterscheidet die Briefe der explizite Wunsch, zu gefallen, zu amüsieren, zu unterhalten – besonders gerne mit Klatsch und Tratsch. Denn wem schrieb Virginia Woolf? Sie pflegte keine Korrespondenzen im herkömmlichen Sinn, indem sie sich etwa mit Kollegen gelehrt ausgetauscht hatte. Das eigene Schreiben spielt kaum eine Rolle. Nur Vita Sackville- West gegenüber äußert sie sich manchmal als behutsam kritisierende Lehrmeisterin: „Wir geborenen Schriftsteller neigen dazu, zu früh mit unseren silbernen Löffeln bereitzustehen: Ich meine, ich denke, dass es seltsamere, tiefere, kantigere Gedanken in Deinem Hirn gibt, als Du bislang hast herauskommen lassen.“ Nein, mit wenigen Ausnahmen sind diese Briefe das Gegenteil intellektueller Diskurse, obwohl sie so klug sind. Sie sind spontane Liebesbeweise, mehr Herz als Verstand auf Papier. Sie sind gerichtet an Familie und die besten Freunde, und sie haben meist keine Ordnung außer der zufälligen Folge ihrer Einfälle. Sie hüpfen von Alltagskram wie den ständigen Dienstbotenkriegen mit Lottie und Nelly zu Seitenhieben auf Dritte („schließlich schlief er ein; wie ein preisgekröntes Schwein, das gut unterhalten wurde, schlafen durfte „) und enden bei einer toten Maus („wahrscheinlich verhungert“), die aus ihrem Schmutzwäschekorb gefallen ist. Um Antwort zu erhalten, worum sie in vielen Briefen bettelt, versorgte Virginia Woolf ihre Briefpartner mit den hinreißendsten satirischen Miniaturen: „Das arme alte Ding wogte und lobte, bis man wirklich meinen konnte, man sprach mit einem Geflügel im Delirium – ihr Hals wurde langer und langer, und Du weißt, wie sie sich immer an ‚wundervoll‘ hängt, als wäre es ein Seil, das in ihrem Vakuum baumelt“, lästerte sie über Ottoline Morell, und über Jack Hutchinson, er trage „pflaumenfarbenen Samt, wie ein Teewarmer“. Wenn sie, ernsthafter, von Leseerfahrungen berichtet, ist sie nicht weniger pointiert: „Ich lese Henry James … und komme mir vor wie jemand, der in einem Block aus glattem Bernstein einbalsamiert ist.“ Ironisch schrieb sie zwar einmal, „denn ich fürchte immer, Dir mit meiner losen Feder die Ohren aufzuschlitzen", doch die lose Feder stach auch die Schreiberin selbst. 168 Mehr als einmal bekam sie Arger, weil ihre Boshaftigkeiten ausgeplaudert wurden oder weil sie falsche Gerüchte verbreitete. Ihre Bestürzung darüber klingt nie ganz ernst, und so fuhr sie fort, ihren Lieben von Skandalen zu berichten, in denen etwa die Monatsbinden der Frau von John Maynard Keynes eine Rolle spielten. Doch das Briefeschreiben bedeutete für Virginia Woolf wohl mehr als sprachliche und intellektuelle Lockerungsübung. Es war ihr lebensnotwendiger Draht zur Außenwelt. Ihrer Nerven wegen lebte sie jahrelang in halbfreiwilliger Isolation, Leonard Woolf hielt sie ängstlich-besorgt von Partys und Aufregungen fern, phasenweise sogar von London. Ihre briefliche Nabelschnur jedoch pulsiert noch heute, da die Verfasserin seit über fünfundsechzig Jahren tot ist – beim Lesen ersteht ihre ganze Welt. „Briefe scheinen die Vergangenheit mehr als alles andere zu bewahren", bemerkte sie selbst mit Mitte fünfzig beinahe schaudernd, als sie von Violet Dickinson, der ehemaligen Känguruh-Mutter, unerwartet eine gebundene Abschrift der eigenen Jugendbriefe erhielt. In ihren Briefen erscheint eine Person so eingebettet und vernetzt, so eigentümlich komplett in Raum und Zeit. Briefe verdichten, betonen die bedeutsamen Abschnitte. So sind die Anfänge Bloomsburys hier aufbewahrt, dieses sich befreienden intellektuellen Milieus Londons in den Zehnerjahren. Kultivierte junge Damen wie Virginia Stephen begannen plötzlich Uber Sexualität, ja Uber „Arschficker“ zu reden und gründeten etwas, was man heute WG nennen wurde – horribile dictu mit jungen Herren! Für zwei ihrer später engsten Weggefährten und Briefpartner, Lytton Strachey und Saxon Sydney- Turner, hatte die junge Virginia beim ersten Kennenlernen nur Spott übriggehabt, „sie sitzen die ganze Zeit still da, absolut still; gelegentlich fluchten sie sich in eine Ecke und kichern über einen lateinischen Witz. Ich glaube nicht, dass sie robust genug sind, um sehr viel zu empfinden.“ So luftig und leicht, so klug und lustig sind diese Briefe, dass sich ein Gedankenspiel aufdrangt: Waren sie das einzige biographische Zeugnis Virginia Woolfs, wir hatten ein vollkommen anderes Bild von ihr. Daran zeigt sich aber, dass auch Briefe nur einen Ausschnitt der Persönlichkeit abbilden, jenen nämlich, den sie anderen zu zeigen bereit ist. Wie das Schreiben ist auch Virginia Woolfs Krankheit, außer in den Abschiedsbriefen, kein Thema. Höchstens teilt die fast Genesene mit, wie sehr die Bettruhe und das ewige Milchtrinken sie langweilen – zu ihrer Zeit waren das die einzigen Rezepte für psychiatrische Patienten. Doch wie ein krankes Kind nicht isst, so schreibt die kranke Virginia Woolf nicht, auch keine Briefe. Die stummen Lücken ihrer Korrespondenz bezeichnen ihre wiederholten monatelangen Zusammenbrüche. Der Erste Weltkrieg fehlt fast ganz. Bald nach ihrer Hochzeit 1912 und dem Abschluss ihres ersten Romans fluchtete sie sich, wohl aus Angst vor zweifacher Entblößung, jahrelang in das Dunkel des Wahnsinns 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 72 Leseprobe Leseprobe Der Zweite Weltkrieg als reale Bedrohung nimmt dagegen großen Raum ein. Virginia, die längst eine berühmte Schriftstellerin ist, erlebt, dass sich nicht nur der eigene Kopf, sondern die ganze Welt verdüstern kann. Die engen Freunde Lytton Strachey und Roger Fry sterben, der älteste Neffe Julian fällt im Spanischen Bürgerkrieg. Die Woolfs, die eine Invasion der Deutschen noch mehr als andere fürchteten, da Leonard Jude war, besorgen sich Gift für einen Doppelselbstmord. Und Virginia sieht ihre zweite große Liebe, die Stadt London, in Schutt und Asche fallen. Sie fluchtet sich in Bucher, „ich lese mich in einen Zustand der Empfindungslosigkeit hinein“, schreibt sie unter dem Eindruck von Bomben und Kampfflugzeugen an Ethel Smyth, und an Vita Sackville- West: „Ich habe keine Angst, ich meine, um meinen eigenen Körper. Aber er ist ein alter Körper. Und trotzdem hatte ich gern noch zehn weitere Jahre." Sie hatte keine zwei Jahre mehr. Denn noch mehr als Hitler fürchtete sie ihre Krankheit, die Anfang 1941, wie Leonard Woolf sich erinnerte, ohne die üblichen Vorzeichen kam, so schnell wie der Blitzkrieg. Und so werden diese beiden Bande beendet vom letzten und berühmtesten Brief Virginias an Leonard Woolf: „Liebster, (…) wenn überhaupt jemand mich hatte retten können, warst Du es gewesen. Alles ist von mir gegangen bis auf die Gewissheit Deiner Gute. Ich kann Dein Leben nicht langer ruinieren. Ich glaube nicht, das zwei Menschen glücklicher hatten sein können als wir es waren. V.“ © Kiepenheuer und Witsch, 2015. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 73 Leseprobe Leseprobe Noll, Chaim: Der Schmuggel über die Zeitgrenze: Erinnerungen | Verbrecher Verlag | ET: März 2015 ISBN: 9783957320858 | Broschiert | 480 Seiten | 24,00 € Chaim Noll wanderte vor zwanzig Jahren nach Israel aus und lebt heute in der Wüste Negev. In Ostberlin wuchs er auf als Sohn des DDR-Schriftstellers Dieter Noll, der zur privilegierten Führungsschicht der DDR gehörte. Vordergründig ist das Buch eine Auseinandersetzung mit dem politischen System im Osten Deutschlands, gegen das Noll als junger Mann opponierte, bis er im Winter 1983 – nach Versuchen der Staatssicherheit, sich seiner Manuskripte zu bemächtigen – sein erstes Buch von Diplomaten in den Westen schmuggeln ließ und selbst einen Ausreiseantrag stellte. Noll erzählt vor allem die Geschichten von prominenten und unbekannten Menschen, denen er im damaligen Berlin begegnete, und erinnert an die aufregende Geschichte seiner Geburtsstadt, die er noch heute für ihren Überlebenswillen bewundert. Chaim Noll, 1954 als Hans Noll in Ostberlin geboren, ist Sohn des Schriftsteller Dieter Noll. Er studierte Kunst und Kunstgeschichte, reiste 1983 nach Westberlin aus. 1991 zog er mit seiner Familie nach Rom. Seit 1995 lebt er in Israel, seit 1997 in der Wüste Negev. 1998 wurde er israelischer Staatsbürger. Neben seiner schriftstellerischen Arbeit lehrt Noll an der Universität Beer Sheva. Er schrieb u. a.: „Die Wüste lächelt“, „Meine Sprache wohnt woanders“ , „Der Kitharaspieler“, „Der goldene Löffel“ (2009), „Feuer“ (2010) sowie „Kolja“ (2012). Am 22. Mai 1979 bauten wir im Museum für Deutsche Geschichte, dem alten Zeughaus Unter den Linden, eine Ausstellung auf. Ich weiß nicht mehr, warum wir, Studenten des letzten Studienjahres, es taten, worum es überhaupt ging. Wahrscheinlich hatte die Ausstellung mit dem dreißigsten Jahrestag der Gründung des Staates DDR zu tun, für den, obgleich erst im Herbst zu begehen, bereits seit Jahresbeginn umfangreiche Vorbereitungen liefen. Aus solchen Anlässen wurde der Kulturbetrieb der DDR in Bewegung gesetzt und mit gut bezahlten Aufträgen animiert, um Kunstwerke zu produzieren, die den beeindruckenden Hochstand unseres Landes zeigen sollten. „Axelchen“ hatte im Auftrag der Regierung eine neue Gedenkmünze gestaltet, „Berlin – Hauptstadt der DDR“, dargestellt war das Brandenburger Tor, obwohl dieses Tor im Niemandsland lag, zugemauert war und für DDR-Bürger seit fast zwei Jahrzehnten unerreichbar. Klemke mokierte sich über die Münze, nannte die Schriftgestaltung „kleinlich, aber ambitiös“, ließ bei einem Glas Sekt die Bemerkung fallen, „Axelchen“ versuche, durch Fleiß wettzumachen, was ihm an Begabung fehle. Auch wir arbeiteten fleißig an diesem Morgen im Berliner Zeughaus, woran auch immer. Nur an das Wetter erinnere ich mich genau: sonnig, warm, blauer Himmel über den klassizistischen Fassaden, dem frühlingshaft frischen Grün der Linden. Auf dem Tisch, an dem wir gegen zehn eine Tasse Kaffee tranken und eine Zigarette rauchten, lag das Neue Deutschland. Ich blätterte es lustlos durch und stieß auf Seite zwei auf eine groß gesetzte Überschrift: „Offener Brief von Dieter Noll an Erich Honecker“. Die Überschrift verhieß nichts Gutes. Ich kannte meinen Vater und war sicher, dass er einen solchen Brief nicht aus freien Stücken schreiben würde. Er lebte seit Jahren abgeschieden draußen in seinem Haus am See und kümmerte sich in Wahrheit wenig um das, was in der Stadt vor sich ging, im Schriftstellerverband, in den Kreisen seiner Kollegen. Wenn er, selten genug, in die Stadt fuhr, kostete es ihn sichtlich Überwindung. Er war ein Einzelgänger, Egozentriker, und der Ansatz des Politischen ist Interesse am Gemeinwohl. Trotz aller autosuggestiven Formeln vom Kommunismus („Der Kommunismus ist die Sache aller“) war er immer geblieben, was ein Kommunist nicht sein soll: ein unverbesserlicher Individualist. Ich hätte nicht sagen können, womit er sich gedanklich beschäftigte, was er schrieb, ob er überhaupt etwas schrieb – wir sahen uns damals selten. Gelegentlich war ich mit Sabine und den Kindern ein paar Tage draußen bei ihm und Monika, vor allem den Kindern zuliebe, die dort Boot fuhren und badeten. Monika war eine gute Gastgeberin, die es uns an nichts mangeln ließ, auch er widmete sich den Gästen, durch lange, oft interessante Gespräche. Er las viel, dachte über alles Mögliche nach, offenbarte immer ein paar überraschende Einblicke – und blieb dennoch undurchschaubar. Obwohl er viel sprach, beim Reden aus sich herausging, auf den ersten Blick offen und extrovertiert wirkte, gab es ganze Bereiche seines Denkens, die er sorgsam verbarg. Unsere Gespräche mit ihm hatten alle Unmittelbarkeit eingebüßt, wir konnten schon lange nicht mehr offen reden. Ich wusste damals nicht, dass er selbst Berichte an die Staatssicherheit lieferte, doch wir waren überzeugt, dass in seinem Haus Zuträger ein- und ausgingen. Wir rechneten immer und überall damit, dieses Misstrauen lag in der Atmosphäre des Landes wie ein unheimlicher, vertrauter Geruch. Reglos am Tisch sitzend, las ich den „Offenen Brief“ von Anfang bis Ende. Ich erinnere mich, wie aus meiner unguten Erwartung erst Beklommenheit wurde, dann etwas wie ein Schwindelgefühl, als ich diese Sätze las: „Einige wenige kaputte Typen wie die Heym, Seyppel oder Schneider, die da so emsig mit dem Klassenfeind kooperieren, um sich eine billige Geltung zu verschaffen, weil sie offenbar unfähig sind, auf konstruktive Weise Resonanz und Echo bei unseren arbeitenden Menschen zu finden, repräsentieren gewiss nicht die Schriftsteller unserer Republik. Die Partei kann auch überzeugt sein, dass die überall in den Betrieben arbeitenden Menschen unseres Landes die Maßnahmen unserer Regierung billigen und kein Verständnis dafür aufbringen, wie da ein kleiner Klüngel von so genannten Literaten verzweifelt von sich reden machen will, indem er sich vor den Karren des Westfernsehens spannen lässt oder die Partei mit unverschämten offenen Briefen traktiert.“ 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 74 Leseprobe Leseprobe Was mich an diesem Brief am meisten erstaunte, war die völlige Verkennung der Lage. Ein zurückgezogen lebender Schriftsteller in seinem Haus am See hatte nicht mitbekommen, was im Land vor sich ging, und glaubte, für die „überall in den Betrieben arbeitenden Menschen“ sprechen zu können. Das war peinlich, irgendwo auch naiv. Der Text war ohne Frage „angeregt“ worden, doch es gab Anregungen, denen man besser nicht folgte. Je länger ich las, umso mehr wurde mir bewusst, dass der Brief für mich folgenschwer war. Er ruinierte mit einem Schlag die Reputation meines Vaters, seinen Namen, der auch meiner war, begrub meine Hoffnungen auf ein Leben ohne politische Konflikte. Jeder, der mich kannte, würde von mir eine Stellungnahme zu diesem Brief erwarten, klar, eindeutig, dafür oder dagegen. Denn der Brief selbst war konfrontativ und fordernd, er ließ keinen Raum für Unentschiedenheit. Ich saß nicht allein am Tisch. Schon bei Lesen merkte ich, dass ich beobachtet wurde. Ein Student, mir gegenüber, der die Zeitung offenbar schon durchblättert hatte, wandte den Blick nicht von meinem Gesicht. Ich legte die Zeitung auf den Tisch zurück, die Seite mit dem Brief für alle sichtbar, und seufzte. Der Student sah mich an und sagte vorsichtig: „Tut mir leid.“ Noch andere trösteten mich an diesem Tag. Mein Freund Andreas, mit dem ich mich zum Mittagessen traf, behauptete, der Brief sei „nicht weiter schlimm“. Was gut gemeint war, indes: Ich wusste es besser. Am späten Nachmittag saß ich mit Grischa Meyer auf der Café-Terrasse des Linden-Corso Ecke Friedrichstraße und trank Kognak. Grischa, ein Nachkriegskind, Sohn der Künstlerin Ingeborg Meyer-Rey und des sowjetischen Kulturoffiziers Grigorij Weiss, war ein gutherziger Mensch. Als einziges Kind seiner Mutter verfügte er für DDR-Verhältnisse über viel Geld, sein komfortabler Lebensstil machte ihn tolerant und geneigt, anderen zu helfen und Konflikte zu deeskalieren. Er zerstreute meine trüben Gedanken durch freundliches Geplauder, sah jedoch voraus: „Du wirst dich irgendwann entscheiden müssen.“ Ich zuckte mit den Schultern und fragte: „Was gibt es da zu entscheiden?“ Er begann, und auch das war wohl als Trost gemeint, ein Biermann-Lied zu singen: „Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit ...“ Als ich mein Gleichgewicht einigermaßen wiedergefunden hatte, lief ich zum Alex und fuhr nach Hause. Meine Frau, die den Brief nicht kannte, überflog den Zeitungstext und fragte: „Was geht uns das an? Wir kümmern uns einfach nicht darum.“ Wir sahen bald, dass Indifferenz hier nicht funktionierte. Wenn irgendetwas unser Weggehen aus der DDR beschleunigt hat, war es dieser Brief. Er führte zu unserer gesellschaftlichen Isolation. © Verbrecher Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 75 Leseprobe Leseprobe Oz, Amos: Judas. Roman | Suhrkamp | ET: ca. 9. März 2015 | Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler ISBN: 978-3-58-42479-7 | Gebunden | 335 Seiten | ca. 22,95 € Im Winter 1959/1960 beschließt Schmuel Asch, sein Studium in Jerusalem (Thema der geplanten Abschlussarbeit: Jesus in der Perspektive der Juden) abzubrechen. Zum selben Zeitpunkt verlässt ihn seine Freundin, um einen früheren Freund zu heiraten. Hinzu kommt, dass seine Eltern sich finanziell ruiniert haben und ihn nicht mehr unterstützen können. Daraufhin will Schmuel Israel verlassen. Er entscheidet sich anders, als er eine Anzeige liest, die ihm ein Auskommen in Jerusalem erlaubt, die ihn aber auch verpflichtet, niemandem von seinem Aufenthalt in Jerusalem zu berichten. Die Anzeige führt ihn ins Haus eines eigentümlichen alten Mannes namens Gerschom Wald. Nachts liest er ihm vor und unterhält sich mit ihm: über die Ideale des Zionismus, über die jüdisch-arabischen Konflikte, über Gott und die Welt. Und dort trifft er auf die geheimnisvolle Atalja Abrabanel, deren verstorbener Vater einer der Anführer der zionistischen Bewegung war. Sogleich ist Schmuel gefesselt von der Schönheit und Unnahbarkeit dieser Frau. Nach und nach gelingt es ihm, ihr Geheimnis zu enthüllen – und damit die menschliche Tragödie vor und nach der Gründung Israels im Jahr 1948. Amos Oz hat einen Liebesroman geschrieben und zugleich ein Buch über das geteilte Jerusalem vor dem Sechs-Tage-Krieg, eine Geschichte seines Landes mit all seinen Konflikten, seinen Hoffnungen und seiner Verzweiflung. Amos Oz, geboren 1939 in Jerusalem, ist einer der international bekanntesten israelischen Schriftsteller. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1992), dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main (2005) und dem Prinz-von-Asturien-Preis für Literatur (2007) und den Siegfried-Lenz-Preis (2014). „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis” wurde in alle Weltsprachen übersetzt und erreichte eine Auflage in Millionenhöhe. Zuletzt erschien von Amos Oz das Buch „Unter Freunden“ (2013). 1. Dies ist die Geschichte der Wintertage Ende des Jahres 1959, Anfang 1960. In dieser Geschichte gibt es Irrtum und Lust, es gibt enttäuschte Liebe, und es gibt so etwas wie die Frage nach Religiosität, die hier unbeantwortet bleibt. An manchen Häusern sind die Zeichen des Kriegs noch zu erkennen, der die Stadt zehn Jahre zuvor geteilt hat. Gedämpfte ferne Akkordeonmelodien kann man hören oder, gegen Abend, hinter einem heruntergelassenen Rollladen, die sehnsüchtigen Klänge einer Mundharmonika. In vielen Häusern hängen van Goghs Sternennacht oder das Weizenfeld mit Zypressen an der Wohnzimmerwand, und in den kleinen Zimmern bedecken noch immer Strohmatten den Boden, und Die Tage des Ziklag oder Doktor Schiwago liegen, aufgeklappt und umgedreht, am Rand der Schaumgummimatratze, die mit einem orientalisch gemusterten Tuch überzogen ist und auf der sich bestickte Kissen stapeln. Den ganzen Abend über brennt im Petroleumofen die blaue Flamme. In der Zimmerecke steht wie üblich eine Granatenhülse mit kunstvoll arrangierten getrockneten Disteln. Anfang Dezember brach Schmuel Asch sein Studium an der Universität ab in der Absicht, Jerusalem zu verlassen wegen einer unglücklichen Liebe und einer Forschungsarbeit, mit der er nicht weiterkam, vor allem aber deshalb, weil Schmuel aufgrund der desaströsen finanziellen Lage seines Vaters gezwungen war, sich eine Arbeit zu suchen. Er war ein kräftiger junger Mann, fünfundzwanzig Jahre alt, empfindsam, ein Sozialist und Asthmatiker, schnell zu begeistern und leicht zu enttäuschen. Breite Schultern, kurzer, dicker Hals, genau wie seine Finger: dick und kurz, als würde an jedem ein Glied fehlen. Aus allen Poren im Gesicht und am Hals schossen gekräuselte Barthaare, die an Stahlwolle erinnerten. Dieser Bart breitete sich aus nach oben bis zu den wilden Locken und nach unten bis zu der wolligen Brustbehaarung. Von weitem sah es immer, sommers wie winters, aus, als sei er schweißüberströmt. Aber aus der Nähe, als angenehme Überraschung, merkte man, dass Schmuel Aschs Haut keinen säuerlichen Schweißgeruch verströmte, sondern den zarten Duft nach Babypuder. Er konnte sich von einer Minute auf die andere für neue Einfälle begeistern, vorausgesetzt, sie erschienen scharfsinnig und irgendwie revolutionär. Er neigte jedoch auch dazu, schnell zu ermüden, vielleicht wegen seines vergrößerten Herzens oder wegen seiner Asthmaerkrankung. Tränen stiegen ihm in die Augen, und das verwirrte und beschämte ihn: Jammerte in einer Winternacht am Fuß eines Zauns ein Katzenjunges, das vielleicht seine Mutter verloren hatte, warf ihm einen herzzerreißenden Blick zu und rieb sich an seinem Bein, wurden Schmuels Augen sofort feucht. Oder wenn sich am Ende eines mittelmäßigen Films über Einsamkeit und Verzweiflung im Edinson herausstellte, dass ausgerechnet die härteste Figur von allen Großherzigkeit bewies, kamen ihm sofort die Tränen und schnürten ihm den Hals zu. Wenn er aus dem Krankenhaus Sha’are Zedek trat und eine dünne Frau und ein Kind sah, beide ganz unbekannt, die sich schluchzend umarmten, stieg sofort das Weinen in ihm auf. Damals war es üblich, Weinen für eine Sache der Frauen zu halten. Ein tränenüberströmter Mann rief Widerwillen hervor und sogar leichten Abscheu, ähnlich wie eine Frau, auf deren Kinn ein Bart spross. Schmuel schämte sich sehr wegen dieser Schwäche und gab sich die größte Mühe, sich zu beherrschen, doch es gelang ihm nicht. Insgeheim stimmte er dem Spott zu, den seine Empfindlichkeit auslöste, und er fand sich sogar damit ab, dass seine Männlichkeit einen Kratzer hatte und sein Leben deshalb sehr wahrscheinlich nutzlos und ohne Ziel war. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 76 Leseprobe Leseprobe Aber was tust du, fragte er sich manchmal aus einer gewissen Selbstverachtung heraus, was tust du eigentlich, was machst du, außer mitzuleiden? Hättest du diese Katze, zum Beispiel, nicht in deinen Mantel wickeln und mit nach Hause nehmen können? Wer hat dich daran gehindert? Und zu der weinenden Frau mit dem Kind hättest du einfach hingehen und sie fragen sollen, womit ihnen zu helfen wäre? Oder du hättest das Kind mit einem Buch und ein paar Keksen auf dem Balkon beschäftigt, während du dich mit der Frau in deinem Zimmer aufs Bett gesetzt und flüsternd besprochen hättest, was ihr zugestoßen ist und was du eventuell für sie tun könntest? Einige Tage bevor sie ihn verließ, hatte Jardena gesagt: Du bist entweder wie ein begeisterter kleiner Hund, der kratzt und tobt, und sogar wenn du auf einem Stuhl sitzt, drehst du dich die ganze Zeit um deinen eigenen Schwanz, oder du bist das Gegenteil – liegst ganze Tage lang auf dem Bett wie eine ungelüftete Wolldecke. Damit meinte Jardena einerseits Schmuels ewige Müdigkeit, andererseits etwas grundsätzlich Stürmisches an seinem Gang, der immer ein geheimes Rennen verbarg: Beim Treppensteigen nahm er stets zwei Stufen auf einmal. Belebte Straßen überquerte er diagonal, schnell, mit Todesverachtung, ohne nach rechts oder links zu schauen, als stürze er sich in ein Handgemenge, den Kopf mit den Locken vorgestreckt, als freue er sich auf einen bevorstehenden Kampf, den Oberkörper nach vorn gebeugt, sodass der Eindruck entstand, seine Beine würden panisch dem Körper und der Körper dem Kopf hinterherlaufen und als hätten die Beine Angst, Schmuel könne um die Straßenecke verschwinden und sie allein zurücklassen. Er rannte den ganzen Tag, schwer atmend, fieberhaft, nicht weil er Angst hatte, zur Vorlesung oder zu einem politischen Treffen zu spät zu kommen, sondern weil er jederzeit, morgens und abends, alles erledigen wollte, was auf seinem Plan stand. Um endlich in die Ruhe seines Zimmers zurückzukehren. Jeder Tag seines Lebens, so kam ihm vor, war wie ein zermürbendes Hindernisrennen im Kreis, vom Schlaf, aus dem er morgens gerissen wurde, bis zurück unter die warme Winterzudecke. Jedem, der es hören wollte, hielt er gerne Vorträge, besonders seinen Freunden vom Arbeitskreis zur sozialistischen Erneuerung: Er liebte es, zu erklären, zu begründen, zu widerlegen, zu widersprechen, zu argumentieren. Er sprach lange, genüsslich, spitzfindig und überlegt. Aber wenn man ihm antwortete, wenn er den Vorstellungen anderer zuhören sollte, wurde Schmuel sofort ungeduldig, unaufmerksam und abgelenkt, ihn überkam eine so heftige Müdigkeit, dass ihm die Augen zufielen und der gelockte Kopf auf seine Brust sank. Er genoss es auch, vor Jardena glühende Reden zu halten, Vorurteile zu zerstören und Ansichten ins Wanken zu bringen, Schlussfolgerungen aus Vermutungen zu entwickeln und Vermutungen aus Schlussfolgerungen. Doch wenn sie etwas sagte, sanken seine Lider fast immer nach zwei, drei Minuten. Sie warf ihm vor, dass er ihr überhaupt nicht zuhöre, er leugnete es, und wenn sie ihn aufforderte, zu wiederholen, was sie gerade gesagt hatte, wechselte er das Thema und fing mit den Irrtümern Ben Gurions an. Er war entgegenkommend, großzügig, voll guten Willens und weich wie ein Wollhandschuh, er tat alles, was er konnte, um allen zu gefallen, war jedoch gleichzeitig verwirrt und ungeduldig: Er vergaß, wo er den zweiten Strumpf hingelegt hatte, was der Hausbesitzer eigentlich von ihm gewollt und wem er das Heft mit seinen Vorlesungsnotizen geliehen hatte. Hingegen irrte er sich nie, wenn er mit Nachdruck anführte, was Kropotkin nach dem ersten Zusammentreffen über Netschajew gesagt hatte und was er zwei Jahre später von ihm hielt. Und wer von den Jüngern Jesu weniger sprach als die anderen. Obwohl sie seine Sprunghaftigkeit liebte, seine Hilflosigkeit und das, was sie als die Eigenschaft eines zutraulichen Hundes betrachtete, der im Überschwang außer sich geriet, eines großen Hundes, der sich ständig an einen drückt und einem die Knie mit seinem Geifer benetzt, beschloss Jardena, sich von ihm zu trennen und den Heiratsantrag ihres früheren Freundes anzunehmen, eines fleißigen und schweigsamen Hydrologen namens Nescher Scharschawski, eines Fachmanns zum Sammeln von Regenwasser, der fast immer im Voraus wusste, was sie wollte. Nescher Scharschawski kaufte ihr zum Geburtstag am Datum nach dem allgemeinen Kalender ein schönes Halstuch, und dann kaufte er ihr noch ein grünes orientalisches Kleid zum Geburtstag nach dem jüdischen Kalender, der zwei Tage später stattfand. Er erinnerte sich sogar an die Geburtstage ihrer Eltern. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 77 Leseprobe Leseprobe Oz-Salzberger, Fania: Israelis in Berlin | Suhrkamp | 2001 | Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama ISBN: 978-3-633-54171-3 | Gebunden | 238 Seiten | 20,80 € Viele jüngere Israelis zieht es nach Berlin. Um diese Faszination zu verstehen, muss man sich ins Zentrum der vielfältig verflochtenen und gebrochenen jüdischen und deutschen Geschichte begeben. Weder das Berlin der Weimarer Republik noch die Hauptstadt des „Dritten Reichs“ ist von der historisch-imaginären Landkarte Israels wegzudenken. Tausende gebürtige Berliner wurden Israelis, prägende hebräische Schriftsteller wie Lea Goldberg und S. J. Agnon verbrachten wichtige Jahre in Berlin. Israel hat auch eine Berliner, eine europäische Vergangenheit. Oz-Salzberger lebte ein Jahr in Berlin und befragte Israelis und Deutsche zu diesem gleichermaßen realen und imaginären Ort. Gleich Erich Kästners Emil, einem Helden ihrer Kindheit, entdeckt sie bei ihrer Reise durch Berlin vieles, was ihr die eigene Welt neu erschließt und ihre Wahrnehmung für bestimmende Momente des israelischen, kulturellen Codes schärft. Sie erzählt von Begegnungen in und mit Berlin, von den Erfahrungen und Familienerinnerungen einzelner. So lässt sie eine Welt wiederauferstehen, die es nicht mehr gibt und die doch fortwirkt – ein Erbe, das Israelis und Deutsche heute zugleich verbindet und trennt. Fania Oz-Salzberger, 1960 als älteste Tochter von Amos und Nily Oz in Israel geboren, lehrt als Professorin für Geschichte an der Universität in Haifa und bis vor kurzem auch an der Monash University in Australien. Sie hatte zahlreiche Gastprofessuren inne und war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Er: Es kommt noch ein Abend im besiegten Berlin, da laufen wir zwei Unter den Linden, du wirst dann sicher sehr aufgewühlt sein Und sagen: Sie: Annon, schau, gut, daß wir hergekommen sind und wirklich mit eigenen Augen den Fall unserer Feine sehen. Doch jetzt aus irgendeinem Grund, ich weiß nicht wieso – Ich sehen mich heim, Nach den Stimmen der Kinder, den Glocken der Herden, dem Duft der Zitrushaine – Er: Nach einem Glas Orangensaft, nach einer Banane – Sie: Ja, schön ist die Donau, Und groß der Rhein. Doch der Jordan, der Jarkon und der Kischon Sind mir tausendmal lieber, Annon (…) „Alle Wege führen nach Rom“, Text: Yitzhak Yitzhak (1943/44. Melodie Zivi Ben-Yosef, gesungen von Hanna Marron und Yossi Yadin 1945 und dem Ensemble ‚The Palestinians‘ im Rahmen des Truppenbetreuungsprogramms der Britischen Armee. Was du ererbt von Deinen Vätern hast, Erwirb es, um es zu besitzen. Goethe, Faust 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 78 Leseprobe Leseprobe Vorwort Dies ist ein Reisebuch, geschrieben während eines Jahres in Deutschland, in Berlin. Es basiert auf persönlichen Eindrücken, schriftlichen Quellen, Gesprächen mit Israelis und vielen anderen. Bekannte und weniger bekannte Israelis kommen zu Wort; Israelis, die seit vielen Jahren in Berlin leben, wie auch solche, die sich nur für kurze Zeit hier aufhalten. Es geht um die Frage: Wie lebt es sich als Israeli in Berlin? Diese Frage führte in ein Labyrinth voller Rätsel und Unwägbarkeiten. Jedes richtige Reisebuch enthält Rätsel. Niemand weiß genau zu sagen, wie viele Israelis tatsächlich in Berlin leben. Der Sprecher der Israelischen Botschaft erklärte mir schlicht und einfach, er habe keine Ahnung. Den Daten des Statistischen Landesamtes Berlin zufolge waren im Juni 1993 rund 1900 Einwohner Berlin im Besitz eines israelischen Passes. Ein Vertreter der jüdischen Gemeinde meinte, es handele sich höchstens um ein paar hundert Israelis, von denen auch nur ein Teil als Gemeindemitglieder registriert seien. Aber das hebräische Informationsblatt für israelische Neuankömmlinge in Berlin, verfaßt von Ilan Weiss, erlebte kürzlich eine neue Aufgabe, nachdem die ersten tausend Exemplare vergriffen waren. Und einer meiner Gesprächspartner, ein wißbegieriger Mensch mit vielen Verbindungen, erklärte mir: Echte Israelis? Vielleicht drei- oder vierhundert, mehr nicht. Noch komplizierter wird die Zählung, wenn man bedenkt, daß die Toten nicht weniger interessant sind als die Lebenden und Ideen nicht weniger spannend als Lebensgeschichten. So enthält dieses Buch wenig Statistisches und dafür vieles, was sich der Zählung entzieht. Zum Beispiel Geister. Zum Beispiel offene fragen, etwa die Frage, was überhaupt echte Israelis sind. Jeder Text ist ein Gewebe. Und jedes Gewebe besteht nicht nur aus Fäden, sondern auch aus Löchern. Viele faszinierende Menschen und Schriften, die wesentlich mit Berlin und Israel zu tun haben, finden hier keine Erwähnung, weil sie unzugänglich sind oder unbekannt blieben. Dem Leichten, dem Anekdotischen und dem Dubiosen, das einfließen wollte, wurde jedoch der Zugang nicht verwehrt. Ich danke meinen Gesprächspartnern Michel Assli, Nirit Ben-Josef, Dorit Brandwein-Stürmer, Guy Braunstein, Tsafiri Coen, Ernst Cramer, Orly Doron, Nechama Ehrenberg, Yitzchak Ehrenberg, Amos Elon, Dani Friedlander, Jürgen Habermas, Ute Habermas, Renate Herman, Jürgen Kocka, Claus Leggewie, Wolf Leppenies, Guy Sachar, Friede Springer, Adina Stern, Oliver Sturm, Michael Stürmer, Eran Tiefenbrunn, Amit Toubi, Margrit Wreschner, Moshe Zukermann und anderen, die aus Gründen, die später erklärlich werden, nur mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen genannt werden. Ich habe inhaltlich getreu aufgeschrieben, was meine Gesprächspartner mir sagten, aber die Verantwortung für Deutungen, Schlußfolgerungen, Assoziationen sowie für Mißverständnisse aller Art liegen bei mir. Jürgen Habermas warnte mich, beim Verfassen eines solchen Buches könnten mir meine Naivität und Unkenntnis zum Fallstrick werden. Mit seiner Befürchtung, es könne den falschen Leuten, jenen Deutschen, die auf ‚Normalisierung‘ aus sind, in die Händespielen, setze ich mich im vorletzten Kapitel auseinander. Das Buch wurde auch eingedenk dieser ernste Warnungen geschrieben. Trotzdem meine ich, jedes Reisebuch entsteht aus einem einmaligen Zusammentreffen von Naivität, Unkenntnis, Vorurteilen und schrittweise gewonnenen Erfahrungen aus dem momentanen, zufälligen, beweglichen Blickwinkel des Reisenden. Und Reisende sehen bekanntlich mehr als die Seßhaften, viel mehr, aber auch weniger, viel weniger. Das sind die uralten Gesetze der Reiseliteratur. Ich schulde vielen Menschen Dank. Das Wissenschaftskolleg zu Berlin gewährte mir vollkommen akademische Gastfreundschaft. Ich danke den Mitarbeitern des Kollegs (und insbesondere der Bibliothek) für ihre Unterstützung. Adina, Eran und Julia für ihre Freundschaft. Gilad Carmel für all die Hilfe., die er uns in Berlin leistete. Leonard Rein schickte aus der wunderbaren Haifaer Universitätsbibliothek schnell und zuverlässig umfangreiches Material. Für bibliografische Hilfe danke ich auch Dani Friedlander, Gabi Guarino, Marek Glasermann, Ute Habermas, Shulamit Almog, Elke Blumenthal und Dieter Sadowski. Hanna Marron und Yossi Yadin halfen mir beim Wiederauffinden der fast vergessenen Zeilen über die hebräischen Soldaten im besiegten Berlin. Dieses Buch verdankt viel dem Internet, dem nichts Menschliches fremd ist und das, wie ich hoffe, keinerlei Reglementierung erfährt und weiterhin dem demokratischen Code seiner Begründer verpflichtet bleiben wird. Mein Dank geht an Zvika Mair und Rivka Fähndrich vom Keter Verlag – und insbesondere an Gideon Samet, der den Grundgedanken dieses Buches akzeptierte und dazu beitrug, ihm Tiefenschärfe zu verleihen. Ich danke Niva Elkin-Korten, Galia Oz, Daniel Oz, Avi Rabinerson, Gaby Salzberger Na‘ama Sheffi, Aner Shalev, Adina Stern und Eran Tiefenbrunn, die das Manuskript gelesen und wichtige Anmerkungen dazu gemacht haben. Besonders möchte ich Avi Shavit danken, der mich vieles über die Wechselbeziehung zwischen Vernunft, Strenge, Zurückhaltung und Gefühl gelehrt hat. Meine Mutter und mein Vater halfen mir mit Büchern, Ratschlägen und aufmerksamem Lesen. Ihr Zuspruch und ihre Kritik haben das Buch bereichert. Alle verbliebenen Unzulänglichkeiten des Textes sind jedoch allein mir anzulasten. Eli Salzberger hat dieses Buch von Beginn an begleitet, war sein gründlichster Leser und hat viele seiner Gedanken mit durchdacht. Das Buch ist Eli, dem Andenken seiner Mutter Lotte und ihren Enkeln, unseren Söhnen Nadav und Dean gewidmet. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 79 Leseprobe Leseprobe Preiwuß, Kerstin: Restwärme | Berlin Verlag | 2014 Gebunden | 224 Seiten | ISBN: 978-3-8270-1231-9 | 18,99 € Mariannes Vater ist gestorben. Aus ihrer eigenen, erwachsenen Existenz kehrt die junge Geologin dahin zurück, wo Mutter und Bruder noch leben, in ein altes Haus am See, tief in der mecklenburgischen Provinz. Nur ein paar Tage will sie bleiben, bis nach der Beerdigung. Doch was sie glaubte, lange hinter sich gelassen zu haben, holt sie wieder ein. Eine Familiengeschichte voller stummer Tragödien. Ihr Vater war ein gebrochener Tyrann, ihre Mutter duldete und schwieg. Schicht um Schicht trägt Marianne ab und zeigt, wie Verletzungen durch Krieg und Unfreiheit persönliche Schicksale prägen. Preiwuß lässt dabei der Bitterkeit nicht das letzte Wort. Mit großem Verständnis für das menschliche Drama erzählt sie von Verletzungen, die Generationen überdauern. Kerstin Preiwuß, Lübz geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Psychologie in Leipzig und Aix-enProvence, promovierte über deutsch-polnische Städtenamen und ist Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, wo sie auch lehrte. 2006 debütierte sie mit dem Gedichtband „Nachricht von neuen Sternen“. 2008 erhielt sie das Hermann-Lenz-Stipendium. Von 2010 bis 2012 war sie Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift „Edit“. 2012 erschien ihr zweiter Gedichtband „Rede“. Zuletzt erhielt sie den Mondseer Lyrikpreis. Preiwuß lebt mit ihrer Familie in Leipzig Der Flug war ohne Zwischenfälle verlaufen. Sie hatte Lufthansa gebucht, obwohl die teurer waren, weil noch nie eine Maschine der Lufthansa abgestürzt war. Neben ihr saß ein Elternpaar mit Baby, und kein Flugzeug, in dem ein Baby mitflog, würde abstürzen, so etwas passierte einfach nicht. Das Kleine wurde abwechselnd von Vater und Mutter auf den Arm genommen, je nachdem, zu wem es sich drehte. Dabei brabbelte es vor sich hin. Es hatte die ganze Startphase über geschrien, bis seine wenigen Haare nass am Kopf klebten, sich durchgebogen und immer wieder zurückgeworfen, sodass seine Eltern es kaum halten konnten. Die Ohren, sagte seine Mutter entschuldigend zu ihr, es tut ihm in den Ohren weh. Sie konnte das Baby verstehen, denn obwohl es während des Flugs keine Turbulenzen gegeben hatte, war sie nassgeschwitzt. Der Schweiß war ihr ausgebrochen, nachdem die Flugbegleiterin zwei junge Männer in der Reihe hinter ihr gebeten hatte, sich leiser zu unterhalten, sie würden die anderen Passagiere stören. Die beiden warteten, bis die Frau weitergegangen war, dann fuhren sie lautstark mit ihrer Unterhaltung über Filme fort, in denen Flugzeuge abstürzten. Sie drehte sich um und starrte die Männer an, aber es änderte nichts, die beiden animierten sich gegenseitig mit Begeisterungslauten zu immer neuen Details. Lautlos wünschte sie ihnen Impotenz wegen zu hoher Strahlenbelastung und drehte sich wieder zurück. Mit der Wut kam der Schweiß, er nässte bereits unter ihren Achseln, es juckte, als würden kleine Nadeln von innen durch die Haut stoßen. Um sich vom Kratzen abzuhalten, presste sie die Hände gegen die Oberschenkel. Es kam vor, dass sie allergisch auf ihren eigenen Schweiß reagierte, selten zwar, aber es war schon passiert, in jedem Fall machte es ihr das Leben nicht einfacher, bei Vorstellungsgesprächen etwa oder bei Verabredungen. Sie hatte darum alle erdenklichen Entspannungsübungen gelernt und war mit Bachblüten, Yoga und autogenem Training vertraut. Die Kombination von Bachblütentropfen und autogenem Training half normalerweise gut, nur beim Fliegen versagte jedes Mittel. Sie befahl sich, an etwas anderes zu denken. Mutter hatte sie noch am späten Abend angerufen. In ihrer Stimme hatte ein Unterton gelegen, der sie, obwohl sie schon im Bett lag, schlagartig munter machte. Mutter rief sonst nie an. Sie hatte die Bettdecke beiseitegeschoben, war mit dem Telefon ins Bad gegangen und hatte sich auf die Toilette gesetzt. Dort war es am kühlsten. Das Gespräch war kurz. Sie sagte, sie werde kommen, und legte auf, ohne die Antwort abzuwarten. Danach blieb sie sitzen, das Telefon in der Hand. Obwohl sie kaum etwas gesagt hatte, war sie erschöpft. Der Schweiß sammelte sich zwischen ihren Brüsten, aber das konnte auch an der hohen Luftfeuchtigkeit liegen, selbst in den Nächten kühlte die Luft hier nicht ab. Ihre Knappheit am Telefon war eine Flucht nach vorn gewesen, in ihrer Vorstellung behielt auch Mutter den Hörer in der Hand. Die beiden Männer gingen noch bis kurz vor dem Landeanflug sämtliche ihnen bekannten Katastrophenfilme durch, erst dann wurden sie ruhiger. Sofort nachdem das Flugzeug still stand, brach in der Kabine eine geschäftige Hast aus, alle griffen nach ihren Taschen und drängten aus der Maschine. Sie stand auf, um die Familie mit dem Baby durchzulassen. Die Hose klebte ihr an den Beinen, und dort, wo sie gesessen hatte, glänzte das Leder. Unauffällig löste sie den Stoff von der Haut, nahm ihre Reisetasche und ging zum Ausstieg. Die Wohnung machte einen vernünftigen Eindruck. Ein paar Teller mit angetrockneten Resten standen in der Küche neben benutzten Gläsern und einer halben Pizza, die eingesunken in ihrem Pappkarton lag, aber das war in Ordnung. Normalerweise räumte Marie alles weg, bevor sie wiederkam. Sie ging weiter bis zum Zimmer ihrer Tochter und öffnete die Tür. An den Wänden hingen Poster einer Boy-band. Ganz oben auf dem Regal stand eine Lavalampe, in der träge Blasen schwebten. Das Bett war nicht gemacht, und auf dem Boden lagen die Sachen, die sie gestern getragen haben musste. Das weiße Trägerhemd war viel zu kurz, um die Nieren zu bedecken. Bei dem Wetter würde sie sich erkälten. Sie riss ein Blatt aus einem der Collegeblöcke auf Maries Schreibtisch und zog die Tür wieder hinter sich zu. Marie mochte es nicht, wenn sie heimlich in ihr Zimmer ging. Sie wiederum hatte etwas dagegen, dass ihre Tochter sich zu dünn anzog. In gewisser Hinsicht waren sie also quitt. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 80 Leseprobe Leseprobe Mit dem Blatt setzte sie sich in die Küche und schrieb einen kurzen Brief, in dem sie erklärte, dass sie zwar früher zurückgekehrt, aber schon wieder unterwegs war. Bereits beim zweiten Satz geriet sie ins Stocken. Sie setzte an, strich durch, setzte erneut an, bis die Wörter schwarz übermalt waren. Dann zerknüllte sie das Blatt und warf es in den Müll, nur um es gleich wieder herauszuholen und in ihre Hosentasche zu stecken. Es war besser, Marie erfuhr nichts davon. Sie hatten abgemacht, dass sie zum Schlafen zu einer Freundin ging. Marie war es gewohnt, häufiger dort zu übernachten, während sie für die Arbeitstreffen in Neapel war. Das war eine stille Übereinkunft zwischen ihnen und es funktionierte gut. Sie ging in den Flur zurück, schulterte ihre Tasche, ohne noch einmal hineinzuschauen, und verließ die Wohnung. Die Fahrt dauerte drei Stunden auf einer Strecke, für die man eigentlich die Hälfte der Zeit brauchte, aber der Zug hielt alle zehn Minuten. Manchmal waren es nur Behelfsbahnhöfe. Sie war gleich nach oben gegangen und hatte sich einen freien Vierersitz gesucht, sie konnte nur in Fahrtrichtung sitzen, andernfalls wurde ihr schlecht. In Fahrtrichtung zu sitzen war die einzige Sicherheit, die ihr das Fliegen bot. Ansonsten gab es nur Nachteile, vor allem konnte man sich nicht aussuchen, wo und neben wem man saß, oder den Platz wechseln, wenn einem der Sitznachbar nicht passte. Nach dem nächsten Halt ging ein Mann an ihr vorbei, sah auf die Tasche, die sie auf den gegenüberliegenden Sitz geworfen hatte, und fragte, ob der Platz noch frei sei. Sie zuckte zusammen, als wäre er zu nah an sie herangetreten, und war zugleich von sich selbst peinlich berührt. Die meisten Doppelsitze waren belegt, es war also nur eine Frage der Zeit, bis sich jemand zu ihr setzen würde. Sie zog die Tasche weg. Der Mann nahm den Platz schräg gegenüber, seine Knie stießen dabei fast an ihre Beine, sodass sie die Füße einzog, um nicht unhöflich zu wirken. Sie musterte sein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Er war schon alt. Auf dem Kopf trug er eine jeansfarbene Schirmmütze, an der rechts über dem Ohr mit einer Sicherheitsnadel drei Federn eines Eichelhähers befestigt waren. Es waren die Schmuckfedern, die es nur an den Flügeln gab. Sie lehnte den Kopf gegen die Scheibe. Der Wind zog durch die Ritzen und ließ sie frösteln, obwohl es Juni war. Berlin hatte sie mit empfindlicher Kühle und Regen begrüßt. Ihre Hose hatte vom Saum her die Nässe aufgesogen und lag wie ein feuchter Lappen um die Knöchel. Ihre Füße waren nackt und steckten in Sandalen. Seit der Landung waren sie kalt. Langsam dünnten die Vorstädte aus. Man konnte in die Gärten hinter den Häusern schauen. Planschbecken lagen neben umgekippten Dreirädern schlaff im Gras. Stühle lehnten an Plastiktischen, ein paar Obstbäume, ansonsten Gemüsebeete und Rasen. Nur die Zucchinipflanzen waren neu, sie ersetzten nach und nach die Kürbisse auf den Komposthaufen. In den Mülleimer unter dem Fenster hatte jemand ein Hakenkreuz geritzt. Dahinter zog die Landschaft vorüber. Ein paar Rehe standen am Waldrand wie eine Momentaufnahme. Die Hügel der Endmoräne hatten bereits die Kiefernwälder und ihren sandigen Untergrund abgelöst, sie kam ihrem Ziel also näher. Ab und an war ein See zu sehen, sonst Felder, manche schon am Blühen, die meisten jedoch noch grün. Kuhherden standen ergeben auf durchtränkten Wiesen. Durch den Regen, der jetzt über das Fenster schlierte, waren sie jedoch nur schemenhaft zu erkennen. Das Prasseln war trotz der Zuggeräusche deutlich zu hören, mal stärker, mal schwächer, aber immer da. Mit dem Zug nach Hause kommen, das hieß, langsamer als langsam sein, einspurig. Warten auf den Gegenzug, kein IC E , nur Regionalbahn und ab und zu ein InterCity. Dafür Rehe, Kraniche, Füchse vielleicht und Natur, ja Natur: sehr schön hier, vierzig Kilometer Nacht waren kein Problem, nur Davonkommen war schwer, man hing so am Land, dass es an einem zog, wenn man es verließ, eine Art Herzschmerz, aber das war nur ein Bild, denn im Bauch saßen wesentlich mehr Nerven. Man musste wohl einen Ort finden für all die widersprüchlichen Gefühle, und da hatte das Herz gewonnen, denn hier ging das arme Blut rein und kam reich wieder raus, während der Magen bloß verschob, was am Ende den Körper verließ, vielleicht war die ganze Heimatsehnsucht nur so etwas wie eine Herzmetapher für den Bauch. Es war unversehens über sie gekommen. Das Wort Zuhause hatte sich in ihr gebildet, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Es passte nicht mehr. Es passte immer noch. Es hing an ihr und ließ nicht los. Eine Umklammerung, die nach außen wie eine Umarmung wirkte, der man den Würgegriff aber nur nicht gleich ansah. Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken. Das Treffen war gut verlaufen, sie hatte vorgearbeitet und konnte bereits einige Auswertungen präsentieren, die den Kollegen in Neapel helfen würden. Sie war stolz auf sich und ihre Arbeit, es bedeutete etwas, Teil einer internationalen Forschungsgruppe zu sein. Es war nicht einfach gewesen in der letzten Zeit, wie so vieles wurde auch ihr Institut wenn nicht abgewickelt, so doch zumindest verschlankt, und sie hatte ihre Chance genutzt. Schon während des Studiums hatte sie sich auf Tektonik spezialisiert und ihre Praktika im Observatorium in Collm absolviert. Dort war es ihre Aufgabe gewesen, sämtliche Erdbeben weltweit zu erfassen und auszuwerten. Es gab flache und tiefe Beben, Nah-und Fernbeben, die von Störungen und Atombombenexplosionen zu unterscheiden waren. An manchen Tagen gab es bis zu eintausendfünfhundert Beben. Das waren Schwarmbeben. Sie traten in zehnminütigen Abständen auf und unterschieden sich von den Fernbeben hinsichtlich ihrer Wellenstruktur. Ein Schwarmbeben hatte erst eine kleine Amplitude, bevor es zur großen kam, ein Fernbeben dagegen war niedrig auf den Oberflächenwellen, sein Seismogramm aber wurde mit zunehmender Entfernung immer länger. Fernbeben sandten Wellen, die bis durch den Erdmantel zum Erdkern vordrangen, dort reflektiert wurden und an anderer Stelle wieder an die Oberfläche kamen, bevor sie sich erneut auf den Weg durch die Erde machten. Je stärker das Beben gewesen war, desto mehr Wellen sandte es aus. . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 81 Leseprobe Leseprobe Man müsse, sagte der Leiter der Station, sich das wie einen Weihnachtsstern vorstellen, der durch einen dreidimensionalen Raum bricht. Nicht jede der Zacken stoße direkt vor ihrer Haustür durch die Erde. Weil die Erde jedoch aus unterschiedlichen Strukturen bestehe, würden am Ende alle Zacken so weit abgebogen, dass sie ihnen stets zu Füßen fielen. Aber der Vesuv, hatten ihre italienischen Kollegen gesagt, ist unberechenbar. Ist wie eine schwangere Frau, die gerade ihr Kind überträgt. Wir können nur messen und immer wieder messen, vorhersagen lässt sich nicht, wann der Ausbruch kommt. Sie dachte daran, gleich nach ihrer Ankunft Marie anzurufen, entschied sich aber dagegen. Solange sie sich nicht meldete, war alles in Ordnung. Das zu wissen reichte. Sie griff zu dem Buch, das sie für die Reise mitgenommen hatte. Jemand kehrt nach Hause zurück, obwohl niemand es von ihm erwartet hatte. Dennoch begrüßten ihn alle. Eine Melodie und eine automatische Stimme kündigten den nächsten Halt an. Sie horchte auf. Das Lied hatte sie zuletzt als Kind gehört. Als die Stimme verebbte, erhob sich der Mann, verabschiedete sich knapp und ging zum Ausstieg. Der Zaun hatte seine Farbe behalten: ein splittriges Grün, unter dessen Abblätterungen das Holz hervorlugte. Er stand schief da mit seinen nach oben zugespitzten Pfählen, als bildete er Palisaden um eine längst verlassene Burg. Beim Öffnen stemmte sich das Tor in den Sandboden, weil das Holz über die Jahre nicht aufgehört hatte zu arbeiten. Holz kam nie zur Ruhe. Sie beeilte sich. Der Himmel hatte längst seine Struktur verloren, keine Wolke war mehr von einer anderen zu unterscheiden, und es schüttete wie aus Eimern. Der Garten war in ein fahles Zwielicht getaucht, das alle Pflanzen gleich aussehen ließ, ein wildes, fleischiges Wachstum, das sich unbändig in alle Richtungen wand. In den Ritzen des Plattenwegs, der zum Haus hinunterführte, hatte sich Löwenzahn eingenistet, an dessen Blättern braune und schwarze Schnecken klebten. Das Haus sah aus wie ein Bunker. Bis auf das Dach mit seinen moosbewachsenen roten Schindeln unterschied es sich nicht vom Himmel. Irgendwann würde es in sich zusammenfallen. Das Dach würde erst undicht werden, dann einsacken. Der Wind würde hineinfahren in die durchgelegenen Betten, die Treppe runterrasen und durch das Haus fegen und die Geweihe von der Wohnzimmerwand hebeln, und dann würde der Regen alles durchnässen. Nach ihm würde der Schimmel langsam die Wände entlangwachsen und sich allmählich mit der Luft verbinden, bis aus dem Haus ein feuchter Schwamm geworden war. Selbst wenn man sie dafür aus dem Tiefschlaf holte, könnte sie den Grundriss zeichnen. Eine Zeitschrift suchte immer mal wieder Fotos vom Ende der Welt. Hier bot sich gerade ein gutes Motiv an. Der Schlüssel lag wie früher in dem verlassenen Vogelhaus. Sie griff aus alter Gewohnheit hinein, nicht weil sie ihn brauchte. Ein Windspiel hing schwer von der Markise, es gab keinen Ton mehr von sich, weil der Bambus sich unter dem Regen so vollgesogen hatte, dass die Luft zwischen den einzelnen Hölzern keinen Spielraum mehr fand. Nur die Tür passte nicht ins Bild, sie war das Neueste am ganzen Haus, eine Konstruktion aus Plastik und Glas mit einem Quer-schlitz als Schlüsselloch. Wenn man sie öffnete, stand man inmitten bunter Bänder, die vom Rahmen herabhingen. Mutter stand in der Küche, wie immer, den Unterleib an den Herd gepresst, im bunten Kittel, der die Arme frei ließ, und briet etwas in der Pfanne. Sie hatte sie noch nicht bemerkt, also sah sie ihr vom Flur aus zu. Ihre Hände waren so braun, dass die Altersflecken kaum auffielen. Über den Handrücken war die Haut gespannt wie bei einem prall gefüllten Getreidesack. Sie war klein geworden. Ihr Gesicht war von Falten zerfurcht, es sah aus wie eine von den Walnüssen, die sie im Herbst immer aufgesammelt hatte. Die Haare lagen ihr in dünnen, kurzen Strähnen um den Kopf und ließen sie aussehen wie ein Mann. Als Kind hatte sie oft dabei zugesehen, wie sie sich Locken eindrehte, während ihre Füße im Heizschuh steckten. Ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Natürlich komme ich. Dann ist ja gut. Wie lange bleibst du? Bis alles vorbei ist. Ach, ich bin ja immer allein. Und Hans? Der ist unten am See. Kannst ihn holen. Abendbrot ist fertig. Draußen kroch ihr sofort die Nässe unter die dünne Jacke. Sie ging in den Flur zurück und zog sich den Troyer über, der an der Garderobe hing. Er war zu weit, wärmte aber besser als der Trenchcoat. Eine Wespe kam angeflogen und umkreiste ihren Kopf. Sie war ungewöhnlich groß, vielleicht eine späte Königin auf der Suche nach einem Ort für das Nest. Wenn man sie nicht tötete, würden ihr Tausende folgen. Sie reagierte allergisch auf Stiche, das hatte sie von Mutter, also machte sie drei schnelle Schritte zur Seite und lief, als die Wespe nicht von ihr ablassen wollte, bis in den Hinterhof, um dem Tier zu entkommen. Unter der Walnuss stand der alte Schuppen, auf den er so stolz gewesen war: selbst gebaut. Das hieß, Ziegel rüde aufeinandergepackt, bis der Mörtel aus den Ritzen quoll. Dann mit Beton verputzt. Die Tür hing wie ein Fremdkörper an der Vorderseite, sie schloss nicht mehr richtig, sodass der Schuppen offen blieb. Unterm Dach steckten verrostete Äxte und Beile und an der Wand waren Pinsel aufgereiht, alle mit verklebten Borsten. Hinten stand eine Werkbank mit einer Schleifmaschine, vorn steckten Kneifzangen, auf der Arbeitsplatte herrschte heillose Unordnung. In einer Ecke lehnten Fahrräder, deren verrostete Ketten schlaff von den Zahnkränzen hingen. Der Boden war uneben, eine Buckelpiste, die er immer mit der Landschaft verglichen hatte. Eine Sense hing locker an der Wand. Als sie beim Heraustreten die Tür schließen wollte, war es, als käme das Blatt ihr ein Stück entgegen. . 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 82 Leseprobe Leseprobe Gegenüber lag der Hühnerstall. Früher schliefen hier nachts die Hühner auf den Stangen, nachdem sie den ganzen Tag den Boden aufgescharrt hatten. Immer wenn sie den Hof betrat, um Eier zu holen, hatte sie sich vor dem Hahn in Acht nehmen müssen, der ihr zwischen die Beine fuhr und nach den Adern pickte. Er war schon zu zäh, um ihn noch zu essen, aber sie zählte darauf, dass ihm der Kopf eines Tages wie ein Holzscheit vom Rumpf getrennt würde, was nützte es da, dass der Körper danach noch den Helden spielte und wie wild durch den Hof lief, was nützte ihm da sein Hahnenkamm? Der Kopf wurde vergraben, wie überhaupt alles, was nicht zu verwerten war: Hühnerköpfe, Entenköpfe, alles unterm Apfelbaum: Sommerscheibe, grasgrün mit weißem Fruchtfleisch, der früheste Apfel im Jahr. Vor dem Hühnerstall stand eine Wäschespinne. In ihrem Netz hingen ein paar Unterhosen aus Baumwolle wie erschlaffte Segel im Regen. Sie trat ein. Anstelle der Tiere waren die Geräte eingezogen. Aufgereiht an der Wand hingen Besen, Harke und Forke. Es roch noch nach Huhn. In der Ecke lehnte das Luftgewehr, mit dem er immer auf Krähen zielte, abdrückte und traf, wenn er nüchtern war. Wenn er besoffen war, erwischte er manchmal ein Huhn, das war, wenn die Diabolos durch den Hinterhof pfiffen. Dieser verdammte Jähzorn, der in der Familie lag. Auf dem Weg zum Zauntor geriet sie ins Stolpern. Sie suchte die Stelle nach einem Hindernis ab. Aber da war nichts. Kein Ast oder Stein. Nur glatt getretener Boden. Sie stockte, trat dann einen Schritt nach vorn und blieb stehen. Ein kurzer Schwindel, die Welt geriet ins Schwanken, aber sie gab dem Gefühl nicht nach und ging weiter bis zum alten Hundezwinger. Dort hausten jetzt die Kaninchen in aufeinandergestapelten Buchten, die aus ehemaligen Holzkisten zusammengezimmert waren. Sie öffnete das oberste Gatter, nahm etwas Heu von der Schubkarre und hielt es hinein. Die Alte hatte wieder geworfen. Die Jungen flüchteten erst in den hinteren Teil der Buchte, kamen aber langsam wieder hervor und ließen sich schließlich streicheln. Sie strich ihnen vom Kopf aus über den Körper, dabei duckten sie sich und verharrten regungslos, sodass sie spürte, wie ihre Körper zitterten. Wenn sie zum See wollte, musste sie unter der Teppichstange durch. Es war, als würden ihre Füße den Weg kennen. Bis auf die Pforte stand vom Zaun nichts mehr. Man konnte auch rechts und links daran vorbeigehen, denn der Draht hing lose zwischen den Pfählen. Mal ragte er ins Grundstück hinein, mal lehnte er sich hinaus, nie aber bildete er eine Grenze zum Schutz. Einige Enden hatten sich gelockert und standen ab. Nicht ungefährlich, wenn man hier hängen blieb. Unwillkürlich zählte sie die Jahre, die seit der letzten Tetanusimpfung vergangen waren. Auf der Wiese, die sich zwischen Böschung und Ufer erstreckte, scheuchte sie eine Ringelnatter auf. Kurz konnte sie dabei zusehen, wie das Tier sich fußlos über die Wiese schob, dann wurde es vom Schilf verschluckt. Zwischen den Grasbüscheln ragten schon die ersten Blätter der Pestwurz hervor. In ein paar Wochen würden sie ein Dickicht ergeben, durch das man eine Schneise schlagen musste, um zum Bootshaus zu gelangen. Im Schilf trieb ein Fisch mit dem Bauch nach oben, er war bereits aufgedunsen und seine Schuppen hatten sich ins Weiße verfärbt. Am Ende des Stegs stand jemand. Auf ihr Rufen kam er ihr entgegen. Wenn du weiter so laut bist, vertreibst du die Fische. Hallo. Hallo. Die Bohlen unter den Füßen verstärkten den Klang ihrer Schritte. Auf dem Holz klebte Schwalbenmist und in den Fenstern des Bootsschuppens hingen statt der Gardinen geometrisch gewobene Netze, in deren Mitte Spinnen reglos verharrten. Erst als eine Fliege sich in einem der Netze verfing, tat sich was, blitzschnell bewegte die Spinne sich entlang der Fäden auf die Fliege zu und wickelte sie in einen Kokon. Ich möchte keine Fliege sein. Nein, du bist der, der die Fliege ins Netz wirft. Früher warst du nicht so zimperlich. Schon was gefangen? Du bist immer noch zu laut. Vorn treibt ein toter Fisch im Schilf. Das kommt von den Motorbooten. Die heizen mit hundert PS über den See, obwohl nur fünfzig erlaubt sind. Alles Leute aus Berlin. Man sieht überhaupt keine anderen mehr. Im Frühling kommen sie über die Autobahn und bringen ihre Boote her. Dann weißt du, die Saison hat begonnen. Aber die Fische? Erstens ist es zu laut und zweitens wird der See durch die vielen Boote immer Schmutziger. Wenn früher ein Fisch tot im Wasser trieb, war der Sommer so heiß, dass die Algen den ganzen Sauerstoff verbraucht haben. Heute ist es heiß und blüht und schmutzt und was weiß ich. Hab letzte Woche einen Hecht mit der Forke erwischt. Was hast du? Der stand da unterm Steg, und ich dachte mir, wenn du den jetzt richtig angeln willst, mit Köder und so, ist er schneller weg, als du denken kannst. Also hab ich die Mistforke geholt. Du hast ihn aufgespießt? Aufgespießt, geschuppt und ausgenommen. Er war krank, das sah man an den Schuppen. Von allein steht der nicht einfach so am Ufer. Ist das erlaubt? Mir doch egal. Hab ihn schließlich nicht geangelt. Braucht man dafür nicht einen Schein? Was willst du eigentlich? Kommst hierher und bist nur da, weil du musst. Was machst du jetzt? © Berlin Verlag. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 83 Leseprobe Leseprobe Pressler, Mirjam: Nathan und seine Kinder | Beltz | 2013 | Ab 14 Jahre Taschenbuch | 264 Seiten | ISBN:978-3-407-74233-9 | 8,95 € Jerusalem, Zeit der Kreuzzüge um 1192: Ein junger Tempelritter rettet Recha, die Tochter des jüdischen Kaufmanns Nathan, aus dem Feuer. Daraufhin richtet Sultan Saladin an Nathan die schwierigste aller Fragen: Welche Religion ist die einzig wahre? Nathan antwortet mit dem berühmten Gleichnis von den drei Ringen und ahnt nicht, dass ihm inzwischen der christliche Patriarch von Jerusalem sowie ein moslemischer Hauptmann nach dem Leben trachten... Pressler erzählt den klassischen Stoff neu und provozierend zeitgemäß, aber nicht ohne Hoffnung für ein friedliches Nebeneinander der Religionen. „Ein lebensnahes Plädoyer für einen anderen Weg aus der Jahrtausendtragödie der Weltreligionen als den, von dem wir tagtäglich in den Nachrichten hören.“ Die Zeit. „In Presslers Roman werden Ideen verkörpernde Figuren zu lebendigen Wesen. Erfrischend anders!“ Die Welt Mirjam Pressler veröffentlichte zahlreiche Kinder- und Jugendbücher, darunter die Romane „Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen" (Deutscher Jugendliteraturpreis) „Malka Mai" (Dt. Bücherpreis), „Die Zeit der schlafenden Hunde", „Wundertütentage", „Golem stiller Bruder" und zuletzt „Nathan und seine Kinder". Mit „Ich sehne mich so. Die Lebensgeschichte der Anne Frank" schrieb sie ein Biographie von Anne Frank, deren Tagebuch sie neu übersetzt hat. Mirjam Pressler wurde vielfach ausgezeichnet. Für ihre „Verdienste an der deutschen Sprache" wurde sie 2001 mit der Carl-Zuckmayer-Medaille geehrt, für ihr Gesamtwerk als Autorin und Übersetzerin mit dem Deutschen Bücherpreis, für ihr Gesamtwerk als Übersetzerin mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises. Sie lebt in Landshut und feiert im Juni 2015 ihren 75. Geburtstag! Personen Sultan Saladin Sittah, dessen Schwester Abu Hassan, ein Hauptmann Saladins Nathan, jüdischer Kaufmann in Jerusalem Recha, dessen Tochter Daja, eine Christin, Rechas Gesellschafterin Geschem, ein Junge im Haus Nathans Elijahu, Verwalter Nathans Jakob, Gehilfe Nathans Zipora, Köchin im Haus Nathans Curd von Stauffen, später Leu von Filnek, ein junger Tempelritter Al-Hafi, ein Derwisch im Dienst Saladins Der Patriarch von Jerusalem Geschem Ich muss unter dem Maulbeerbaum eingeschlafen sein, wo ich mich am späten Nachmittag, als die Hitze unerträglich wurde, zum Ausruhen hingelegt hatte, denn ich wurde von Schreien geweckt. Es waren hohe, schrille Schreie, und ich hob unwillkürlich die Hände, um meine Ohren zu schützen. Erst verstand ich nicht, dass es ein Mensch war, der da schrie. Doch dann sah ich sie, Daja, die Herrin, wie sie sich drehte und wand und versuchte, sich aus dem Griff der Köchin zu befreien, ich sah ihr verzerrtes Gesicht und den aufgerissenen Mund. „Recha!", schrie sie. „Recha! Recha!" Doch Zipora und eine Magd hielten sie fest und lockerten den Griff auch nicht, als Daja wie wild um sich schlug und schrie: „Lasst mich los, ich muss zu Recha! Nathan ist nicht da! Gott steh uns bei, wenn Recha etwas passiert." Ihre Schreie übertönten das Prasseln der Flammen. Ich wollte aufspringen, ich wollte mich in die Flammen stürzen, ich wollte der tapfere Held sein, der die Tochter des Herrn rettet, ich, ich, ich! Das war die Gelegenheit, die Gott mir bot, Gott oder Allah, um meinen Mut zu beweisen. Alle sollten es erfahren, vor allem er, Nathan, der Herr, dass ich mehr war als nur ein armseliger Krüppel. Aber die Hitze des Feuers drang bis zu meinem Platz unter dem Maulbeerbaum, und in meinem Körper brach der altbekannte Schmerz auf, ein stechender Schmerz, der mir von der linken Seite durch den ganzen Körper fuhr. Ein Schmerz, den ich eigentlich nicht fühlen durfte, denn längst vernarbte Wunden schmerzen nicht mehr, warum taten es meine dennoch? 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 84 Leseprobe Leseprobe Ich kauerte unter dem Maulbeerbaum und hatte nur einen Gedanken: Ich muss die Herrin herausholen, ihr Vater ist nicht da, es ist meine Pflicht, sie zu retten. Aber als ich aufspringen wollte, gehorchte mir mein Körper nicht, die Narben brannten, mein linker Arm und mein linkes Bein krümmten sich, wie sich verkohlende Äste im Feuer krümmen, sie wurden steif und unbeweglich. Das Hundezahngras zerkratzte meine Haut, als ich anfing zu kriechen, Rauch drang mir in Nase und Mund, meine Augen brannten und ein schrecklicher Husten schüttelte meinen Körper. Mir wurde schwarz vor den Augen. Doch bevor es mir gelang, in die ersehnte Bewusstlosigkeit zu versinken, tauchte plötzlich eine hohe Gestalt vor dem Feuer auf. Scharf hob sich ein breiter, weißer Rücken gegen die Flammen ab, die Arme bewegten sich aufwärts, die Ärmel fielen auseinander, schwangen wie die Flügel eines riesigen weißen Vogels auf und ab.Der Fremde zögerte nur kurz, aber lange genug, dass ich das große, rote Kreuz auf seinem Gewand erkennen konnte, dann machte er einen Satz, hinein in das Feuer, und wurde von den Flammen verschluckt. Schlaf senkte sich auf mich, ein hässlicher, bedrohlicher Schlaf mit einem hässlichen, bedrohlichen Traum. Das Erste, was ich sah, war der Rauch, immer sieht man zuerst nur den Rauch. Er drang aus der Tür, kletterte als dünner Faden an der Hauswand nach oben, kräuselte sich, verdichtete sich zu Schwaden, stieg in den Himmel, sammelte sich zu einer drohenden Wolke. Ich brauchte nicht zu überlegen, was der Rauch bedeutete, ich wusste es, und noch bevor ich mich gegen den Schmerz wappnen konnte, züngelten bereits die ersten Flämmchen unter dem Rauch hervor und wurden schnell zu lodernden Flammen, die sich mit dem Rot der untergehenden Sonne mischten, sodass es aussah, als brenne der Himmel. Und dann kam sie endlich, die Bewusstlosigkeit. Als ich das nächste Mal aufwachte, stand der Mond hoch über der Zitadelle. Erst war ich ganz verwirrt, wusste nicht, wo ich war, ich spürte nur, dass ich nicht auf meinem üblichen Fell in der Küche lag, unter dem Tisch, auf dem Zipora Hühner und anderes Fleisch koscher* macht, schneidet und zum Kochen herrichtet. Der Boden unter mir war uneben, ich spürte Steine, die mich in den Rücken drückten, und meine Finger ertasteten raues Hundezahngras. Erschrocken riss ich die Augen auf und sah die Krone des Maulbeerbaums über mir. Durch das Blätterdach blitzten Sterne, und der Mond, der fast voll war, schien hell genug, dass ich drüben, vor dem Haus, eine Gruppe Menschen zusammensitzen sah, Menschen, deren Stimmen mich geweckt hatten. Die Stimmen wurden lauter, über mir im Baum schrie ein Nachtvogel, in den Olivenhainen hinter der Stadtmauer heulten Schakale, Ameisen krabbelten über meine Hand. Der bittere Geruch von verbranntem Holz stieg mir in die Nase. Aber ich brauchte diesen Beweis nicht, um zu wissen, dass ich nicht geträumt hatte. Ein Schauer lief mir über den Rücken, die Haut in meinem Nacken zog sich zusammen, eine Erkenntnis stieg in meiner Kehle auf und erfüllte meinen Mund mit Bitterkeit: Es war wirklich passiert. Und mit dieser Erkenntnis packten mich die Scham und die Reue darüber, dass ich meine Herrin nicht gerettet hatte, dass ich versagt hatte. Ich war ein Nichts, nur ein armseliger Schwächling, ein Krüppel, zu nichts zu gebrauchen. Unfähig, eine große Tat zu vollbringen, sogar unfähig, Dankbarkeit zu beweisen. Nicht wert, das Brot zu essen, das ihm gewährt wurde. Recha war tot, die Tochter des Herrn, sie war ein Opfer der Flammen geworden, während ich untätig und nutzlos unter dem Baum gelegen hatte. Und wie ein Blitz traf es mich, dass dies nur eines bedeuten konnte: Ich musste das Haus Nathans verlassen, das mir seit über zwei Jahren zur Heimat geworden war. Und dann erst drang es mir langsam ins Bewusstsein, dass die Stimmen, die ich von dort drüben hörte, zwar laut und erregt waren, aber niemand schrie, niemand weinte und klagte, niemand zerriss sich die Kleider und rief Gott zum Zeugen seines Leides an. Hoffnung stieg in mir auf, eine zaghafte Hoffnung, dass der Todesengel an unserem Haus vorbeigeflogen sein könnte. Außerdem fiel mir auf, dass ich Männerstimmen hörte, und vorhin, bevor mir die Sinne schwanden, waren nur Frauen da gewesen, Daja, Zipora, die Mägde. Der einzige Mann war der Fremde gewesen… Vorsichtig hob ich den Kopf. Drüben, vor dem Haus, hatte man offenbar ein Lager aufgeschlagen, Öllichter brannten, Fackeln, und in ihrem Schein konnte ich erkennen, dass ein Diener etwas aus einem Krug in einen Becher goss und ihn einem Mann reichte. Mein Herz begann wie wild zu klopfen. Ich kroch über die trockene Erde ein Stück näher, bis zum Rand des gepflasterten Vorplatzes, spürte die vom vergangenen Tag noch warmen Steine unter meinen Händen und Knien und konnte den Blick nicht von dem Mann wenden, der den Becher an den Mund hob und trank. Er war es wirklich, Nathan, der Herr. Er musste nach Hause zurückgekehrt sein, während meine Seele sich vor Angst in einem Mauseloch verkrochen hatte. Nathan saß auf einer purpurfarbenen Decke und hielt Recha im Arm, Recha, seine Tochter, die ich tot geglaubt hatte. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, sie hatte den Kopf an der Schulter ihres Vaters vergraben, aber ihre hellen Haare flimmerten im flackernden Licht der Lampe wie das rötliche Gold der Brokatdecke, in die sie gehüllt war. Nathan hatte den einen Arm um sie gelegt, mit der anderen Hand streichelte er immer wieder ihren Kopf. Ihnen gegenüber saßen Daja und al-Hafi, der Derwisch, Nathans Freund. Ich wunderte mich nicht darüber, ihn zu sehen, er taucht immer auf, wenn unser Herr von einer Reise zurückkommt. Er scheint die baldige Ankunft der Kamele schon zu spüren, wenn diese beim Anblick der Stadtmauern ihre Tritte beschleunigen. Er saß da, mit überkreuzten Beinen, die offenen Hände auf den Knien. Mir fiel auf, dass er ein neues Gewand und einen neuen Turban trug, prächtiger, als der alte gewesen war, eigentlich viel zu prächtig für einen Derwisch, und als er den Kopf zu Daja drehte, sah ich, dass sich seine vollen Lippen zu einem Lächeln verzogen. Inzwischen war ich auch nahe genug, um zu verstehen, was sie sprachen. „Beruhige dich, Daja", sagte Nathan. „Was bedeuten schon diese kleinen Unbequemlichkeiten, was bedeuten schon die paar verbrannten Möbel? Das Wichtigste ist doch, dass meiner geliebten Recha nichts passiert ist. Bald haben die Diener so weit Ordnung geschaffen, dass wir schlafen gehen können. Beruhige dich, Daja, keiner darf heute weinen, wir müssen Gott danken, dass er Recha gerettet hat. Sie lebt. Was macht es schon, dass ihre Haare angesengt sind, Haare wachsen nach. Was macht es schon, dass ihr Kleid zerrissen und voller Brandlöcher ist, ich kaufe ihr neue Kleider, schönere und kostbarere als dieses da. Auch die Wunde an ihrem Arm wird mit Gottes Hilfe heilen, jung und gesund, wie sie ist. Mich bedrückt etwas ganz anderes. Hast du den Mann wirklich nicht erkannt, der sie aus dem Feuer gerettet hat?" 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 85 Leseprobe Leseprobe Recha hob den Kopf. „Es war ein Engel, Vater", sagte sie mit einer zittrigen Stimme, der die Todesangst noch anzuhören war. „Es war kein Mensch, es war ein Engel des Herrn." Nathan strich ihr beruhigend über die Haare und zog die Brokatdecke höher über ihre Schultern. Daja beugte sich vor. „Das Mädchen ist nicht bei Sinnen", rief sie. „Das Feuer hat ihren Verstand verwirrt. Höre, Nathan, ich habe dir doch gesagt, es war ein Tempelritter." Nathan nahm einen Schluck aus dem Becher, der vor ihm auf der Decke stand, stellte ihn wieder ab und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, bevor er nachdenklich sagte: „Es gibt keine Tempelritter mehr in Jerusalem. Der Sultan hat sie alle töten lassen, manche sagen sogar, er habe sie eigenhändig umgebracht." Jetzt mischte sich al-Hafi ein. „Du irrst dich, Nathan, mein Freund. Er hat sie umbringen lassen, das stimmt, aber nicht alle. Einen nicht. Ich weiß es, ich war dabei, und ich habe gesehen, wie er diesen einen angestarrt hat und ganz blass wurde. Diesen einen hat er am Leben gelassen." Nathan hob den Kopf. „Wirklich?", fragte er ungläubig. „Er hat einem Tempelritter das Leben geschenkt? Warum? "Al-Hafi zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen? Muss der allmächtige Herrscher der Gläubigen jemandem Rechenschaft über das ablegen, was er beschließt?" „Es war ein Tempelritter", sagte Daja laut. Dann brach das Gespräch ab, denn nun wurden die Kamele herbeigeführt. Vor den Eingängen zu den unterirdischen Lagerräumen entstand Gedränge, die Treiber schnalzten mit den Zungen und stießen Befehle aus, die Vorderbeine der Kamele knickten ein, ihre Knie berührten den Boden, und bis sie endlich auf dem Bauch lagen, schwankte die Ladung auf ihrem Rücken gefährlich hin und her. Elijahu und Jakob, die Gehilfen des Herrn, die ihn auf seiner Reise begleitet hatten, lösten die Riemen und Schnüre und machten sich daran, die Ballen und Packen abzuladen. Stück für Stück schleppten sie ihre Last hinunter in die Keller. Die Kameltreiber, in schwarze Gewänder gehüllt und mit glänzenden Krummschwertern bewaffnet, standen bewegungslos und schweigend daneben. Erst wenn alles abgeladen war, würden sie, nach einer kurzen Verneigung vor dem Herrn, ihre Tiere zu den Zelten vor der Stadt führen. „Was hast du mitgebracht, Nathan?", fragte al-Hafi. „War deine Reise erfolgreich?" „Gott hat es gewollt, dass mir jeder Handel zum Nutzen geriet", sagte Nathan. „Mit seiner Hilfe bin ich reicher denn je zuvor. Mit Olivenöl und duftenden Essenzen aus Jericho bin ich nach Damaskus gezogen, mit Damast, Brokat und Gold komme ich zurück." „Gott ist groß in seiner Güte", sagte al-Hafi, „und dem Gerechten gelingt alles zum Segen." Dem Gerechten, dachte ich, ja, ihm schon. Der Gott der Juden liebt den Gerechten. Auch Allah, der Gott der Muslime, liebt ihn. Dann fiel mir der Tempelritter ein, und ich dachte, bestimmt liebt auch der Gott der Christen den Gerechten. Es kann gar nicht anders sein. Jeder Gott muss ihn lieben, Nathan, den Herrn, der für seine Gerechtigkeit bekannt ist. Zwei Diener trugen einen halb verkohlten Sessel aus dem Haus und stellten ihn auf einen Haufen Gerümpel, den sie in gebührender Entfernung aufgeschichtet hatten, dann holten sie weitere vom Feuer zerstörte Möbelstücke. Als sie die vom Rauch schwarze, an einer Ecke angebrannte Tischplatte herausschleppten, war ihr Keuchen bis zu mir zu hören. Die Platte fiel krachend zu Boden, das Splittern zerberstenden Holzes zerriss die nächtliche Stille. Recha hob die Hände und legte sie schützend auf ihre Ohren. Die beiden Männer richteten sich auf, dehnten ihre Körper und schauten zu, wie andere immer wieder Krüge anschleppten und Wasser über die rauchenden Gegenstände kippten, um vielleicht noch vorhandene verborgene Funken zu löschen und ein erneutes Ausbrechen des Feuers zu verhindern. Zipora fegte mit einem groben Besen Asche und Ruß vor die Tür und über den Vorplatz bis hin zu dem Stück Brachland mit dem Maulbeerbaum. Ich lag noch immer am Rand des Vorplatzes, unschlüssig, was besser wäre, hinüberzugehen und zu bestätigen, dass der Fremde wirklich ein Tempelritter gewesen war, oder mich unauffällig den Helfern anzuschließen. © Beltz Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 86 Leseprobe Leseprobe Primor, Avi: Nichts ist jemals vollendet. Die Autobiografie | Quadriga | ET: 12. Februar 2015 ISBN: 978-3-86995-077-8 | Hardcover | 431 Seiten | Auch als E-Book Der ehemalige israelische Botschafter Avi Primor ist in Deutschland vor allem bekannt für sein Engagement für die Aussöhnung zwischen Deutschen und Israelis. Dabei ist sein Einsatz nicht selbstverständlich: Nur zufällig entging Primors Mutter als Einzige in ihrer Familie dem Holocaust. Daneben liegt Primor die Aussöhnung auch zwischen Israelis und Palästinensern am Herzen – selbst wenn er sich mit seiner Art, Missstände im Umgang mit den Palästinensern offen anzusprechen, in seiner Heimat Israel nicht nur Freunde machte. 2013 wurde er für dieses Engagement, gemeinsam mit dem Palästinenser Abdallah Frangi, mit dem Friedenspreis der Stadt Osnabrück ausgezeichnet. In seiner Autobiografie erzählt Avi Primor aus seinem Leben, von seiner Arbeit als Botschafter und davon, wie er zu dem Brückenbauer wurde, den die Menschen lieben. Avi Primor, Jahrgang 1935, war von 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in Deutschland. Er ist Sohn eines niederländischen Emigranten; seine Mutter floh 1932 von Frankfurt nach Tel Aviv, ihre gesamte Familie wurde während des Holocausts ermordet. Avi Primor leitet heute einen trilateralen Studiengang für israelische, palästinensische und jordanische Studenten an dem von ihm gegründeten Zentrum für europäische Studien, dem „Interdisciplinary Center Herzliya“. Ein paar Worte vorweg Memoiren zu schreiben sollte eigentlich nicht kompliziert sein. Nicht nur kennt man seine eigene Geschichte, sondern es geht doch hier um die Vergangenheit, und die ist eher etwas, womit man vertraut ist. Was Angst macht, ist die Zukunft. Die Zukunft ist uns unbekannt, unverständlich oder bedrohlich. Aber mit der Vergangenheit ist man vertraut. Selbst wenn es Unannehmlichkeiten in der Vergangenheit gab, hat man längst gelernt, wie man sich damit abfindet, und findet die Vergangenheit beschaulich. Diese Vergangenheit kann man auch immer neu gestalten. Ich glaube aber nicht, dass es wirklich so einfach ist. Und wenn ich an die Vergangenheit denke, so denke ich auch an die Zukunft, in der Überzeugung, dass nichts jemals vollendet ist. Ich beginne das Schreiben meiner Memoiren in Tel Aviv, im Juni 2014, in einer Atmosphäre der Spannung im Lande. Schon wieder. Seit der Entstehung Israels leben wir in dieser erhöhten Spannung und gewöhnen uns trotzdem nicht daran. Diesmal geht es um die Entführung von drei israelischen Jugendlichen in einem Siedlungsgebiet im Westjordanland. Vermisste Israelis sorgen immer für eine große Aufregung im Land und für einen Aufruf der Bevölkerung an die Regierung, alles Mögliche zu tun, um die Verschollenen zu finden. Was heißt alles? „Alles" heißt eine Sperrung des Westjordanlandes, die wiederholte Sperrung von Dörfern, Stadtteilen oder ganzen Städten und die Durchsuchung von Tausenden von Wohnungen. Die Filme und Bilder von diesen Durchsuchungen sind schwer zu verdauen. Die Grausamkeit des Einbruchs der Soldaten in der Mitte der Nacht in die Wohnungen der meistens unschuldigen Bürger, der Angriff der Hunde, der Schrecken der Kinder sind Dinge, die seit Beginn der Besatzung vor 47 Jahren nicht neu sind. Und dennoch … Während ich dies schreibe, berichten die Zeitungen vom Tod eines ehemaligen Chefs des israelischen Geheimdienstes, Avraham Shalom, der im Alter von 86 Jahren gestorben ist. Der Mann war nicht nur einer der bekanntesten Geheimdienstchefs, sondern wahrscheinlich auch als einer der grausamsten bekannt. Das geht natürlich auf seine Behandlung der Palästinenser in den besetzten Gebieten zurück. Dennoch stand Avraham Shalom in dem berühmten Film über den israelischen Innengeheimdienst Schabak, The Gatekeepers, für ein Interview zur Verfügung. Er kritisiert die israelische Politik in den Gebieten und vor allem die Besatzung. Unter anderem sagt er ganz klar: „Was wir in den Gebieten betreiben, ist genau das, was die Deutschen im Zweiten Weltkrieg, abgesehen vom Holocaust und den Konzentrationslagern, in ihren besetzten Gebieten getrieben haben." Mich trifft das hautnah. Mein ältestes Enkelkind ist seit zwei Jahren im Militärdienst. Es dient in der Elitekampfeinheit, die die Hunde für diese Arbeit ausbildet und mit ihnen palästinensische Häuser durchsucht. Der Vater dieses Enkelkinds, mein ältester Sohn Adar, erzählte mir, er habe seinen Sohn gefragt, was genau er in diesen besetzten Gebieten mache. Der Junge, Noam, an sich ein sehr sanfter und liebenswürdiger Junge, antwortete seinem Vater: „Lass das, Papa. Du bist ein Liberaler, es ist besser für dich, wenn du es nicht weißt.„ Mir dreht sich der Magen um. Seit meiner Kindheit und meiner Leidenschaft für einen friedlichen jüdischen Staat sind schon fast achtzig Jahre vergangen, und ich kann nur sagen: Nichts ist jemals vollendet. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 87 Leseprobe Leseprobe Eine Autobiografie, eine Geschichte, die man über sich selbst erzählt, wird oft mit ein wenig Argwohn betrachtet. Man denkt, jedem Menschen, der über sich selbst schreibt, wird vor allem daran gelegen sein, sich in einem guten Licht darzustellen. Friedrich Nietzsche schrieb: „›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.“ Noch schlimmer ist, dass Erinnerungen oft verschwommen sind. Oft ist man ehrlich der Meinung, dass man etwas genau in Erinnerung hat, und ist sich nicht bewusst, dass man die Geschehnisse im Kopf falsch abgespeichert hat. Zwei solcher Geschichten habe ich persönlich erlebt. 1970 starb der 80-jährige General de Gaulle. Obwohl er schon nicht mehr Staatspräsident war, stand ihm ein Staatsbegräbnis zu, und in Frankreich und weltweit herrschte das Gefühl, einem historischen Ereignis beizuwohnen. De Gaulle wollte kein Staatsbegräbnis, sondern hatte sich eine intime Beerdigung im Kreise seiner Familie in seinem Dorf Colombey-les-Deux-Églises gewünscht. In Paris wurde dennoch ein Staatsakt in Notre-Dame ausgerichtet. Zu diesem Staatsakt kamen Staatsoberhäupter und Prominente aus aller Welt. Obwohl die Beziehungen zwischen Frankreich und Israel zu diesem Zeitpunkt regelrecht schlecht waren und obwohl, zumindest vom israelischen Blickwinkel aus gesehen, de Gaulle daran schuld war, entsandte Israel seinen Staatspräsidenten Zalman Shazar sowie den pensionierten ehemaligen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion. Niemand in Frankreich wusste, wer Shazar war, aber Ben-Gurion sorgte für Aufsehen. Nicht nur, weil er der legendäre israelische Staatsgründer und langjährige Ministerpräsident war, sondern auch und besonders weil bekannt war, dass er mit de Gaulle auch korrespondiert hatte, als die Beziehungen zwischen den beiden Staaten merklich abgekühlt waren. Von allen Seiten wandten sich Journalisten an mich, der ich damals Sprecher der Botschaft war, und bewarben sich um ein Interview mit Ben-Gurion. 1970 war Ben-Gurion schon gesundheitlich angeschlagen und sehr geschwächt. Es wurde daher entschieden, dass er nur einen einzigen Journalisten empfangen würde, und ich wurde gebeten, diesen Journalisten auszusuchen. Ich entschied mich für den Leiter des Außenressorts der Tageszeitung Le Figaro, Yves Cuau, der ein großer Kenner der Weltpolitik und unter anderem Korrespondent seiner Zeitung in Deutschland und Kairo war und Israel mehrfach besucht hatte. Er hatte zugegebenermaßen auch einen Vorteil, weil er mein persönlicher Freund war … Das Treffen fand in der Suite Ben-Gurions statt. Im dortigen Wohnzimmer befand sich ein kleiner runder Tisch mit drei Stühlen, an den sich Ben-Gurion, Yves Cuau und ich als Dolmetscher setzten. Neben uns stand ein Sofa, auf dem sich der israelische Botschafter in Paris und ehemalige Mitarbeiter von Ben-Gurion, Asher Ben-Natan (der erste israelische Botschafter in Deutschland), niederließ, um dem Gespräch zuzuhören. Ben-Gurion beantwortete gerne alle Fragen Cuaus und erzählte viel von seinen Gesprächen und von seiner Korrespondenz mit de Gaulle. Unter anderem berichtete er detailliert über ein Gespräch mit de Gaulle, das er geführt hatte, als die beiden in Bad Honnef bei der Beerdigung von Konrad Adenauer hinter dem Sarg hergingen. De Gaulle, so Ben-Gurion, erzählte dabei von Gesprächen, die er mit Adenauer über Israel und den Nahen Osten geführt habe. Adenauer habe sich über das Verhältnis zu den arabischen Staaten Sorgen gemacht, die aufgrund der deutschen Beziehungen zu Israel auf ihn zukommen könnten. De Gaulle habe erzählt, er habe dem Kanzler einen Ratschlag gegeben: „Tun Sie, was ich in diesem Bereich tue. Meine Politik mit dem Nahen Osten ist eine Politik der Parallellinien. Ich unterhalte die besten Beziehungen zu Israel, ohne den arabischen Staaten zu erlauben, sich in diese Angelegenheit einzumischen. Parallel versuche ich, die Beziehungen zur arabischen Welt zu entwickeln, ohne den Israelis das Recht zu geben, mir ihre Meinung dazu kundzutun. So etwas können auch Sie sich erlauben.“ Dieser Geschichte folgten noch weitere Geschichten, bis nach eineinhalb Stunden der Adjutant Ben-Gurions kam, um mich darauf aufmerksam zu machen, dass das Gespräch vorüber sei. Cuau bemerkte dies selbst, stand auf, und ich geleitete ihn hinaus. Ich begleitete ihn zum Hotelausgang, und er sagte mir, wie begeistert er von diesem Gespräch gewesen sei. Anschließend ging ich wieder hoch zu Ben-Gurions Suite, und als ich ankam, öffnete sich die Tür und Botschafter Ben-Natan trat heraus. Er sagte: „Komm, Ben-Gurion muss sich jetzt ausruhen. Lass uns kurz weggehen und später zurückkommen.“ Im Treppenhaus fragte er mich, wie ich das Gespräch empfunden habe. Ich sagte, es sei faszinierend gewesen und ich hätte viel daraus gelernt. „Und was war für dich am interessantesten?“, fragte er weiter. „Das Gespräch zwischen de Gaulle und Ben-Gurion bei Adenauers Beerdigung“, sagte ich. „Du weißt doch, dass ich Botschafter in Deutschland war, als Bundeskanzler Adenauer starb“, sagte Ben-Natan. „Ben-Gurion war gar nicht da! Er ist zwar mit der Absicht nach Deutschland gekommen, zur Beerdigung zu gehen, dann aber im Hotel erkrankt und konnte der Beerdigung doch nicht beiwohnen. De Gaulle war da, ich auch, aber mit mir hat de Gaulle kein Gespräch geführt.“ 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 88 Leseprobe Leseprobe Eine zweite Geschichte: 1977 war ich Leiter der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes in Jerusalem und Sprecher des Außenministers Yigal Allon. Zu dieser Zeit beschäftigten wir uns immer noch hauptsächlich mit der Durchbrechung der diplomatischen Barrikade Israels. Nicht nur waren wir aus der gesamten arabischen und islamischen Welt (mit Ausnahme der Türkei) ausgeschlossen, sondern auch aus der kommunistischen Welt und aus der Mehrheit der Entwicklungsländer in Afrika und Asien; selbst in Westeuropa gab es noch Länder, die Israel nicht anerkannt und mit ihm keine diplomatischen Beziehungen aufgenommen hatten. Zu dieser Zeit befand sich Portugal, ein Land, in dem wir ein Konsulat hatten, mit dem wir aber keine diplomatischen Beziehungen führten und mit dem es keine gegenseitige Anerkennung gab, in einer neuen Phase. Drei Jahre zuvor hatte eine Revolution die alte Diktatur António de Oliveira Salazars beseitigt. Salazar war wie sein Nachbar Francisco Franco ein Faschist gewesen, der mit Mussolinis Italien und vor allem Hitlers Deutschland verbunden gewesen war. Mit einem Regime wie dem Estado Novo sprach man nicht über die Frage der gegenseitigen Anerkennung oder die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Das neue Regime war zunächst eine Militärregierung, die die Revolutionäre der Nelkenrevolution initiiert hatten, und war für Gespräche zwischen Israel und Portugal auch noch nicht bereit. 1976 aber war eine neu gewählte sozialistische Regierung unter Ministerpräsident Mário Soares an die Macht gekommen. Die Beziehungen zwischen der Sozialistischen Partei Portugals und der in Israel herrschenden Arbeitspartei waren seit geraumer Zeit gut entwickelt, aber die diplomatischen Ergebnisse ließen auf sich warten. Im Frühling 1977 fand nun ein Treffen der Sozialistischen Internationale in Amsterdam statt. Der Präsident der Arbeitspartei, Ministerpräsident Yitzhak Rabin, war verhindert und bat seinen Stellvertreter und Außenminister Yigal Allon, ihn dort zu vertreten. Allon nahm mich mit. Ephraim Eldar, unser Konsul in Lissabon, der zwar keinen diplomatischen Status hatte, aber ein schlauer Beobachter war, schrieb mir im Voraus, dass zwar ein Treffen zwischen Soares und Allon in Amsterdam stattfinden würde, wir jedoch keine zu großen Erwartungen haben sollten: Soares würde die diplomatischen Beziehungen vorerst nicht aufnehmen. Der Konsul erzählte mir auch, dass es zur Vorbereitung auf die Gespräche in Amsterdam eine gemeinsame Sitzung der portugiesischen Regierung mit der Spitze der Sozialistischen Partei gegeben habe, in der unter anderem entschieden worden war, die diplomatischen Beziehungen mit Israel wegen des Drucks aus der arabischen Welt nicht aufzunehmen. Natürlich unterrichtete ich meinen Minister ausführlich über dieses Thema. Allon schien nicht besonders beunruhigt zu sein. Er kommentierte meine Erläuterungen nicht, sondern versank stattdessen in seinen Gedanken. Die Mitglieder der Delegationen zur Sozialistischen Internationale wurden alle im selben Hotel untergebracht. Das Hotel war daher voll von Staatsoberhäuptern, Ministerpräsidenten wie auch von ehemaligen (und zukünftigen) Staatsoberhäuptern und Ministerpräsidenten sowie allen Vorsitzenden der verschiedenen sozialistischen Parteien. Nur die wenigsten von ihnen ergatterten eine Suite im Hotel, da es für die vielen hochrangigen Gäste schlicht nicht genug gab. Yigal Allon bekam daher ein ganz normales kleines Zimmer, nicht größer als meins. Am Rande der Plenarsitzung gab es zahlreiche bilaterale Treffen, für die ebenfalls meist keine Sitzungssäle zur Verfügung standen. So wurden die meisten diplomatischen Besprechungen in normale Hotelzimmer verlegt. Das Treffen mit den portugiesischen Regierungschefs fand aus diesem Grunde in Allons Zimmer statt. Soares kam in Begleitung seines Außenministers und des Generalsekretärs seiner Partei. In dem Zimmer befanden sich nur drei Stühle, die den Gästen angeboten wurden, während mein Außenminister und ich auf dem Bett saßen. Das Gespräch wurde auf Französisch geführt, in einer Sprache, die Allon nicht beherrschte, sodass ich als Dolmetscher einspringen musste. Mário Soares eröffnete das Gespräch. Wie in der Sozialistischen Internationale üblich duzte er Allon und nannte ihn beim Vornamen. „Mein lieber Yigal“, sagte er, „ich komme mit guten Nachrichten. Unsere Regierung und unsere Partei sind entschieden, Israel anzuerkennen und mit ihm diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Das ist eine historisch gerechtfertigte und schon längst überfällige Entscheidung. Wir haben dennoch ein Problem wegen unserer Interessen in den arabischen Staaten und in der islamischen Welt, die für uns kritisch sind, und deshalb werden wir die Umsetzung dieses Beschlusses noch eine Weile verschieben müssen. Aber prinzipiell sind wir entschieden.“ Ich übersetzte, und Yigal Allon erwiderte, ohne lange nachzudenken, auf Hebräisch: „Lieber Mário, du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Freude du mir soeben bereitet hast. Ich freue mich so sehr, dass wir endlich den Weg zu unserer gegenseitigen Anerkennung gefunden haben. Dass du, lieber Mário, Probleme hast, die für dein Land kritisch sind und deshalb vorerst keine Botschaft in Israel eröffnen kannst, dafür habe ich vollstes Verständnis. An deiner Stelle hätte ich wahrscheinlich auch noch ein wenig warten wollen. Ich hingegen habe solche Probleme nicht. Ich könnte also meine Botschaft in Lissabon eröffnen und du deine in Israel erst später. Ich habe ja ein Konsulat in Lissabon, das ich unmittelbar in eine Botschaft umwandeln kann, und du wartest ab, bis du so weit bist, eine Botschaft in Israel zu eröffnen.“ 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 89 Leseprobe Leseprobe Eine zweite Geschichte: 1977 war ich Leiter der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes in Jerusalem und Sprecher des Außenministers Yigal Allon. Zu dieser Zeit beschäftigten wir uns immer noch hauptsächlich mit der Durchbrechung der diplomatischen Barrikade Israels. Nicht nur waren wir aus der gesamten arabischen und islamischen Welt (mit Ausnahme der Türkei) ausgeschlossen, sondern auch aus der kommunistischen Welt und aus der Mehrheit der Entwicklungsländer in Afrika und Asien; selbst in Westeuropa gab es noch Länder, die Israel nicht anerkannt und mit ihm keine diplomatischen Beziehungen aufgenommen hatten. Zu dieser Zeit befand sich Portugal, ein Land, in dem wir ein Konsulat hatten, mit dem wir aber keine diplomatischen Beziehungen führten und mit dem es keine gegenseitige Anerkennung gab, in einer neuen Phase. Drei Jahre zuvor hatte eine Revolution die alte Diktatur António de Oliveira Salazars beseitigt. Salazar war wie sein Nachbar Francisco Franco ein Faschist gewesen, der mit Mussolinis Italien und vor allem Hitlers Deutschland verbunden gewesen war. Mit einem Regime wie dem Estado Novo sprach man nicht über die Frage der gegenseitigen Anerkennung oder die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Das neue Regime war zunächst eine Militärregierung, die die Revolutionäre der Nelkenrevolution initiiert hatten, und war für Gespräche zwischen Israel und Portugal auch noch nicht bereit. 1976 aber war eine neu gewählte sozialistische Regierung unter Ministerpräsident Mário Soares an die Macht gekommen. Die Beziehungen zwischen der Sozialistischen Partei Portugals und der in Israel herrschenden Arbeitspartei waren seit geraumer Zeit gut entwickelt, aber die diplomatischen Ergebnisse ließen auf sich warten. Im Frühling 1977 fand nun ein Treffen der Sozialistischen Internationale in Amsterdam statt. Der Präsident der Arbeitspartei, Ministerpräsident Yitzhak Rabin, war verhindert und bat seinen Stellvertreter und Außenminister Yigal Allon, ihn dort zu vertreten. Allon nahm mich mit. Ephraim Eldar, unser Konsul in Lissabon, der zwar keinen diplomatischen Status hatte, aber ein schlauer Beobachter war, schrieb mir im Voraus, dass zwar ein Treffen zwischen Soares und Allon in Amsterdam stattfinden würde, wir jedoch keine zu großen Erwartungen haben sollten: Soares würde die diplomatischen Beziehungen vorerst nicht aufnehmen. Der Konsul erzählte mir auch, dass es zur Vorbereitung auf die Gespräche in Amsterdam eine gemeinsame Sitzung der portugiesischen Regierung mit der Spitze der Sozialistischen Partei gegeben habe, in der unter anderem entschieden worden war, die diplomatischen Beziehungen mit Israel wegen des Drucks aus der arabischen Welt nicht aufzunehmen. Natürlich unterrichtete ich meinen Minister ausführlich über dieses Thema. Allon schien nicht besonders beunruhigt zu sein. Er kommentierte meine Erläuterungen nicht, sondern versank stattdessen in seinen Gedanken. Die Mitglieder der Delegationen zur Sozialistischen Internationale wurden alle im selben Hotel untergebracht. Das Hotel war daher voll von Staatsoberhäuptern, Ministerpräsidenten wie auch von ehemaligen (und zukünftigen) Staatsoberhäuptern und Ministerpräsidenten sowie allen Vorsitzenden der verschiedenen sozialistischen Parteien. Nur die wenigsten von ihnen ergatterten eine Suite im Hotel, da es für die vielen hochrangigen Gäste schlicht nicht genug gab. Yigal Allon bekam daher ein ganz normales kleines Zimmer, nicht größer als meins. Am Rande der Plenarsitzung gab es zahlreiche bilaterale Treffen, für die ebenfalls meist keine Sitzungssäle zur Verfügung standen. So wurden die meisten diplomatischen Besprechungen in normale Hotelzimmer verlegt. Das Treffen mit den portugiesischen Regierungschefs fand aus diesem Grunde in Allons Zimmer statt. Soares kam in Begleitung seines Außenministers und des Generalsekretärs seiner Partei. In dem Zimmer befanden sich nur drei Stühle, die den Gästen angeboten wurden, während mein Außenminister und ich auf dem Bett saßen. Das Gespräch wurde auf Französisch geführt, in einer Sprache, die Allon nicht beherrschte, sodass ich als Dolmetscher einspringen musste. Mário Soares eröffnete das Gespräch. Wie in der Sozialistischen Internationale üblich duzte er Allon und nannte ihn beim Vornamen. „Mein lieber Yigal“, sagte er, „ich komme mit guten Nachrichten. Unsere Regierung und unsere Partei sind entschieden, Israel anzuerkennen und mit ihm diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Das ist eine historisch gerechtfertigte und schon längst überfällige Entscheidung. Wir haben dennoch ein Problem wegen unserer Interessen in den arabischen Staaten und in der islamischen Welt, die für uns kritisch sind, und deshalb werden wir die Umsetzung dieses Beschlusses noch eine Weile verschieben müssen. Aber prinzipiell sind wir entschieden.“ Ich übersetzte, und Yigal Allon erwiderte, ohne lange nachzudenken, auf Hebräisch: „Lieber Mário, du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Freude du mir soeben bereitet hast. Ich freue mich so sehr, dass wir endlich den Weg zu unserer gegenseitigen Anerkennung gefunden haben. Dass du, lieber Mário, Probleme hast, die für dein Land kritisch sind und deshalb vorerst keine Botschaft in Israel eröffnen kannst, dafür habe ich vollstes Verständnis. An deiner Stelle hätte ich wahrscheinlich auch noch ein wenig warten wollen. Ich hingegen habe solche Probleme nicht. Ich könnte also meine Botschaft in Lissabon eröffnen und du deine in Israel erst später. Ich habe ja ein Konsulat in Lissabon, das ich unmittelbar in eine Botschaft umwandeln kann, und du wartest ab, bis du so weit bist, eine Botschaft in Israel zu eröffnen.“ 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 90 Leseprobe Leseprobe Das war natürlich ein Schwindel. Wenn ein Land in einem anderen eine Botschaft eröffnet, dann bedeutet das die volle gegenseitige Anerkennung und die Aufnahme offizieller gegenseitiger diplomatischer Beziehungen, auch wenn das andere Land vorerst keine eigene Botschaft eröffnet. Es ist nicht so selten, dass diplomatische Beziehungen bestehen, es aber nicht in beiden Ländern eine Botschaft gibt. Für ärmere Länder ist es häufig eine finanzielle Frage, ob sie eine ständige Botschaft im Partnerland eröffnen können. In solchen Fällen nimmt das eine Land mit dem anderen dadurch diplomatische Beziehungen auf, dass es dort eine Botschaft eröffnet, und das andere bestätigt die diplomatischen Beziehungen, indem es die Botschaft des ersten akzeptiert. Yigal Allons Trick war also völlig durchsichtig. Schon während ich übersetzte, bemerkte ich die wütenden Blicke des portugiesischen Außenministers und des Generalsekretärs der sozialistischen Partei. Soares aber schien in Verlegenheit geraten zu sein. Er suchte sichtlich nach Worten, warf seine Arme in die Luft und sagte schließlich: „Ja, vielleicht … äh … vielleicht.“ Eine sehr zögerliche Zusage. Daraufhin befahl mir Allon auf Hebräisch, sofort das Zimmer zu verlassen, runter in die Hotellobby zu laufen und dort offiziell zu erklären, dass wir – Portugal und Israel – soeben diplomatische Beziehungen aufgenommen hätten und dass wir, Israel, unmittelbar eine Botschaft in Lissabon eröffnen würden. „Mach das so schnell wie möglich, und komm umgehend zurück, denn wir können ja nicht miteinander sprechen, solange du als unser Dolmetscher nicht hier bist.“ Ich tat, was er mir aufgetragen hatte, und rannte danach die Treppen so schnell wie möglich wieder hinauf und atemlos in Allons Schlafzimmer hinein. Kaum war ich dort, ergriff Allon das Wort: „Lieber Mário, nachdem wir das jetzt erledigt haben, möchte ich mit dir die äußerst dringenden und wichtigen Angelegenheiten erörtern, die auf der Tagesordnung der Sozialistischen Internationalen stehen.“ Er begann mit einer langen Rede, in großer Geschwindigkeit vorgebracht, über die Themen, die im Plenarsaal unter dem Vorsitz von Willy Brandt diskutiert worden waren und die in Wirklichkeit keinen interessierte. Er jedoch tat so, als seien diese Themen für ihn die allerwichtigsten, die man sich nur vorstellen kann. Ich hatte die größte Mühe, diesen Wortschwall zu übersetzen, und dem portugiesischen Ministerpräsidenten blieb nichts anderes übrig, als seine Kommentare zu diesen Themen abzugeben, bis die Zeit des Treffens abgelaufen war. So blieb keine Zeit, die portugiesisch-israelischen Beziehungen noch einmal anzusprechen. Als die portugiesischen Gäste sich verabschiedet hatten, befahl Allon mir, zwei Dinge zu tun. Es war Sabbat, daher sollte ich den Generalsekretär des Auswärtigen Amtes, Professor Shlomo Avineri, bei sich zu Hause anrufen. Handys gab es damals noch nicht, und es sollte sie auch noch lange nicht geben. Ich sollte ihn bitten, sofort die Ernennungskommission des Auswärtigen Amtes einzubestellen, die nötig war, um unseren Konsul in Lissabon zum Botschafter in Portugal zu ernennen. Das musste schnell geschehen, damit Allon der Regierung schon in der wöchentlichen Sonntagssitzung des Kabinetts am nächsten Morgen den Beschluss der Ernennungskommission zur Bestätigung vorlegen könne. Zweitens bat er mich, den Konsul in Lissabon anzurufen und ihn damit zu beauftragen, sich für seine Ernennung am nächsten Morgen vorzubereiten und alles Nötige für die Verwandlung des Konsulats in eine Botschaft in Bewegung zu setzen. Als ich Konsul Eldar anrief, begann er einen langen Monolog, um mir sein Schreiben, das er mir im Vorfeld geschickt hatte, noch einmal zu erklären. Er wusste nicht, dass unser Gespräch mit Soares schon stattgefunden hatte, und wollte mich davon überzeugen, dass die Portugiesen trotz ihrer negativen Entscheidung diplomatischen Beziehungen wohlwollend gegenüberstünden und unter echten Zwängen stünden und dass wir Verständnis und Geduld haben müssten. Ich habe ihn nicht unterbrochen. Am Ende sagte ich ihm nur: „Ephraim, du bist Botschafter. Ab morgen bist du der israelische Botschafter in Portugal.“ Die Telefonleitung blieb ein paar Sekunden stumm, und danach hörte ich ein Seufzen, und der Konsul sagte: „Avi, wie lange kennen wir uns schon? Wir waren doch immer gute Freunde. Zwischen uns gab es im Grunde nie Verstimmungen. Warum musst du mit mir solche Scherze machen, du weißt doch, dass ich herzkrank bin.“ Mit viel Mühe habe ich dem armen Eldar von dem Gespräch zwischen Allon und Soares berichtet. Ich erzählte ihm auch von den Vorbereitungen des Generalsekretärs des Auswärtigen Amtes in Jerusalem, die im Auftrag von Allon bereits aufgenommen worden waren. Eldar war völlig verblüfft und brauchte lange, um die Überraschung zu verarbeiten. Zehn Jahre später war ich neuer israelischer Botschafter in Brüssel. Akkreditiert war ich sowohl beim belgischen König als auch beim Großherzog von Luxemburg und bei der Europäischen Gemeinschaft. Kaum war ich in Brüssel angekommen, musste ich mich mit einer außergewöhnlichen Veranstaltung beschäftigen. Die hoch angesehene Freie Universität Brüssel hatte sich entschieden, meinem Außenminister Shimon Peres einen Ehrendoktortitel zu verleihen. Diesen Ehrentitel sollte er gemeinsam mit drei anderen Politikern entgegennehmen: mit dem italienischen Präsidenten Sandro Pertini, dem senegalesischen Staatspräsidenten Abdou Diouf und dem neuen portugiesischen Staatspräsidenten Mário Soares. Die Zeremonie fand am Nachmittag in der Universität statt, abends sollte es ein feierliches Abendessen im Schloss geben. Shimon Peres teilte den Gastgebern mit, dass er am Abend nicht in Brüssel bleiben könne und leider weiterfliegen müsse. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 91 Leseprobe Leseprobe Ich habe niemandem verraten, was der Grund für diese Absage war: Shimon Peres, der immer von allerlei Stars fasziniert gewesen war, hatte eine Einladung bekommen, den Abend gemeinsam mit Liza Minnelli im Kabarett Folies Bergères in Paris zu verbringen, und das war ihm lieber als Universität, Staatsoberhäupter und sogar ein König. Mir gab er den Auftrag, ihn an diesem Abend zu vertreten. So begleitete ich ihn zum Flughafen, zog meinen Gehrock an und machte mich auf den Weg zum Schloss. Als ich meinen Platz einnahm, kamen die anderen Ehrengäste gerade erst nach und nach an. Mir fiel auf, dass mir gegenüber der Platz des portugiesischen Präsidenten war. Als er hereinkam, sah er sich um, erblickte mich, zögerte eine Minute, zeigte mit seinem Zeigefinger auf mich und sagte dann auf Französisch: „Sie kommen mir bekannt vor, ich kenne Sie irgendwoher.“ „Ja, Herr Präsident“, antwortete ich, „Sie haben mich tatsächlich schon einmal gesehen. Ich war bei der Sozialistischen Internationale in Amsterdam bei Ihrem Gespräch mit dem israelischen Außenminister Yigal Allon Ihr Dolmetscher, als wir gemeinsam die diplomatischen Beziehungen aufgenommen haben.“ Er zögerte eine Minute und brach dann in Gelächter aus. „Ja“, sagte er, „das war eine ganz merkwürdige Geschichte, da bin ich in eine Falle getappt.“ Er lachte noch mehr und wandte sich an unsere Sitznachbarn: „Diese Geschichte muss ich euch erzählen.“ Er erzählte die Geschichte genauso wie ich, in allen Details, bis auf eines: Er bestand darauf, dass sein Gesprächspartner nicht Außenminister Yigal Allon, sondern Premierminister Yitzhak Rabin gewesen sei. Nachdem der Name schon mehrmals gefallen war, bemühte ich mich, ihn flüsternd daran zu erinnern, dass er das Gespräch nicht mit Premierminister Rabin habe führen können, weil Rabin gar nicht nach Amsterdam gereist war, und dass er stattdessen mit Allon gesprochen hatte. Laut erwiderte er: „Nein, nein! Was für Dummheiten erzählen Sie da? Ich war doch dabei. Ich war derjenige, der mit Yitzhak Rabin gesprochen hat, Sie waren doch nur der Dolmetscher.“ Ich schwieg. Ein paar Jahre später eröffnete auch Portugal endlich eine Botschaft in Israel, und der portugiesische Botschafter suchte mich sofort auf, weil er die Geschichte von 1977 gehört hatte. Er lud mich zu einem Mittagessen ein, um von mir als damaligem Dolmetscher zu hören, wie es damals gelaufen sei. Natürlich bestand auch er darauf, dass Soares’ Gesprächspartner in Amsterdam Yitzhak Rabin gewesen sei. Haben David Ben-Gurion und Mário Soares gelogen? Natürlich nicht. Die beiden hatten auch keinen Grund, zu lügen oder ihre Geschichten zu fälschen. Was de Gaulle bei der Beerdigung Adenauers gesagt haben soll, leuchtete ein, weil es seiner Politik vollkommen entsprach. Ben-Gurion, der damals schon nicht immer klar im Kopf war, hat wahrscheinlich verschiedene Geschichten, die er mit de Gaulle erlebt hat, verwechselt. Vielleicht hatte er das Erzählte auch tatsächlich gehört, nur eben in einem anderen Gespräch. Mário Soares hat die Geschichte, die für ihn eigentlich peinlich war, zehn Jahre danach ganz genau so wiederholt, wie sie sich ereignet hatte, und nur die Person verwechselt, mit der er gesprochen hat. Vielleicht lag das daran, dass ursprünglich Rabin nach Amsterdam fliegen sollte, um seine Partei zu vertreten, und Soares auf ein Gespräch mit ihm vorbereitet gewesen war. Hätte ich Yves Cuau gesagt, dass das Gespräch bei der Beerdigung Adenauers nie stattgefunden hat, hätte er mich für einen Idioten gehalten, hatte er die Geschichte doch von Ben-Gurion persönlich gehört. Hätte ich den Zuhörern Soares’ in Brüssel gesagt, dass Soares in Amsterdam nicht Rabin, sondern Allon getroffen hat, würden sie mich sogar für einen frechen Idioten halten, hatten sie es doch von Soares persönlich. Das Fazit der Geschichte: Das Gedächtnis des Menschen, auch wenn man versucht, vollkommen ehrlich und wohlwollend zu sein, hat seine Lücken. Damit muss man rechnen, auch bei mir. Die Franzosen sagen: „Un homme averti en vaut deux.“ – Ein vorgewarnter Mensch ist so viel wert wie zwei. Das sind Sie jetzt, liebe Leser. Copyright 2015 by Quadriga Verlag in der Bastei Lübbe AG Bastei Lübbe AG, Köln. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 92 Leseprobe Leseprobe Reichert, Johannes: Mit dem Rad durch Israel: 1230 Kilometer mit dem Fahrrad durch das Heilige Land | Wiesenburg | 2014 | Broschiert | 316 Seiten | ISBN: 978-3956321948 | 14,90 Seit vielen Jahren geht Johannes Reichert für zwei Wochen im Jahr allein mit dem Fahrrad auf Tour. Nach einem Herzinfarkt 2007 halfen ihm diese Reisen bei der Überwindung der Krankheit. Von Haifa aus radelt der Autor zum Rosh Hanikra an der libanesischen Grenze und durch die waldreichen Berge im Norden Galiläas weiter zu den biblischen Orten am See Genezareth. Über Nazareth, den Berg Tabor und das Karmelgebirge geht die Reise dann nach Tel Aviv/Jaffa, dem Ziel der ersten Etappe 2013. Von dort wird die Tour 2014 über Aschkelon, Be‘er Sheva, Dimona, Arad und Massada nach Jerusalem fortgesetzt. Vier Tage bleibt Johannes Reichert in der Heiligen Stadt und besucht dort einige der vielen Sehenswürdigkeiten. Danach radelt er durch die dichten Wälder der Jerusalemer Berge nach Tel Aviv/Jaffa zurück. Dieses Reisetagebuch nimmt den Leser mit auf eine besondere Radtour und zeigt die Herausforderungen, die Alleinreisende zu meistern haben. Hilfsbereite Menschen, wunderbare Landschaften und historische Orte machen Lust auf diese Reise. Reisevorbereitung Nach meinen beiden Radtouren, die mich nach Santiago de Compostela und Rom führten, ist nun Israel mit Jerusalem mein nächstes Ziel. Diese neue Reise sollte ursprünglich von Rom aus weiter durch Italien bis zu einem Seehafen gehen. Von dort aus wollte ich dann mit einem Handelsschiff weiter nach Haifa. Diesen Plan verwerfe ich aber schon bald wieder, denn die Fahrt mit einem Schiff wäre nicht wirklich günstig, ein einfacher Rückflug sehr teuer und von Israel selbst würde ich nicht viel sehen. Also plane ich um, finde einen Flug für 484 Euro mit der israelischen Fluggesellschaft El Al von Frankfurt nach Tel Aviv und zurück. Das Fahrrad wird pro Flug mit 54 Euro extra berechnet. Das ist ein guter Preis und ich werde viel mehr Zeit in Israel verbringen können. 2013 will ich durch den Norden des Landes radeln und anschließend 2014 den Süden bereisen, mit Jerusalem als Endziel. Im November 2012 wird es dann ernst. Ich buche den Flug nach Tel Aviv. Wenn schon Israel, dann von Anfang an. Also fiel meine Wahl auf El Al, die israelische Fluggesellschaft mit dem Slogan: „It’s not just an Airline, it’s Israel“. Freunden und Verwandten verriet ich das Ziel meiner neuen Radtour erst einmal nicht. Viele verbinden mit Israel noch immer Gefahr, Anschläge, Terror und Krieg. Ich konnte ein gewisses Erstaunen in den Gesichtern sehen, als ich kurz vor Beginn der Reise Freunde und Bekannte in meine Pläne einweihte. „Ist das nicht gefährlich? Wieso gerade Israel? Dahin würde ich nicht fahren, mit dem Rad schon gar nicht“, waren nur einige der Reaktionen. Aber damit war zu rechnen. Ich jedenfalls habe keine Angst und freue mich sogar auf dieses neue große Abenteuer. Sonntag, 28. April 2013 Anreise, Flug nach Tel Aviv, Zug nach Haifa Jetzt geht es los. Das Rad wurde technisch überprüft, nur das Nötigste gepackt, ich bin startklar. Um 10 Uhr verlasse ich mein Zuhause in Schweinfurt und radle zum Bahnhof. Ein Zug bringt mich über Würzburg nach Frankfurt zum Flughafen. Dort habe ich reichlich Zeit, um das Rad für die Flugreise sicher zu verpacken, einzuchecken und ohne Stress auf den Abflug zu warten. Beim FGS (Frankfurter Gepäck Service) erstehe ich für 30 Euro einen Fahrradkarton und beginne ohne Eile mein Rad zu zerlegen, das heißt, ich lasse die Luft aus den Reifen, baue das Vorderrad aus und befestige es am Rahmen, schraube die Pedale ab und stelle den Lenker quer. So passt mein Gefährt in den Karton, den ich zusammen mit der Satteltasche auf einen Gepäckwagen lade und zum El Al Schalter in Halle C des Frankfurter Flughafens schiebe. Dort beginnt nun die erste Sicherheitsbefragung durch israelisches Personal. Über diesen Vorgang konnte ich mich im Internet bereits eingehend informieren, bin also auf alle möglichen Fragen vorbereitet. Ob ich schon einmal in Israel gewesen sei, mein Gepäck selbst gepackt hätte und was ich in Israel machen wolle, möchte eine freundliche Dame wissen. „Ich plane eine Radtour von zwei Wochen durch den Norden des Landes“, erwidere ich. Sie notiert meine Antwort, sieht mich erstaunt an und fragt: „Eine Radtour durch Israel? Wieso das denn? Es gibt doch sicher schönere Länder für Radtouren“. Ich hätte einige Bücher über Israel gelesen und freute mich auf dieses Land und seine Menschen, antworte ich und stelle nun meinerseits eine Frage: „Warum denn keine Radtour in Israel?“ Das scheint die richtige Antwort gewesen zu sein, denn die Befragung ist zu Ende. Ich darf jetzt meine Satteltasche am Gepäckschalter aufgeben, der Karton mit dem Rad wird abgeholt und den Rucksack nehme ich als Handgepäck mit ins Flugzeug. Das war’s! Schlimm war diese erste Sicherheitsbefragung nun wirklich nicht. Bei der Ankunft morgen früh in Tel Aviv werde ich bestimmt eingehender befragt, denke ich mir und mache mich langsam auf den Weg zum Abflugschalter. Um 19.35 Uhr deutscher Zeit sitze ich im Flieger, blicke aus dem Fenster und sehe das gepanzerte Fahrzeug der Bundespolizei, das die El Al Maschinen auf dem Frankfurter Flughafen bis zur Startbahn begleiten wird. Das soll vor allem die Passagiere in Sicherheit wiegen, einen terroristischen Anschlag könnte dieses Fahrzeug sicher nicht wirklich verhindern. Aber es ist trotzdem ein beruhigendes Gefühl, zu wissen, dass hier in Frankfurt alles zum Schutz einer israelischen Maschine getan wird. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 93 Leseprobe Leseprobe Kurz vor 20 Uhr heben wir ab und starten in den Abendhimmel, Israel entgegen. Noch ist es hell und schon bald tauchen die ersten Berge der Alpen unter uns auf. Dann wird das Abendessen serviert und ich koste zum ersten Mal „Hummus“ (Kichererbsenbrei). Dazu gibt es Fladenbrot, Salat, Reis, Gemüse, Hähnchenfleisch und zum Nachtisch „Mousse au Chocolat“. Gerne hätte auch ich mir ein Glas Rotwein genehmigt, doch ich darf heute Nacht nicht allzu müde sein, muss ich doch später in Tel Aviv noch den Zug nach Haifa finden. Also trinke ich keine alkoholischen Getränke, versuche etwas zu schlafen (zumindest zu ruhen), denn das wird sicher eine lange und aufregende Nacht für mich. Eine Stunde vor der Landung komme ich mit meiner Sitznachbarin ins Gespräch. Sie ist Belgierin, lebt mit ihrem Mann in Luxemburg und unternimmt eine Pilgerreise ins Heilige Land. Ihre Reisegruppe wird mit dem Bus durch den Norden bis hinunter nach Eilat fahren. Ich erzähle ihr von meinem Plan, den Norden mit dem Fahrrad zu durchqueren, und sie ist sichtlich angetan von dieser Idee. Dann tauchen die ersten Lichter Israels unter uns auf. Es ist kurz nach Mitternacht Ortszeit, das bedeutet, eine Stunde weiter als in Deutschland. Bis wir landen, unsere Parkposition erreichen und das Flugzeug verlassen dürfen, ist es bereits kurz vor 1 Uhr. Ich laufe den langen Gang zur Passkontrolle hinunter. Dort warten bereits viele Menschen, wieder einmal ist Geduld gefragt. Nun werde ich bestimmt eine längere Sicherheitsbefragung erleben. Nach ungefähr einer halben Stunde komme dann auch ich an die Reihe. Die Beamtin in der kleinen Kabine nimmt meinen Reisepass, scannt ihn, sieht mich an, legt das drei Monate gültige Touristenvisum in Form eines kleinen Zettels in meinen Pass, gibt mir diesen zurück, fragt nichts und ich bin durch. War das nun alles? Ja, das war’s! Ich laufe zur Gepäckausgabe, erhalte meine Satteltasche und der Karton mit dem Rad wartet bereits an der Sondergepäckausgabe. Die Verpackung ist leicht beschädigt, aber das Rad im Inneren völlig in Ordnung. Ich lasse mir Zeit, packe das Rad aus und setze es mit Hilfe meines Werkzeugs wieder zusammen. Nach einer guten halben Stunde bin ich startklar. Die anderen Passagiere haben bereits die Gepäckhalle verlassen, außer mir rührt sich nicht mehr viel. Zwei Männer erscheinen und fragen, ob sie den Karton entsorgen können. Eigentlich wollte ich diesen hier irgendwo abgeben, um ihn für die Rückreise erneut verwenden zu können. Das gehe aber nicht, sagt einer der Männer, der Karton müsse entsorgt werden. Schade, er wäre noch gut zu gebrauchen gewesen. Aber Vorschrift scheint auch hier in Israel Vorschrift zu sein, also nimmt er ihn mit und entsorgt ihn ordnungsgemäß. In der Ankunftshalle versuche ich mich zu orientieren. Wo geht es hier zum Bahnhof? Zum Glück erscheinen die Hinweise nicht nur in hebräischer und arabischer, sondern auch in lateinischer Schrift. So lässt sich der Weg zum Bahnhof recht schnell finden. Dieser liegt wie in Frankfurt unterhalb des Flughafens. Ein Automat spuckt meine Fahrkarte vom Ben Gurion Flughafen nach Haifa aus und kostet 39 NIS (Neue Israelische Schekel), das sind rund 10 Euro. Eine Rolltreppe führt nach unten zu den Bahnsteigen. Ich kommuniziere jetzt nur noch in Englisch und frage einige der wenigen Passanten, die sich zu dieser frühen Morgenstunde hier unten aufhalten, auf welchem Gleis der Zug nach Haifa einfahren werde. Abfahrt 2.50 Uhr, wo, das kann ich leider nur vage herausbekommen. Einer meint hier, ein Anderer dort. Erst ein Bediensteter der Bahn bringt Klarheit. Der Zug kommt pünktlich an, ich steige ein, stelle das Rad an den dafür vorgesehenen Platz und mache es mir in dem fast leeren Abteil bequem. Wenige Minuten später fährt der Zug an, wir verlassen den Flughafen und rollen in die Nacht. Jetzt werde ich erst einmal für 1,5 Stunden meine Ruhe haben, so lange braucht der Zug nach Haifa. Die Ansagen im Zug sind auf Hebräisch und Englisch, sodass ich immer weiß, wo ich mich gerade befinde. Gegen 4.15 Uhr erreichen wir den Zentralbahnhof von Haifa. Ich steige aus und fühle sofort eine angenehme Wärme, obwohl es noch stockdunkel ist. Für mich, der aus der Kälte kommt, eine Überraschung. Ich setze mich auf eine Bank innerhalb des Bahnhofsgeländes und fühle mich sicher. Still ist es hier, viele Menschen sind nicht anwesend, nur wenige Züge kommen an und fahren wieder ab. Hafenkräne recken ihre Hälse in den dunklen Himmel, der Hafen muss also ganz nahe sein. Dann graut der Morgen im Osten. Mehr Menschen betreten nun den Bahnhof, setzen sich wie ich auf Bänke und warten auf ihre Züge, die sie zur Arbeit bringen werden. Haifa existiert bereits seit der Antike, ist mit rund 270 000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Israels und der größte Seehafen des Landes. Die terrassenförmig angelegten „Hängenden Gärten“ der Bahai am Berg Karmel (Persische Gärten) wurden in ihrer heutigen Form im Jahr 2001 eröffnet und gehören zu den meistbesuchten touristischen Attraktionen Israels. Der Schrein des Bab ist eines der Wahrzeichen dieser Stadt. Das Bahaitum ist eine weltweit verbreitete Religion mit etwa fünf bis acht Millionen Anhängern, die sich auf die Lehren des Religionsstifters Baha'ullah berufen und nach ihm als Bahai bezeichnet werden. Gedanken des Tages: Ich bin müde, glücklich und sehr gespannt auf dieses biblische Land Bisher verliefen die Sicherheitsbefragungen problemlos. Angenehm warm ist es hier, was für ein Unterschied zu gestern. © Wiesenburg Verlag , 2015. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 94 Leseprobe Leseprobe Salentin, Rebecca Maria: Schuld war Elvis | C. Bertelsmann | ET: 9. März 2015 ISBN: 978-3-570-10212-1 | Deutsche Originalausgabe | Gebunden | 512 Seiten | ca. 19,99 € | Auch als E-Book Inmitten einer Großfamilie, deren Mitglieder so stur wie lebenslustig sind, wird in den 70er Jahren das Mädchen Hebron geboren. Den eigenwilligen Namen verdankt sie ihrem Vater, der sich nach der Zeugung in seine Heimat Israel abgesetzt hat. Überhaupt hatte ihre Mutter Meggy Pech mit den Männern: Vom örtlichen Friseur bekommt sie Zwillinge. Der hätte sie gern geheiratet – wäre er nicht bei einem Autorennen ums Leben gekommen. Der Vater ihres Sohnes Francis ist ein katholischer Mönch, und Ben Omars Erzeuger Hadschi ist ein Rastafari mit Hundehaufenfrisur, dem seine Haschplantage wichtiger ist als die Kindererziehung, während Meggy die Familie ernährt. Die bunte Schar bewohnt ein windschiefes Fachwerkhaus in einem biederen Eifeldorf. Da Hadschi verschwunden ist, muss Hebron sich um die kleinen Geschwister kümmern. Als sie daran fast zerbricht, reist sie nach Israel, um ihren Vater zu finden… Rebecca Maria Salentin, geboren 1979 in Eschweiler, aufgewachsen in der Eifel, lebt in Leipzig. Sie hat selbst jüdische und katholische Wurzeln und stammt aus einer Großfamilie. Die Autorin las beim Open Mike und nahm am Klagenfurter Literaturkurs teil. Ihr erster Roman „Hintergrundwissen eines Klavierstimmers" erregte große Aufmerksamkeit. In Leipzig betreibt sie in einem alten Zirkuswagen das Sommercafé ZierlichManierlich. Erster Teil: Zwejbechle oder wie alles mit zwei Schüssen begann Und Hebron schrie. Der Griff der Hebamme um die gekrümmten Beine des Säuglings war fest und grob, sie wollte die Geburt nun endlich abhaken, die werdende Mutter hatte nach ihrem Geschmack zu viel und zu laut geschrien, und Kinder, die sich derart Zeit ließen, konnte sie grundsätzlich nicht leiden. Sie maß das Kind, indem sie es kopfüber baumeln ließ, wog es und legte ihm ein Meterband um den Kopf, bevor sie das schreiende Mädchen badete, dann in ein Moltontuch schlug und der verschwitzten Mutter in den Arm legte. Diese war froh über das Geschrei, nahm sie doch folgerichtig an, es zeuge von einer guten Gesundheit des Neugeborenen. Liebevoll betrachtete sie das hochrote Köpfchen, das weit aufgerissene Mäulchen, die dunkel verklebten Härchen. Der Anblick ihres Frischgeborenen löste eine Welle von Glücksgefühlen in ihr aus, die mit einer Intensität über ihr zusammenschlug wie nie zuvor etwas in ihrem Leben. „Hebron", flüsterte sie dem schreienden Bündel zu, „wie habe ich mich nach dir gesehnt, meine Hebron." Die Freude über das von guter Gesundheit zeugende Geschrei verging ihr jedoch bald, denn Hebron schrie in ihren ersten Lebens-monaten konsequent und durchgehend, ein unerträgliches Gewimmer, durchbrochen nur durch kurze Ruhephasen, in denen das Kind schlief oder trank. Hebron schrie tagsüber, wenn sie im Kinderwagen lag, den ihre Mutter mit dem Rest der geblümten Wohnzimmertapete ausgeschlagen hatte. Es interessierte sie nicht im Geringsten, ob sie in diesem Wagen durch die Fußgängerzone des kleinen Städtchens mit seinen hässlichen Fünfzigerjahre Klinkerfassaden oder unter den wogenden Baumspitzen des Hürtgenwalds entlanggeschoben wurde. Hebron schrie auch im Tragetuch, das die alternative Hebamme, die immer einen einzelnen Federohrring trug und von einer leichten Räucherstäbchenduftwolke umgeben war, Hebrons Mutter Meggy in der Stillgruppe ans Herz gelegt hatte. Hebron schrie im Garten, wo Meggy den Stubenwagen unter dem blütenbedeckten Sauerkirschbaum abstellte; und an diesem Geschrei war nicht einmal die Nachbarskatze schuld, die es sich so gerne auf Hebron bequem machte, im Gegenteil, die fette Katze sorgte regelmäßig dafür, dass Hebron endlich einmal ruhig war, woran Meggy merkte, dass etwas nicht stimmte und rufend und Hände klatschend in den Garten rannte, um das faule Tier zu verjagen, worauf Hebron, mit knallrotem, einige Male auch schon leicht blauem Gesicht noch lauter in die Welt schrie. Hebron schrie auch nachts, und dabei war es ihr gleichgültig, ob Meggy sie in ihren Armen oder in der Wiege schaukelte, sie schrie, bis Meggy ihr Nachthemd aufknöpfte und Hebron an die geschundene Brust legte. Wollte Meggy ihre Brüste wenigstens eine Stunde schonen, dann schrie Hebron, bis sie vor Erschöpfung in einen kurzen Schlummer fiel, aber selbst dieser war durchbrochen von Schluchzern, deren kläglicher Ton Meggy im Herzen wehtat; das arme Würmchen tat ihr leid, wenn sie auch des Geschreis müde war. Aber was immer sie auch versuchte, kein Tee, keine Bauchmassage und keine Wärmflasche verschafften Hebron Entspannung und Meggy Ruhe. Da Meggy das Kind also nur mithilfe ihrer Brust ruhigzustellen vermochte, wurde Hebron dick und rund, Fett bildete sich an Armen und Beinen, und Meggy hatte Mühe, die kleinen Fältchen zwischen den Speckrollen an Hals und Gliedmaßen zu säubern. Als Hebron neun Monate alt war, hörte sie endlich mit dem Geschrei auf und entdeckte das Essen in festerer Form für sich. Hebrons Leben stand von Anfang an unter einem Stern, den man nicht unbedingt schlecht nennen konnte, aber ihn als gut zu bezeichnen, würde ihren folgenden Lebensjahren nicht gerecht werden. Bloß wie genau man diesen Stern über Hebrons Geburtsstunde oder vielleicht auch den über der Millisekunde ihrer Zeugung bezeichnen konnte, in der das hasserfüllte jüdische Spermium auf das durch eine erzkatholische Erziehung geprägte Ei traf, das würde Hebron ihr Leben lang nicht zu benennen wissen. Als sie die ersten Lichter von Tel Aviv durch das Fenster des Flugzeugs unter sich aufblitzen sah und der Druck auf den Ohren während des Landeanflugs immer stärker wurde, wobei sich ihr Herzschlag vor Aufregung derart beschleunigte, dass sie fürchtete, mit ihren siebzehn Jahren einen Infarkt zu erleiden, und das, ohne ihren Vater auch nur einmal gesehen zu haben, war sie sich über eins jedoch absolut im Klaren: Ihr Leben war von Anfang an seltsam gewesen, seltsam und anders als das Leben der Menschen in ihrer Umgebung, die sie zum Vergleich nahm. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 95 Leseprobe Leseprobe "Es gibt keine zwei vergleichbaren Leben! Niemals! Jeder Mensch ist anders!", wird natürlich jetzt jeder aufschreien, ebenso empört wie überzeugt. Und ja, er hat recht, und nein, hat er nicht. Es gibt eine Andersartigkeit, die selbst unter anderen anders ist. Und unter dieser Andersartigkeit hatte Hebron von Anfang an zu leiden. Da war allein schon der Name: Hebron Maria Magdalena Hunger. Ein Tribut der Mutter an ihre eigene Identität und die Herkunft des Vaters. Als Meggy mit der schreienden Hebron auf dem Plastikstuhl in dem trostlosen Raum des Standesamts Platz nahm und den bereits ausgefüllten Namensschein über die graue Tischplatte schob, war es ihr Glück, dass der Standesbeamte am Morgen ein Stelldichein mit seiner Frau gehabt hatte, etwas, das in seiner fünfunddreißigjährigen Ehe zu dieser Tageszeit noch niemals vorgekommen war, und nur diesem Umstand war es zu verdanken, dass er, selig lächelnd und an seinem schalen Kaffee nippend, den Namen Hebron absegnete, ohne festzustellen, dass Hebron in seinem dicken, grau eingebundenen und schon ziemlich abgewetzten Namensregister unter dem Buchstaben H keinesfalls zu finden war, dass Hebron kein Vorname war und sich auch eher nach einem Jungen- als nach einem Mädchennamen anhörte. Skandalöser als den Namen empfand man jedoch die Tatsache, dass Meggy es wagte, im Lokalblatt des Städtchens namens Düren eine Geburtsanzeige zu schalten, in der sie sich, neben der Abbildung eines Maiglöckchens, offen und ausdrücklich allein über die Ankunft ihres Mädchens freute. Ein Affront für die braven Bürger der kleinen Stadt, die, obwohl Hebron in den späten Siebzigern des zwanzigsten Jahrhunderts geboren wurde, mit unehelichen Kindern und deren Müttern nichts zu tun haben wollten. Geschah einer Frau ein solches Unglück, hatte sie sich voller Demut und Scham zurückzuhalten, dann hatte sie die Chance, doch noch in die Ehe mit einem guten Mann einzuschiffen, aber ihr Unglück der Öffentlichkeit auch noch als Freude zu offenbaren, ging eindeutig zu weit. Und so trafen dann auch nur sieben Glückwunschkarten in Meggys Briefkasten ein, die meisten davon aus Aachen, wo Meggy vor der Geburt ihrer Tochter im Klinikum gearbeitet hatte und wo man ein wenig fortschrittlicher dachte als in Meggys Heimatstadt. Diesen Fortschritt wussten sich ebendiese braven Bürger Dürens durchaus zunutze zu machen, die am lautesten über Hebrons Geburts-anzeige gewettert hatten, vornehmlich dann, wenn sie samstags nach dem Besuch des Aachener Doms eine kleine feine Stunde des Glücks bei den leicht bekleideten Damen in der Antoniusstraße verbrachten. Nicht umsonst gibt es in der Gegend einen gern zitierten Spruch, der, ins Hochdeutsche übertragen, in etwa heißen würde: „Gehen wir zuerst in den Puff oder gehen wir zuerst in den Dom?" – „Gehen wir zuerst in den Dom, dann müssen wir uns nachher nicht schämen." Hebrons Vater, dem sie ihren ersten Vornamen, wenn auch nur indirekt, verdankte, hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als sich, nachdem Meggy ihm den positiven Schwangerschaftstest unter die Nase gehalten hatte, für eine Abtreibung auszusprechen sowie die Todesstrafe für Samenraub, jawohl Samenraub!, zu fordern, denn nichts anderes schien ihm der wachsende Klumpen in Meggys Bauch zu sein. Kinder bekam man seiner Meinung nach nur, wenn man wollte. Genauer gesagt: Wenn beide wollten. Hebrons Vater wusste, dass er nie wollen würde, aber so schon mal gar nicht, nicht von der Krankenschwester Meggy Hunger, die ihm auf der Station zu Gehorsam und im Nachtdienst zum Vergnügen zu sein hatte. Und wenn etwas geschah, was man nicht wollte, trieb man den Zellklumpen einfach ab: kleine Rasur, kleine Betäubung, kleiner Eingriff, nichts Besonderes, immerhin ein Teil der täglichen Arbeit von Hebrons Vater, dessen Name im Übrigen Samuel Apelstejn war. Als der Anästhesist Samuel Apelstejn feststellte, dass die Krankenschwester Meggy Hunger ihm zum ersten Mal den Gehorsam verweigerte – sah man einmal ganz von der Tatsache ab, dass sie ihn, was die Einnahme der Pille anging, schamlos belogen hatte – und keine kleine Rasur, keine kleine Betäubung und keinen kleinen Eingriff über sich ergehen lassen wollte, nein, sich mit ihren bäurischen Armen und Beinen dagegenstemmte, ihm ihren Eifeler Sturkopf mit der gesamten Kraft entgegensetzte und er zudem mit der Forderung nach der Todesstrafe für Samenraub auf verlorenem Posten stand, packte er seine Koffer, gab seinen Wohnungs-schlüssel an eine fünfköpfige türkische Gastarbeiterfamilie ab und flog nach Israel, in sein heiß verhasstes, kalt geliebtes Heimatland. Zurück ließ er den Zellklumpen Hebron und eine fassungslose Meggy Hunger, die eigentlich von einem Happy End mit jüdischkatholischer Hochzeit ausgegangen war, denn sie war sich so sicher gewesen, dass sich jeder Mann nichts sehnlicher wünschte, als sich zu vermehren, auch wenn er das Gegenteil behauptete. Da musste eben mit den Waffen einer Frau gekämpft werden, und so ein kleines Pillchen konnte schließlich schon mal schnell vergessen werden. Die Monate bis zu Hebrons Geburt verbrachte sie damit, ihre Schallplatten unangebracht laut durch das kleine Eifeldörfchen namens Ochsenhügel am Rande des Hürtgenwalds schallen zu lassen, sauer eingelegte Peperonischoten gläserweise zu essen und sich von ihren sechs Schwestern, deren Namen ebenso wie ihrer prosaisch kurz und ausgefallen waren, als verlassene Schwangere bemitleiden zu lassen. Und so verbrachten Fanny, Penny, Peggy, Meggy, Sally, Betty und Daisy schöne Nachmittage, während ihre Brüder, die Zwillinge Fred und Franz, eine Wiege für das vaterlose Kind schreinerten. Eins darf man ihr allerdings nicht unterstellen: dass sie sich nicht auf das Kind freute. Nein, Meggy Hunger, die fast dreißig Jahre alt, gutverdienend und rotwangig war und über eine eigene Wohnung verfügte, freute sich auf das Kind, denn ein Kind hatte sie sich schon lange gewünscht, und es war die Zeit, in der Frauen ihre Kinder plötzlich ohne Männer großzogen, und das nicht, weil sie Kriegswitwen oder arme betrogene Dorfmädchen mit langen Zöpfen waren, sondern weil sie es so und nicht anders wollten. Ja, sie wollten sogar so sehr darüber bestimmen, wann und wie sie ihre Kinder bekamen, dass sie dafür mit lila Latzhosen oder Batikgewändern, aber ohne BH und Bäuchen, die nur ihnen gehörten, auf die Straße gingen. Und so wollte auch Meggy sein, die vom Dorf kam: modern, frei und selbstbestimmt. Außerdem war sie nicht die einzige Schwangere in der Familie, denn nachdem ihre älteste Schwester Fanny schon drei Söhne in die Welt gesetzt hatte, zogen nun neben Meggy auch Peggy und Betty nach. Wobei es für Betty allerdings schon die zweite Schwangerschaft war, denn sie hatte bereits eine Tochter. Die drei schwangeren Schwestern sollten alle Töchter bekommen, und diese drei nahezu gleich alten Mädchen namens Hebron, Melody und Virginia würden ein unzertrennliches Trio bilden. © C. Bertelsmann Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 96 Leseprobe Leseprobe Sarid, Yishai: Alles andere als ein Kinderspiel | Kein & Aber | 2014 | Aus dem Hebräischen von Helene Seidler | Hardcover | 368 Seiten | ISBN: 978-3-0369-5703-6 | 19,90 € Seit Naomi vor fünfundzwanzig Jahren den Kibbuz und ihren Mann verlassen hat, leitet sie mit Herzblut einen Kindergarten im Norden Tel Avivs. Als der Eigentümer des Grundstücks stirbt, wittert ein bekannter Architekt seine Chance, Naomi und den Kindergarten vom begehrten Anwesen zu vertreiben. Um dem ruchlosen Architekten die Stirn zu bieten, leiht Naomi von zwielichtigen Gestalten Geld. Ihre Affäre mit dem Vater eines der Kinder trägt ebenfalls nicht gerade zur Entspannung ihrer Lage bei. Doch plötzlich steht auch noch ihr „verlorener“ Sohn vor der Tür. Naomi weiß, dass das ihre letzte Chance ist, ihr Leben wieder in Ordnung zu bringen. Yishai Sarid, 1965 in Tel Aviv geboren, studierte in Jerusalem Jura und arbeitete später als Staatsanwalt. Heute ist er als Rechtsanwalt tätig und publiziert in verschiedenen Zeitungen. 2010 erschien sein Roman „Limassol“. In diesem Jahr entzog sich der Kindergarten aus unerfindlichen Gründen meiner Kontrolle. Das lärmende Durcheinander der ersten Wochen sind wir gewohnt. Die neuen Kinder brauchen in jedem Jahr wieder Zeit, um sich einzuleben, und die schuldbewussten Eltern stehen uns dauernd im Weg. Bis Ende September aber, nach dem jüdischen Neujahrsfest, hat sich meistens alles eingespielt. Das ist wie ein Naturgesetz. Die Eltern bringen die Kinder am Morgen, tun so, als würden sie sich für das Treiben im Kindergarten interessieren, helfen ihrem Kind, ein Tier aus Knetgummi zu formen, oder malen ein wenig mit Wasserfarben, doch im Grunde haben sie es eilig, zur Arbeit zu kommen. Ihre erleichterten Seufzer beim Hinausgehen sind ganz deutlich zu hören. Dann weint das eine oder andere Kind, aber irgendwann kehrt Ruhe ein. Wir können unseren Schützlingen das Frühstück bringen, und danach setzen wir sie in einen Kreis und erzählen ihnen eine Geschichte, reden mit ihnen über Gott und die Welt oder gehen mit ihnen zum Spielen in den Hof. Später bekommen sie ihr Mittagessen, und anschließend schlafen sie auf kleinen Matratzen. Wenn sie aufwachen, gibt es einen kleinen Imbiss, und bald darauf erscheinen die Eltern, um ihre Kinder abzuholen. Sind alle gegangen, räumen wir auf und machen sauber. Ein weiterer Arbeitstag liegt hinter uns. So sieht für mich schon seit fünfundzwanzig Jahren die alltägliche Routine aus. Tausende von Tagen, unzählige Gesprächsstunden, Hunderte von frei erzählten Kindergeschichten, Unmengen von Mahlzeiten, Küssen, Umarmungen, Abschieden, morgendlichen Tränen. Ein unüberschaubarer Haufen gewechselter Windeln, die viele der neuen Kinder anfangs noch brauchen. In diesem Jahr aber nahm der Tumult kein Ende und klang sogar nach dem Laubhüttenfest im Oktober nicht ab. Kinder verfielen in Weinkrämpfe, ließen sich nicht beruhigen und schrien nach Mama und Papa. Hysterische Eltern vermochten sich nicht loszureißen. Allerhand merkwürdige technische Pannen traten auf, und anstatt um die Kinder kümmerte ich mich um Reparaturen. Kränkliche Mitarbeiterinnen konnten sich wegen fiebriger Infekte nicht aus dem Bett erheben oder wurden im sechsten Monat von vorzeitigen Wehen gepackt. Es schien, als triebe das Schicksal seinen Schabernack mit uns. Oder lag es daran, dass die Kinder immer empfindlicher und die Eltern immer ängstlicher wurden? Ich weiß es nicht. Möglicherweise bin ich selbst das Problem. Habe ich meine Gabe, im Kindergarten Ruhe und Frieden zu verbreiten, eingebüßt? Gedanken dieser Art führen zu nichts, sie nagen nur an meinem Selbstvertrauen. Ich muss mich an das Naheliegende, Konkrete halten. Meine Aufmerksamkeit auf die einfachen Tätigkeiten richten und darauf achten, dass alles gemacht wird, wie es sich gehört. Nach einem Vierteljahrhundert in diesem Beruf bereite ich mich noch immer jeden Morgen sorgfältig auf die Begegnung mit den Kindern, den Eltern und den von mir beschäftigten Kindergärtnerinnen vor. Mein Lächeln ist zwar sanft, aber ich trete bestimmt auf und bestehe auf der Einhaltung meiner Anweisungen. Nur so bringe ich Ordnung in den mich umgebenden Trubel. Doch in diesem Jahr läuft nichts, wie es sollte. An manchen Morgen möchte ich bereits um neun Uhr nach oben in meine Wohnung gehen und mich bis zum Abend im Bett vergraben. So müde habe ich mich früher nicht gefühlt. Zwei Wochen nach den Herbstferien fiel während einer drückenden Hitzewelle ein Junge namens Jaheli von der Rutsche. Er heulte vor Schreck und Schmerz, sein Kopf war im Sand neben dem Käfig der Nagetiere aufgeschlagen. Ich rannte hinaus auf den Spielplatz. Jaheli lag auf dem Bauch, um seinen Mund hatte sich eine kleine Blutlache gebildet. Erschrocken drehte ich ihn um. Gott sei Dank, er lebte, er atmete. Ein Grüppchen bestürzter Kinder folgte mir, als ich Jaheli hineintrug, in der Küche auf einen Stuhl setzte und Sima bat, einige Eiswürfel in ein kleines Handtuch zu wickeln. Ich drückte den kühlenden Beutel sanft gegen den blutenden Kiefer und sagte mir: Du musst die Eltern anrufen. Das wird eine Szene geben! Die Wunde im Mund sah wirklich nicht schön aus. „Kinder, es ist alles in Ordnung“, beruhigte ich die Kleinen, „es sind ja nur Milchzähne. “Aber ich wusste natürlich, dass es nicht in Ordnung war. Die Eltern würden sich aufregen, und das zu Recht. Jaheli gehörte zu den neuen Kindern, und ich hatte noch nicht einmal die Namen der Eltern im Kopf. „Was ist mit dem Mittagsessen?“, fragte Sima, meine treue Mitstreiterin, die immer noch Miniröcke im Stil der Siebziger bevorzugte, obwohl sie längst eine andere Kleidergröße hatte. „Soll ich sie reinholen? Es ist schon Viertel nach zwölf. “Auch wenn die große Bombe auf Tel Aviv fällt, wird Sima das Mittagessen pünktlich servieren. „Warte noch einen Augenblick“, sagte ich und nahm Jaheli fest in den Arm. Er schluchzte leise. Das wird mich Geld kosten, dachte ich, und dabei ist mein Konto schon tief in den Miesen. Jedes Jahr widerstand ich der Versuchung, meine pädagogischen Grundsätze über Bord zu werfen und mehr als zwanzig Kinder aufzunehmen. Mit zwanzig Kindern blieb nicht viel Geld übrig. Eine einzige unvorhergesehene Ausgabe, und ich konnte die ganze beschissene Bilanz vergessen. Hat eine Kindergärtnerin sich einer pädagogischen Vision verschrieben, verzichtet sie von vornherein auf Wohlstand. Diese beiden Dinge sind unvereinbar. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 97 Leseprobe Leseprobe Die Kinder stürmten herein und setzten sich an ihre kleinen Resopaltische. Auf den farbigen Tellern vor ihnen lagen ein Hühnerschnitzel, ein Klacks Püree und von Sima zubereitetes Gemüse. Ich setzte mich auf meinen Platz, den verletzten Jaheli auf dem Schoß. „Gu-ten Ap-pe-tit“, wünschte ich der Runde betont munter, und die Kinder wiederholten die beiden Wörter im Chor. Als der letzte Laut verklungen war, machten sie sich ans Essen. Über die gebeugten Köpfe hinweg traf mich Simas besorgter Blick. Ihre Augen waren dramatisch mit blauem Lidschatten geschminkt, ihr gefärbtes Haar glänzte hellbraun, fast schon orange. „Soll ich ihn einen Augenblick halten, damit du essen kannst?“, fragte sie. Ich musste unbedingt die Eltern anrufen. Ungeschickt erhob ich mich von dem niedrigen Stuhl und spürte einen stechenden Schmerz im Rücken. Hoffentlich nicht wieder ein Hexenschuss, betete ich stumm, das hatte mir gerade noch gefehlt. „Bitte erschrecken Sie nicht“, sagte ich der Mutter am Telefon, sie arbeitete irgendwo als Grafikerin, „es sind ja nur die Milchzähne.“ Aber ihre Stimme klang sehr erschrocken, als sie erklärte, sie würde sofort kommen. Mir war der Appetit vergangen. Das alles war nur passiert, weil ich Julia ein paar Tage freigegeben hatte. Sie wollte mit ihrem Freund Janiv mitten im Schuljahr eine dreitätige Kreuzfahrt machen. Dieser Janiv war ein dubioser Charakter – er befasste sich mit allen möglichen Dingen, die mit Autos und Krediten zu tun hatten – , trotzdem wollte ich keine missgünstige Alte sein und Julia die Freude nicht verderben, deswegen hatte ich zugestimmt. Ein Fehler, denn das Personal war ohnehin knapp. Bei einer der Kindergärtnerinnen hatten die Wehen bereits gegen Ende des sechsten Monats eingesetzt, eine andere war zu einer besser bezahlten Stelle gewechselt. Deswegen war Jaheli draußen zwei, drei Minuten unbeaufsichtigt gewesen, und schon hatte er sich ein paar Zähne ausgeschlagen. Die Kinder legten ihre schmutzigen Teller in große Plastikschüsseln. Wir wischten die Tische ab und fegten die zu Boden gefallenen Essensreste zusammen. Ich breitete die Matratzen für die Mittagsruhe auf dem Boden aus, schaltete das Tonband mit der einschläfernden klassischen Musik ein und zog die Vorhänge zu, um den Raum zu verdunkeln. Wie verzaubert legten die Kleinen sich auf ihre Stammplätze und kuschelten sich in die dünnen Sommerdecken, die wir noch nicht gegen die wärmeren Herbstdecken ausgetauscht hatten. Mit der Melodie im Ohr glitten meine Schützlinge sanft in den Schlaf. Auch Jaheli. Ich hatte ihm zuvor behutsam das blutbefleckte T-Shirt gewechselt und ein Schmerzmittel gegeben. Die Stunde, in der sie friedlich schlummern und mir ein wenig Ruhe gönnen, ist wie ein Geschenk des Himmels. Sima hatte den Abwasch beendet und setzte sich draußen zu mir auf die Holzbank. Die Tür zum Kindergarten blieb oben, damit ich hören konnte, wenn jemand aufwachte. Sima trank schwarzen Kaffee aus einer Glastasse und sagte: „Mach dich auf was gefasst.“ „Ja“, pflichtete ich ihr bei, „das hätte nicht passieren dürfen. Jemand hätte draußen aufpassen müssen.“ „Hoffentlich kommt Julia im Bett auf ihre Kosten, für uns beide mit. “Die Absätze von Jahelis Mutter klapperten auf den Stufen, die von der Straße hinab zum Eingang des Kindergartens führten. „Wo ist er?“, fragte sie aufgeregt. „Es ist gar nicht so schlimm“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Er ist eingeschlafen. Wir sollten ihn nicht wecken. Schlaf ist immer noch die beste Medizin gegen Schmerzen.“ Meine medizinische Weisheit vermochte die Mutter allerdings nicht zu überzeugen. Sie stöckelte aufgebracht zur Matratzenreihe mit den schlafenden Kindern. Ich befürchtete, sie würde alle wecken. „Warten Sie einen Augenblick“, flüsterte ich, „ich hole ihn.“ „Wie kann so etwas überhaupt passieren?“, schimpfte sie vor sich hin. Ich hob den tief schlafenden Jaheli von seiner Matratze hoch. Bei seinem Anblick schien die Mutter sich zu beruhigen, doch als sie ihm den Mund öffnete und den Kiefer abtastete, stieß sie ein wütendes Schnaufen aus. Zwei Zähne fehlten, die Haut am Kinn war aufgeschürft. Sie riss den Jungen an sich. „Sie haben Glück, dass ich gekommen bin und nicht mein Mann!“ In ihren Augen loderte die blanke Wut. „Mein Süßer“, stöhnte sie dem inzwischen aufgewachten Jungen ins Ohr. Jaheli erschrak über das dramatische Gehabe und fing wieder an zu weinen. „Hab keine Angst, mein Süßer, jetzt kümmern wir uns um dich.“ Sima drückte ihre Mittagszigarette aus und ging ins Haus. „Sind Sie etwa nur zu zweit?“, fragte die Mutter. „Ja, Julia ist krank“, log ich. „Sie ist heute zu Hause geblieben.“ „Dann ist es ja kein Wunder, dass die Kinder sich verletzen!“ Die Mutter hatte ihre Stimme erhoben. Ihr Atem roch unangenehm. Ob das von der Wut kam? „Pssst!“, wollte ich sie zum Schweigen bringen. „Die anderen Kinder schlafen doch noch.“ „Ich lasse mir von Ihnen nicht den Mund verbieten!“ Sie ist viel zu mager, dachte ich, ohne jeden Anflug von Weichheit. „So etwas kommt vor“, mischte Sima sich von hinten ein. „Das macht ihn zu einem richtigen Mann. “Kein besonders kluges Timing für eine solche Bemerkung. „Gehts noch?“, empörte sich die Mutter. „Was soll das heißen, ein richtiger Mann? Der Junge ist keine drei Jahre alt. Wo leben Sie eigentlich? Es war ein Fehler, Jaheli hier anzumelden. Schade, dass ich ihn nicht in den städtischen Kindergarten geschickt habe. Man hatte mich gewarnt, aber ich habe das in den Wind geschlagen. Nicht einmal das Wort ‚Entschuldigung‘ habe ich von Ihnen gehört!“ „Entschuldigung.“ Plötzlich war ich unendlich erschöpft. „Ich bitte Sie von ganzem Herzen um Entschuldigung.“ „Hier bleibt mein Sohn nicht, so viel ist sicher“, schäumte die Mutter. „Sie werden noch von uns hören. “Damit schritt sie durch die Pforte, den schluchzenden Jungen auf dem Arm. Fast war ich versucht, mich einem Zusammenbruch hinzugeben, aber dafür blieb keine Zeit, denn von der lauten Unterhaltung waren die Kinder aufgewacht und forderten meine Aufmerksamkeit. Auf der Matratze von Amit entdeckte ich einen großen feuchten Fleck. Ich nahm den Kleinen mit zur Dusche, streifte ihm die nasse Hose ab und wusch ihm Po, Genitalien und Beine. Dann zog ich ihm saubere Sachen an, und er stürmte hinaus zu seinen Freunden. Sima wechselte einem der neuen Mädchen die Windel. Dieses eigenwillige Geschöpf hatte sich noch nicht einmal versuchsweise aufs Töpfchen gesetzt. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 98 Leseprobe Leseprobe „Hör mal zu“, fing Sima an, nachdem wir den Kindergarten sauber gemacht und den Spielplatz in Ordnung gebracht hatten, „bei uns in der Straße wohnt ein sehr netter Rabbiner…“ Ich wusste schon, wie es weitergehen würde. Seit geraumer Zeit bat sie mich inständig, die noch aus den Zeiten meiner Vorgängerin Raya stammende alte Mesusa am Eingang überprüfen zu lassen, doch ich hatte mich bisher beharrlich geweigert. „Wir haben zu viel Pech in letzter Zeit“, meinte Sima, „vielleicht ist die Mesusa defekt. Kann doch nicht schaden, wenn der Rabbiner mal nachsieht.“ „Ich werde darüber nachdenken“, sagte ich. Irgendwie waren mir alle Gewissheiten abhandengekommen. Wie angedroht, nahm Jahelis Mutter ein wenig später ihren Sohn aus dem Kindergarten und stornierte die hinterlegten Schecks. Die anderen Kinder blieben vorerst bei uns, obwohl die niederträchtige Person die Geschichte genüsslich unter allen Eltern verbreitete. Das machte mich rasend. Mein Kindergarten erfreute sich eines guten Rufs, dafür hatte ich hart gearbeitet, und nun telefonierte diese Frau in der Stadt herum und versuchte, mich zu zerstören. Ich teilte Sima und Julia mit, dass vorerst aller Urlaub gestrichen sei, auch ich selbst würde sechs Tage in der Woche arbeiten, und sie sollten nur ja viele Vitamine zu sich nehmen, denn keine von uns dürfe krank werden. Sie zeigten Verständnis, und ich sah mich nach einer weiteren Kindergärtnerin um. Gebärdeten sich die Kleinen in diesem Jahr so wild, weil wir zu nachsichtig mit ihnen waren? Sollten wir etwas strenger sein, auf mehr Disziplin achten? Beschäftigten mich die möglichen Reaktionen der Eltern zu sehr? Ich verfügte nicht mehr über die gleiche Geduld wie früher, ich regte mich zu schnell auf. Manchmal stand ich hilflos vor einem tobenden Jungen, atmete tief durch, um mich zu beruhigen, und rief mir in Erinnerung, dass ein Kind von zwei, drei Jahren seine Wünsche bereits sehr gut zum Ausdruck bringen konnte, man musste es nur richtig beobachten. Wenn es tobte, dann war das ein Zeichen für mangelnde Aufmerksamkeit. Niemals, aber wirklich niemals, hatte ich hier im Kindergarten ein Kind geschlagen, geschüttelt, gekniffen oder am Arm gerissen. In ein paar Jahren würden sie wahrscheinlich vergessen haben, wie ich aussah und wie ich hieß, aber meine Stimme und die Berührung meiner Hand würden ihnen immer in Erinnerung bleiben. Ich erlaubte es mir nie, mit einem der Kinder zu schimpfen oder ihm zu zeigen, dass es mich nervte oder dass ich es nicht so liebte, wie ich es lieben sollte. In diesem Jahr bereitete es mir mehr Mühe als früher. Trotz des Durcheinanders versuchte ich, in dem kreischenden Haufen ein jedes Kind für sich zu sehen und seine Besonderheit zu erkennen. Zum Beispiel Zohar, eines der neuen Kinder. Aus seinen ungewöhnlich großen Augen kullerten in den meisten Stunden des Tages Kummertränen. Morgens brachte ihn in der Regel seine Mutter, und er klammerte sich an ihre Knie, um sie am Fortgehen zu hindern. Die Mutter war sehr dünn, immer schwarz gekleidet und nahm ihre Sonnenbrille auch im Kindergarten nicht ab. Obwohl wir manchmal versuchten, ihr ein paar Worte zu entlocken, sprach sie kaum. Seit ein paar Monaten war sie angeblich von Zohars Vater geschieden. Zwar hatte sie mein Mitgefühl, doch der Junge litt ganz offensichtlich, und er interessierte mich mehr als sie. Nie wollte er sie gehen lassen, und wenn sie dann wirklich nicht länger bleiben konnte, weil sie zur Arbeit musste, war es meine Aufgabe, den lauthals schreienden Jungen aus ihren Armen zu winden. Sobald ich ihn absetzte, zog er sich in eine Ecke zurück, um dort traurig und apathisch herumzuhocken. Ich ging dann in die Hocke und versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, oder schickte ihm einen der größeren Jungen zum Spielen, aber die verloren rasch das Interesse an ihm. Auch vor der Mittagsruhe heulte Zohar pausenlos „Mama, Mama“. Es war unübersehbar, dass er den Kindergarten hasste. Einmal in der Woche wurde Zohar von seinem Vater Avram gebracht, dann war der Junge viel ruhiger. Avram schenkte Sima und mir ein gewinnendes Lächeln, ließ sich in aller Ruhe neben seinem Sohn auf dem Boden nieder und spielte mit ihm und den Plüschtieren, was dazu führte, dass Zohar zu weinen vergaß. Avram war Anfang der Achtziger ein recht bekannter Musiker gewesen. Im Kibbuz, wo ich zu jener Zeit gelebt hatte, hatte ich sogar seine erste Schallplatte besessen. Ein wirklich begabter Musiker. Die Jugend von heute kannte ihn schon nicht mehr, und auch in meiner Generation war er fast vergessen. Dennoch schien er, wenn er seinen Sohn morgens brachte, zufrieden mit seinem Schicksal zu sein, und nahm sich stets Zeit für ein Gespräch mit mir. Er schreibe jetzt Filmmusik, erzählte er mir, und sei außerdem dabei, eine neue Band zu gründen. Sie wollten authentische orientalische Lieder spielen, so wie er sie noch von seiner Mutter, einer türkischen Jüdin, gehört hatte, und sie planten bereits Auftritte im Ausland. Sima war ganz hingerissen von ihm, und auch auf mich blieb sein Charme nicht ohne Wirkung. „Warum bringen Sie keine neue CD heraus?“, fragte Sima ihn eines Tages unverblümt. Sie kannte wirklich keine Scham. Er habe eine schwere Zeit der Schreibblockaden hinter sich, erklärte er, und habe viel für andere gespielt, aber jetzt finge der Brunnen wieder an zu sprudeln, das spüre er genau, und bald würde er wohl wieder mit eigenem Material auftreten können. Er war höflich und interessiert und erkundigte sich oft nach dem Verhalten seines Sohns. Ich sagte ihm die Wahrheit: Das Kind fühlte sich im Kindergarten noch nicht wohl. „Das ist unsere Schuld, wir haben uns benommen wie Idioten“, meinte er bei unserem letzten Gespräch und sah aus, als hätte ich ihm den Tag verdorben. Ich versuchte, mir Avram und Zohars Mutter als Paar vorzustellen, und es wollte mir nicht gelingen. Sie musste fast dreißig Jahre jünger sein als er. Er sprühte vor Lebenslust, sie war mager, kalt und verschlossen. Wie konnten sie auch nur einen einzigen friedlichen Augenblick miteinander verbringen? An so etwas verschwendest du mitten am Tag deine Gedanken, schalt ich mich, und dabei fordert die unmittelbare Umgebung deine ungeteilte Aufmerksamkeit. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 99 Leseprobe Leseprobe Sohn nicht eingeladen, und ich wusste nicht, wo ich Noam hätte unterbringen sollen. Herschi ließ mich im Wohnzimmer seiner Suite vor einem riesigen Fenster Platz nehmen. Vor mir lag das Meer – ein atemberaubender Blick. Seine knochige Hand strich liebevoll über meinen Oberschenkel. Er war der einzige Mensch, dem zu Ehren ich ein Kleid anzog; ich wusste, dass ihm das gefiel. Herschi erzählte von seinem einzigen Sohn, der als Trainer einer Baseballmannschaft an einem Ort lebte, von dem ich noch nie gehört hatte. Dann sprach er über seine Liebe zum Land Israel und wie leid es ihm tue, dass er sein Leben nicht hier verbracht hatte. Seine inzwischen verstorbene Frau hatte davon nichts wissen wollen. Die Hitze war ihr unerträglich gewesen, und sie hatte sich vor den nicht enden wollenden Kriegen gefürchtet. Während er sprach, verschleierten sich Herschis Augen. Er blickte in die Ferne und schien durchsichtig zu werden, wie ein Mensch, der nicht mehr lange unter uns weilen würde. Ich nahm seine Hand fest in meine und sagte ihm, wie sehr ich ihn schätzte und wie wichtig er mir sei. An das hübsch verpackte Geschenk hatte ich noch viele bunte, von den Kindern bemalte Grußkarten gehängt. Als ich es Herschi gab, öffnete er es mit zitternden Händen. Beim Anblick des exquisiten Silberbehälters hob er den faltigen Kopf und suchte mein Gesicht, um es zu küssen. Wir warteten, bis die Sonne im Meer versunken war, dann erhob Herschi sich mühsam und verkündete feierlich, dass wir jetzt mit dem Fahrstuhl runter in den Grillroom fahren würden, wo er einen Tisch für uns reserviert hatte. Ich freute mich immer wieder auf unser jährliches Dinner im Grillroom und hatte mich schon den ganzen Tag bemüht, möglichst wenig zu essen. Im Fahrstuhl hellte sich Herschis Laune wieder auf, und er erzählte mir von einem Geschäft mit dem Oberbefehlshaber der venezolanischen Armee. Die Atmosphäre im Grillroom enttäuschte uns auch dieses Mal nicht. Schimmernde Damastdecken, Kerzen auf den Tischen, zuvorkommende Kellnerinnen. Herschi bat mich, eine teure Flasche Wein zu bestellen. Diesen Wunsch erfüllte ich ihm gerne und wählte den Merlot Jahrgang einer kleinen Kellerei von den Golanhöhen, der in einem Zeitungsartikel empfohlen worden war. Herschi erinnerte sich an einen Besuch auf den Golanhöhen gleich nach dem Jom-Kippur-Krieg, zu dem die Regierung eine Reihe von ausländischen Philanthropen eingeladen hatte. An einer Erinnerungsstätte war eine Begegnung mit dem kleinwüchsigen jemenitischen Soldaten arrangiert worden, der mit seinem Panzer die ganze syrische Armee aufgehalten hatte. © Kein & Aber Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 100 Leseprobe Leseprobe Segal, Ron: Jeder Tag wie heute. Roman | Wallstein | 2014 | Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama ISBN: 978-3-8353-1557-0 | Gebunden | 140 Seiten | 17,90 € Der Held dieses Debütromans ist ein 90jähriger israelischer Schriftsteller und Holocaust-Überlebender. Vor den Nazis geflüchtet, reist er zum ersten Mal zurück nach Deutschland, um für ein Literaturmagazin seine Erinnerungen aufzuschreiben. Ihm bleibt nicht viel Zeit, das Versprechen an seine verstorbene Frau einzulösen. Sie hatte ihn gebeten, ihrer beider Lebensgeschichten aufzuschreiben, bevor diese vergessen werden. Segal erzählt die Fieberträume des Überlebenden, in denen die Fakten und Fiktionen einander überlagern, er ruft die Geschichten der Gebrüder Grimms auf, die Mythen, Legenden und versucht ein Amalgam zu finden, das ein literarisches Sprechen über den Holocaust für jemanden „zwei Generationen danach“ möglich macht. Ron Segal, geb. 1980 in Israel, hat an der „Sam Spiegel Film and Television School Jerusalem“ studiert. Seit 2009 lebt er mit Unterbrechungen in Berlin, derzeit als Stipendiat der Akademie der Künste, um einen Animationsfilm zu „Jeder Tag wie heute“ fertigzustellen. „Ich will sterben, sagte ich. Du bist schon tot, erwiderte der SS-Offizier. Warum dann dieses unablässige Wollen?“ Adam Schumacher Prolog Ich begegnete Bella zum ersten Mal, als ich vierzehn und sie elf Jahre alt war. Bevor wir auch nur die ersten Blicke tauschten, hatten wir uns ineinander verliebt. Ich dachte: Wenn ich mal siebzig bin, ist Bella siebenundsechzig. Aber die Jahre vergingen, und das Versprechen wurde nicht eingelöst. Bella war eine Harfenspielerin von Weltrang. Allerdings war sie auch jüdisch, wie ich, und so musste ihre Begabung ein paar Schritte zurücktreten zugunsten eines Geschichtsabschnitts. Trotzdem nahm sie ihr erstes Konzert schon mit knapp neun Jahren auf; bei Kriegsende wurde im Krematorium von Dachau ein weiteres aufgezeichnet, das eine überraschend gute Akustik abgab, und unzählige Konzerte folgten nach unserer Einwanderung in Israel. So verwandelte sich Bella vom Wunderkind, dessen Talent sich wegen der künstlichen Unterbrechung durch den Krieg nicht voll hatte entfalten können, in eine erwachsene Musikerin, die praktisch immer noch ein Wunderkind war. Bella hat wohl kaum geahnt, dass ihre letzte Tonaufnahme von einer Probe stammen würde, an deren Ende man sie lachen hörte. Es mag ein Klischee sein, aber in meinem Alter darf ich sagen, dass das die schönsten Klänge der ganzen Aufnahme waren. Ich weiß nicht, wie ich die Niederschrift meiner letzten Geschichte angegangen wäre, wenn ich gewusst hätte, dass es wirklich meine letzte sein würde, aber ich erinnere ich an einen Satz meines guten Freundes Max: Wenn dir die Erinnerungen an Bella verblassen, kannst du wieder leben, wagte er mir zu sagen. Ich wusste: Wenn die Erinnerungen an Bella endeten, würde ich meine letzte Geschichte schreiben. Die Ereignisse, die ich hier schildern werde, sind wirklich geschehen. Doch selbst wenn es jemandem gelingen sollte, mit der Kamera einen Märchendrachen einzufangen, der in seiner ganzen Pracht vor ihm erscheint, wird das Foto stets unscharf sein, und manche sagen dann, man könne nicht wissen, was auf dem Bild zu sehen sei, denn es sei ja kaum zu erkennen und vielleicht habe der Fotograf selbst es beim Aufnehmen nur unscharf gesehen. Auch in meinem Fall sagten so einige, man könne nicht wissen, was mir geschehen sei, denn die Zeugenaussagen seien nicht weniger „unscharf" als Hunderttausende Bilder von Göttern und Ungeheuern, und sehr wahrscheinlich hätte ich eine imaginäre Wirklichkeit erlebt, während sonst alle eine andere, offenbar einheitliche Wirklichkeit erlebten – was mich immer belustigt –, und in dieser Wirklichkeit seien mir Dinge vor Augen getreten, die nach dem gesunden Menschenverstand in unserer Wirklichkeit gar nicht existierten. Aber hier muss ich innehalten, um anzumerken, dass der gesunde Menschenverstand vielleicht tatsächlich einer geraden, aber auch unendlichen Linie gleicht, und wer ihr folgt, wird neue Dinge entdecken, die letzten Endes in die Kategorie „gesunder Menschenverstand" gehören. Wer je behauptet, unmögliche Dinge könne man nicht glauben, tut das aus Mangel an Erfahrung. Würde er nur täglich eine halbe Stunde trainieren, könnte er bald noch vor dem Frühstück sogar sechs unmögliche Dinge glauben. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 101 Leseprobe Leseprobe Nun möchte ich aber auch nicht empfehlen, beim nächsten Mal überstürzt alles Unmögliche zu glauben, denn im Bemühen, alles zu glauben, werdet ihr schließlich eure Gehirnzellen überanstrengen, und dann seid ihr zu schwach, noch die einfachsten Wahrheiten glauben zu können. So kommt hier später beispielsweise, wenn auch aus einem anderen Buch, eine Geschichte über meine Bella, die in ihrem großen Bemühen, ein unmögliches Ereignis zu glauben, gar nicht merkte, wie leicht sie selbst gerade ein solches auslöste, etwas, das sie dann bis ans Lebensende verfolgte. Ich werde die Ereignisse so schildern, wie sie mir geschehen sind, wie ich sie früher bereits erzählt habe, und eines wird den Beweis für meine Glaubwürdigkeit erbringen, falls mein über die Jahre erworbener guter Ruf nicht schon allein dafür bürgen sollte: Meine Geschichte ist konsequent. So wie sie hier erzählt wird, wurde sie früher erzählt, und der einzige Unterschied liegt in den Satzzeichen. 1 Ich werde, wie man es von mir erwartet, nicht mit dem Anfang beginnen. Vor zwei Wochen und einem Tag nahm ich wie immer den Bus von meinem Haus im Jerusalemer Viertel Nachlaot nach Yad Vashem und bemerkte gleich beim Einsteigen einen Mann im hinteren Teil: Er war jung, hielt eine Zeitung, und eigentlich gab es keinen Grund, ihn unter den wenigen Fahrgästen an diesem Tag herauszupicken. Aber ich, dessen Sinne durch all die Erlebnisse in den zwei Monaten vor diesem Tag geschärft waren, hatte einen Grund. Ich ging geradewegs auf ihn zu in der Absicht, ihn ohne Zögern anzusprechen, aber da entdeckte ich den grünen Sauerstoffballon, der zu seinen Füßen auf dem Boden lag, an einen kleinen Einkaufswagen gebunden. Ich änderte meinen Plan und setzte mich ihm gegenüber. Es war ein Moment der Unsicherheit, aufgrund all der Jahre vor diesen zwei Monaten, als dächte ich mir plötzlich: Was denn, jeder Mensch irrt sich mal, jeder kann etwas sagen und dann entdecken, dass er damit einem Wissen vorausgreift, das seine Aussage praktisch widerlegt. Aber dann sah ich die Überschrift des Artikels, den er las – „Ein Arzt, der Sterbehilfe für den Verein Natural Resort geleistet hatte, beging Selbstmord, als er entdeckte, dass die betreffende Patientin gar nicht todkrank gewesen war" –, und fing mich wieder. Sagen Sie, wissen Sie eigentlich, dass Sie die Zeitung von vorgestern lesen?, sprach ich ihn an, ohne daran zu zweifeln, dass er es wusste, und wartete auf die Antwort, die auch prompt kam: Vor zwei Tagen ist die Welt für mich eingestürzt, und deshalb wollte ich zurückgehen und dort weitermachen, wo ich aufgehört hatte. Ich dachte mir, wenn ich die Zeitung von vor zwei Monaten aufgehoben hätte, könnte ich in der Zeit zurückgehen und es auch so machen wie er. Und er, der erkannte, dass mir dasselbe wie ihm passiert war, wunderte sich nicht, dass ich nun nachdachte, statt ihm zu antworten, und eine recht lange Schweigepause zwischen uns entstehen ließ. Von der Seite beobachtete uns ein kleiner Junge – wie Kinder halt gucken: ohne sich zu schämen. Denkst du denn, Kind, ich wüsste nicht, wie ich aussehe: alt und über dem einen Auge eine selbstgebastelte Klappe, die nicht mal für mein Alter gut aussieht? Aber der Unterschied zwischen uns, Junge, besteht darin, dass du dir nicht vorstellen kannst, was mir durch den Kopf geht, dass ich aber genau weiß, was in deinem Kopf abläuft. Ich erwiderte seinen Blick, bemüht, eine Mutter auszumachen, die ihm sagen würde, man dürfe nicht so glotzen, das sei ungehörig, aber es war keine Mutter in Sicht. Vor zwei Monaten war ich ins Münchner Verlagsbüro des Magazins Schwarz mit Farbe gerufen worden; ein blöder Name, zugegeben, aber tatsächlich geht es um ein angesehenes Magazin, das im internationalen Literaturbetrieb höchste Reputation genießt und auch noch gut verdient. Ich betrat das Büro des Chefredakteurs Max Vérité, den ich seit Jahren kenne, eine Art Glaskasten, bestehend aus vier durchsichtigen Wänden und einer Decke, die das Sonnenlicht auf ganz spezielle Weise filtert, und schloss die Tür hinter mir. Damit verstummte der Lärm der großen Redaktion einer Zeitschrift mit ihrem Termindruck, und so glaubte ich auch, dass die Unterhaltung zwischen Max und mir für die übrigen Mitarbeiter unhörbar sei. © Wallstein Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 102 Leseprobe Leseprobe Shalev, Meir: Zwei Bärinnen | Diogenes | 2014 Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama | ISBN978-3-257-06911-2 | Leinen, 464 Seiten | 22.90 € Auge um Auge, Zahn um Zahn. Leidenschaft und Untreue, über Verlust, Rache und deren Sühne. Die Familie Tavori betreibt im Norden Israels in der dritten Generation eine Gärtnerei. Es sind Menschen, die ihren Instinkten und Emotionen folgen: ihrer Liebe ebenso wie ihrem Hass. Eine erschütternde Familiensaga und ein unkonventioneller literarischer Thriller von archaischer Wucht. In einem Dorf im Norden Israels begehen im Jahr 1930 drei Bauern Selbstmord. So steht es in den Akten, aber alle im Dorf wissen, dass nur zwei der angeblichen Selbstmörder Hand an sich gelegt haben. Der dritte wurde ermordet. Siebzig Jahre sind seither vergangen. Ruta Tavori, Lehrerin am örtlichen Gymnasium, weiß, wer diesen Mord begangen hat, und will nun davon erzählen. Davon und von den Männern ihrer Familie: ihrem Großvater, ihrem Mann, ihrem Bruder und ihrem Sohn – Männer, die sie liebt, denen sie zürnt, nach denen sie sich sehnt und denen sie zu verzeihen versucht. Eine Geschichte über Männerfreundschaften und die Liebe einer Frau, über Leidenschaft und Untreue, über Verlust, Rache und Sühne. Meir Shalev, geboren 1948 in Nahalal in der Jesreel-Ebene, studierte Psychologie und arbeitete viele Jahre als Journalist, Radio- und Fernsehmoderator. Inzwischen ist er einer der bekanntesten und beliebtesten israelischen Romanciers. 2006 erhielt er für sein Gesamtwerk den Brenner Prize, die höchste literarische Auszeichnung in Israel. Meir Shalev schreibt regelmäßig Kolumnen für die Tageszeitung „Yedioth Ahronoth“. Er lebt in Jerusalem und in Nord-Israel. 1 Das Telefongespräch Das Handy klingelte. Der große, kräftige Mann warf einen Blick darauf und sagte zu der Frau, mit der er zu Abend aß: „Ich muss rangehen. Bin gleich wieder da." Er trat auf die Straße, bemüht, seinen kleinen Bauch einzuziehen. An den hatte er sich noch nicht gewöhnt, er überraschte ihn immer aufs Neue: vor dem Spiegel, unterm Gürtel, in den Blicken seiner Partnerin, wenn er auf ihr ruckelte. „Hallo?" Die vertraute Stimme antwortete: „Neun Klingelzeichenhabe ich gezählt. Du hast mich warten lassen." „Entschuldige. Ich bin im Restaurant und kurz rausgegangen." „Wir haben ein Problem." „Ich höre." „Ich werde es dir mit Verstand und Vorsicht erklären, und versuche mir bitte genauso zu antworten." „Okay." „Erinnerst du dich an unseren Ausflug in die Natur?" „Heute Morgen?" „Was hatte ich gerade gesagt? Mit Verstand und Vorsicht. Ohne Zeitangaben, ohne Tage, ohne Stunden." „Verzeihung." „Es war ein schöner Ausflug." Schweigen. „Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Es war ein schöner Ausflug." „Hab’s gehört." „Du hast mir keine Antwort gegeben." „Du hast Verstand und Vorsicht von mir verlangt. Was soll ich denn da drauf wohl antworten?" „Was heißt 'was soll ich denn da drauf'? Wie redest du mit mir? Sag: Was hätte ich darauf antworten sollen." „In Ordnung." „In Ordnung reicht nicht. Sag: Was hätte ich darauf antworten sollen.“ Der Mann zog den Bauch noch weiter ein, ließ aber gleich wieder locker: „Was hätte ich darauf antworten sollen.“ „Du hättest sagen sollen, ob du meinen Worten zustimmst oder nicht." „Worüber?" „Über unseren Ausflug in die Natur." „Ich stimme zu. Es war ein sehr schöner Ausflug in die Natur." „Du hättest gleich antworten müssen. Zwei Mal hast du mich warten lassen. Erst beim Klingeln und jetzt beim Antworten." „Verzeihung." „Lass mich niemals warten." „In Ordnung." „Erinnerst du dich an das Versteck, in dem wir am Ende des Ausflugs gesessen haben?" „Sicher. Im Wadi, unter dem großen Johannisbrotbaum." „Was hatte ich gesagt? Mit Verstand und Vorsicht. Ohne Zeit- und Ortsangaben, ohne Namen." 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 103 Leseprobe Leseprobe „Ich habe keine Namen genannt." „Du hast doch Johannisbrotbaum gesagt, oder nicht?" Der Mann ballte behutsam die rechte Hand und betrachtete sie. Sie hatte einen weißen Verband, aus dem nur die Fingerspitzen hervorlugten. Seine Augen, klein und engstehend, schlossen sich einen Moment und öffneten sich wieder, wie bei einem Schmerz, der auflebt, wenn man an seine Ursache denkt. Ich stelle ihn mir im Geist vor. Wie er vor dem Lokal steht, auf seine Stiefel starrt, den linken Unterschenkel etwas anhebt, die blanke, kantige Stiefelspitze am rechten Hosenbein reibt. Und ich höre seinen Gesprächspartner weiterreden: „Hättest du einfach nur Johannisbrotbaum gesagt – na gut. Einfach nur groß – halb so schlimm. Aber der große Johannisbrotbaum, Substantiv und Adjektiv und dazu noch der bestimmte Artikel – das ist wie auf dem Präsentierteller. Guten Appetit, greift bitte zu. Nicht einfach nur Baum: Johannisbrotbaum. Nicht einfach nur Johannisbrotbaum: großer Johannisbrotbaum. Und nicht einfach nur irgendein Johannisbrotbaum: der große Johannisbrotbaum im Wadi. Das ist eine Bezeichnung, die kaum Auswahlmöglichkeiten lässt. Genau dafür wurde die Sprache erfunden, um die Dinge klarzustellen, aber für uns ist Klarheit sehr schlecht, verstehst du?" „Ja, Entschuldigung." „Genug der Entschuldigungen. Pass einfach auf." „In Ordnung." „Gut. Jetzt zur Sache. Es geht darum, dass wir dort etwas vergessen haben." „Den Gasbrenner, auf dem du uns Tee gemacht hast?" „Was Wichtigeres." „Den Zuckerlöffel?" „Würden wir so ein Gespräch über Teelöffel führen? Denk gut nach, dann wird es dir wieder einfallen. Streng dein Gehirn einmal ordentlich an. Auch ein kleines Gehirn taugt etwas, wenn man es richtig in Gang setzt. Und falls es dir einfällt, sag nicht, was es ist. Sag nur: Ich weiß, wovon du sprichst." "Ich denke nach.“ Schweigen. „Wieder lässt du mich warten.„ Schweigen. „Jetzt fällt’s mir ein. Ich weiß, wovon du sprichst." „Dann fahr hin, such, bis du es gefunden hast, und bring es mir." „Wie dringend ist es?" „Wenn jemand es vor uns findet, wäre das sehr schlecht." „Eine halbe Minute, und ich geh los. Ich such mit der Taschenlampe." „Ein hoffnungsloser Fall, das bist du. Ein hoffnungsloser Fall. Erst ‚was soll ich denn da drauf' und jetzt ‚ich geh los‚ und ‚ich such'? Sag: Ich werde losgehen, und ich werde suchen. Man muss das Futur benutzen. Ich will dich endlich mal richtig reden hören." „Ich werde losgehen, und ich werde suchen." „Und ärgere mich nicht mehr." „Entschuldigung." „Und mach dich jetzt nicht mit der Taschenlampe auf den Weg. Jetzt ist es dunkel. Jemand könnte das Licht von weitem sehen. Steh morgen früh auf." „Gleich morgens." „Bei Sonnenaufgang. Und parke nicht an der üblichen Stelle. Such dir einen anderen Platz, geh ein Stück weiter zu Fuß, komm beim ersten Tageslicht an, und nimm die Suche auf." „In Ordnung." „Was macht die Hand?" „Okay." „Tut sie weh?" „Bisschen weniger." „Hast du sie verbunden?" „I wo." „Dass du uns nicht noch Tollwut bekommst." „Nein." „Und entspann endlich den Bauch. Ich spüre es ja bis hierher, sogar ohne dich zu sehen. Los, schick deine Freundin nach Hause und geh schlafen. Du musst morgen früh aufstehen. Sie braucht nicht zu wissen, um welche Uhrzeit du abgefahren bist." 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 104 Leseprobe Leseprobe 2 Vorbereitungen 1 Wie hart würde die Rache sein, und wie schlicht und leicht waren die Vorbereitungen. Der Frau des Rächers, die hinter ihm stand, jede Einzelheit sah und begriff, erschienen sie wie die Vorbereitungen zu einem Ausflug, wie seine Vorbereitungen zu den Ausflügen, die sie vor Jahren gemein-sam unternommen hatten: das kräftige Ausschütteln des Rucksacks, der sich freute, mal wieder aus dem Abstellraum herauszukommen. Der prüfende Zug an den Schnürsenkeln der Wanderschuhe, die beinah schon alle Hoffnung aufgegeben hatten. Der Anwesenheitsappell der Knöpfe am Arbeitshemd. Und auch die Unterschiede sah sie: Anstelle der Delikatessen, die er auf die damaligen, die gemeinsamen Ausflüge mitgenommen hatte, um ihr Herz zu erfreuen, packte er jetzt wenige, einfache Lebensmittel ein: ein paar Scheiben Brot, harte Eier, ungeschälte kleine Gurken, einen Becher saure Sahne. Das Wort „asketisch" fiel ihr unwillkürlich ein. Und weitere Dinge bemerkte sie: Die Eier pellte er hier in der Küche, damit keine Schalenkrümel im Gelände zurückblieben und die Anwesenheit eines Menschen verrieten. Die Salami, eine ständige Begleiterin bei den gemein samen Ausflügen von einst, signalisierte ihm, dass sie gern mitkommen würde, wurde jedoch übergangen. Ihr Geruch konnte Hunde anlocken, und dem Hund folgte womöglich sein Herrchen. Den schwarzen Kaffee, registrierte sie, kochte er noch hier im Haus und goss ihn in die alte Thermoskanne. Ein Lagerfeuer, einen Gasbrenner, frischgekochten Kaffee sieht und hört man, und ihr Geruch trägt weit. Und sie erinnerte sich: Früher, bei den gemeinsamen Ausflügen, hatte er den Kaffee auf seinen kleinen, perfekt geschichteten Feuerchen gekocht. Hatte ihn aufwallen lassen, umgerührt, eingeschenkt, ihn ihr wie ein ausnehmend galanter Kellner serviert. Sie hatten damals einen kleinen Stieltopf, der auf jeden Ausflug mitkam. Aber auch der – wo ist er?, fragte sie sich unvermittelt, schon zwölf Jahre hatte sie ihn nicht mehr gesehen – kam jetzt nicht in den Rucksack. Sie wusste: Etwas Großes und Schlimmes stand bevor. Vergeltung würde geübt, Blut gerächt werden, es würde jemand sterben, vielleicht mehr als einer. Und doch trat ein Lächeln auf ihr Gesicht, als empfände sie Mitleid mit dem Stieltopf: „Dich Schüchternen und Verrußten nimmt er nicht mit? Macht nichts. Auch mich lässt er zurück" – wie einst David die zweihundert Mann zurückließ, die beim Tross blieben, als er mit gezücktem Schwert zu Nabal zog, Rachegedanken im Herzen. Sie trat näher an ihn heran. Spürte er sie? Besaß er noch jene erschreckende und anziehende Fähigkeit zu spüren, was hinter seinem Rücken vorging? Ob ja oder nein, er drehte sich nicht um, schenkte ihr keinen Blick. Sie trat noch näher, fühlte angenehm deutlich die zwei Zentimeter Größenunterschied zwischen ihnen und lächelte im Stillen: In der ganzen Moschawa gab es keinen Mann, der kleiner als seine Frau war, und erst recht keinen, dem das auch noch gut gefiel. Früher, vor dem Unglück, als sie noch gemeinsam auf der Straße gingen – was für ein schönes Paar, sagten damals alle –, legte er ihr sogar den Kopf auf die Schulter, ein Rollentausch, der Beobachter irritierte, ihr selbst aber großes Vergnügen bereitete. „Das ist sehr wichtig, seine Liebste zum Lachen zu bringen", sagte er damals oft. In ihren privaten zehn Geboten, die er verfasst und im Schlafzimmer an die Wand gehängt hatte, lauteten das dritte, das vierte und das neunte Gebot einhellig: „Du sollst deine Frau zum Lachen bringen." „Wo hat er bloß die biblischen Wendungen her?", hatte sie damals gestaunt, als sie die Worte erblickte, und staunte sie nun, als sie ihr wieder einfielen. An einem besonders schlimmen Morgen, vor ein paar Jahren, hatte sie diese zehn Gebote von der Wand gerissen, zerfetzt und in den Mülleimer geworfen. Neue hatte er ihr nicht geschrieben, aber die alten waren unvergessen – sie hingen noch an den Wänden ihres Herzens. „Sein Rücken ist so viel breiter geworden", sagte sie sich jetzt. Bei den einstigen, gemeinsamen Ausflügen waren sie immer nebeneinander gegangen, aber wenn der Weg schmal wurde, hatte sie das Tempo verlangsamt, um ihn vorzulassen. Dann hatte sie seinen knabenhaft schmalen Rücken angeschaut, und er hatte sich ab und zu umgewandt und gesagt: „Warum gehst du hinter mir? Übernimm du die Führung. „Ich weiß nicht, wohin." „Folge dem Weg, er bringt dich schon ans Ziel." „Er ist nicht markiert." „Er ist markiert, aber nicht mit Farbe, sondern mit Spuren, mit zertretenem Gras, mit verschobenen Steinen, mit blanken Stellen am Fels. Man muss nur hinschauen und sehen. Und er hat auch seine eigene Logik, das ist das wichtigste Zeichen. Wege haben ihre Logik. Wenn man die erkennt, findet man sich leicht zurecht." „Ich habe heute frei. Ich hab keine Energie für neue Erkenntnisse und keinen Sinn für Logik. Versteh du den Weg, und ich genieße die Landschaft." „Wieso? Ich geh hinter dir her und guck auf deinen Po. Das ist viel schöner, und ich darf auch mal genießen.“ Gleich morgen früh würde ich in der Universität anrufen, dort mitteilen, dass ich das Studium abbreche, und dann gleich auf Arbeitssuche gehen. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 105 Leseprobe Leseprobe Obwohl er ihr Ehemann ist, betrachtet sie ihn so, wie Mütter ihre heranwachsenden Söhne ansehen: mit Verständnislosigkeit, Hoffnung, Angst, Belustigung und Neugier. Sie hat nie einen heranwachsenden Sohn gehabt, und seit dem Unglück weiß sie, dass sie auch nie einen haben wird, aber sie unterrichtet schon viele Jahre lang an der Oberschule der Moschawa und kennt daher diesen Blick, den Mütter auf ihre Söhne werfen und mit dem sie nun ihren Ehemann bedenkt. Ich spüre das Flattern in meinem Innern: „Habe ich etwa im Leib noch Söhne? Habe ich noch Hoffnung?" Diese schönen biblischen Worte pulsieren zwischen Gebärmutter und Herz: „Ja, wenn ich noch diese Nacht einem Mann gehörte und gar Söhne bekäme?" – Einem Mann? Meinem Mann? Dir? Sie hatten oft Ausflüge gemacht. Anfangs zu zweit, dann mit ihrem Sohn. Zuerst hatte er in ihrem Bauch geschaukelt und geschwommen, dann in einem Tragetuch vor ihrer Brust geschlummert, danach in einer Trage gesessen, die sein Vater ihm in der Rucksacknäherei seiner Reserveeinheit genäht hatte. In diesem selbstgefertigten Beutel hatte er ihn auf dem Rücken getragen, eben diesem Rücken, den er ihr jetzt zuwendet. Ihre immer rasch tränenden Augen werden nun überschwemmt von Bildern: der Sohn als kleiner Reiter auf den Schultern seines Vaters. Der Vater trabt, wiehert wie ein Pferd, die Mutter läuft hinterher: „Pass auf! Ich bitte dich. Er ist ganz verängstigt. Er fällt gleich runter. Pass auf!" Aber ihre Prophezeiung bewahrheitete sich nicht. Das Kind war zwar verängstigt, genoss es aber, nach Kinderart. Der Kleine lachte. Wuchs. Konnte stehen. Tat seine ersten Schritte. Purzelte um wie ein Baby und stand wieder auf wie ein Baby. Schon damals ließ er die Leichtfüßigkeit seiner Eltern erkennen – in seinem Gang, seinem Straucheln, seinem Lächeln, seinem Aufrappeln. © Diogenes Verlag, Zürich, 2015. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 106 Leseprobe Leseprobe Sikseck, Ayman: Reise nach Jerusalem | Arche | 2012 ISBN: 978-3716026878 | Gebunden | 92 Seiten | 18,00 € „Wir neigen dazu, aggressiv und aufgeregt über den israelisch-arabischen Konflikt zu diskutieren. Ayman Sikseck gewährt uns ganz unaufgeregt tiefe Einblicke in die Komplexität der Situation." Yudit Shahar, Haaretz. Ayman Sikseck erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der als Palästinenser in Jaffa geboren wurde und nach Jerusalem geht, um dort an der Universität Literatur zu studieren. In Jerusalem fremd, verläuft er sich auch in Jaffa zwischen den zahlreichen Neubauten für betuchte Juden, die dort wie Pilze aus dem Boden schießen. Auch die Liebe fühlt sich für ihn wie ein Labyrinth an: Seine arabische Freundin darf er nur heimlich treffen, solange er nicht bei ihrem Vater um ihre Hand anhält – seine jüdische Freundin, eine Soldatin, muss ihn erst abfüllen, um ihn anschließend abzuschleppen. Ayman Sikseck, 1984 in Jaffa geboren, ist Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft. Er hat an der Jerusalemer Hebrew University Vergleichende Literaturwissenschaften studiert und Aufsätze und Essays veröffentlicht. Zudem verfasste Sikseck über mehrere Jahre hinweg die Kolumne „Jaffa – Tel Aviv“, die im Feuilleton der renommierten Tageszeitung „Haaretz“ erschien. „Reise nach Jerusalem“ ist sein erster Roman. . Ich schreibe in der hebräischen Sprache, die nicht meine Muttersprache ist, um auf der Welt verloren zu gehen. Wer nicht verloren geht, wird das Ganze nicht finden. Denn jeder hat die gleichen Zehen an den Füßen, die er behutsam einen vor den anderen setzt. Aus „Ich schreibe Hebräisch" von Salman Masalha Seit ich von meiner Mutter weiß, dass Samaher ihre Bedenken aufgegeben hat und endlich der Heirat zustimmt, kann ich ihr kaum noch in die Augen sehen. Der Gedanke, dass meine Schwester wegen dieser arrangierten Ehe alle anderen Zukunftspläne über den Haufen wirft, macht mir eine Gänsehaut und irgendwie auch ein heftiges Schuldgefühl, vor allem jetzt, da ich überlege, nach Jaffa zurückzukehren. Samaher weiß, ich habe nichts damit zu tun, dass sie mit einem Mann verheiratet wird, den sie anfangs nicht akzeptieren wollte und den ich noch nicht einmal kennengelernt habe. Das Recht, in derlei Dingen zu entscheiden, hat Mutter ihren beiden Brüdern übertragen, die natürlich nichts auf die Meinung ihres jüngsten Neffen geben. Und wenn ich mutig genug gewesen wäre, den beiden die Stirn zu bieten und ihre Beschlüsse in Zweifel zu ziehen oder sie auf ihren Fehlgriff hinzuweisen, hätte ich Mutter damit so viel Kummer und Sorge bereitet, dass sie mir vor meiner Rückfahrt nach Jerusalem wohl nicht mehr verziehen hätte. Trotzdem wurde ich dieses dumpfe Schuldgefühl nicht los. Seit ich mit dem Studium begonnen habe, bin ich überzeugt davon, für meine Familie, und vor allem für meine Mutter, eine Enttäuschung zu sein, weil ich nicht den Platz eingenommen habe, der mir nach Vaters Unfall zugekommen wäre. Wenn ich damals nicht so in meine Bücher vertieft gewesen wäre, hätte Mutter die Almosen ihrer Brüder vielleicht nicht annehmen müssen. Aber Samaher und ich haben nicht auf sie gehört: Gleich nach dem Abitur schrieb Samaher sich fürs Pädagogikstudium ein und betätigte sich ehrenamtlich im jüdisch-arabischen Gemeindezentrum. Sie war auf die regelmäßige finanzielle Unterstützung unserer Onkel angewiesen, die man ihr zähneknirschend und mit saurer Miene gewährte. Ich wiederum zog mir Mutters Ärger zu, weil ich unbedingt in Jerusalem studieren wollte. Jetzt musste ich kleinlaut eingestehen, dass sie vielleicht recht gehabt hatte. So hatten Samaher und ich uns die Zukunft nicht ausgemalt, als wir Schulter an Schulter auf unserem geteerten Flachdach lagen und einander erzählten, was für große Ambitionen wir hegten. Samaher hatte beteuert, dass sie nicht vor ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag heiraten würde, und auch dann nur, wenn sie bis dahin ihren Master in der Tasche hätte. In den letzten Tagen, als ich noch öfter als sonst an sie dachte, sah ich sie vor mir, wie sie mit geballten Fäusten beteuerte, dass sie Vater noch einmal Reue lehren würde, wenn er erst ihren Erfolg zu sehen bekäme. Ihr zuliebe hatte ich sie so aufmerksam angesehen, als würde ich kein einziges Wort verpassen wollen. Als ich heute niedergeschlagen im Bus zurück nach Jaffa saß, hoffte ich, sie nicht zu Hause anzutreffen, wenn ich gegen Abend ankam. Am liebsten wäre mir sogar, wenn ich sie bis zur Verlobungsfeier am Samstag gar nicht sehen würde. In Gedanken versunken, beugte ich mich über meinen Rucksack und zog das alte Notizbuch heraus. Seine Ecken sind abgenutzt, die Seiten vergilbt und zerfleddert, aber ich mag es lieber als das neue, das Samaher mir geschenkt hat, als ich aus Jaffa wegzog. Die Seiten sind fast alle vollgeschrieben, sodass ich neue Notizen auf die Innendeckel, die Seitenränder oder in winziger Schrift zwischen die bestehenden Zeilen kritzeln muss. Aber wann immer ich etwas notieren möchte, scheint mir das alte Notizbuch eine weitere Schreibfläche einzuräumen. Ehe ich jedoch diesmal etwas schreiben konnte, rief der Fahrer Tel Aviv aus und stellte den Motor ab. Ich steckte das Notizbuch zurück in den Rucksack und stieg aus. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 107 Leseprobe Leseprobe In der Gasse vor dem Busbahnhof trat ein junger Mann mit Kippa auf mich zu. Er trug einen ganz ähnlichen Rucksack wie ich über der Schulter und hielt mir ein Büchlein hin, das beiderseits in Kartondeckel gebunden und mit ungeübter Hand bepinselt war. „Der Psalter, Kamerad", erklärte er und deutete mit der freien Hand auf ein improvisiertes Schild, das er an einen Strommast gelehnt hatte. „Fünf Schekel, um die Synagoge zu retten. Na, was sagst du? Eine Mizwa." Ich sah zerstreut auf das Schild und erkannte die Synagoge, um die es ging. Ich steckte die Hand in die Hosentasche und holte in paar Münzen für ihn heraus. „Danke, Kamerad, vielen Dank", sagte er. Er heiße Jigal, stellte er sich vor, drückte mir die Hand und übergab mir das Büchlein. Ich setzte den Rucksack ab, um es einzustecken, aber meine Finger verhedderten sich und rutschten immer wieder vom Reißverschluss ab. „Lass mich mal!" Jigal beugte sich hinunter und öffnete mit einem schnellen Ratsch das große Fach. „Der ist genau wie meiner." Sein rascher Griff nach meiner Tasche machte mir Angst, es fühlte sich an, als hätte er einfach so eine Tür aufgerissen, die ich sonst sorgfältig geschlossen hielt. Ohne sein Lächeln zu erwidern, nahm ich meinen Rucksack und ging davon. Ich kam später als erwartet nach Hause. In unserem Viertel begrüßten mich die Straßen-laternen und warfen ihr Licht auf die Begonien, die noch einmal blühten. Ich vergewisserte mich, dass Samahers Wagen nicht da war, und ging ins Haus. Als die Tür ins Schloss fiel, hörte ich, wie meine Mutter zu jemandem in der Küche sagte: „Da ist er." Sie kam mir entgegen und flüsterte mir auf dem Gang zur Küche ins Ohr: „Dein Onkel ist da." Unnötig zu sagen, welcher, denn nur der eine besucht uns hin und wieder. Ich setzte mich an den Tisch, möglichst weit von unserem Gast entfernt, und klemmte den Rucksack zwischen meine Beine. In diesem Moment freute mich der Gedanke an all die Abende, die ich an diesem Tisch verbringen würde, sobald ich Mutter mein Versagen eingestanden hatte und nach Jaffa zurückgekehrt war „Was gibt es denn zu lächeln?", fragte mein Onkel verwundert und zündete sich eine Zigarette an. Die Frage überraschte mich. „Nichts", quetschte ich hervor und suchte Mutters Blick. „Noch dazu so ein breites Lächeln", fuhr er fort. „Aber du hast ja auch guten Grund dazu, nicht wahr? Die Geschäfte florieren gegenwärtig, und wir können dir problemlos dein Studium finanzieren." Er fixierte mich und betonte die Worte „dein Studium", als würde er mir damit meinen Egoismus vor Augen halten wollen. Ich reagierte trotzdem nicht und ließ ihn weiterreden: „Aber vor allem musst du dich bei Samaher bedanken, nicht wahr?" Mutter sah ihn an. „Habe ich etwa nicht recht?", sagte er und blies Rauch in die Luft. „Er hat doch immer gewusst, dass wir die Studiengebühren für beide auf einmal nicht aufbringen können." Der Rucksack lastete jetzt schwer auf meinen Füßen. Ich kickte ihn zur Seite und streckte mich verlegen. „Sie hätte ohnehin geheiratet", wandte Mutter ein und suchte mit ihrer Hand nach meinem Nacken. In diesem Moment, im weichen Abenddunkel der Küche, war ich nahe daran, ihr um den Hals zu fallen, ihr zu sagen, dass sie recht gehabt hatte, dass ich nie hätte ausziehen dürfen und dass ich jetzt zurückkommen wollte, nach Jaffa, zu ihr, ein für alle Mal. Ich hatte das völlig unsinnige Gefühl, gleich würde mir eine Ader platzen und mein ganzes Gesicht überfluten. Aber unser Gast ließ kein Auge von mir, und seine Anwesenheit verlieh dem Gedanken etwas Lächerliches. Ich musste an den selbst gebastelten Psalter denken und überlegte, ob der Fußtritt das Buch so kurz nach dem Kauf womöglich in fliegende Blätter verwandelt hatte. Am Samstagabend erschien Samaher in einem blauen Kleid, das ihr Bräutigam ihr gekauft hatte. Ich wusste, dass sie diese Farbe noch nie ausstehen konnte, wunderte mich aber trotzdem nicht bei ihrem Anblick. Als ich an den Ecktisch im Wohnzimmer trat, um mir ein Glas Wasser einzuschenken, hörte ich einen der Anwesenden sagen, man könne denen von der anderen Seite des Trennzauns einfach nicht klarmachen, was guter Geschmack sei. Das Haus wimmelte von Gästen, und alle suchten aufgeregt die Hauptperson der Feier, meine Mutter, um dem Ehebündnis Glück zu wünschen. Der zukünftige Bräutigam sagte gar nichts. Er saß kerzengerade und in sich gekehrt neben Samaher und zerbröselte einen Keks zwischen seinen Fingern. Nur sein angespannter Blick schweifte durch den Raum und zog überall Aufmerksamkeit auf sich. Immer mehr Gäste trafen ein und brachten hübsch verpackte Geschenke und Blumensträuße. Die meisten waren wohl Verwandte des Bräutigams und sprachen ein militantes, krachendes Arabisch, von dem mir nur ein paar Splitter vertraut vorkamen. Angestrengt lauschte ich ihren Gesprächen. Sie reihten sich um die Braut und darum, wie gut die beiden Familien doch zusammen passten. Jemand erwähnte die alte Synagoge am Rand des Viertels und den seit Jahren andauernden Kampf um die Rückgabe des Gebäudes an die Familie, die 1948 daraus geflüchtet war. Ich musste an Jigal denken, stopfte mir einen Keks in den Mund und hastete in mein Zimmer. Dort blieb ich am Fenster stehen und betrachtete die Gebäude gegenüber. Sie wirkten näher als sonst und starrten mit erleuchteten Fenstern auf den wachsenden Trubel in unserem Wohnzimmer. Mir wurde heiß, trotzdem machte ich die Fensterläden zu und beschloss, einige Zeit hierzubleiben und das Geschehen von meinem Zimmer aus zu verfolgen. Der schmale Türspalt gab zwar nicht viel preis, aber ich konnte meine Mutter und einige der Fremden beobachten. Samaher und ihren Verlobten sah ich allerdings nicht mehr. Die lachenden und fröhlichen Stimmen der Gäste ärgerten mich, ich grollte ihnen allein dafür, dass sie im Haus waren. Ich musste mir immer wieder sagen, dass am nächsten Tag keiner mehr da sein würde, nur noch Mutter und ich, und dass das ganze Haus, das früher Vater und mir gehört hatte, fortan nur noch meins sein würde. Gleich morgen früh würde ich in der Universität anrufen, dort mitteilen, dass ich das Studium abbreche, und dann gleich auf Arbeitssuche gehen. Ich werde nach Jaffa zurückkehren. Der Gedanke an Mutters Reaktion munterte mich auf. Ich legte mich aufs Bett, schloss die Augen und wäre vermutlich eingeschlafen, wenn sich nicht die Zimmertür geöffnet hätte. „Samaher…", flüsterte ich. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 108 Leseprobe Leseprobe Bis vor Kurzem war das unser gemeinsames Zimmer gewesen. Samahers Bett hatte hinter einer Zwischenwand aus Gips gestanden, die in der Mitte des Raums eingezogen worden war. Morgens hatte ich das matte Ächzen ihrer Schubladen hinter der Wand gehört und gewusst, dass es Zeit zum Aufstehen wurde. Dort, wo die Wand gestanden hat, ist ein heller Streifen zurückgeblieben, eine Art Mahnung, dass hier die Grenzen zu Samahers Reich gelegen haben. „Möchtest du dich setzen?" Ich spürte, dass meine Wangen glühten. Samaher gab keine Antwort. „Setz dich. Ich räume meine Klamotten vom Bett …" Sie kam näher und ließ den Blick umherschweifen, als wolle sie sich über ihre Position in dem neuen Raum klar werden. Dieses Zimmer war ein weiterer Bereich, aus dem ich sie unweigerlich verdrängt hatte. Ihr Blick blieb an dem alten Schaukelstuhl unseres Vaters hängen und wurde starr. Auf dem Stuhl lag lässig hingeworfen mein Rucksack. Der Psalter, den ich gekauft hatte, lugte daraus hervor. „Der ist fürs Studium …", log ich. „Du weißt, wie das ist. Ich muss ihn lesen und eine Arbeit darüber schreiben, nichts Besonderes." Sie schwieg hartnäckig. „Weißt du", sagte ich, „vielleicht komm ich zurück. Das heißt, hierher, nach Hause. Ich weiß nicht …" Meine Worte verhallten ungehört. Samaher fasste mechanisch ihr Haar zusammen und kam auf mich zu. Das Schweigen lastete im Raum, eine schwüle, bedrückende Stille, die den Trubel draußen fast erstickte. Ich war so angespannt, dass ich bereute, aus dem Bett gestiegen zu sein. Samaher stand vor mir, ich spürte ihren Atem im Gesicht. Unvermittelt holte sie aus und versetzte mir mit aller Kraft eine Ohrfeige, einen einzigen wütenden Schlag ins Gesicht. Ich ließ den Kopf einige Sekunden hängen, dann blickte ich zögernd zu ihr auf. Sie wandte sich um und ging, ließ die Tür sperrangelweit offen und tauchte in dem Schwarm von Menschen unter, die ich nicht kannte. Ich stand da wie angewurzelt, bis sie ganz verschwunden war, strich mir lindernd mit der Hand über die brennende Wange und ging dann an den Schrank, um die Kleider wieder herauszuholen, die ich hastig vom Bett dort hineingestopft hatte. Ich legte sie neu zusammen und verstaute sie in einem ordentlichen Stapel in meinem Rucksack. Ich musste morgen zurück nach Jerusalem, wie geplant. Ende des Monats begann das neue Studienjahr. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 109 Leseprobe Leseprobe Strenger, Carlo: Israel. Einführung in ein schwieriges Land | Suhrkamp | 2011 ISBN: 978-3-633-54255-0 | Broschur | 173 Seiten | 16,90 € Obwohl Israel über eine ultramoderne Gesellschaft mit einer lebensfreudigen, liberalen Kultur verfügt, geht das Land geht durch eine der schwersten Krisen seit seiner Gründung. Der Friedensprozess liegt auf Eis, das Land ist isoliert, im Alltag leben Juden und Araber mit wechselseitiger Verachtung nebeneinander, und der eskalierende Kampf zwischen religiösen und säkularen Juden bedroht die Grundfesten der israelischen Gesellschaft. Strenger eröffnet Einsichten in Alltag und Mentalität Israels – ohne Idealisierung und Dämonisierung. Er zeigt Israel als zerrissene Gesellschaft, die grundlegende Probleme der Identität nicht löst konnte. Er versucht Antworten auf drängende Fragen des jungen Staates zu geben: Wie soll das Verhältnis von Staat und Religion, zwischen westlicher Weltoffenheit und nahöstlicher Tradition gestaltet werden? Wie können Spannungen zwischen Einwanderungsgruppen aus verschiedenen Kulturen gelöst werden? Seine Betrachtungen eröffnen einen umfassenden Blick auf die Widersprüchlichkeit Israels – aber auch auf die Möglichkeit einer Wahrnehmung des Landes jenseits von Schuld, Gegenschuld und dem Kampf der Monotheismen. Carlo Strenger, in der Schweiz geboren und aufgewachsen, ist Professor der Psychologie an der Universität Tel Aviv. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und schreibt regelmäßig für den britischen „Guardian“ und Israels führende liberale Zeitung Haaretz. Einleitung Zu Beginn des neuen Jahrzehnts geht Israel durch eine der schwersten Krisen seit der Staatsgründung. Der Friedensprozeß liegt auf Eis, das Land ist außenpolitisch isoliert. Der überwiegende Teil der Staatengemeinschaft ist zu der Überzeugung gelangt, daß Israel zum Friedenschluß mit den Palästinensern schlicht nicht willens oder nicht fähig ist. Bereits der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon war für die internationale Öffentlichkeit ein willkommenes Haßobjekt doch erst sein Nachfolger Benjamin „Bibi" Netanjahu hat in den letzten Jahren auf internationaler Ebene alles Porzellan zerschlagen, das es zu zerschlagen gab. Flankiert wird er dabei von Außenminister Avigdor Lieberman, der durch seinen glühenden Haß auf die Araber selbst bei guten Freunden Israels nur noch Kopfschütteln hervorruft und der außerhalb des Landes längst mit Slobodan Miloševic´ verglichen wird. Selbst langjährige Bündnispartner wenden sich mit Grausen ab: Sechsundzwanzig führende EU-Politiker, darunter auch Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt, riefen Ende 2010 in einem offenen Brief dazu auf, Israel durch Sanktionen unter Druck zu setzen. Nicht zu reden von den jüngsten Boykottaufrufen aus Großbritannien gegen israelische Wissenschaftler, die allerdings eher vom altbekannten antisemitischen Ressentiment getrieben zu sein scheinen. Nicht nur in islamischen Ländern, sondern auch in Europa weckt Israel hochintensive Gefühle. Viele Menschen, die dem Land gegenüber prinzipiell positiv eingestellt waren, sind in den letzten Jahren von der israelischen Siedlungspolitik und von Israels aggressiver Rhetorik zutiefst enttäuscht worden. Es vergeht kaum ein Tag, an dem dieses kleine Land am Mittelmeer mit seinen kaum acht Millionen Einwohnern nicht in den Schlagzeilen der Weltpresse auftaucht. Jüdisch-liberale Intellektuelle wie BernardHenri Lévy und Alain Finkielkraut versuchen, zwischen dem Staat Israel und seiner Politik zu unterscheiden, sie geben ihrer Loyalität für Israel immer wieder Ausdruck, kritisieren aber seine Regierung. Andere sind pessimistischer. Der vor kurzem verstorbene britisch-amerikanisch-jüdische Historiker Tony Judt kam zu dem Schluß, daß das zionistische Experiment ein Fehler gewesen sei. Aber nicht nur außerhalb Israels tun sich viele mit der Entwicklung schwer, die das Land durchläuft. Liberal orientierte Juden wie ich, die jahrzehntelang für ein weltoffeneres Israel gekämpft haben, sind seit Beginn der zweiten palästinensischen Intifada im Jahr 2000 politisch marginalisiert. Noch 1992, als Jitzchak Rabin zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, waren knapp die Hälfte der 120 Knessetmitglieder liberal eingestellt. In den Wahlen von 2009 waren es nur noch sechzehn – eine wahrhaft katastrophale Entwicklung. Wenn man von diesen sechzehn noch die dreizehn der Arbeitspartei abzieht, die für zwei Jahre Teil von Netanjahus Regierungskoalition war, verbleiben nur noch die drei Mandate der sozialdemokratischen Partei Meretz, die für eine dezidiert gemäßigte Position in der Knesset steht. Aufgrund der Schlagzeilen in der Presse halten viele Menschen Israel für einen düsteren Polizeistaat, wenn nicht für etwas Schlimmeres. Wenn Europäer erstmals Israel besuchen, sind sie meist überrascht. Sie treffen auf kommunikationsfreudige, weltoffene junge Menschen, eine Vielfalt kultureller Angebote, eine schwulenfreundliche Einstellung, ein lebendiges Nachtleben. Die Musikszene könnte kosmopolitischer kaum sein, man denke etwa an Idan Raichel, den so erfolgreichen und innovativen „Weltmusiker" mit seinen internationalen Kooperationen. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 110 Leseprobe Leseprobe Ebenso heben sich die Intellektuellen des Landes deutlich vom etablierten Bild des Landes ab. Schriftsteller wie Amos Oz, David Grossman und Etgar Keret werden in Dutzende Sprachen übersetzt und in hohen Auflagen gelesen. Sie vermitteln dem Leser ein ganz anderes Bild des Staates am Mittelmeer, moralisch und emotional differenziert, bedrückt von der Verrohung der israelischen Politik. Womöglich ist es, so könnte man fortfahren, nicht nur die Kunst- und Kulturelite des Landes, die dem negativen Bild Israels nicht entspricht. Die meisten Israelis sprechen sehr gut Englisch, viele haben die Welt bereist und kennen andere Kulturen. Auch in der israelischen Wirtschaft geht es liberal und fortschrittlich zu. Die das Land prägenden jungen Unternehmer im Hochtechnologiebereich (übrigens die neue Version des bisherigen Traums der jüdischen Mutter, vom Sohn als Anwalt oder Arzt1) sorgen nicht nur für gut ausgebuchte Flugzeuge zwischen Tel Aviv und Silicon Valley und dem großen Interesse an israelischen Startup-Unternehmen, sondern auch für viele neue kulturelle Impulse sowie intellektuellen und politischen Austausch. Wie aber, so möchte man fragen, ist die Offenheit der Kultur und des intellektuellen Lebens und die damit verbundene Sehnsucht nach dem guten Leben mit der brutalen, machthungrigen Politik Israels und mit seiner apokalyptischen Rhetorik zu vereinbaren? Wie ist es möglich, daß ein Land, das in vielerlei Hinsicht den westlichen Staaten sehr stark ähnelt, in seinem politischen Verhalten so borniert und unbelehrbar ist? Ich stelle diese Frage dem europäischen Leser nicht nur rhetorisch. Obgleich ich fast mein ganzes erwachsenes Leben in Israel verbracht habe, ist meine europäische Identität für mich zentral geblieben. Dem Europäer in mir fällt es oft schwer, Israel zu verstehen, doch muß man für dieses schmerzhafte Erstaunen nicht europäischer Herkunft sein. Die meisten meiner israelischen Freunde, ob in Israel, Casablanca oder New York geboren, teilen eine universalistisch kosmopolitische Ethik, und auch sie stellen sich die Frage, warum Israel nicht der westliche Staat ist, der es zu sein behauptet und gemäß der Vision seiner Gründer von jeher hat sein wollen? In gewisser Hinsicht, so könnte man einwenden, ist Theodor Herzls Idee, man könne im Nahen Osten ein wärmeres Wien entwickeln, grundsätzlich unrealistisch gewesen. Israel ist von Staaten umringt, die allesamt problematische Regimestrukturen aufweisen, auch wenn diese in den unerwarteten Revolutionen und Unruhen seit dem Frühjahr 2011 ins Wanken geraten sind. Noch lassen sich keine schlüssigen Prognosen abgeben, ob dies zur Demokratisierung des arabischen Raumes oder zu einer Islamisierung und damit grundlegenden Destabilisierung führen wird. Auf den folgenden Seiten wird das europäische Unverständnis gegenüber Israel immer wieder zur Sprache kommen, ebenso das Staunen und manchmal die Verzweiflung des Autors, der seit vielen Jahren Teil des israelischen Friedenslagers ist und sich aufgrund der Entwicklung des letzten Jahrzehnts oft deprimiert fühlt. Dieses Unverständnis kommt nicht von ungefähr. Es repräsentiert vielmehr die jüngste Phase der langen und oftmals leidvollen Geschichte Europas und seiner Juden, die auf beiden Seiten nachwirkt, in der kollektiven israelischen Psyche wie in der europäischen. Das Verhältnis zwischen Europa und Israel kann nicht außerhalb des historischen Rahmens des jüdischen Schicksals in Europa verstanden werden, und das heißt nicht ohne die Betrachtung des Judenhasses, der eine Konstante der europäischen Geschichte des zweiten Jahrtausends unserer Zeitrechnung war. Angefangen bei den Pogromen zur Zeit der Kreuzzüge über die spanische Inquisition bis zu den Pogromen im 17. und 19. Jahrhundert zeugt die europäische Geschichte von der Schwierigkeit und oftmals der Unfähigkeit, mit dem anderen menschlich umzugehen. Zu dieser Geschichte gehört ebenso, daß sich der traditionelle Antijudaismus seit dem 19. Jahrhundert zum rassistischen Antisemitismus wandelte und unter der Führung der Deutschen mit der Ermordung der europäischen Juden im Nationalsozialismus seinen Höhepunkt fand. Diese komplexe und tragische Verflechtung der jüdischen und der europäischen Geschichte kann und soll nicht verschwiegen werden. Aber sie darf auch nicht zum politischen Druckmittel gemacht werden. Israel hat sich oft viel zu lautstark als Vertreter des jüdischen Schicksals nach der Shoah geäußert, und die Wahrnehmung der europäischen Öffentlichkeit, daß die israelischen Regierungen das europäische Schuldgefühl für ihre Sache instrumentalisierten, hatte ihre Berechtigung. Auf der anderen Seite gibt es jenen Teil der europäischen Öffentlichkeit, der Israel mit Blick auf die Palästinenser nur allzugern vorhält, es hätte im Gegensatz zu den einstigen Tätern die Lehren aus der Geschichte nicht gezogen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Israels katastrophale Siedlungspolitik und politische Inkompetenz für viele Europäer fast eine Erleichterung darstellt, weil sie sich dadurch endlich nicht mehr mit Europas komplexer und oft schrecklicher (jüdischer) Geschichte auseinandersetzen müssen. Aus diesem Grund wird dieser Essay Israel auch im Kontext der jüdischen Geschichte in Europa zu verstehen versuchen. Auch mit einer psychologischen Perspektive hoffe ich die gesellschaftlich-politischen Prozesse erhellen zu können, auch weil ich denke, daß Israels Politik nicht nur von der Geschichte des Judenhasses her begriffen werden kann. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 111 Leseprobe Leseprobe Talshir, Anat: Über uns die Nacht. Roman | Diana | 2014 | Aus dem Hebräischen von Stefanie Fahrner ISBN: 978-3-453-35777-8 | Deutsche Erstausgabe | Taschenbuch | 528 Seiten | 9,99 € Staatsgründung in Jerusalem. Es ist der Beginn einer tiefen Liebe, die geheim bleiben muss. Als Krieg ausbricht, wird die Stadt durch eine Mauer geteilt, die die beiden fortan unüberwindbar voneinander trennt. Neunzehn Jahre wird es dauern, bis es wieder Hoffnung für Lila und Elias gibt. Doch kann ihre Liebe den Hass der beiden verfeindeten Kulturen, die Jahre der Trennung und der Sehnsucht überstehen? Anat Talshir wurde in Jerusalem geboren und wuchs dort auf. Sie ist eine angesehene Investigativ-Journalistin in Israel und wurde für ihre Arbeit u.a. mit dem renommierten Sokolov-Preis ausgezeichnet. Neben ihrer journalistischen Tätigkeit ist sie als Moderatorin tätig und unterrichtet Creative Writing. Sie lebt in Tel Aviv. Elias steckte dem Schaffner einen Geldschein in die Tasche. Der Mann verstand genau, was von ihm erwartet wurde: Er sollte sie in ihrem Abteil in Ruhe lassen, ab und zu einen Kellner vorbeischicken und für Madame ein Kissen und eine Decke bringen. Zuerst saß sie ihm gegenüber und sah ihm in die Augen, später setzte sie sich neben ihn und legte den Kopf auf seine Schulter. Sie schlief keine Sekunde, während der Zug durch die Dunkelheit raste und sich immer weiter von den Dörfern und Städten entfernte, in denen sie Zuflucht gefunden hatten. Elias’ Augen waren geschlossen, aber sie wusste, dass auch er nicht schlief. Elias war hellwach und dachte dankbar an die vergangenen Tage, denn die Fahrt hätte auch in einem Misserfolg enden können. Dann wären sie als Fremde wieder nach Hause zurückgekehrt, ohne dass zwischen ihnen etwas passiert war. Das Leben wäre so nichtssagend weitergegangen wie vor seiner Begegnung mit Lila. Alles, was vor ihr gewesen war, schien ihm jetzt keine echte Liebe, sondern konfus und falsch gewesen zu sein. Ich habe mich in sie verliebt, sagte er leise zu sich selbst und staunte über jene Worte, die er nie ausgesprochen, über die er nie nachgedacht hatte. Sie kamen ihm über die Lippen wie etwas ganz Fremdes, und alles, was in seinem Innern verborgen gewesen war, alles, von dem er nichts gewusst hatte, all sein Begehren und Verlangen, überflutete ihn jetzt mit einem Schlag. Jedes Mal, wenn er sich diese neue Entdeckung in den Sinn rief – dass er sich in sie verliebt hatte –, lief eine Hitzewelle durch seinen ganzen Körper. Wann genau war es geschehen? War es im Restaurant bei Kerzenlicht gewesen, als er ihr ein Haus aus Streichholzschachteln gebaut hatte? War es in der schlaflosen Nacht gewesen, als sie erschöpft und befriedigt miteinander geredet hatten, bis die Sonne aufging? Oder war es vielleicht bei ihrem ersten gemeinsamen Tanz gewesen, als sie sich stundenlang drehten, als wären sie die einzigen Menschen im Saal? Sie sprachen nicht über das, was sie trennte. Beiden war klar, dass die Barriere zwischen ihnen von künstlicher Art war. Sie war ihnen von ihrer Umgebung, von der jeweiligen Kultur aufgezwungen worden. Was machte es in Wirklichkeit schon aus, dass sie in zwei verschiedene Völker hineingeboren worden waren? Sie stand ihm näher als jede Araberin, die er jemals kennengelernt hatte. In ihren Adern floss dasselbe Blut, auf ihrer Haut perlte derselbe Schweiß. Sie hatten denselben Geschmack, dasselbe Verlangen, dieselben Wünsche. Sogar die Farbe ihrer Haut war fast gleich. Wenn er alle Länder rund um das Mittelmeer absuchte, fände er doch keine Frau, deren Haut seiner so ähnlich war und die so duftete wie die von Lila. Lila öffnete die Augen genau in dem Moment, in dem er sich wünschte, in ihnen zu versinken. Sie musste jetzt Kraft schöpfen, um den Veränderungen in ihrem Leben zu begegnen. Bis vor wenigen Wochen war Elias ein Fremder für sie gewesen, und jetzt waren sie eins. Während der Heimreise im dunklen Zug begriff sie, dass sich nun alles von Grund auf ändern würde, obwohl sie ja eigentlich dasselbe Leben mit denselben Gewohnheiten weiterführen würde. Es würde ihr schwerfallen, sich von ihm zu verabschieden. Aber die Gegebenheiten erlaubten ihnen nicht, den Traum weiterzuträumen, der in den Kaçkar-Bergen Gestalt angenommen hatte. Sie hatten sich ohne Rücksicht über seinen uralten arabischen Clan und ihre konservative, jüdische Lebensweise hinweggesetzt, und dafür würden sie bezahlen müssen, denn die Realität forderte ihren Tribut. Der Zug brauste durch die dunkle Landschaft und ruckte manchmal so heftig, als fände der Lokführer den Weg nicht. Sie schliefen mit offenen Augen, waren wach mit geschlossenen Augen. Elias wünschte sich, die Morgendämmerung würde niemals anbrechen, denn der erste Lichtstrahl bedeutete, dass die Reise beendet war. Und was wartete dort am Ende der Reise wohl auf sie? Was, wenn sämtliche streng bewachten Traditionen plötzlich in sich zusammenfielen? Was, wenn sie einen Weg fänden, trotzdem zusammenzuleben, ohne dass sie ihren Glauben und er seine Identität aufgeben musste? Er würde sich nicht nur gegen seine Familie durchsetzen müssen, sondern auch gegen die ganze Straße, das ganze Wohnviertel, gegen den Osten von Jerusalem, die Araber – gegen all jene, die ihn in ihrem Hass davon abhalten wollten, mit Lila zusammenzuleben. Seine Mutter hatte ihm einmal gesagt, es gebe kein Problem, das ein vernünftiger Geist nicht lösen konnte, und keine Grenze dessen, was ein starker Wille zu leisten vermochte. Aber was, wenn er es nicht schaffte, die Ketten zu sprengen? Er stellte sich Lila und sich selbst als flüchtige Gefangene vor, mit dicken Eisenkugeln am Bein. Wie weit konnten sie rennen, wenn sie auf diese Art gefesselt waren? 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 112 Leseprobe Leseprobe Er stand auf, streckte seine steifen Glieder und ging los, um ihr eine Tasse Kaffee zu holen. „Zucker?", fragte der Kellner im Speisewagen. „Ja, bitte", sagte Elias, der Lila schon jetzt vermisste. Als er mit zwei dampfenden, köstlich duftenden Bechern zurück ins Abteil kam, sah Lila ihn überrascht an. „Ich sehe, du hast mich vermisst", sagte er. „Sehr", erwiderte sie. Er wartete, bis sie einen Schluck genommen hatte, ehe er selbst trank. „Elias", sagte sie zögernd, „vielleicht geht es ja doch." Sie schaute ihm direkt in die Augen, um seine erste Reaktion zu beobachten. Er stellte seine Tasse auf den Tisch, und sie ruckelte im Rhythmus der Schienen. „Vielleicht", entgegnete er nachdenklich. Am 29. November 1947 war Lila allein zu Hause. Auch Elias saß zu Hause, zusammen mit seinen Eltern und Munir. Ein einziges Mal im Leben, dachte er, hat man die Chance, die Geburt einer Nation zu erleben. Und wohl auch nur ein einziges Mal im Leben hat man die Chance, die Geburt einer Nation zu erleben, die nicht die eigene ist, obwohl die eigenen Vorväter auf dem Gebiet jener Nation geboren und in ihrer Erde begraben worden waren. Nicht einmal ein Hund ließ sich auf der Straße blicken. Von Norden her blies ein starker Wind, und aus den Fenstern des Wohnhauses fiel schwaches Licht auf den winterlichen Boden und den Gehweg. Jeder Mensch in jedem Haus, das sich zwischen Elias und Lila befand, saß in diesem Moment vor dem Radio. Die Stimmung war zum Zerreißen gespannt. Die Entscheidung war gefallen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hatte die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat beschlossen. Lila stieß einen Schrei aus, der von den Wänden ihrer Wohnung widerhallte, und begann zu weinen. Sie musste an ihren Vater denken, der sein ganzes Leben lang auf diesen Moment gewartet, ihn aber nicht mehr erlebt hatte. Sie zog sich einen Pullover und eine Hose über und ging hinunter zu ihren Nachbarn, die sich alle um ein Radio versammelt hatten. Sie wollten dem Sprecher zuhören, aber Lila war außer sich. Sie dachte an die Länder, die immer gegen die Gründung des Staates Israel gewesen waren: alle arabischen Nationen natürlich, aber auch die Türkei, Indien und Griechenland. „Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen", sagte ihr Nachbar Albert und wedelte mit einem Blatt Papier, auf dem das Ergebnis der Abstimmung stand: 33 zu 13. „Ist doch egal, wer wofür gestimmt hat." Alberts Frau servierte Tee und Kekse, aber niemand griff zu. Selbst die Teegläser blieben unberührt und wurden – als sie kalt geworden waren – wieder abgeräumt. Lila fragte sich, mit wem Elias jetzt wohl zusammensaß, mit wem er seinen Ärger teilte. Was würde diese Entscheidung für Menschen wie sie, die sich mit der Unsicherheit arrangiert hatten, wohl bedeuten? Und was könnte sie zu ihm sagen, an einem Abend, an dem die Freude ihres Volkes der Kummer seines Volkes, der Sieg ihres Volkes der Ruin des seinen war? Jerusalem war zu internationalem Territorium erklärt worden, und jedem Menschen war sonnenklar, dass nichts und niemand einen Krieg noch abwenden konnte. Sie hatte keine Möglichkeit, ihn zu erreichen und zu erfahren, wie es ihm ging: kein Telefon, kein Telegramm, keinen Boten, keine Brieftaube. In jenem Moment waren ihre Seelen eins – und gleichzeitig so getrennt wie noch nie zuvor. Der Weg zwischen ihren Wohnorten war eigentlich innerhalb von Minuten zu bewältigen, aber heute Abend schienen sie an verschiedenen Ufern eines Flusses zu leben, zwischen denen die Brücke zerstört worden war. Die Menschen im Wohnzimmer der Rianis saßen da wie betäubt, eingehüllt von einer Rauchwolke aus Georges Pfeife. „Auf dem Friedhof geht es fröhlicher zu als hier in diesem Haus", klagte Elias’ Mutter, als sie ein Tablett mit selbst gebackenem Dattelkuchen auf den Tisch stellte. Niemand nahm auch nur die geringste Notiz von dem Kuchen, und auch Nadira versank in erstarrtes Schweigen wie alle anderen. George schaute auf die Uhr und sagte: „Jetzt dauert es nur noch Stunden, bis sie anfangen zu schießen." Nadira suchte nach etwas Positivem, an das sie sich klammern konnte: Wenigstens waren ihre Töchter, Elias’ ältere Schwestern, schon verheiratet und weilten sicher in ihren hübschen Häusern im fernen Riad. Dieser Krieg, über den hier alle sprachen, würde sie nicht tangieren. Der Ofen ging langsam aus, aber niemand erhob sich, um ihn wieder anzufeuern. Munir, der normalerweise ständig in Bewegung war und die Flammen nicht aus den Augen ließ, starrte abwesend ins Nichts und zupfte sich kleine Wollkügelchen von der Weste. Elias ging im Zimmer auf und ab und blickte nach draußen in die Dunkelheit. Mit dem Herzen war er bei Lila im Westen der Stadt, von wo ein schwacher Lichtschein zu sehen war. Er verzehrte sich so sehr nach ihr, dass es wehtat, und fühlte sich schrecklich hilflos. Es war ihm ganz egal, wer schoss und wer erschossen wurde, wer zuerst feuerte und wer seine Waffe im Halfter stecken ließ, solange die Kugeln nur über sie hinwegpfiffen. Er fragte sich, ob sie gerade allein war und ob sie tatsächlich so beschwingt war, wie er vermutete. Bestimmt hatte sie das Bedürfnis, ihre Gefühle in diesem weltbewegenden Moment mit anderen zu teilen. Was bedeutete es diesen Menschen, dass sich ihr Land so sehr veränderte? Er dachte nicht an sein Teegeschäft oder an die fatalen Auswirkungen, die diese Ereignisse auf die Welt des Handels haben würden, sondern nur an Lila, an sie beide. Die Dinge würden nicht besser werden; da war es ratsam, sich auf Schlimmeres vorzubereiten. Seit sie aus der Türkei zurückgekehrt waren, hatten sie sich relativ oft treffen können. Es war ein verrückter, brennend heißer Herbst, der von den Geschehnissen noch zusätzlich angeheizt wurde: von der Bombe, die nicht weit entfernt von Lilas Wohnung auf der Jaffa Street explodiert war, von den ständigen Gefahren, die den Einwohnern der Stadt drohten. Manchmal verbrachten sie die Morgenstunden zusammen. Elias kam um sechs, brachte frisches Brot, Käse und eine Flasche Milch mit und bereitete das Frühstück vor. Dann gingen sie miteinander ins Bett, und hinterher brach Elias in sein Büro am Damaskustor auf, Lila in ihren Salon. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 113 Leseprobe Leseprobe An manchen Abenden gelang es Elias, sich aus den Klauen seiner Familie zu befreien. Dann ging er mit Lila auf die Jaffa Street, um Schallplatten zu erstehen. Er kaufte ihr einen Plattenspieler, das größte Geschenk, das sie je im Leben bekommen hatte. Eines Vollmondabends erwartete er sie nach der Arbeit an der Ecke, und die Stunde, die sie dann zusammen verbrachten, war so schön wie eine ganze gemeinsame Woche. In seinem Auto aßen sie eine warme Mahlzeit mit Pitabrot. Bei anderen Gelegenheiten fuhren sie nach Augusta Victoria, zu einem Aussichtspunkt in Abu Tor, auf einen Hügel in Jemin Mosche oder an einen anderen versteckten Ort, und überall fühlte er sich wie der Sieger einer Schlacht, weil sie es schafften, ihre Liebe trotz des Flächenbrands, der um sie herum wütete, am Leben zu halten. Am Abend wirkte Jerusalem noch mysteriöser, voller Geheimnisse und Fanatiker. Hinter jeder Ecke schien jemand zu lauern, der die Leute ansprach und von den Zielen seiner Organisation zu überzeugen versuchte. Er fühlte sich in der Lage, alle Schwierigkeiten im Leben zu meistern – auch, als er ihr das Autofahren beibrachte. Obwohl sie Angst davor gehabt hatte, saß sie bald neben ihm auf dem Fahrersitz, quiekte vor Vergnügen und gab das Steuer nicht mehr aus der Hand. Im Café Savoy hatten sie ihren eigenen Tisch, der ein wenig versteckt stand, und im Regent entkamen sie auf wundersame Weise, als plötzlich einige Geschäftsleute, die ihn kannten, hereinkamen. Lila bemerkte, dass Elias auf einmal nervös wurde, schnappte sich ihre Handtasche und das Glas mit dem Lippenstiftrand darauf und rannte auf die Damentoilette. Als sie wieder herauskam, ging sie unauffällig an seinem Tisch vorbei und machte sich allein auf den Heimweg. Einige Zeit später holte er sie mit dem Auto ein. Ihn wurmte jede einzelne Minute, die er sie vor der Welt verstecken musste. Dieser Abend endete in einer Katastrophe. Bevor sie sich trennten, war sie untröstlich. Er nannte solche Ereignisse „Realitätseinbrüche“. An jenem Tag aber, an dem über einen zukünftigen jüdischen Staat abgestimmt wurde, musste Elias begreifen, dass nicht nur ein Realitätseinbruch bevorstand, sondern eine Revolution. Innerhalb eines einzigen Augenblicks hatte sich das Leben drastisch verändert, und nichts würde mehr sein wie zuvor. In den vergangenen Monaten hatte ihre unglaubliche Liebesgeschichte auf einem Fundament der Gewissheiten geruht: Sie wussten, dass unter ihnen die Erde und über ihnen der Himmel war – und alles andere in ihrer Hand lag. Solange sie sich ihren Überlebensinstinkt und ihre Flexibilität bewahrten, waren sie sicher. Elias war überzeugt gewesen, dass sie es schaffen konnten. Er hatte die Welt in Gute und Schlechte aufgeteilt: Die Guten waren jene, die ihnen ermöglichten, zusammen zu sein, die Schlechten die, die ihnen im Weg standen. Jetzt allerdings war der Boden unter ihnen weggebrochen, und am Himmel zog ein schwerer Sturm auf. © Diana Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 114 Leseprobe Leseprobe Teege, Jennifer: Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen | Rowohlt | 2013 Hardcover | 272 Seiten | ISBN 978-3-498-06493-8 | 19,95 € Es ist ein Schock, der ihr ganzes Selbstverständnis erschüttert: Mit 38 Jahren erfährt Jennifer Teege zufällig, wer sie ist. In einer Bibliothek findet sie ein Buch über ihre Mutter und ihren Großvater Amon Göth. Millionen Menschen kennen Göths Geschichte. In Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ ist der brutale KZKommandant der Saufkumpan und Gegenspieler des Judenretters Oskar Schindler. Göth war verantwortlich für den Tod tausender Menschen und wurde 1946 gehängt. Seine Lebensgefährtin Ruth Irene, Jennifer Teeges geliebte Großmutter, begeht 1983 Selbstmord. Jennifer Teege ist die Tochter einer Deutschen und eines Nigerianers. Sie wurde bei Adoptiveltern groß und studierte in Israel. Jetzt ist sie mit einem Familiengeheimnis konfrontiert, das sie nicht mehr ruhen lässt. Wie kann sie ihren jüdischen Freunden noch unter die Augen treten? Und was soll sie ihren eigenen Kindern erzählen? Jennifer Teege beschäftigt sich intensiv mit der Vergangenheit. Sie trifft ihre Mutter wieder, die sie viele Jahre nicht gesehen hat. Gemeinsam mit der Journalistin Nikola Sellmair recherchiert sie ihre Familiengeschichte, sucht die Orte der Vergangenheit noch einmal auf, reist nach Israel und nach Polen. Schritt für Schritt wird aus dem Schock über die Abgründe der eigenen Familie die Geschichte einer Befreiung Jennifer Teege, Jahrgang 1970, ist die Tochter einer Deutschen und eines Nigerianers. Mit vier Wochen wurde sie ins Kinderheim gebracht, mit sieben Jahren zur Adoption freigegeben. Sie hat vier Jahre in Israel gelebt und dort studiert. Seit 1999 Texterin und Konzeptionerin in der Werbebranche. Sie lebt in Hamburg. PROLOG Die Entdeckung Es ist der Blick der Frau, der mir bekannt vorkommt. Ich stehe in der Hamburger Zentralbücherei und halte ein Buch mit rotem Einband in der Hand, das ich eben aus dem Regal gezogen habe. Vorne ist das Schwarz-Weiß-Porträt einer Frau mittleren Alters aufgedruckt. Ihr Blick ist nachdenklich, er hat etwas Angestrengtes, Freudloses. Ihre Mundwinkel zeigen nach unten. Sie sieht unglücklich aus. Ich überfliege den Untertitel: „Die Lebensgeschichte von Monika Göth, Tochter des KZ-Kommandanten aus "Schindlers Liste„“. Monika Göth! Ich kenne diesen Namen. So heißt meine Mutter. Meine Mutter, die mich einst ins Kinderheim gab und die ich seit vielen Jahren nicht gesehen habe. Auch ich hieß einmal „Göth“, ich wurde geboren mit diesem Namen, schrieb „Jennifer Göth“ auf meine ersten Schulhefte – bis mich meine Mutter zur Adoption freigab und ich den Nachnamen meiner Adoptiveltern annahm. Damals war ich sieben Jahre alt. Was soll der Name meiner Mutter auf diesem Buch? Ich starre auf den Einband. Im Hintergrund, nur als Schatten hinter dem Schwarz-Weiß-Foto der Frau erkennbar, ist ein Mann mit geöffnetem Mund und einem Gewehr in der Hand zu sehen. Das muss der KZ-Kommandant sein. Hastig schlage ich das Buch auf und beginne zu blättern, zuerst langsam, dann immer schneller. Es enthält nicht nur Text, sondern auch viele Fotos. Die Menschen auf den Bildern – habe ich die nicht schon mal gesehen? Eines zeigt eine junge große Frau mit dunklem Haar, sie erinnert mich an meine Mutter. Auf einem anderen sitzt eine ältere Frau im Englischen Garten in München, sie trägt ein geblümtes Sommerkleid. Ich habe nur wenige Bilder von meiner Großmutter, ich kenne jedes genau: Auf einem davon trägt sie genau dieses Kleid. Unter dem Foto im Buch steht „Ruth Irene Göth“. So hieß meine Großmutter. Ist das meine Familie? Sind das Fotos meiner Mutter und meiner Großmutter? Aber nein, das ist absurd: Es kann nicht sein, dass es ein Buch über meine Familie gibt – und ich weiß nichts davon! Schnell blättere ich weiter. Ganz hinten, auf der letzten Seite des Buches, finde ich eine Biographie, sie beginnt so: Monika Göth, geboren 1945 in Bad Tölz. Ich kenne diese Daten. Aus meinen Adoptionsunterlagen. Hier stehen sie, schwarz auf weiß. Es ist wirklich meine Mutter. Hier geht es um meine Familie. Ich klappe das Buch zu. Es ist still. Irgendwo im Lesesaal hustet jemand. Ich will hier raus, schnell, will allein sein mit diesem Buch. Ich umklammere es wie einen wertvollen Schatz, schaffe es die Treppen hinunter und durch die Ausleihe. Das Gesicht der Bibliothekarin, der ich das Buch hinschiebe, nehme ich gar nicht wahr. Ich gehe auf den weiten Platz vor der Bibliothek. Meine Knie geben nach. Ich lege mich auf eine Bank, schließe die Augen. Hinter mir rauscht der Verkehr. Mein Auto steht gleich gegenüber, aber ich kann jetzt nicht fahren. Ein paarmal richte ich mich auf und überlege, ob ich weiterlesen soll. Mir graut davor. Ich möchte das Buch zu Hause lesen, in Ruhe, von Anfang bis Ende. Es ist ein warmer Augusttag, aber meine Hände sind eiskalt. Ich wähle die Nummer meines Mannes: „Du musst kommen und mich abholen, ich habe ein Buch gefunden. Über meine Mutter und meine Familie.“ Warum hat meine Mutter mir nie etwas gesagt? Bin ich ihr so wenig wert, immer noch? Wer ist dieser Amon Göth? Was genau hat er gemacht? Warum weiß ich nichts von ihm? Wie war das noch mal mit „Schindlers Liste“, mit den Schindler-Juden? Es ist lange her, seit ich den Film gesehen habe. Ich erinnere mich noch, dass es Mitte der neunziger Jahre war, während meiner Studienzeit in Israel. Alle sprachen über Steven Spielbergs Holocaust-Drama. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 115 Leseprobe Leseprobe Ich sah es erst später im israelischen Fernsehen, allein in meinem WG-Zimmer in der Rehov Engel, der Engel-Straße in Tel Aviv. Ich weiß noch, dass ich den Film berührend fand; gegen Ende dann ein bisschen kitschig, zu sehr Hollywood. „Schindlers Liste“ war für mich nur ein Film, er hatte nichts mit mir zu tun. Warum hat mir keiner die Wahrheit gesagt? Haben mich alle all die Jahre belogen? KAPITEL 1 Ich, Enkelin eines Massenmörders In Deutschland ist der Holocaust Familiengeschichte. (Raul Hilberg) Geboren wurde ich am 29. Juni 1970, als Tochter von Monika Göth und eines nigerianischen Vaters. Ich war vier Wochen alt, da brachte mich meine Mutter in ein katholisches Kinderheim. In der Obhut von Nonnen wuchs ich auf. Mit drei Jahren kam ich zu einer Pflegefamilie, die mich im Alter von sieben Jahren adoptierte. Meine Haut ist schwarz, die meiner Adoptiveltern und meiner beiden Adoptivbrüder weiß. Jeder sah, dass ich nicht das leibliche Kind sein konnte. Aber meine Adoptiveltern beteuerten stets, sie würden mich genauso lieben wie ihre eigenen Kinder. Sie spielten, bastelten und turnten in Eltern-Kind-Gruppen mit mir und meinen Brüdern. Mit meiner leiblichen Mutter und meiner Großmutter hatte ich als Kind noch Kontakt, der dann später abriss. Das letzte Mal traf ich meine Mutter, da war ich einundzwanzig. Jetzt, mit achtunddreißig Jahren, finde ich dieses Buch. Warum bloß habe ich es unter Hunderttausenden von Büchern herausgezogen? Gibt es so etwas wie Schicksal? Der Tag hatte normal begonnen. Mein Mann war ins Büro gegangen, ich hatte meine Söhne in den Kindergarten gebracht und war weiter in die Stadt gefahren. Ich wollte noch kurz in die Bücherei. Ich bin oft hier. Ich mag die konzentrierte Stille, die leisen Schritte, das Rascheln der Buchseiten, die gebeugten Rücken der lesenden Besucher. In der Psychologieabteilung hatte ich nach Informationen über Depressionen gesucht. Auf Hüfthöhe, zwischen Erich Fromms „Die Kunst des Liebens“ und einem Buch mit dem Allerweltstitel „In der Krise liegt die Kraft“, stand das Buch mit dem roten Einband. Auf dem Buchrücken las ich: „Matthias Kessler: Ich muß doch meinen Vater lieben, oder?“ Der Name des Autors sagte mir nichts, aber der Titel klang interessant. Also zog ich das Buch heraus. Mein Mann Götz findet mich auf der Bank vor der Bibliothek liegend. Er setzt sich neben mich, betrachtet das Buch, blättert es kurz durch. Ich nehme es ihm schnell weg. Ich will nicht, dass er zuerst darin liest. Das Buch ist meins, der Schlüssel zu meiner Familiengeschichte. Der Schlüssel zu meinem Leben, nach dem ich all die Jahre gesucht hatte. Mein ganzes Leben hatte ich das Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmt: Meine Traurigkeit, die Depressionen. Aber ich fand einfach nicht heraus, was so grundlegend falsch war. Götz nimmt meine Hand, wir gehen zu seinem Wagen. Auf der Fahrt nach Hause spreche ich kaum. Mein Mann nimmt sich den Rest des Tages frei und kümmert sich um unsere beiden Söhne. Ich lasse mich aufs Bett fallen, lese und lese, bis zur letzten Seite. Es ist schon dunkel, als ich den Band zuklappe. Ich setze mich an den Computer und recherchiere die ganze Nacht, lese alles über Amon Göth, was ich finden kann. Es ist, als würde ich in ein Gruselkabinett eintreten. Ich lese über seine Ghettoräumungen in Polen, seine sadistischen Morde, seine auf Menschen abgerichteten Hunde. Erst jetzt wird mir das Ausmaß der Verbrechen bewusst, die Amon Göth begangen hat. Himmler, Goebbels, Göring – diese Figuren sind mir sofort präsent. Was Amon Göth genau getan hat, wusste ich nicht. Nach und nach wird mir klar, dass die Filmfigur in „Schindlers Liste“ keine fiktive Figur war, sondern ein reales Vorbild aus Fleisch und Blut hatte. Meinen Großvater. Einen Mann, der reihenweise tötete und dem das auch noch Freude bereitete. Ich bin die Enkelin eines Massenmörders. Jennifer Teege hat eine warme dunkle Stimme mit Münchner Einschlag, einem leicht rollenden „R“. Ihr Gesicht ist klar und ungeschminkt, die eigentlich krausen Haare sind zu langen schwarzen Locken geglättet, die schmalen langen Beine stecken in engen Hosen. Wenn sie einen Raum betritt, drehen sich die Köpfe, die Männer schauen ihr nach. Sie geht sehr gerade, ihr Schritt ist fest und entschieden. Ihre Freunde beschreiben Jennifer Teege als selbstbewusste Frau, voller Neugier und Abenteuerlust. Eine Studienfreundin sagt über sie: „Wenn sie von einem spannenden Land hörte, rief sie: Das kenne ich noch nicht, da fahr ich hin! Und sie zog los, nach Ägypten, Laos, Vietnam und Mosambik.“ Doch wenn sie über ihre Familiengeschichte spricht, zittern immer wieder ihre Hände, und sie weint. Der Fund des Buches mit der Bibliothekssignatur Mcm O GOET#KESS ist der Moment, der Jennifer Teeges Leben zerschneidet, der es teilt in ein Davor und ein Danach: Davor, ohne das Wissen um ihre Herkunft. Danach, mit dem Wissen um die Geschichte ihrer Familie. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 116 Leseprobe Leseprobe Die Geschichte ihres Großvaters kennt die ganze Welt: In Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ ist der grausame KZKommandant Amon Göth Saufkumpan und Gegenspieler des gleichaltrigen Oskar Schindler: Judenmörder gegen Judenretter. Eine Filmszene hat sich ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt: Amon Göth, wie er vom Balkon seiner Villa aus Häftlinge erschießt, seine Form von Morgengymnastik. Amon Göth war als Kommandant des Konzentrationslagers Płaszów in Krakau verantwortlich für den Tod Tausender Menschen. 1946 wurde er in Krakau gehängt, seine Asche in die Weichsel gestreut. Amon Göths Lebensgefährtin Ruth Irene, Jennifer Teeges geliebte Großmutter, leugnete später seine Verbrechen. 1983 brachte sie sich mit Schlaftabletten um. Jennifer Teeges deutsche Geschichte: der Opa ein Nazitäter, die Oma eine Mitläuferin. Die Mutter aufgewachsen mit dem bleiernen Schweigen der Nachkriegszeit. Das also ist ihre Familie. Das sind ihre Wurzeln, die sie, das Adoptivkind, immer gesucht hat. Und sie, wer ist dann sie? Alles, was mein Leben bis dahin ausgemacht hat, stelle ich nun in Frage: die enge Beziehung zu meinen beiden Adoptivbrüdern, meine Freundschaften in Israel, meine Ehe, Ein Original der Schindler-Liste, gefunden 1999 auf dem Dachboden eines Hauses in Hildesheim, vor einem Foto Oskar Schindlers (Mitte) meine zwei Söhne. War mein ganzes Leben eine Lüge? Ich komme mir vor, als sei ich unter falschem Namen unterwegs gewesen, als hätte ich alle betrogen. Dabei bin ich diejenige, die betrogen wurde: um meine Geschichte. Um meine Kindheit. Um meine Identität. Ich weiß nicht mehr, zu wem ich gehöre. Zu meiner Adoptivfamilie oder zur Familie Göth? Ich kann es mir nicht aussuchen: Ich bin eine Göth. Als ich mit sieben Jahren, nach der Adoption, den Namen Göth ablegte, schien das leicht. Ein Dokument wurde aufgesetzt. Meine Adoptiveltern fragten, ob der Namenswechsel für mich in Ordnung sei. Ich sagte ja. Nach meiner leiblichen Mutter wagte ich danach nicht mehr zu fragen. Ich wollte endlich eine normale Familie. Bei meinen Recherchen zu Amon Göth stoße ich im Internet auch auf einen Bericht über eine Sendung im Kulturkanal „arte“: Ein amerikanischer Filmemacher hat die Begegnung meiner Mutter mit Helen Rosenzweig, ehemals KZ-Häftling und Dienstmädchen in der Villa meines Großvaters, dokumentiert. Zufällig wird der Film schon am folgenden Abend in deutscher Erstausstrahlung im Fernsehen zu sehen sein. Erst das Buch, dann dieser Film – es ist alles zu viel, es kommt alles zu schnell. Mit meinem Mann sitze ich abends vor dem Fernseher. Gleich zu Beginn tritt meine Mutter auf. Ich beuge mich vor, ich will genau sehen: Wie sieht sie aus, wie bewegt sie sich, wie spricht sie? Bin ich ihr ähnlich? Ihre Haare hat sie jetzt kupferblond getönt, sie sieht verhärmt aus. Ich mag ihre Art, sich auszudrücken. Als Kind war sie für mich nur meine Mutter. Kinder registrieren nicht, ob jemand eher einfach oder gebildet ist. Erst jetzt merke ich: Meine Mutter ist eine kluge Frau, sie sagt interessante Dinge. Im Dokumentarfilm wird auch eine Schlüsselszene aus „Schindlers Liste“ gezeigt, in der die jüdische Bauleiterin dem frisch ernannten Kommandanten Amon Göth erklärt, dass die Lagerbaracken nicht richtig geplant seien – da lässt Amon Göth, gespielt von Ralph Fiennes, die Frau einfach erschießen. Sie sagt noch: „Herr Kommandant, ich bemühe mich doch nur, meine Arbeit gut zu machen.“ Da antwortet Fiennes als Göth: „Ich mich auch.“ Ich erinnere mich jetzt wieder besser an den Film. Die Szene hat mich erschüttert, denn sie zeigt so klar, was man sich kaum vorzustellen vermag: Es gibt keine Grenzen und keine Hemmschwellen im Lager, Vernunft und Menschlichkeit sind abgeschafft. Was soll ich, mit meiner dunklen Haut, mit Freunden in der ganzen Welt, bloß mit diesem Großvater? War er es, der meine Familie zerstörte? Fiel sein Schatten erst auf meine Mutter, schließlich auf mich? Kann es sein, dass ein Toter immer noch Macht hat über die Lebenden? Haben die Depressionen, die mich seit langem quälen, auch mit meiner Herkunft zu tun? Dass ich fünf Jahre in Israel gelebt und studiert habe – war das Zufall oder Bestimmung? Muss ich jetzt anders mit meinen jüdischen Freunden reden, jetzt, da ich weiß: Mein Großvater hat eure Verwandten umgebracht? Ich träume: Ich schwimme in einem dunklen See, das Wasser zäh wie Teer. Plötzlich tauchen neben mir Leichen auf. Spindeldürre Gestalten, Skelette fast, denen alles Menschliche genommen wurde. Weshalb hatte meine Mutter es nicht für nötig befunden, mich über meine Herkunft aufzuklären? Wieso erzählt sie anderen Dinge, die auch ich hätte unbedingt wissen müssen? Sie hat mir nie die Wahrheit gesagt. Aber ich brauche die Wahrheit. Ich muss an Theodor W. Adornos berühmten Satz denken: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Er war damals anders gemeint, aber jetzt scheint er mir perfekt auf mein Leben zu passen. Unsere Beziehung war schwierig, unsere Treffen waren sporadisch – aber sie ist trotz allem meine Mutter. Im Buch über Monika Göth wird auch das Jahr 1970 erwähnt, mein Geburtsjahr. Für mich hat meine Mutter kein einziges Wort. Sie schweigt mich tot. Immer wieder betrachte ich das Foto im Buch, auf dem sie so aussieht, wie ich sie aus Kindertagen in Erinnerung habe. Tief in mir öffnet sich eine Schublade nach der anderen: Meine ganze Kindheit kommt hoch, die Gefühle aus der Zeit im Heim – Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit. Ich fühle mich wieder hilflos wie ein kleines enttäuschtes Kind und bin nicht mehr fähig, mein Leben zu regeln. Ich will schlafen, nur schlafen, oft bleibe ich bis mittags im Bett. Mir ist alles zu viel: aufstehen zu müssen, sprechen zu müssen. Sogar das Zähneputzen ist eine Last. Der Anrufbeantworter ist eingeschaltet, ich schaffe es nicht, jemanden zurückzurufen. Ich treffe mich nicht mehr mit Freunden, sage Einladungen ab. Was könnte ich. © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 117 Leseprobe Leseprobe von Treuenfeld, Andrea: Zurück in das Land, das uns töten wollte | Gütersloher Verlagshaus ET: 26. Januar 2015 | ISBN: 978-3-579-07087-2Gebunden mit zahlreichen Abbildungen | 272 Seiten | € 24,99 Andrea von Treuenfeld lässt in diesem Buch 16 jüdische Frauen, die aus Deutschland flohen und wieder zurückkehrten, ihre persönliche Geschichte erzählen. Wie war es möglich, gerade in dem Land wieder Heimat zu suchen, in dem sie verfolgt wurden und umgebracht werden sollten? Ausgerechnet in dem Land, in dem sie ihre Familie verloren hatten? Was erlebten diese Frauen auf ihrer Flucht und auf ihrem Weg zurück? Und allem voran: Wie fühlt es sich überhaupt an, nach Auschwitz Jüdin in Deutschland zu sein? Diese erschütternden wie beeindruckenden Berichte von letzten Zeitzeugen verdienen es, gehört und bewahrt zu werden. Mit einem Vorwort von Christian Berkel Andrea von Treuenfeld, geboren 1957, hat in Münster Publizistik und Germanistik studiert und nach einem Volontariat bei einer überregionalen Tageszeitung lange als Kolumnistin, Korrespondentin und Leitende Redakteurin für namhafte Printmedien, darunter Welt am Sonntag und Wirtschaftswoche, gearbeitet. Heute lebt sie in Berlin und schreibt als freie Journalistin Porträts und Biografien. Im Gütersloher Verlagshaus erschien bereits ihr Buch „In Deutschland eine Jüdin, eine Jeckete in Israel“. Vorwort von Christian Berkel Christian Berkel, geboren 1957, ist Schauspieler und Sohn einer jüdischen Mutter, die 1938 aus Berlin nach Paris floh, dort 1940 verhaftet und in das Internierungslager Gurs verschleppt wurde, freikam und sich bis zum Ende des Krieges in Leipzig versteckte. Sie emigrierte 1947 nach Argentinien und kehrte 1955 nach Berlin zurück. Was wäre, wenn ...? Mit dieser Frage beginnt jede Geschichte, sie steht am Anfang jedes Lebens. Es sind zunächst die Träume von Eltern, die sich ein Leben für ihr Kind wünschen, das meist aus ihren eigenen Sehnsüchten gezimmert ist. So sind wir nun mal. Irgendwann erreicht dieses Kind ein Alter, in dem es selber diese Frage stellt, in dem es beginnt, sich seine Identität durch Interpretation der Umstände, in die es hineingeboren wurde, zu erschaffen, oder, etwas sachlicher, zu konstruieren. Jede Lebenskrise verlangt von uns eine Neuinterpretation, eine Wiederherstellung unserer durch Verlust und Schmerz angeschlagenen Identität. Verletzungen treiben vorübergehend in die Einsamkeit, weil diese Erfahrungen selten teilbar sind, weil es unsere ganze Kraft braucht, um sie durch den Vorgang der Trauer anzunehmen und in unser neues Leben zu integrieren. Auch wenn wir es auf dem Höhepunkt einer Krise anders empfinden mögen, ist es meist nur ein Bereich unserer Identität, der betroffen ist, ein Raum des Hauses, das uns Schutz bietet. Aber was geschieht, wenn die tragenden Wände eingerissen werden, wenn man uns unsere Heimat und unsere Sprache nimmt, unsere Familien, die Menschen, die wir lieben, wenn wir mit einem Mal alles verlieren, was uns Halt gibt, wenn man uns das Recht auf eine freie, selbstbestimmte Existenz verweigert, wenn man droht, uns zu vernichten, uns zu ermorden? Was geschieht, wenn etwas vollkommen Unvorhergesehenes und Unvorhersehbares eintritt, etwas, das einen Bruch mit den Grundlagen der menschlichen Zivilisation markiert, etwas noch nie Dagewesenes, etwas, wovor alle erlernten Interpretationshilfen versagen müssen, ein systematischer, klug und umsichtig organisierter, ein industriell durchgeführter Völkermord mit den modernsten technischen Mitteln, menschenverachtend, ohne einen Moment der Empathie? Wie würde das unser Leben verändern, sofern wir zu den Überlebenden gehören würden, zu den Menschen, die fliehend die Bürde dieses Glücks in andere Länder, andere Kontinente tragen müssten? Und was würde es bedeuten, in dieses Land zurückzukehren? Andrea von Treuenfeld gibt mit ihrem Buch einige der komplexesten Antworten auf diese Fragen, indem sie auf historische Interpretation verzichtet und das Wort dem Leben gibt, den Frauen, die vor diese Fragen gestellt wurden, deren Lebensläufe sie einfühlsam aufgezeichnet hat. Beim Lesen fragte ich mich jedes Mal, bei jedem Leben, welche verletzende Mühe es diese Frauen gekostet haben muss, in ihre Vergangenheit, eine Vergangenheit, die sie nicht mehr loslassen konnten, weil sie sie nie mehr losgelassen hat, emotional zurückzukehren, die Reise rückwärtsgehend nochmal zu durchleiden? Und ich habe mich gefragt, warum sie es getan haben? Die eingangs erwähnte Einsamkeit durch Verlust tritt dem Leser in jeder Zeile und zwischen den Zeilen entgegen. Sie ist ein trauriges Geschenk, ein Angebot, ein Versuch, das Unverständliche zu sagen, sich uns mitzuteilen. Ich kann mir nach der Lektüre dieser Lebensgeschichten nichts Großzügigeres vorstellen als die Bereitschaft zum Erzählen, auch da, wo es nicht versöhnlich ist. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 118 Leseprobe Leseprobe Einführung „Und dann gingen meine Eltern auf die Suche nach Verwandten, Bekannten, nach irgendjemandem, der überlebt hatte", sagt Bela Cukierman über die ersten Tage in ihrer Geburtsstadt Berlin. Sie war zehn Jahre alt und eine der wenigen, die mit Familie zurückkam. Die überhaupt noch Familie hatte. Gerda Rosenthal wusste während des Krieges nichts von ihrer, auch Ruth Hacohen hoffte vergeblich auf Nachricht. Erst Jahre später in Palästina hörten sie, dass ihre Eltern deportiert und ermordet worden waren. Dennoch wohnen sie beide heute in Frankfurt. Anita Lippert überlebte Theresienstadt, Ruth Galinski in einem Versteck in der Tatra. Und auch sie gingen wieder nach Deutschland. Wie hält man das aus, zurückzukehren in dieses Land? In das Land, das Verwandte und Freunde umgebracht und Unbeschwertheit, Vertrauen und Zukunft zerstört hat. Das Land, das auch die 16 Frauen töten wollte, die ich – auf der Suche nach einer Antwort – gebeten habe, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Ihre Kindheit haben sie in Berlin oder Stettin verbracht, in Framersheim oder Frankfurt. Fröhlich und behütet und in dem Glauben, dass sich das niemals ändert. Bis sie als Jüdin – was ihnen bis zu diesem Moment nicht einmal bewusst war, und wenn doch, dann sicher nicht als Makel – ausgegrenzt wurden. Anfangs noch schleichend, dann immer brutaler. Erst war es die Freundin, die sich wortlos abwandte. Dann die Schule, die für sie verschlossen blieb. Schließlich der Absturz in die Armut, weil der Vater seine Arbeit verlor. Und dann die allgegenwärtige Bedrohung, die Angst vor der Verhaftung. Zum Schluss blieb nur noch die Furcht vor dem Ungewissen, als sie abgeschoben wurden, untertauchen mussten oder gerade noch rechtzeitig auswandern konnten. Sie emigrierten nach Shanghai und Uruguay, nach Brasilien und natürlich nach Palästina. Sie flohen jahrelang von einem besetzten Gebiet in das nächste oder durften das kommunistische Rumänien jahrzehntelang nicht mehr verlassen. Sie wurden getaufte Katholikinnen oder überzeugte Israelinnen. Sie haben Familien gegründet und sich eingerichtet in ihrem neuen Leben. Sie haben keinen deutschen Pass und mehr Angst vor Antisemitismus als damals. Und doch gehören auch sie zu jenen Juden, die sich nach 1945 für eine Wiederkehr entschieden – oftmals gegen großen Widerstand. Sie wurden angegriffen von Überlebenden, die eine Remigration in das Land der Täter verurteilten und abgelehnt von einem Teil der deutschen Bevölkerung, der sich, in dem Bestreben, die eigene Vergangenheit und die damit verbundenen Gräueltaten der Nationalsozialisten zu verdrängen, plötzlich wieder mit dieser konfrontiert sah. Warum also dieser schwere Rück-Schritt an einen Ort, der nach dem Holocaust niemals wieder Heimat sein konnte? Die eine, alles erklärende Antwort habe ich nicht gefunden in den Gesprächen mit diesen Frauen. Die Gründe für ihre Remigration sind ebenso vielfältig wie ihre Biografien und auch nur aus diesen zu verstehen. Gefunden aber habe ich in ihren Erzählungen das Unvorstellbare. Das Grauen, das in den kleinen, fast nebenbei berichteten Episoden für einen kurzen Augenblick wieder präsent ist. Die daraus resultierenden Traumata, lange verborgen und doch nie vergessen. Offen sprachen sie über viel zu früh geschlossene Ehen, die zum Ersatz für das verlorene Zuhause wurden. Und über bittere Entscheidungen, wie die, aus Armut die Schule abzubrechen und somit den Traum vom Studium ebenso vergessen zu müssen wie all die anderen Brüche, die das Leben dieser Jüdinnen prägten. Geblieben ist ihnen das Gefühl der Zerrissenheit, die Suche nach Zugehörigkeit. Denn obwohl sie sich vor Jahrzehnten wieder hier niedergelassen haben, ist dieses Land nicht mehr ihr Land. Aus diesem Grund, und auch um ihre Authentizität zu wahren, sind Satzstellung und Wortwahl dieser Zeitzeuginnen, denen ich dankbar bin, dass sie mich an ihren Erinnerungen teilhaben ließen, weitgehend beibehalten worden. Bela Cukierman, geboren als Bela Wolff am 11. Juni 1940 Berlin - Shanghai (China) - Hadera, Jerusalem (Israel) – Berlin Die deutschen Juden gibt es eigentlich nicht mehr. Deutsche Juden, die die Möglichkeit hatten, nach England, nach Amerika auszuwandern, die sind nicht zurückgekommen. Zurückgekommen sind Leute wie meine Eltern, die nicht zurechtkamen in Palästina. Im September 1940 sind wir weg. Erst durch Polen, weiter mit der Transsibirischen Eisenbahn, dann über den Landweg nach Harbin, von da zur Küste und mit dem Schiff nach Shanghai. Um Weihnachten herum sind wir angekommen, aber wir sind nicht ununterbrochen gefahren, es gab auch Stopps. Vom Baikalsee hat meine Mutter gesprochen und auch von der unendlichen Ödnis in der Eisenbahn. In Polen und in Russland gab es jüdische Gruppen, die zum Bahnhof kamen und uns mitgenommen haben zu sich nach Hause. Dann durfte sie mich baden oder sie konnte mal schlafen. Zum Glück konnte sie mich stillen. Sie hat immer gesagt, wenn ihr die Milch ausgegangen wäre, wäre ich verhungert. Darum gibt es auch wenige in meinem Alter. Als ich später wieder nach Berlin kam, da waren die meisten in der Jugendgruppe in den Zwanzigerjahren oder Anfang der Dreißiger geboren. Und dann gab es die ab 1947 Geborenen. Meine Altersgruppe von 1939/40, das sind nur ein paar. Man bekam schon Kinder, aber die starben wegen Entkräftung oder wurden umgebracht.. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 119 Leseprobe Leseprobe Ich bin noch im Jüdischen Krankenhaus Berlin zur Welt gekommen. Meine Eltern hatten 1938 in Berlin geheiratet und wohnten in der Kantstraße. Mein Vater kam, was ja sehr üblich war, aus einer Viehhändlerfamilie. Und er war Viehhändler sein ganzes Leben lang. Meine Mutter ist in Weißensee groß geworden und war vor dem Krieg gelernte Verkäuferin. Man sagt, sie war sehr hübsch. Ihre Familie und auch die meines Vaters stammten aus Westpreußen, und 1919/20 mussten die Leute dort optieren, ob sie Deutsche oder Polen sein wollten. Sie sprachen kein Polnisch, entschieden sich für Deutschland und kamen so nach Berlin. Von dort sind meine Eltern nicht früher weggegangen, weil mein Vater dachte, das kann ja nicht so dämlich sein, das deutsche Volk, Hitler wird sich nicht halten. Aber als die Sache hier immer enger wurde, schrieb meine Mutter an die Schwester meines Vaters, die mit Mann und Sohn schon nach Shanghai ausgewandert war, dass sie uns auch Papiere schicken sollten. Als ihre Papiere kamen, war ich in der Zwischenzeit geboren. Die Eltern meines Vaters haben dann alles verkauft, was sie hatten, um so noch die Papiere für mich zu bezahlen. Sie waren auch schon in Shanghai. Das war eine freie Stadt, deshalb konnte man dorthin. Es war anfangs nicht das Problem, aus Deutschland heraus zu kommen. Es war das Problem, wo man rein konnte. Nach Shanghai waren die Juden ursprünglich um 1870 gegangen, nach den Opiumkriegen. Die Stadt war als Konzession an die Engländer gegeben worden, und dank des Hafens wurde dort Handel getrieben. Somit kamen nicht nur Soldaten, sondern auch Handelstreibende. Und dabei waren auch die Familien Sassoon, Kadoorie und Mizrahi, ehemals irakische Juden, die eine sehr vermögende Gemeinde bildeten. Eine weitere Gruppe war die der russischen Juden, die bei der Revolution geflohen waren. Schon 1941, nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, mussten die deutschen Juden ins Ghetto. Die Japaner waren die Alliierten der Deutschen, und als eine SS-Delegation geschickt wurde, erklärte die den Japanern, wie sie mit den Juden umzugehen hatten. Die Japaner wollten sich nun nicht mit allen Europäern anlegen und haben als Kompromisslösung die Engländer interniert und nur die Staatenlosen ins Ghetto geschickt. Da die deutschen Juden, die mit dem „J-Pass", bei ihrer Auswanderung die deutsche Staatszugehörigkeit abgeben mussten, waren sie staatenlos. Die etablierten Juden waren nicht betroffen und finanzierten das Ghetto in Hongkou. Tragischerweise haben sie irgendwann gesagt: „Wir können nicht mehr als 20.000 Menschen unterstützen." Und das war der Stopp. Parallel dazu verlief die Entwicklung des Krieges. Die Emigration durch Russland, die wir gemacht haben, ging ja nur so lange, bis der Russland-Feldzug der Nazis begann. Ab dann war dieser Schlupfwinkel unerreichbar. Das Ghetto in Hongkou, das war der alte Hafen von Shanghai. Die dort lebenden Kulis und Arbeiter wurden von den Japanern rausgesetzt und uns haben sie reingesetzt. Die Japaner waren sehr brutal mit den Chinesen. Ich weiß noch, dass ich mit meinem Vater auf der Garden Bridge war, die über den Yangtse führt, und plötzlich mussten sich neben uns Chinesen knien und Japaner haben sie erschossen. Oder sie haben angeordnet, dass alle gegen Typhus geimpft werden. Es wurde eine Straße gesperrt und dann wumm, wumm, wumm – jeder, der vorbeikam, wurde geimpft. Im Ghetto war es heiß, primitiv und es herrschte eine unvorstellbare Armut. Die Chinesen haben deshalb ihre Kinder zum Betteln verstümmelt. Es war schmutzig und es stank, es gab keine Toiletten. Morgens kamen die Lastenträger, um die Kübel abzuholen, die sie mit Stangen auf den Schultern trugen. Man wurde krank in diesen unhygienischen Verhältnissen. Die Menschen starben an Tbc, die Toten lagen in Tücher gewickelt auf den Straßen. Ich bekam das sogenannte Shanghai-Fieber, habe meine Eltern gar nicht mehr erkannt. Aber ich hatte Glück, die Amerikaner waren schon da und die hatten Penicillin. Es waren nur ein paar Straßen, aber es war eine Welt für sich. Es gab japanische Polizei, die eine jüdische Ghetto-Polizei ernannt hatte. Es gab Schulen, aber ich wurde mit drei, vier anderen Kindern von einer Familie unterrichtet. Dafür hat mein Vater ihnen Fleisch gebracht, man war ja zurückgefallen auf die Tauschebene. Später ging ich dann in die Kadoorie-Schule. Es gab Ärzte. Es gab Cafés, das „Little Vienna" zum Beispiel, wo perfekte Mozartkugeln gemacht wurden. Das waren Wiener, die die Zutaten handelten mit den Chinesen. Es waren alles deutschsprachige Juden, auch die Kinder auf der Straße sprachen Deutsch und in der Schule Englisch. Zu Hause haben wir auch nur Deutsch gesprochen. Und Oma hat erzählt von den „Nesthäkchen"-Kinderbüchern und von deutschen Schauspielerinnen. Was mich heute wundert: Wenn ich jetzt, mehr als 80 Jahre nach der Machtergreifung, diese Filme im Fernsehen sehe und diese Musik höre, dann kenne ich die ganzen Texte. Wir lebten ja quasi in einer deutschen Welt in Shanghai. Wir hatten dort die fünfte Kolonne und deren Musik wurde auch gespielt. Wenn man die als Kind hört, erinnert man sich vielleicht daran. Viele Menschen lebten vom Geld der reichen jüdischen Familien. Aber wir waren nicht auf Sozialhilfe angewiesen, meine Eltern arbeiteten. Mein Vater hat alles gemacht. Es gab dieses Hotel am Bund, der Prachtstraße, „Peace Hotel" heißt es heute, und da hat er Koffer getragen. Er war sehr kräftig, vor dem Krieg war er Amateurboxer gewesen. Dann hat die ganze Familie angefangen mit dem Fleischhandel. Alles, was es so gab, Hühnchen oder eine Ziege. Sie hatten einen Stand auf dem Markt in Hongkou und da haben der Großvater und mein Vater und sein Bruder Vieh an die Chinesen verkauft. Meine Mutter hat mitgeholfen am Nachmittag. Am Abend hat sie als Kellnerin gearbeitet oder für Geschäfte, wo man alte Pullover auftrennte und aus der Wolle neue strickte. Heimarbeit sozusagen. Man verkaufte, was man besaß. Meine Großmutter hatte wunderschöne Tischdecken gestickt, als mein Opa im Ersten Weltkrieg war, und die haben sie verkauft. Sie haben ihre Bettwäsche verkauft. Alles, was sie mitgebracht hatten. Sie durften keinen Ehering mitnehmen, kein Gold. Und als wir gingen, durfte man pro Kopf nur noch ein Gepäck-stück haben. Meins war der Kinderwagen. Wir waren eine große Gruppe. Da waren meine Großmutter und mein Großvater väterlicherseits und sein Bruder und dessen Frau. Die kamen mit Sohn und Schwiegertochter. Außerdem der Bruder meines Vaters und dessen Frau, die dort 1947 einen Sohn bekamen, und die Schwester meines Vaters mit Mann und Sohn. Wir waren also sehr stark als Familie, wohnten zusammen, und meine Oma kochte für alle. Wir waren eine Einheit, und dadurch war die Belastung nicht so groß. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 120 Leseprobe Leseprobe In Europa war der Krieg im Mai 1945 zu Ende. In Shanghai nicht. Die Leute hörten heimlich BBC, was natürlich verboten war, und erfuhren so vom Kriegsende. Sie sind raus auf die Straße und haben gejubelt. Dann kamen die Japaner, haben Menschen verhaftet. Wer ihnen in die Finger kam, den haben sie schon sehr brutal behandelt. Oft auch gefoltert und zu Tode gequält. Wir gingen also wieder nach Hause und die Japaner haben weitergekämpft und erst nach Hiroshima im August 1945 kapituliert. Und dann kamen die Schiffe der Pazifikflotte, die amerikanische Navy! Da waren auch jüdische Soldaten dabei, die gar nicht wussten, dass es uns dort gibt. Sie brachten uns Hershey-Schokolade, und wir waren alle verliebt in diese amerikanischen Soldaten. Dann kam auch der Joint – und das war ganz toll: Die hatten aus Amerika gespendete Sachen dabei. Da durfte man hingehen und sich etwas aussuchen. Ich hab dann ein dunkelrotes Samtkleid bekommen, stand vor dem Spiegel und war hin und weg. Meine Mutter war immer sehr praktisch, ich war Papas Girl. Und als mein Bruder geboren wurde, Mutti war noch im Krankenhaus, hat er mir rote Lackschuhe gekauft. Das war so irre! Uns ging es dann auch gut, relativ. Mein Vater hatte diesen Fleischstand, die ganze Familie hat da gearbeitet. Wir sind umgezogen in das French-Concession-Gebiet. Neben unserer Wohnung lag ein Café, und ich hab auf unserer Terrasse gesessen und zugeguckt, wie die Chinesen Tango tanzten. Das war total westlich. Inzwischen gab es auch Kinos und amerikanische Filme. Und als am 1. August 1948 mein Bruder zur Welt kam, nannten meine Eltern ihn Gary. Nach Gary Cooper, den fand meine Mutter ganz toll. Alle wollten nach Amerika, das war nach dem Krieg das Gelobte Land, aber der größte Teil kam nicht hin. Es gab Quoten, die nach Geburtsjahren gingen, und meine Eltern fielen beide unter die polnische Quote. Obwohl mein Vater aus der Provinz Posen kam und meine Mutter aus Thorn. Aber die polnische Quote war schon ziemlich ausgeschöpft und außerdem brauchte man zwei Bürgen in Amerika. Hatten wir nicht. Wir hatten nirgendwohin einen Bezugspunkt. Nach Deutschland wollte meine Mutter nicht zurück. Logisch. Ihre Mutter starb vor dem Krieg. Ihr Vater und ihre Geschwister, die wurden alle deportiert und umgebracht. Sie hatte zwei Schwestern und zwei Brüder, sie waren verheiratet, hatten auch schon Kinder. Ihr jüngerer Bruder wurde deportiert aus einem Hachschara-Lager, die anderen Geschwister waren in Berlin Zwangsarbeiter und wurden von ihren Arbeitsstellen abgeholt. Nach dem Krieg kamen noch Briefe aus den Lagern, die hat das Rote Kreuz nach Shanghai gebracht. Und dann gab es Listen, da standen die Leute davor und suchten nach den Namen ihrer Familien. Meine Mutter bekam dann Dokumente, auf denen – Deutschland ist ja korrekt – Todesgründe angegeben waren, „Auf der Flucht erschossen" oder so. Aber damit lebten wir ja kein Solitär-Leben. Alle in unserem Kreis lebten so. Ich, als Kind, kannte es nicht anders. Wohin also sollten wir gehen? Israel, meinte der Joint. Es war gerade im Mai gegründet worden. Wir waren keine religiöse Familie, mein Vater konnte nicht sehr gut Hebräisch. Aber es war das Land der Hoffnung. Ein Land, das dich aufnimmt. Wenn Israel existiert hätte 1938 und wenn die Engländer in Palästina nicht die Leute, die ankamen, zurückgeschickt hätten, dann wären alle gerettet worden. Der Joint heuerte italienische Frachtschiffe an, die in Shanghai gestrandet waren. Und je mehr Leute die Italiener mitnahmen, desto mehr wurde bezahlt. Also wurden die Schiffe vollgestopft. Es gab keine Kabinen, nur große Laderäume. Da wurden Etagenbetten rein gebaut. Wir durften in keinen Hafen, weil wir „displaced persons" waren. Staatenlose, die immer außerhalb der Drei-Meilen-Zone bleiben mussten. Als wir vor Kapstadt lagen, haben sich die jüdischen Emigranten, die dort lebten, Boote gemietet und sind zu uns gekommen und haben uns Sachen herauf geworfen. Dabei waren auch Leute, die mein Vater noch aus Berlin kannte. Auf dem Schiff hatten wir zwei, drei Beerdigungen. Da gab es eine kleine Zeremonie und dann wurde der Tote ins Meer geworfen. Wir hatten auch Studenten an Bord, die haben die Kinder unterrichtet. Aber da hab ich nicht teilgenommen, ich war nur seekrank, weil es mörderisch schaukelte. In Neapel erwarteten uns die Carabinieri mit Maschinengewehren und aufgepflanzten Bajonetten. Wir wurden von dem italienischen Schiff auf das israelische gebracht, das war noch kleiner. Unsere Kisten wurden einfach rein gestopft und alles ging kaputt. Als wir im Hafen von Haifa ankamen war Shabbat. Deshalb wurden wir nicht ausgeladen und mussten den Tag über an Bord bleiben. Und dann haben die Musiker auf unserem Schiff die Hatikva gespielt, die Nationalhymne. Das hab ich noch ganz stark in Erinnerung. Und auch die Frauen, die da standen und Sandwiches verteilten, als wir abends vom Schiff durften. Das war die WIZO. Das hat mich so beeindruckt, dass ich später in Berlin in den Vorstand der WIZO gegangen bin. Wir wurden mit den Großeltern auf LKW verladen und kamen in die Beth Olim, die Flüchtlings-lager, in Hadera. Ist heute ein hübsches Städtchen, war damals nur Sand. Da stand so eine Art Hangar, riesengroß und darin Bett an Bett, Feld-betten. Männer, Frauen, dicht an dicht, und die Koffer schob man unter die Betten. Es gab Kantinen, wo man anstand zum Essen. Und Unterricht unterm Baum. Da bin ich aber auch nicht hingegangen, weil ich das schon kannte. Ich hab immer wieder das Einmaleins bis Fünf gelernt. Immer, wenn ich wieder in eine Schule kam, waren die bei demselben Stoff. Auch Moses Auszug aus Ägypten hatte ich ein paar Mal. Wir blieben einige Monate, und es waren schlimmere Zustände als in Shanghai. Das ist kein Vorwurf gegen Israel. Es war gleich nach dem Krieg mit den Arabern, das Land war überfordert. Auch mit den Einwanderern. Sie kamen aus aller Welt und manche hatten eine ganz andere Kultur. Wir verzichteten deshalb sehr schnell auf die Toiletten, gingen halt ins Wäldchen, und nachts heulten da die Schakale. Mit uns war auch der Bruder meines Vaters und dessen Frau und ihr Sohn aus Shanghai gekommen. Diese Tante hat einen Verwandten in Jerusalem ausfindig gemacht, der in der Histadrut war, der Arbeiter-Gewerkschaft. Der hat meinem Vater und meinem Onkel Jobs auf dem Bau verschafft. Das war unser Absprung aus den Beth Olim. Wir sind mit einem Lastwagen von Hadera nach Jerusalem gefahren. Damals war diese Straße gerade freigekämpft worden, heute sind noch die Panzer als Erinnerung an die Schlachten von Latrun zu sehen. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 121 Leseprobe Leseprobe Meine Mutter durfte mit meinem Bruder, weil er das kleinste Baby war, in der Fahrerkabine sitzen und der Rest der Familie, auch die Großeltern, da waren die um die 70, saß oben auf unseren Kisten. In dem Viertel Katamon fanden wir ein Haus ohne Fenster, ohne Türen, ohne Fußböden – und wohnten wieder alle zusammen. Nachts zogen mein Onkel und mein Vater los und hängten Türen in alten, leer stehenden Häusern aus und bei uns ein. Wasser kam aus dem Brunnen, eine Wasserleitung gab es nicht. Aber Kaninchen und Hühner, und Oma hat immer gewartet, dass die Hühner Eier legen, damit sie uns ein paar Nudeln machen konnte. Essen gab es nur auf Marken, es war die Zena-Zeit. Und dann kam ich in die Schule. Das war eine von der Familie Mizrahi gesponserte religiöse Mädchenschule. Ich war aber in dem Viertel das einzige Emigrantenkind. Und das einzige, das kein Ivrit konnte. Die hielten mich für geistig zurückgeblieben. Ich hab Nachhilfeunterricht gehabt, aber ich kam nicht in Tritt mit denen. Jeder hat versucht, Geld zu verdienen. Mein Großvater fand einen Job als Nachtwächter. Abends wurde er zu einer Baustelle gebracht, auf einen Stuhl gesetzt und morgens wieder abgeholt. Er hatte Grauen Star und war schon auf einem Auge erblindet. Mein Vater und mein Onkel fingen auf dem Bau an. Mein Onkel lernte noch Eisenbieger und mein Vater stand in den Gruben und musste immer den Eimer mit dem feuchten Beton auffangen. Papa war 1904 geboren, hatte Shanghai hinter sich und hat irgendwann gesagt, er kann das nicht mehr. Meine Mutter ist dann zu ihrer Cousine in Haifa gefahren, die als Untermieter Offiziere der israelischen Marine aufgenommen hatte. Es ging alles nur mit Protektion, und so bekam sie Arbeit für meinen Vater. Er, der nicht kochen konnte, wurde Koch auf den Schiffen, die nach Tripolis fuhren und Flüchtlinge holten. Er war immer seekrank. Und wenn er in Haifa einlief, dann fuhr meine Mutter, manchmal mit uns Kindern, von Jerusalem aus dort hin. Mein Vater hatte drei, vier Stunden Landaufenthalt und ging dann zurück aufs Schiff. Das war kein Leben, und er konnte kaum die Familie ernähren. Schließlich hat er zu meiner Mutter gesagt, er macht das nicht mehr mit. Er kann diese Sprache nicht, er kommt nicht zurecht. Und er will zurück nach Deutschland. Meine Mutter wollte nicht. Und er hat gesagt, dann geht er alleine. Geht, wenn er mal in Neapel ist, von Bord und zurück nach Deutschland. Was sollte meine Mutter machen? So sind wir zurück nach Deutschland. Wir fuhren mit dem Schiff nach Neapel, von da mit dem Zug nach Frankfurt. Berlin war russisch besetzt. An den Grenzen standen Sowjetsoldaten. Wir hatten diesen Nansen-Pass, waren ja ausgebürgerte Deutsche, Staatenlose. Es war 1950 und wieder September – exakt zehn Jahre, die wir weg gewesen waren. Dieses Mal waren wir allein. Papa, Mama, mein Bruder und ich. Mein Großvater, der saß in Jerusalem abends auf der Terrasse und träumte von Deutschland. Ich glaube, dass er zurückgehen wollte. Aber er ist gestorben, hat es nicht mehr geschafft. Es ist diffizil zu sagen, was er an Deutschland liebte. Er war in dieser Kultur aufgewachsen. Er war Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen. Er und meine Großmutter waren Deutsche, und Israel war Orient. Ja, es war jüdisch, aber es war fremd. Wir waren in Frankfurt und mein Vater wollte zurück nach Berlin. Aber wir wussten nicht, dass wir für Berlin eine Art Visum brauchten. Wir kamen an die Zonengrenze, und da haben die russischen Soldaten die Papiere kontrolliert und gesagt: „Ne, Freunde!“ Sie haben uns aus dem Zug geholt und in einen Wachraum gebracht. Da haben wir die ganze Nacht gesessen. Am nächsten Tag haben sie uns zurückgeschickt nach Frankfurt. Wir hatten kein Geld. Es war September, Sukkot, und meine Eltern gingen in die Synagoge. Meine Mutter saß da mit einem zweijährigen und einem zehnjährigen Kind und weinte. Und dann wurden wir untergebracht im Jüdischen Altersheim, oben auf dem Dachboden. Meine Mutter hatte gerade noch ein paar Mark. Mein Bruder wollte dies und ich wollte das. Und Mama sagte: „Nein, wir müssen uns gut überlegen, wofür wir das Geld ausgeben." Sie wollte was zu essen kaufen und dann hat sie diese zwei, drei Mark verloren. Das ist mir tief in Erinnerung geblieben. Mein Vater hat schließlich Leute getroffen, die er aus Shanghai kannte, und hat sich von denen Geld geliehen. Davon sind wir nach Westberlin geflogen, nach Tempelhof. Da mussten wir ja nicht durch die DDR. Nach Frankfurt waren meine Eltern schon klüger. Wir sind gleich zum Jüdischen Altersheim in die Iranische Straße gefahren und haben gesagt: „Hier sind wir, helft uns.“ Sie haben uns ein Zimmer gegeben. Und dann gingen meine Eltern auf die Suche nach Verwandten, Bekannten, nach irgendjemanden, der überlebt hatte. Und fanden Tante Mariechen in Ostberlin. Sie war mit einem christlichen Mann verheiratet, und die beiden haben uns aufgenommen. Mein Vater erkundigte sich nach den Schlachthöfen und kannte plötzlich wieder Leute. Waren ja dieselben Händler wie früher. Er fuhr auch wieder auf die Viehmärkte in Westdeutschland und kaufte Kühe, die wurden dann in Zügen nach Berlin gebracht, in Spandau geschlachtet und an Einzelhändler verkauft. Wir wurden wieder eingebürgert, bekamen deutsche Pässe. Die erste Wohnung, die wir hatten, war in Moabit, Pritzwalcker Straße. Zum ersten Mal wohnte meine Familie allein. Ich kam in die Grundschule und hatte den besten Lehrer aller Zeiten. Ich hab ihn geliebt, heiß und innig. Deutsch konnte ich, aber kein Wort schreiben und sprechen auch nicht so wie die anderen. Deshalb hat meine Mutter zu ihm gesagt: „Sie ist jetzt zehn, aber sie kann ja nichts. Schicken Sie sie in die erste Klasse." „Das geht doch nicht! Vierte Klasse!", sagte er. Er würde das schon machen, hätte Vertrauen zu mir. Und als wir am ersten Tag ein Diktat schrieben, hat er mir erlaubt, abzuschreiben. Ich hatte, glaube ich, auf einer halben Seite 90 Fehler. Aber er hat mich durchgezogen, ich bin nicht sitzen geblieben. Nie. Allerdings war ich natürlich sehr gut in Religion, weil ich immer wieder dasselbe gelernt hatte, das Alte Testament. In den Stunden hätte ich auf den Hof gehen dürfen. Aber mir hat es Spaß gemacht, weil ich das besser konnte als die anderen. 1952 ist mein Opa in Jerusalem gestorben. Ein Jahr danach hat mein Vater seine Mutter und seinen Bruder mit Familie, inzwischen hatten sie noch eine Tochter, aus Israel nachkommen lassen. Die haben dann unsere Wohnung in Moabit übernommen, und wir sind mit der Oma nach Charlottenburg gezogen, in die Giesebrechtstraße. 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 122 Leseprobe Leseprobe Ich kam in der Leibnizstraße in die Mädchenschule. Ich hatte immer sehr gern gezeichnet und im Lette-Verein hab ich ModeIllustration gelernt. Die Ausbildung dauerte drei Jahre und ich hab sie geliebt: Kunstgeschichte, Kostümkunde, Zeichnen. Anschließend hab ich in der Konfektion gearbeitet, Couture in der Meineckestraße. Nach einem Jahr hab ich gekündigt, weil meine Eltern mir ermöglicht haben, ein Jahr durch Amerika zu reisen. Das war revolutionär damals, es war 1960. In Amerika bin ich 20 geworden. Es war für mein Leben unerhört prägend, es war eine ganz andere Welt und ich musste mich anpassen. Ich habe bei Bloomingdale’s vorgesprochen, und die hätten mich genommen als Modezeichnerin. Aber ich ging zurück nach Hause und lernte meinen Mann kennen. In der jüdischen Jugendgruppe in der Joachimsthaler Straße in Berlin traf ich Renée Brauner, als sie 1954 mit ihrer Familie zurückkam nach Berlin. Sie hat auch einen jüngeren Bruder, der 1947 geboren ist – und wir waren wie Schwestern. Auch als sie schon verheiratet war, sind wir ausgegangen in der Clique, und es kam mal der mit und mal der. Und auch mein späterer Mann. Er war 15 Jahre älter als ich, Mitte 30. Er rief immer wieder an, und dann bin ich mit ihm ausgegangen, das war im Sommer. Und im November haben wir uns verlobt. Im Juni 1962 haben wir geheiratet. Und 1963 hab ich dann meinen ersten Sohn bekommen, 1966 und 1974 die beiden anderen. Mein Mann kam aus Polen, aus einer Kleinstadt bei Lodz. Seine Familie musste in das Ghetto. Seine Eltern wurden umgebracht. Er war in Mauthausen, einer seiner Brüder in Auschwitz. Ein Bruder mit Frau und Kind wurden noch in Lodz erschossen. Die anderen vier Geschwister haben überlebt. Nach dem Krieg gingen sie alle zurück nach Lodz und fanden sich da wieder. Seine älteste Schwester war 18 Jahre älter und wie eine Mutter für ihn und später wie eine Schwiegermutter für mich. Er hätte dann zum polnischen Militär gemusst und das wollte er natürlich überhaupt nicht. Polen war auch nach dem Krieg noch sehr antisemitisch, deshalb gingen viele Juden nach Amerika oder Palästina – über Stettin und Berlin. Dort gab es ein Auffanglager am Schlachtensee. Da war auch er mit seinem älteren Bruder, der dann nach München ging mit seiner Frau. Deren Tochter hat Auschwitz überlebt, weil sie sehr niedlich war und eine Kapo-Dame sie wohl als Spielzeug betrachtet hat. Ihr Sohn ist umgekommen. Und der Sohn von der Schwester meines Mannes ist umgekommen, als die Russen vorrückten und die Nazis das Lager verlegten. Die Gefangenen wurden weiter transportiert in Waggons. Die Tür wurde zugemacht, sein Arm war dazwischen. Er ist gestorben, noch 1945. © Gütersloher Verlagshaus, 2015. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 123 Leseprobe Leseprobe Uhly, Steven: Königreich der Dämmerung. Roman | Secession Verlag für Literatur | 2014 ISBN 978-3-905951-41-7 | Gebunden | 661 Seiten | 29.95 € Herbst 1944, eine regenreiche Nacht. Der Laut eines Schusses jagt durch die Gassen einer kleinen Stadt in Polen. Eine Jüdin hat ihn auf einen 37-jährigen SS-Sturmbannführer abgefeuert. Tags darauf werden 37 Menschen öffentlich hingerichtet. Willkür und Widerstand sind Teil der gewaltigen Anfangsszenen des Romans, der einen Erzählbogen von den letzten Kriegsmonaten bis in die jüngste Vergangenheit spannt. Uhly berichtet vom Leben einer jüdischen Flüchtlingsgruppe und von einer umgesiedelten Bauernfamilie aus der Bukowina, von den Lebensumständen der Entwurzelten in „Displaced-Persons-Camps. Er verwebt Weltpolitik und den Lebenswillen der häufig im Untergrund agierenden Menschen zu einer erzählten Wirklichkeit der Jahre nach 1945. Uhly bettet das Schicksal seiner Protagonisten in die historischen Ereignisse ein. Ihre Wahrheitssuche, in der sich die Frage nach Schuld und Erbe spiegelt, führt aus dem Grauen der Vernichtung in den zupackenden Mut einer neuen Generation. Mit seiner präzisen und poetisch facettenreichen Sprache ist Uhly nah bei den Menschen, er zieht seinen Leser in den Bann und lässt ihn eigene, verborgene Wahrheiten erfahren. Steven Uhly, 1964 in Köln geboren, ist deutsch-bengalischer Abstammung. Er studierte Literatur, leitete ein Institut in Brasilien, übersetzt Lyrik und Prosa aus dem Spanischen, Portugiesischen und Englischen. Sein Debütroman „Mein Leben in Aspik“ erschien 2010. Es folgten die Romane „Adams Fuge“ (dem Tukan-Preis ausgezeichnet) und „Glückskind“, einem Bestseller, der 2014 von Michael Verhoeven verfilmt wurde. Hundertzwölf Das neue Haus lag in der Altstadt von Tel Aviv, so nannte Peretz den Hafen Jaffa und die umliegenden Hänge, auf denen dicht an dicht Häuser standen, die so betagt wirkten, als könnten sie von längst vergangenen Zeiten erzählen. „Wer hat hier gewohnt ?", fragte Anna, als sie langsam durch die Räume ging, die wirkten, als wären die Bewohner einkaufen gegangen, über den schönen Innenhof, der mit Topfpflanzen vollgestellt war, die zum Teil verdorrt waren, zum Teil noch lebten. In der Mitte befand sich ein runder Brunnen, sie lehnte sich über die gemauerte Brüstung, das Wasser war kristallklar. Der Fußboden des Innenhofs war wie ein Mosaik gestaltet. Sie blickte nach oben, über ihr wölbte sich der blaue Himmel. „Wie alt ist dieses Haus?", fragte sie. Peretz lächelte, er sagte: „Gefällt es dir?" Anna wollte Ja sagen, doch sie zögerte. Sie ging weiter durch die Räume. „Was sind das für Muster? Und diese Ornamente ?" „Die sind arabisch." „Das Haus gehört Arabern?" „Nicht mehr." „Wo sind sie?" „Ausgewandert." „Ausgewandert oder vertrieben?" „Ausgewandert." Anna wandte sich um, sie sah Peretz direkt in die Augen. „Sagst du mir die Wahrheit?" Peretz nickte: „Sie wollten nicht in einem jüdischen Staat leben, deshalb sind sie gegangen." „Und du hast ihnen das Haus abgekauft?" „Sie sind einfach gegangen, Anna, einfach so, von einem Tag auf den anderen. Das haben hier viele getan. Die Araber hassen uns, sie werden nie wiederkehren, höchstens als Soldaten, um Israel zu vernichten. Das Haus gehört jetzt dem Staat." Anna schwieg. Sie sah sich um, ein schönes, altes Haus. Wenn man aus dem Küchenfenster hinausblickte, sah man das Meer. Wenn man hinausblickte und nicht auf die Töpfe und Pfannen achtete, die neben dem Fenster an der Wand hingen, die Teller und Tassen, die in den Regalen standen, wenn man die rußige eiserne Teekanne auf dem alten Gasherd nicht beachtete. Wenn man über das Spülbecken hinwegsah, in dem noch schmutzige Gläser lagen. Peretz beobachtete sie, er sagte: „Die Sonne geht im Wasser unter, dort", er zeigt an ihr vorbei Richtung Horizont. Anna schwieg, sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, es war warm, doch plötzlich fröstelte sie. Peretz wurde ungeduldig, er sagte: 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 124 Leseprobe Leseprobe „Die werden nicht zurückkommen, seit dem Krieg haben noch viel mehr Araber das Land verlassen. Es ist auch besser so, glaub mir, Juden und Araber können nicht im selben Land leben, wir sind viel zu unterschiedlich." Er machte eine Pause. Er sagte: „Du wolltest doch so schnell wie möglich aus dem Haus meiner Eltern ausziehen. Und du wolltest nicht in einem Kibbuz leben, obwohl das vielleicht die beste Lösung wäre." „Ich will nicht, dass Shimon die ganze Woche in einem Kinderhaus leben muss. Getrennt von seinen Eltern. Und von Sarah. Das ist alles.“ Peretz schwieg. Sie blickten gemeinsam aus dem Fenster. „Wenn du dich nicht schnell entscheidest, wird jemand anderes hier einziehen, die übrigen Häuser sind alle schon weg." Anna sah ihn an. „Lebten hier vor dem Krieg nur Araber?" Peretz nickte unwillig. „Und sie sind alle weg?" Peretz schüttelte den Kopf. „Die, die nicht gehen wollten, sind geblieben." „Zeig mir ein solches Haus." „Was soll das, Anna?" „Ich will so ein Haus sehen." Peretz presste die Kiefer aufeinander, er blickte seine Frau wütend an. Dann riss er sich zusammen, er sagte: „Komm!" Er verließ das Haus, ging die abschüssige Gasse hinunter, Anna folgte ihm im Laufschritt, so schnell ging Peretz, die Sonne stand hoch am Himmel, die Menschen hatten sich hinter schützende Wände, unter schattige Dächer zurückgezogen, ein alter Mann mit einem Esel kam den Berg herauf, er hatte den Hut tief in die Stirn gedrückt, sein schmächtiger Körper war gebückt, Anna sah das Meer dort unten und bis zum Horizont, wo die Sonne untergehen würde, Peretz stürmte durch schmale Gässchen, die Häuser mit den arabischen Ornamenten, den Mustern in den Fassaden, überall sah Anna sie. Plötzlich blieb Peretz stehen und zeigte auf ein Haus. „Dort wohnen Araber, die geblieben sind." Anna war außer Atem, sie schwitzte, die Sonne stach ihr in die Augen. Das Haus sah verschlossen aus, die Fensterläden waren zugezogen, eine schmiedeeiserne Tür versperrte den Zugang zum Vorgarten. Anna blickte Peretz an. „Willst du läuten und mit ihnen reden? Nur zu !“ Anna blickte von Peretz zum Haus, vom Haus zu Peretz. Plötzlich wandte sie sich ab und ging den Berg hinauf, Peretz sah ihr verblüfft nach, dann folgte er ihr. „Was ist? Glaubst du mir nicht?" „Doch, Peretz, ich glaube dir. Lass uns das Haus nehmen." Sie lächelte ihn an. Sie wollte, dass alles rechtens war, dass die Araber wirklich gegangen waren, weil sie die Wahl gehabt hatten, sie wollte Lydia Sarfatis misstrauischem, ratlosem Blick entgehen, sie wollte keine Feldarbeit in einem Kibbuz verrichten, sie wollte in der Stadt leben, sie wollte Peretz zeigen, dass sie seine Mühe schätzte, dass er alles richtig gemacht hatte, sie nahm sich vor, bald mit ihm zu schlafen. Sie malte sich aus, dass sie ein neues Kind haben würden. Ein Kind in Jaffa. Sie dachte, Alles wird gut. Sie hörte auf nichts anderes. Sie nahm seine Hand. Gemeinsam gingen sie den Berg hinauf. Hundertzehn Es knisterte. Ein Gong ertönte. Ein Mann mit sonorer Stimme sagte : „Es ist zwölf Uhr. Hier ist die Stimme Israels. Mein Name ist Mordechai Primann. Ich verlese jetzt die heutigen Suchanzeigen, die mir von der Jüdischen Agentur für Israel übermittelt worden sind: Sara Rosenbaum aus New York, geboren in Korov, Galizien, Polen, sucht ihren jüngeren Bruder Jaakov Rosenbaum, sechsunddreißig Jahre alt. Das letzte Mal haben sie sich im Ghetto von Bielsko-Biała gesehen, im Juni 1942 vor dem letzten Transport nach Auschwitz. Dort wurde die Familie getrennt, die Männer von den Frauen, und Sara Rosenbaum überlebte. Andere Überlebende haben ihr erzählt, dass ihr jüngerer Bruder ebenfalls überlebt hat, doch sie haben sich seitdem nicht mehr wiedergesehen. Abraham Gerschenson aus Miami, geboren in Bialistok, Weißrussland, sucht überlebende Geschwister. Am Ende des Krieges verließ er die Rote Armee und kehrte nach Bialistok zurück. Dort erzählte man ihm, dass die Jüngeren aus seiner Familie in die Wälder geflohen waren und dort von den Partisanen aufgenommen wurden, doch keiner von ihnen kehrte nach Bialistok zurück. Lisa Kramer, geborene Ejzenstain, ursprünglich aus Polen, nach dem Krieg aufgewachsen in Lübeck, Deutschland. Als Baby verlor sie ihre Mutter, Margarita Ejzenstain, der Vater, Tomasz Ejzenstain, war zuvor von der SS ermordet worden. Lisa Kramer sucht nach Anna Sarfati, die sie als kleines Kind im Übergangslager Pöppendorf gemeinsam mit ihrer Großmutter Marta Kramer kennengelernt hat. Das sind die Anzeigen für heute. Die Gesuchten können sich bei uns oder direkt bei der Jüdischen Agentur für Israel melden, der Kontakt zu den Suchenden wird auf Wunsch unverzüglich hergestellt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Es ist jetzt fünf nach zwölf. Hier ist die Stimme Israels. Mein Name ist Mordechai Primann.“ Anat Almog schaltete das Radio aus. Sie fuhr sich durch den dichten, braunen Haarschopf und langte nach einer Kaffeekanne, die mitten auf dem runden Tisch stand. Sie blickte der Reihe nach in die Gesichter ihrer beiden Kinder, Binah, schmal und blass wie sie selbst, Erez, groß und kräftig wie sein Vater. Kinder, die keine Kinder mehr waren. Kinder, die mit Vater und Mutter aufgewachsen waren, die glaubten, sie wüssten alles über ihre Eltern. Dazwischen Lisa. Sie sah Lisa an, sie lächelte ihr zu. „Jetzt heißt es warten, Liebes." © Secession Verlag für Literatur, 2014. Alle Rechte vorbehalten 1965 bis 2015. Deutschland - Israel Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor Seite 125 Leseprobe Fotonachweis Leseprobe Irit Amiel Jan Assmann Hila Blum Wolfgang Büscher Michael Degen Dan Diner Tobias Ebbrecht-Hartmann Lizzie Doron Fredy Gareis Ali Ghandtschi Ayelet Gundar-Goshen Gregor Gysi | Friedrich Schorlemmer Claire Hajaj Nino Haratischwili André Herzberg Jan Himmelfarb Josef Joffe Hellmuth Karasek Norbert Kron + Amichai Shalev Gila Lustiger Eva Menasse Chaim Noll Amos Oz Fania Oz-Salzberger Mirjam Pressler Avi Primor Andreas Reichert Rebecca Maria Salentin Yishad Sarid Ron Segal Meir Shalev Ayman Sikseck Carlo Strenger Anat Talshir Jennifer Teege Andrea von Treuenfeld Steven Uhly © Ira Raviv © Jan Assmann © Omer Armoni © Frank Zauritz © Das Blaue Sofa | Bertelsmann © ZB – Fotoreport Picture Alliance © Simon Vilkoriscius © Guy Gilad © Svenja Kleinschmidt © Hartwig Klappert © Katharina Lütscher © Milena Schlösser © Joe Saade © Das Blaue Sofa | Bertelsmann © H Gerald von Foris © Ann-Kristin Liegel | C.H. 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