Das Blaue Sofa

1965 bis 2015. Deutschland - Israel
Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor
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„Es gibt sehr viele jüdische Gene in der deutschen
Kultur und nicht wenige deutsche Gene in unserer
Kultur hier in Israel.“ Amos Oz
Messeschwerpunkt Leipziger Buchmesse 2015
1965 bis 2015
Deutschland – Israel
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Reader
Texte aus allen Büchern des Programms
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Die
Autoren und Ihre Bücher
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Irit Amiel: Gezeichnete. Geschichten vom Überleben
Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt
Hila Blum: Der Besuch
Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim
Wolfgang Büscher: Ein Frühling in Jerusalem
Michael Degen: Der traurige Prinz. Roman einer wahren Begegnung
Dan Diner: Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage
Lizzie Doron: Who the Fuck Is Kafka?
Tobias Ebbrecht-Hartmann: Übergänge. Passagen durch eine dt-israelische Filmgeschichte
Fredy Gareis: Tel Aviv - Berlin: Geschichten von tausendundeiner Straße
Ali Ghandtschi: Mein Israel. Juden und Palästinenser erzählen
Michael Guggenheimer: Tel Aviv- Hafuch Gadol und Warten im Mersand
Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken
Gregor Gysi + Friedrich Schorlemmer: Was bleiben wird. Gespräche über ein schwieriges Land
Claire Hajaj: Ismaels Orangen
Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka)
André Herzberg: Alle Nähe fern
Jan Himmelfarb: Sterndeutung
Josef Joffe: Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß!
Hellmuth Karasek: Das find ich aber gar nicht komisch
Norbert Kron + Amichai Shalev: Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen
Gila Lustiger: Die Schuld der anderen
Eva Menasse: Lieber aufgeregt als abgeklärt
Chaim Noll: Der Schmuggel über die Zeitgrenze. Erinnerungen
Amos Oz: Judas
Fania Oz-Salzberger: Israelis in Berlin
Kerstin Preiwuß: Restwärme
Mirjam Pressler: Nathan und seine Kinder
Avi Primor: Nichts ist jemals vollendet. Die Autobiografie
Johannes Reichert: Mit dem Rad durch Israel
Rebecca Maria Salentin: Schuld war Elvis
Yishad Sarid: Alles andere als ein Kinderspiel
Ron Segal: Jeder Tag wie heute
Meir Shalev: Zwei Bärinnen
Ayman Sikseck: Reise nach Jerusalem
Carlo Strenger: Israel. Einführung in ein schwieriges Land
Anat Talshir: Über uns die Nacht
Jennifer Teege: Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen
Andrea von Treuenfeld: Zurück in das Land, das uns töten wollte
Steven Uhly: Königreich der Dämmerung
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Amiel, Irit: Gezeichnete. Geschichten vom Überleben | Suhrkamp | ET 21. März 2015
Aus dem Hebräischen von Magali Zibaso | ISBN: 978-3-633-54272-7 | 180 Seiten | ca. 22,95 €
Die Menschen, die als Kinder und junge Erwachsene das Grauen der Gettos und Displaced-Persons-Camps
überlebten und sich in Israel eine neue Existenz schufen sind gezeichnet fürs Leben. Sie heißen Linka, Rafael,
Klara und Batya und stammen aus Polen und anderswoher. Und obwohl man diese Geschichten von Schrecken
und grausamen Schicksalen zu kennen meint, berühren und beeindrucken sie auf besondere Weise. Irit Amiel
hat diese Geschichten gesammelt und aufgeschrieben. Sie erzählt vom Schweigen der Überlebenden, ihrer
Unfähigkeit, das Erlebte zu verarbeiten und von tiefen Freundschaften und lebenslangen Liebesbeziehungen.
Irit Amiel wurde 1931 in Polen als Irena Librowicz geboren. Sie überlebte den Krieg im Getto von Czestochowa
mit falschen Papieren. 1947 kam sie nach Palästina und lebt seitdem als Autorin und Übersetzerin in Israel. Sie
schreibt Lyrik auf Polnisch und Hebräisch und hat zahlreiche polnische Autoren ins Hebräische übersetzt, u. a.
Wisława Szymborska, Leo Lipski und Henryk Grynberg.
Und Enosch sah Eva an den Toren von Sodom,
wo die wahre Lösung herrschte :
ARBEIT MACHT FREI
Und Enosch zählte zweiundvierzig Jahre und sein Gewicht
betrug ebensoviel
Und Eva zählte dreißig Jahre, und sie saß im Staub
unter dem Tor und erwartete ihre beiden kleinen Söhne,
die sich längst aufgelöst hatten
in den vier Windrichtungen des Himmels in einer
schwarzen Rauchwolke
Und Enosch reichte Eva die Hand und sprach : Steh auf
Frau und komm.
Niemand kehrt zurück von Nirgendwo, und Kain hatte
Abel bereits getötet
Blicke nicht zurück, damit du nicht werdest eine Salzsäule
in alle Ewigkeit.
Und sie gingen durchs Tal des Mordens und der
Trümmerhaufen in das Land Kanaan
und zeugten andere Töchter und Söhne und gaben ihnen
neue Namen, um Gott irrezuführen.
Und Gott sprach, ich habe euch erlaubt, aus Sodom
wegzuziehen,
aber weitere Geschäfte wird es nicht geben.
Eine Seite aus dem Tagebuch
Es war Spätherbst 1942. Es war noch nicht richtig kalt, und das rötlich-goldene Laub wirbelte im Staub und im Schlamm.
Manchmal konnte man sogar eine Kastanie finden, dunkelbraun und feucht in der stachligen grünen Schale.
Die Straße lag still. Gelähmt vor Furcht. Wie hohle Augenhöhlen blickten die Fenster aus zerbrochenen Scheiben. Vater sagte wie
nebenbei, dass man so bald wie möglich in das jüdische Krankenhaus am Ende der Straße übersiedeln müsse. Aber in seiner
Stimme hallte ein merkwürdiges Beben wider. Ich trug einen leichten Mantel und einen Schal, ein Barett und das grüne
Wollkostüm, das meine Mutter mir gestrickt hatte. Vater machte sich noch immer über Mutters Strickleidenschaft lustig, aber
niemand lachte mehr über seine Späße. Die Welt ging in Flammen auf, und wir waren im Zentrum der Feuersbrunst.
Mutter gab mir eine Scheibe trockenes Brot, küsste mich und nässte mein Gesicht mit ihren Tränen. Ich kaute das Brot und begriff
nicht, weshalb sie so schluchzte, schließlich würden wir uns doch am Abend wiedersehen. So hatten sie es mir versprochen. Aber
ich sah Mutter nie wieder. An ihre Gesichtszüge erinnere ich mich nur anhand eines zerrissenen und vergilbten Fotos, das mir ihre
Schwester nach dem Krieg aus Amerika schickte.
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Am Ende der Straße, der Grenze zur arischen Seite, stand ein ukrainischer Soldat und schoss in die Fenster, sobald er irgendeine
Bewegung wahrnahm. Vater war sehr nervös und sagte mir, ich solle auf der Straße hinter ihm her kriechen, so dicht wie möglich
an den Häusern. Auf eben derselben Straße, auf der ich einst mit meiner Schultasche zur Schule ging, umgeben von meinen
lachenden Freundinnen, krochen wir beide jetzt auf allen Vieren. Ein plötzlicher Windstoß wirbelte eine Staubwolke auf und
blendete mich für einen Augenblick. Der ukrainische Soldat gab drei Schüsse ab. Die Kugeln flogen pfeifend über unsere Köpfe.
Wir erstarrten einen Augenblick, dann krochen wir weiter. Es war nicht weit, aber mir schien es eine Ewigkeit zu dauern. Es war
die längste Strecke, die ich in meinem Leben zurückgelegt hatte. In letzter Zeit wecken mich diese Schüsse nachts auf.
An das schwere Tor des Krankenhauses gepresst, schlugen wir verzweifelt mit geballten Fäusten an das Tor, mit der letzten Kraft,
die uns verblieben war. Ein jüdischer Polizist, ein Bekannter Vaters, öffnete einen schmalen Spalt, und wir schlüpften in den Hof.
Vater reichte ihm ein Bündel grüner Geldscheine. Von diesem Augenblick an ging alles sehr schnell. Zu schnell. Er führte uns in
einen dunklen Schuppen, zündete eine Laterne an und zog aus der glatten Wand ein Brett und dann ein zweites. Ein schwarzes
Loch zeigte sich in der Wand. Vater hob mich hoch und sagte, ich solle die Hände ausstrecken, wie beim Schwimmen und schob
mich kopfüber in das Loch. Aber die Öffnung war zu eng, und ich musste rasch den Mantel ausziehen und wieder den Kopf und
die Hände in das schwarze Loch stecken. Ich war fassungslos. Ich konnte mich nicht einmal von ihm verabschieden. Ich erinnere
mich nur, dass er sehr bleich war und um seinen Mund zuckte etwas zwischen einem Lächeln und einem Weinen.
Am anderen Ende ergriff mich ein fremder Mann mit einem Schnurrbart und stellte mich auf. Noch bevor ich mich erholen konnte,
fiel mein gelber Herbstmantel auf meine Füße. Als ich den Kopf hob, gab es kein schwarzes Loch mehr. An der glatten Wand hing
friedlich das vergoldete Bild der Schwarzen Madonna von Czestochowa. So verließ ich das Ghetto zum ersten Mal, mitten in der
Aktion. Meine Kindheit, das Barett, der Schal, meine schöne Mutter und mein kahlköpfiger, geliebter Vater blieben für immer auf
der anderen Seite. Ich war damals elf Jahre alt, und seit diesem Augenblick fühle ich mich im Leben nirgends mehr zuhause.
Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.
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Assmann, Jan: Exodus. Die Revolution der Alten Welt | C.H.Beck | ET: 21. Januar 2015
ISBN 978-3-406-67430-3 | Leinen | 493 Seiten mit 40 Abbildungen | 29,95 €
Befreiung aus Sklaverei, aber auch für die Erfindung des Glaubens an den einen Gott. Jan Assmann verfolgt die
Spuren der Exodus-Erzählung zurück bis ins Alte Ägypten und nach vorne bis ins 20. Jahrhundert. Er entfaltet
eine neue Theorie des Monotheismus und zeigt, warum die Geschichte vom Auszug aus Ägypten auch die
Gründungserzählung der modernen Welt ist.
Jan Assmann ist Professor Emeritus für Ägyptologie an der Universität Heidelberg und Professor für allgemeine
Kulturwissenschaft an der Universität Konstanz. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören: „Das kulturelle
Gedächtnis“, „Ägypten. Eine Sinngeschichte“, „Moses der Ägypter“ sowie „Tod und Jenseits im Alten Ägypten“.
Vorwort
Als ich vor zwanzig Jahren an dem Buch Moses der Ägypter arbeitete, ging es mir darum, eine verdeckte Traditionslinie in den
Blick zu bekommen, in der das Alte Ägypten nicht die Rolle des überwundenen, hinter sich gelassenen Anderen spielte, sondern
die eines untergründig fortwirkenden Elements unserer eigenen europäischen Religions- und Geistes-geschichte. Diese
Traditionslinie, die sich dann von Echnaton bis zu Sigmund Freud ausziehen ließ, stand im Zeichen der Wahrheitsfrage der
Religion. Die Unterscheidung zwischen wahr und falsch, das war die These, sei mit dem biblischen Monotheismus erstmals in den
Raum des Religiösen hinein getragen und anhand der Gegenüberstellung von Israel = wahr und Ägypten = falsch narrativ entfaltet
worden. In der Traditionslinie um Mose als Ägypter sei es darum gegangen, die „mosaische Unterscheidung" zwischen wahrer und
falscher Religion, wahrem Gott und falschen Göttern aufzuheben und dadurch den interreligiösen Streit um die Wahrheitsfrage zu
entschärfen. Inzwischen ist mir klar geworden, dass eine derartige Konzentration oder Reduktion der Religion auf die
Wahrheitsfrage in Bezug auf das vorexilische Israel ein Anachronismus ist.
Hier geht es um etwas ganz Anderes, das als höchster Wert ins Zentrum der Religion gestellt wird: Treue. Nicht zwischen wahr
und falsch gilt es sich zu entscheiden, sondern zwischen Treue und Verrat, und zwar in Bezug auf den Bund, den JHWH mit den
Kindern Israels schließt, die er aus ägyptischer Knechtschaft befreit und als sein Volk erwählt hat. Mit der Konzeption dieses
Bundes kommt der „Glaube" (’ amunah) in die Welt, der die eigentliche, revolutionäre Neuerung des biblischen –
alttestamentlichen, neutestamentlichen und islamischen – Monotheismus darstellt. „Glaube" heißt im Alten Testament dasselbe
wie „Treue", nämlich Vertrauen in den Bund, in die Verheißungen Gottes, in den Eid, den er den Vätern geschworen hat und in die
versöhnende und rechtfertigende Kraft der Gesetze. Das ist etwas völlig Neues in der damaligen Welt, das nicht in die Ordnung
des Seienden, Evidenten, „Unverborgenen" (wie Heidegger das griechische Wort a-letheia, „Wahrheit", deutet) gehört, sondern in
die Ordnung des zu Verwirklichenden, im Tun in die Welt und an den Tag zu Bringenden, in die schon Lessing mit seiner Fassung
der alten Ringparabel die Wahrheitsfrage verlagert hatte.
Diese Traditionslinie fängt nicht bei Echnaton an, dessen monotheistischer Umsturz viel mit Wahrheit, aber nichts mit Treue zu tun
hat, sondern mit dem Auszug aus Ägypten als dem großen, gründenden Heilsereignis, das die Befreiten zu ewiger Dankbarkeit
und Treue gegenüber dem Befreier verpflichtet. Der „Monotheismus der Treue" ist das weltverändernd Neue, das mit der
biblischen Religion in die Welt kommt. Um diese Form des Monotheismus und seine narrative Darstellung in der Erzählung vom
Auszug aus Ägypten soll es in diesem Buch gehen. Der Monotheismus der Treue ist alles andere als eine marginale, verdeckte
Traditionslinie, die es ans Licht zu heben gilt. Im Gegenteil bewegen wir uns mit der Semantik des Bundes, der Treue und des
Glaubens im Zentrum der drei abrahamitischen Religionen. Und doch wird heute das Problem gerade der monotheistischen
Religionen auf die Wahrheitsfrage reduziert. „Während die Religionen miteinander hadern", schrieb Sigmund Freud, „welche von
ihnen im Besitz der Wahrheit sei, sind wir der Meinung, dass der Wahrheitsgehalt der Religion überhaupt vernachlässigt werden
darf."
Das war vernichtend gemeint und hat den bundestheologischen Kern des biblischen Monotheismus doch kaum berührt. Die
Wahrheitsfrage soll hier nicht vernachlässigt werden und die Unterscheidung zwischen wahr und falsch in der Religion halte ich
nach wie vor für eine entscheidende Kategorie, die erst mit dem Monotheismus – aber nicht nur dem biblischen – aufgekommen
ist. Das eigentliche und ursprüngliche Element des biblischen Monotheismus aber sehe ich im Gedanken des Bundes, dessen
Stiftung den Höhepunkt der Exodus-Erzählung darstellt. Um in diesen Bund einzuziehen, musste aus Ägypten ausgezogen
werden. Die antagonistische Spannung zwischen Ägypten und Israel, wie sie die Erzählung vom Auszug aus Ägypten darstellt, hat
mich schon lange beschäftigt und war bereits das Thema von Moses der Ägypter.
Im vorliegenden Buch möchte ich zu den Quellen zurückgehen, das heißt zum biblischen Buch Exodus, und es auf seine in die
Länge der Zeit ausstrahlenden Grundideen hin befragen. Mein Zugang ist naturgemäß nicht der des philologisch und theologisch
arbeitenden Alttestamentlers, sondern des kulturwissenschaftlich arbeitenden Ägyptologen, und mein methodischer Ansatz ist der
einer „Sinngeschichte". Ich verstehe den in der Überlieferung vom Auszug aus Ägypten entfalteten Monotheismus der Treue bzw.
die Bundestheologie als eine Sinnformation, die mit den frühen Propheten anhebt, im Deuteronomium und der deuteronomistischen Tradition ihre kanonische Form gewinnt und durch alle Wandlungen hindurch bis heute lebendig ist.
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Der Begriff „Sinngeschichte" lässt sich in zwei Richtungen entfalten: Sinn „hat" Geschichte und Sinn „macht" Geschichte. In der
ersten Richtung geht es um die allmähliche Herausbildung und die Wandlungen einer semantischen Formation in ihrer
historischen und gesellschaftlichen Einbettung, ihre Entwicklungsstufen und entscheidenden Wendepunkte sowie die Texte und
Zeugnisse, in denen sie Ausdruck gefunden hat. In der anderen geht es um die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte dieser Texte
und Zeugnisse. Der Auszug aus Ägypten ist in beiden Richtungen ein hervor-ragendes Beispiel, zum einen, was die Entwicklung
dieser Überlieferung im Laufe von drei bis vier Jahrhunderten zu dem zentralen semantischen Paradigma des frühen Judentums
betrifft, und zum anderen hinsichtlich der einzigartigen Wirkungsgeschichte dieses Paradigmas in den darauf aufbauenden
Religionen Christentum und Islam, die zu einer grundlegenden Umgestaltung der Welt geführt haben.
Die betroffene Fachwissenschaft, die alttestamentliche Theologie, ist der Frage nach Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der
alt-testamentlichen Texte seit Jahrhunderten mit großer Intensität nachgegangen. In der einen Richtung ging es um eine
diachrone Analyse der überlieferten Textgestalt, die zu einer ebenso differenzierten wie umstrittenen Scheidung von Quellen,
Dokumenten, Kompositionsschichten und Redaktionsstufen führte, in der anderen Richtung um eine Auslegungsgeschichte in
jüdischer und christlicher Sicht. Diese im engeren Sinne fachphilologische Perspektive kann und will ich mir in diesem Buch nicht
zu eigen machen. Sie geht erstens weit über das hinaus, was ein Fachfremder leisten und in einem einigermaßen handlichen
Buch unterbringen kann, und läuft zweitens immer wieder Gefahr, das eigentliche Thema der Sinngeschichte über den
Einzelfragen der diachronen Textkritik aus dem Auge zu verlieren. Außerdem möchte ich gleich eingangs betonen, dass mein
Thema nicht „der alttestamentliche Monotheismus" oder die „Theologie des Alten Testaments" ist, sondern der Auszug aus
Ägypten und seine Folgen. Die alttestamentlichen Konzeptionen von Gott und Mensch, Israel und Judentum gehen natürlich weit
über das hinaus, was im 2. Buch Mose narrativ und normativ entfaltet wird, auch wenn dies bis heute den Kern der Sache bildet.
Die Position, von der aus ich es in diesem Buch unternehme, die so unendlich oft erzählte, kommentierte, gedeutete und
gestaltete Exodus-Tradition in „sinngeschichtlicher" Hinsicht zu behandeln, ist die der teilnehmenden Beobachtung. Teilnehmend,
weil auch das protestantische Christentum, aus dem ich komme, in der Tradition des Exodus-Mythos steht, teilnehmend aber auch
als Deutscher, als Nachgeborener der schwersten Katastrophen und Verbrechen meines Landes, der die Exodus-Erzählung –
womit nicht nur das Buch Exodus, sondern der gesamte Erzählungsbogen von Auszug über Bundesschluss und
Wüstenwanderung bis zum Einzug ins Gelobte Land gemeint ist – nicht lesen kann, ohne sich der vielfältigen Resonanzen
bewusst zu werden, die diese Geschichte in ihm auslöst. Beobachtend, weil die Ägyptologie einen signifikanten Standpunkt sowohl
inner- als auch außerhalb dieser Tradition vermittelt. Schließlich ist es ja Ägypten und nicht etwa Assyrien, Babylonien, das
Hethiterreich oder irgendein anderes Reich der damaligen Welt, aus dem die Kinder Israels ausgezogen sind.
In der Tat repräsentiert das Alte Ägypten die Welt, aus der Israel ausgezogen ist, in beispielhafter, idealtypischer Weise. Von
Ägypten aus lassen sich zwei ganz verschiedene Blicke auf die Hebräische Bibel werfen. Der eine sieht vor allem die Kontinuitäten
und Parallelen, zwischen ägyptischen Hymnen und biblischen Psalmen, ägyptischen Liebesliedern und dem Hohelied Salomonis,
ägyptischen und biblischen Opferbräuchen, Tabus und Reinheits-vorstellungen, ägyptischen und biblischen Vorstellungen vom
(Gottes-)Königtum und vieles andere mehr, und sieht Israel eingebettet in die Kulturen der Alten Welt; der andere achtet vor allem
auf die Diskontinuitäten, Antithesen, Verwerfungen und sieht in Israel vor allem das Neue, das sich den Ordnungen der Alten Welt
als etwas radikal Anderes entgegenstellt und damit den Grund zu der Welt legt, in der wir heute leben. Während ich in den ersten
fünfundzwanzig Jahren meiner ägyptologischen Existenz die Bibel ganz im Banne des erstgenannten Zugangs gelesen habe, ist
mir seitdem vor allem der andere, diskontinuierliche, antagonistische, revolutionäre Aspekt der altisraelitischen und vor allem
frühjüdischen Religion und damit auch die symbolische Bedeutung des Auszugs aus Ägypten aufgegangen.
Dieses Buch will weder eine Nacherzählung noch ein Kommentar sein, obwohl es naturgemäß nicht darum herumkommt, beide
Formen des Umgangs mit der biblischen Exodus-Überlieferung zu praktizieren. Worum es mir aber vor allem zu tun ist, ist eine
„resonante Lektüre", eine notwendigerweise recht subjektive Lektüre der biblischen Texte, in der möglichst viel von dem anklingt,
was mir aus meinen ägyptologischen und allgemein kulturellen Interessen und geschichtlichen Erfahrungen vertraut geworden ist.
Vor bald fünfundzwanzig Jahren war ich einmal als Ägyptologe von Familie Stroumsa in Jerusalem zu einem Seder eingeladen.
Meine Freunde fanden es sinnvoll, sich die Leiden der Kinder Israels im ägyptischen Sklavenhaus einmal aus professioneller
Perspektive vergegenwärtigen zu lassen. Diese unvergessliche Nacht endloser Lieder und Erzählungen gilt mir als Ermutigung
auch für dieses Vorhaben. „Benutzung nur unter Aufsicht und Anleitung" steht auf einem Schild, an dem ich oft vorbeikomme. Es
bezieht sich auf den „Hochseilgarten" des hiesigen Sportgeländes. An so einen Hochseilgarten fühlte ich mich bei der
Beschäftigung mit dem Alten Testament erinnert. (…)
Konstanz, im Juli 2014
© Verlag C. H. Beck , 2015. Alle Rechte vorbehalten
Jan Assmann
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Blum, Hila: Der Besuch | Berlin Verlag | 2014
Übersetzt von Mirjam Pressler | ISBN: 978-3-8270-1194-7 | Gebunden | 416 Seiten | 22,99 € | Auch als E-Book
Eine ungewöhnlich hartnäckige Hitze liegt über Jerusalem, ein Wohnhaus stürzt ein, ein Junge verschwindet. Nili
und Nataniel haben eine Woche ohne Kinder vor sich, als ein Anruf aus Paris die empfindliche Balance ihres
Lebens stört. Der französische Millionär Duclos kommt nach Israel und will sie treffen. Jahre zuvor war er ihnen
bei einem unseligen Vorfall in einem Pariser Sterne-restaurant zu Hilfe gekommen. Nie haben sie einander
eingestanden, was an diesem Abend geschah. Hila Blums Debüt erzählt nicht nur die Geschichte dieses Paares,
Nili und Nataniel, ihrer verborgenen Seiten, Sehnsüchte und nie offenbarten Geheimnisse; es ist ein Roman, der
das Porträt einer modernen Familie zeichnet. Blum spürt die Risse in der Fassade auf, Momente der
Unsicherheit, die man vielleicht zu schnell kaschiert, Gefühle, die man zu rasch unterdrückt hat.
Hila Blum, 1969 in Jerusalem geboren, lebte auf Hawaii, in Paris und New York. Sie arbeitete als Journalistin
und seit vielen Jahren als Lektorin. Hila Blum lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Jerusalem.
„Immer ist ein Kind da, das nicht nur sehen,
sondern auch wahrnehmen kann. Das stille Kind.“ Anne Enright, Das Familientreffen
Davor
Es gibt Dinge, die können nur in den schmalen Spalten der Nachlässigkeit geschehen, der Unaufmerksamkeit, in einem Wirbel aus
Trägheit und Licht. Plötzlich entspringen sie der Phantasie und landen im gelebten Leben. Erklärungen werden erst später
gesucht. Die Augen der Sprecher sind feucht, sie glänzen mit falschem Feuer wie die Edelsteine in Kinderschmuck. Sie behaupten
alle glühend, gefühlsbetont, jeder auf seine persönliche Art, dass sie nicht wussten, was sie taten, dass sie es nicht bis zum Ende
durchdacht hätten. Sie hätten zu ihrer Zeit nur eine Seite weiterblättern können. Jetzt können sie nur eine Seite zurückblättern. Sie
bitten um Milde, um Erbarmen, um eine zweite Chance. Sie bieten Reue. Sie verbreiten um sich herum Trauer wie Zahlungsmittel.
Das ist es, was sie sagen: Es geschah, als man noch blauäugig war. Als man eine Bergbahn noch für eine passende Metapher für
Gefahr hielt. Als man das Vertrauen, das einem die Welt schenkte, wegwarf, wie man Ballast von einem sinkenden Boot wirft. Es
sei nur einmal geschehen und es werde nie wieder geschehen.
Erster Teil | Nachtsicht
Es ist die Woche des Denis Bukinow, des vermissten Jungen. Sein Bild erscheint in allen Zeitungen: ein Lächeln mit einem
fehlenden oberen Schneidezahn, ordentlich zur Seite gekämmtem Haar, einem Blick, der Beifall erwartet. Manch-mal kann man
auf den Fotos von Vermissten schon Vorzeichen erkennen. Keine ermutigenden Vorzeichen. Es kann etwas in ihrem Blick sein, an
der Art, wie sie nicht direkt in die Kamera schauen, sondern weiter weg, an ihr vorbei. Oder es ist etwas in ihrem Lächeln: eine
verlegene Flüchtigkeit, ein Mangel an Bereitschaft, auf dem Leben zu bestehen. Aber nicht auf dem Foto von Denis Bukinow. Er
sieht ganz lebendig aus, mit klaren Plänen für die Zukunft.
Nili denkt, dass man ihn noch finden wird. Nati nicht. Sie streiten sich beim Abendessen darüber: eine kurze Diskussion, verwirrt
durch die Hitze. Fast ohne Schwung. Die alten Vorwürfe – seine arrogante Nüchternheit, ihr grundloser Optimismus. Einfach
elend. Über einen Jungen, den sie nicht einmal kennen. Danach, ausgestreckt auf dem Sofa, starren sie in den Fernseher, ohne
etwas zu sagen. Sie erinnern sich nicht an eine solche Hitze, ganz bestimmt nicht in Jerusalem, eine Dauerhitze, die nicht
zwischen Tag und Nacht unterscheidet. Sie erinnern sich nicht an eine ähnliche Geschichte: Ein sechsjähriger Junge verlässt die
Schule mit offenen Schnürsenkeln und kommt nicht zu Hause an (der Hausmeister hatte ihn wegen der Schnürsenkel ermahnt,
stand in den Zeitungen). Nili kommt es eigentlich vor, als habe sie im Lauf der Jahre von anderen solchen Kindern gehört, es hat
noch andere Fälle gegeben. Aber sie erinnert sich nicht genau. Und dann, mitten in das alles, platzt das Klingeln des Telefons. Ein
Anruf aus Paris, zu später Stunde. Von Jesaja Duclos. Ein kurzer Wortwechsel. Duclos sagt: „Nati Schoenfeler? Hier Duclos." Mit
seiner prahlerischen Stimme, die dröhnend aus dem Hörer schallt. Hier Duclos. Als würden sie immer wieder mal spätabends
miteinander telefonieren. Nati braucht länger als den Bruchteil einer Sekunde, um zu verstehen. Um sich zu erinnern. Zu
erschrecken. Er sagt: „Duclos? Was für eine Überraschung!"
Und dann, ohne jedes Zögern, verkündet Duclos: Er komme morgen für ein paar Tage nach Israel, geschäftlich, er wolle sich mit
ihnen treffen. Alles Mögliche passiert in diesem Sommer. Es ist der Sommer der nicht so fernen Katastrophen, einer Kette
seltsamer Unfälle. Zwei Wochen zuvor, auf der Straße links hinter dem Lebensmittelgeschäft, ist der vierte Stock eines
Wohnhauses eingestürzt. Es war eine Party: Die Leute tanzen, der Fußboden erzittert, und dann öffnet der Fußboden sein Maul
und bläst einen Staubpilz in den Himmel. Das Sterben hat eine tiefe, heisere Stimme, wenn es in einem verborgenen Zimmer
stattfindet, aber öffentlich wird es zu einem Schrei.
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Und nach dem Schrei gibt es einen Moment außerhalb der Zeit, einen kurzen Moment der Stille. Später sieht man im Fernsehen
Bilder: ein Regen aus Kalk und Putz und flackernden Glühbirnen. Beine von Menschen, von Tischen, Tischdecken voller
Blutflecken. Fast jeden Tag sterben Menschen auf den Straßen. Sprengstoff wird in Rohre geblasen, Bomben werden gebastelt.
Das Dach eines Cafés hebt sich in die Luft, salutiert dem Himmel, ein Autobus bricht auseinander, ein Auto wird beschossen. Und
dieser Junge, Denis Bukinow, läuft immer weiter mit offenen Schnür-senkeln herum, die ganze Woche lang, läuft und kommt nicht
zu Hause an. Und die Hitze. Und dann – das Telefon.
Eine Falte erscheint auf Nilis Stirn. Was soll das? Duclos? Plötzlich soll man sich treffen? Ein Anruf, nach neun Jahren? Ohne
dass er sagt, worum es geht? Wozu? Nati entschuldigt sich. Nein, er entschuldigt sich nicht direkt. Ist es etwa seine Schuld? Es ist
doch nur Zufall, dass er das Gespräch angenommen hat. Und wenn es Nili gewesen wäre, was hätte sie gesagt? Nein danke, kein
Interesse? Das heißt, Danke, aber ersparen Sie uns das Vergnügen? Nun denn, sie werden sich übermorgen um acht Uhr zum
Abendessen treffen, im Restaurant des King David, dort wird er wohnen.
„Vielleicht", fragt Nili, „erwartet er, dass wir ihn zu uns nach Hause einladen?" Nati zuckt mit den Schultern. „Ich verstehe nichts
von diesen Dingen", sagt er. Er steckt sich eine Zigarette an, die zweite, seit er den Höreraufgelegt hat, und lehnt sich zurück. In
den letzten Jahren gab es Zeiten, in denen er sich Zigaretten zugeteilt, und andere, in denen er es nicht getan hat. Jetzt – er weiß
es noch nicht – fängt wieder eine Zeit des Nichtzuteilens an. Er raucht und wartet darauf, dass Nili etwas sagt. Wenn sie fortfährt,
ihm Dinge anzuhängen, so kann er das auch. Seine Sinne sind geschärft. Er gebe zu, sagt er, wenn Duclos jetzt anriefe, würde er
sich ganz anders verhalten. Aber auch so habe er seine Sache nicht schlecht gemacht, Nili könne sagen, was sie wolle.
Im Alter von vierundvierzig, sechs Jahre älter als Nili, hat Nataniel Schoenfeler ein paar feste Vorrechte, zum Beispiel kann er
entscheiden, welche Mängel und welche Vorzüge er hat. Und er besitzt das Recht, seine Lebenserfahrung ins Feld zu führen. Seit
einigen Jahren joggt er fast jeden Abend, alles hat sich gefestigt. Er regt sich schon nicht mehr darüber auf, dass sich sein Haar
lichtet, und er hat sogar gelernt, seine Ohren zu lieben, die ihm selbständiger und absonderlicher denn je aus dem Spiegel
entgegenschauen.
Eigentlich gefällt ihm die Idee immer besser: Der Dicke will sich also mit ihnen treffen. Er denkt, das könnte ganz lustig werden.
Warum nicht? Aber da ist die ganze Zeit auch das Gefühl, das sich kurz nach dem Telefonat eingestellt hat: als verberge sich
etwas. Was will er von ihnen? Und Nili, die ihn so anschaut. Woran ist er schuld? Besonders jetzt, da die Mädchen nicht da sind,
um das Haus mit Lärm zu erfüllen. Sie haben Duclos nur einmal getroffen. Dabei ist das Wort getroffen wirklich übertrieben.
Vielleicht sollte man eher sagen, sie sind ihm und seiner Frau begegnet, anlässlich einer ärgerlichen Begebenheit, bei der sie die
Verlierer waren. Es war am Ende ihres Urlaubs
in Paris, vor neun Jahren, und dieser Duclos, das muss man zu seinen Gunsten sagen, half ihnen aus der Klemme, doch zugleich
ließ er es sie spüren, dass sie Hilfe brauchten. Und seine Frau, mit ihren braunen Haaren und den braunen Schultern, mit dem
angeberischen Namen – Pauline Marielle Duclos, ein Name wie aus einer Werbung –, stand daneben und betrachtete sie wie
Schoßhündchen. Man muss zugeben: Nachdem es passiert war, nachdem Nati und Nili schon wieder in Jerusalem waren,
erzählten sie anderen mit außerordentlichem Vergnügen davon. Es war ihre Lieblings-geschichte aus dem Paris Urlaub, die
Tausendundeine-Nacht-Erzählung, die Touristen am Zoll vorbeischmug-geln, ein Skalp am Gürtel. Und ab und zu haben sie, in
stillschweigendem Einverständnis, die Version ausgeschmückt. Ein Detail da, ein anderes dort. Sie übertrieben Duclos’ lärmende
Stimme, schoben ihm eine Zigarre in den Mundwinkel, verwandelten ihn in ein echtes Schwein mit polierten Schuhen und einer
goldenen Uhr. Sie kreierten eine vollendete Geschichte.
Und dann das. Plötzlich ruft Duclos an, beruft sich auf eine Einladung, die vor neun Jahren ausgesprochen wurde, die überhaupt
nur ein Lippenbekenntnis war. Plötzlich ein einziger Anruf – und ihre Erinnerungsmaschinerie bleibt mit einem verwirrenden Schlag
stehen, dann hört man ein heiseres Rasseln der Zahnräder, bevor sie sich rückwärts zu drehen beginnt. Nein, Duclos war kein
Zigarre rauchendes Schwein mit polierten Schuhen. Er war ein Fuchs und lebte fern jeder Zeichentrickwelt. Und das war nicht nur
eine lächerliche Unannehmlichkeit gewesen, dort in Paris, sondern eine echte Notlage. Alles andere als die amüsante Geschichte,
zu der sie später, erst nach ihrem Ende, geworden war.
Aber ist sie überhaupt zu Ende?
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Buber, Martin: Die Erzählungen der Chassidim | Manesse Verlag | 2014
Nachwort von Michael Brocke | ISBN: 978-3-7175-2368-0 | Großformatige Geschenkausgabe in Leinen | 784
Seiten | 29,95 €
Am 13. Juni 2015 jährt sich Martin Bubers Todestag zum 50. Mal.
Der Chassidismus, die religiöse Bewegung der Juden Osteuropas, entstand im 18. Jahrhundert und brachte eine
Fülle legendenhafter Erzählungen hervor. Teils mündlich, teils schriftlich niedergelegt, hatten diese Geschichten
lange Zeit keinerlei Anspruch auf literarische Gültigkeit. Es ist das Verdienst Bubers, der sie sammelte, sprachlich
formte und philosophisch einordnete. „Die Erzählungen der Chassidim“ stellte er 1949 persönlich für den
Manesse Verlag zusammen Zum Jubiläum erscheint die um Register, Anmerkungen und Glossar erweiterte
Ausgabe. Michael Brocke, einer der renommiertesten deutschen Judaisten, beleuchtet im Nachwort Bubers
epochales Werk aus heutiger Sicht.
Martin Buber (1878 bis 1965) war eine der führenden Persönlichkeiten des Judentums im 20. Jahrhundert und
ein Vorreiter des jüdisch-christlichen Dialogs. Geboren in Wien, aufgewachsen in Lemberg, studierte er
Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte und Psychologie in Wien, Berlin, Leipzig und Zürich. 1924-1933 war
er Professor für Allgemeine Religionswissenschaft in Frankfurt a. M. Buber, der sich früh dem Zionismus
anschloss, wanderte 1938 nach Palästina aus und lehrte an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Nach
dem 2. Weltkrieg war er einer der wenigen ehemals deutschen Juden, die in der Öffentlichkeit wieder eine Brücke
zu Deutschland schlugen. 1953 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
ISRAEL BEN ELIESER, DER BAAL-SCHEM-TOW
| Am Baum der Erkenntnis
Es heißt, die Seele des Baalschemtow sei einst, als alle Seelen in der Adams versammelt waren,* in der Stunde, da er am Baum
der Erkenntnis stand, geflohen und habe nicht von der Frucht des Baums gegessen.
* Nach der Kabbala waren alle Menschenseelen in der Adams enthalten und haben von da aus ihre Wanderschaft angetreten.
| Die sechzig Helden
Es heißt, die Seele des Israel ben Elieser habe sich geweigert, in diese niedre Welt hinabzufahren; denn sie scheute sich vor den
Brandschlangen, die in jedem Geschlecht einherzüngeln, und fürchtete, sie konnten ihr den Mut schwachen und sie zunichte
machen. Da gab man ihr sechzig Helden mit, den sechzig gleich, die das Lager des Königs Salomo umstanden gegen den
Schrecken in den Nächten – sechzig Seelen von Zaddikim, sie zu hüten. Das sind die Schüler des Baalschem.
| Probe
Es wird erzählt: Elieser, der Vater des Baalschem, wohnte in einem Dorfe. Er war ein so gastfreier Mann, dass er am Dorfrand
Wachter aufstellte, die mussten die armen Wanderer auffangen und zu ihm bringen, dass er sie verpflege und versorge. Im
Himmel freute man sich seines Tuns, und einmal kam man überein, ihn zu prüfen. Der Satan machte sich dazu erbötig; aber der
Prophet Elija bat, man möge lieber ihn gehen lassen. In der Gestalt eines armen Wanderers mit Ranzen und Stab trat er an einem
Sabbatnachmittag an Eliesers Haus und sprach den Gruß. Elieser achtete der Sabbatverletzung nicht, denn er wollte den Mann
nicht beschämen; er lud ihn sogleich zum Mahl und behielt ihn bei sich. Auch am nächsten Morgen, als der Gast Abschied nahm,
sprach Elieser keine Rüge aus. Da offenbarte sich ihm der Prophet und verhieß ihm einen Sohn, der die Augen Israels erleuchten
werde.
| Der Spruch des Vaters
Israel wurde seinen Eltern in ihrem Alter geboren, und sie starben weg, als er ein Kind war. Da sein Vater den Tod nahen fühlte,
nahm er den Knaben auf den Arm und sprach zu ihm: „Ich sehe, dass du mein Licht zum Leuchten bringen wirst, und mir ist nicht
beschieden, dich großzuziehn. Aber, geliebter Sohn, gedenke wohl all deine Tage, dass Gott mit dir ist und du daher kein Ding der
Welt zu fürchten hast.“ Der Spruch blieb im Herzen Israels.
| Das vergebliche Bemühen
Nach dem Tod des Vaters nahmen sich um seines ihnen teuren Gedächtnisses willen die Leute der Stadt des Knaben an und
gaben ihn zu einem „Melammed* in die Lehre. Israel lernte zwar eifrig, aber immer nur etliche Tage hintereinander. Dann entwich
er stets aus der Schule, und man fand ihn im Walde allein. Man schrieb das dem Umstand zu, dass er eine Waise sei und der
rechten Aufsicht entbehre, und brachte ihn immer wieder zum Melammed zurück, und immer wieder floh er in den Wald und
erging sich darin, bis schließlich die Leute der Stadt daran verzweifelten, einen Menschen aus ihm zu machen.
* Kinderlehrer
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| Der erste Kampf
Es wird von Israel ben Elieser erzählt: Als der Knabe heranwuchs, verdingte er sich als Schulhelfer. Er holte am Frühmorgen die
Kinder aus den Häusern und brachte sie in die Schule und ins Bethaus. Er sprach ihnen die Worte des Gebets, die im Chor
gesprochen werden, wie „Amen, es sei Sein Großer Name gesegnet in Ewigkeit“, mit einer lieblichen Stimme vor. Im Gehen sang
er ihnen vor und lehrte sie, zusammen mit ihm zu singen. Zuletzt führte er sie über Wiese und Wald nach Haus. Die Chassidim
erzählen, im Himmel habe man sich allmorgendlich dieser Lieder erfreut wie einst des Gesangs der Leviten im Heiligtum zu
Jerusalem. Es waren Stunden der Gnade, in denen die himmlischen Scharen sich versammelten, um den Stimmen der
Sterblichen zu lauschen. Darunter aber war auch Satan. Er verstand wohl, dass, was sich da bereitete, seine Macht auf Erden
bedrohte. So ging er in den Leib eines Zauberers ein, der sich in einen Werwolf zu verwandeln wusste. Als einmal Israel mit seiner
Schar singend durch den Wald zog, überfiel sie der Unhold, und die Kinder stoben schreiend auseinander. Etliche unter ihnen
erkrankten vom Schreck her, und die Väter beschlossen, dem Treiben des jungen Schulhelfers Einhalt zu tun. Er aber gedachte
der Sterbensworte seines Vaters, ging von Haus zu Haus, versprach den Leuten, ihre Kinder zu schützen, und es gelang ihm, sie
zu bewegen, dass sie ihm die kleine Schar noch einmal anvertrauten. Mit einem kräftigen Stecken versehen, führte er sie das
nächste Mal an, und als der Werwolf wieder hervorbrach, schlug er ihm den Stecken an die Stirn, dass er auf der Stelle verreckte.
Tags darauf fand man den Zauberer tot auf seinem Bett.
| Die Beschwörungen
Es wird weiter erzählt, dass Israel danach zum Diener am Lehrhaus bestellt wurde. Da er nun Tag und Nacht dort zu verbringen
gehalten war, aber das Gebot des Himmels empfand, seine Andacht und Versenkung geheim zu halten, pflegte er, wenn die
Insassen des Lehrhauses wachten, zu schlafen, und wenn sie schliefen, betend und lernend zu wachen. Sie aber meinten, er
schlafe die Nacht über und noch in den Tag hinein. Die Chassidim erzählen von wunderbaren Dingen, die sich damals begaben.
Vor der Zeit des Baalschemtow, so wird erzählt, lebte, man weiß nicht mehr wo, aber es heißt, dass es die Kaiserstadt Wien war,
ein wundertätiger Mann, Adam mit Namen, der wurde, wie eine Reihe wundertätiger Männer vor ihm, Baalschem, das ist Meister
des Namens, genannt, weil er den geheimen vollen Gottesnamen kannte und so auszusprechen verstand, dass er mit seiner Hilfe
die seltsamsten Dinge wirkte, insbesondre aber Menschen an Leib und Seele heilte. Als Adam sich dem Tode nah fühlte, wusste
er nicht, wem er die uralten, vom Erzvater Abraham her überkommenen Schriften lassen solle, aus denen er die Geheimnisse
gelernt hatte. Denn sein einziger Sohn war zwar ein gelehrter und frommer Mann, aber solchen Erbes nicht würdig. So tat er denn
die Traumfrage an den Himmel und erhielt zur Antwort, die Schriften seien Rabbi Israel ben Elieser in der Stadt Okup zu
übergeben, der zurzeit vierzehn Jahre alt sei. Vor dem Sterben erteilte er seinem Sohn den Auftrag.
In Okup angekommen, vermochte der Sohn erst nicht zu glauben, dass der Lehrhausdiener, der allgemein als ein unwissender
und ungeschliffener Junge bezeichnet wurde, der Gesuchte sei. Er beobachtete ihn insgeheim, indem er im Lehrhaus saß und
sich von ihm bedienen lies, und merkte bald, wie Israel sein wahres Wesen und Tun der Welt verbarg. Nun eröffnete er sich ihm,
übergab ihm die Schriften und erbat sich nur, an deren Erforschung unter seiner Anleitung beteiligt zu werden. Israel willigte ein,
bedingte aber, dass das Einvernehmen geheim bleibe und er den Fremden weiter bediene wie bisher. Dieser mietete ein kleines,
abgeschiedenes Haus außerhalb der Stadt. Mit Freuden überließen die Leute der Gemeinde ihm Israel zu seiner Bedienung und
schrieben es dem Verdienst seines Vaters zu, dass der fromme und gelehrte Mann sich seiner annahm. Einmal forderte Rabbi
Adams Sohn den Knaben auf, mithilfe der Anweisungen, die in den Schriften gegeben wurden, den Fürsten der Thora
herabzurufen, um ihn über Schwierigkeiten der Lehre zu befragen. Lange wehrte Israel das Wagnis ab, endlich aber gab er dem
Drängenden nach. Sie fasteten von Sabbat zu Sabbat, tauchten, und nach Sabbatausgang taten sie das Vorgeschriebene. Es
schlich sich jedoch, weil der Sinn des Fremden nicht rein genug auf die Lehre selber gerichtet war, ein Irrtum ein: statt des Fürsten
der Thora erschien der Fürst des Feuers und wollte die Stadt verbrennen, die es nur mit großer Anstrengung zu retten gelang.
Wieder bedrängte Rabbi Adams Sohn den Knaben lange Zeit, den Versuch zu erneuern. Er weigerte sich beharrlich, das offenbar
dem Himmel Ungefällige noch einmal zu versuchen. Erst als der Fremde ihn bei der Erinnerung an den Vater, der ihm die
Wunderschriften übermacht hatte, beschwor, stimmte er zu. Wieder fasteten sie von Sabbat zu Sabbat, wieder tauchten sie,
wieder taten sie nach Sabbatausgang das Vorgeschriebene. Da schrie der Knabe auf, der Tod sei über sie verhängt, es sei denn,
sie durchwachten die Nacht in einer unablässigen Ausrichtung der Seele. Sie standen die Nacht durch. In der Morgendämmerung
konnte Rabbi Adams Sohn der Müdigkeit nicht langer standhalten und schlief stehend ein. Umsonst versuchte Israel, ihn zu
wecken. Man begrub ihn mit großen Ehren.
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Büscher, Wolfgang: Ein Frühling in Jerusalem | Rowohlt.Berlin | 2014
ISBN 978-3-87134-784-9 | Gebunden | 240 Seiten | 19,95 € | Auch als E-Book
Zwei Monate lebte Wolfgang Büscher in der Altstadt von Jerusalem: in einem arabischen Hostel am Jaffator und
in einem griechischen Konvent aus der Kreuzritterzeit. Er bewegte sich auf fast zweitausend Jahre alten Spuren:
schon in den ersten Jahrhunderten nach Christus gingen Europäer nach Jerusalem, um eine Weile zu bleiben
oder sogar ganz. Ein Ort, aufgeladen mit Religion, Prophetie, Politik. Früh um fünf auf dem Ölberg stehend, kann
man es hören und sehen: erst die Muezzins, dann die Glocken, dann das erste Sonnenlicht auf der goldenen
Kuppel des Felsendoms. In all das taucht Büscher ein. Er hört Jerusalem zu, nimmt seine Bilder und Stimmen
auf, dringt immer tiefer ein in die Geheimnisse der Stadt. Verbringt die Tage im arabischen, christlichen, jüdischen
Viertel, in den halbdunklen Gassen und Souks, auf der Via Dolorosa, an der Klagemauer und in Gewölben, in
denen arabische Männer Kardamomkaffee trinken und Wasserpfeife rauchen. Er läuft durchs Kidrontal, durch
den Garten Gethsemane, wandert über das Dach von Jerusalem und lässt sich eine Nacht lang in der
Grabeskirche einschließen.
Wolfgang Büscher, geboren 1951, ist Autor der „Welt“. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, u.a. „Drei Stunden
Null“, „Berlin – Moskau“, „Deutschland, eine Reise“, „Asiatische Absencen“ und „Hartland“. Büscher erhielt
zahlreiche Preise, zuletzt den Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis und den Ludwig-Börne-Preis.
Schwarze Fahrt
Eine kuriose Fracht war es, die der kleine Bus hinauf nach Jerusalem fuhr, als habe ein Spötter sich das ausgedacht – zehn
Fahrgäste in einem Großraumtaxi, blass und ernst und in frommes Schwarz gekleidet fast alle, chauffiert von einem mürrischen
Fahrer, der sie am Flughafen aufgelesen hatte. Dort hatten sich die Fluggäste in zwei Gruppen geteilt; die einen fuhren zum
Feiern nach Tel Aviv, die anderen fuhren zum Beten nach Jerusalem. Die vorderen Plätze im Taxi nahmen drei Amerikaner ein,
orthodox auf den ersten Blick mit ihren Vollbärten, schwarzen Mänteln und schwarzen Hüten, eigentlich schauten nur Hände,
Lippen und Augen aus all dem Schwarz hervor. In den Händen hielten sie zerlesene Büchlein, die Augen hingen an den
keilschriftartigen Zeichen darin, die Lippen lasen stumm mit. Hinter ihnen saßen sehr aufrecht drei junge russische Nonnen, die
Gesichter bleich wie Milch unter den eng gebundenen schwarzen Hauben. Das einzige Zugeständnis an ihre Weiblichkeit waren
frei um die Schultern spielende Samtbänder, die dem fußlangen Schwarz ein wenig von seiner Strenge nahmen. Die Rückbank
endlich teilten sich ein älteres englisches Ehepaar, ein schläfenlockiger junger Schlaks im glänzenden schwarzen Kaftan, der
unentwegt telefonierte, und ich, der das alles sah. Je mehr mein Nebenmann in sein Mobiltelefon hineinredete, einen abgenagten
Knochen aus der Frühzeit dieser Technologie, desto schwerer fiel es mir, ihm nicht zuzuhören, und es lag nicht nur an seinem
sanft raspelnden Bariton. Die Sprache selbst weckte meine Neugier. Vertraute Wörter blitzten darin auf, helles Treibgut im dunklen
Strom seiner Rede. Was ich da aufschnappte, das waren, wenn auch sonderbar intoniert, Brocken meiner Muttersprache. „Die
Eltern" fiel mehrmals, und „kein TV". Seine Eltern besäßen keinen Fernseher, das war es wohl, was er dem, mit dem er die ganze
Zeit telefonierte, klarzumachen versuchte. Kehlig kam das alles aus ihm heraus. Die „Eltern" sprach er mit breitem „Ä", das „kein"
kaute er zu „kejn". Ein altmodisches, irgendwie osteuropäisch klingendes, singendes Kryptodeutsch, fremd und vertraut zugleich.
Ich ahnte, was es sein mochte, aber erst als er eine Telefonnummer durchgab, war ich ganz sicher. „Fünneff – zwej – fünneff –
drej – sechse – siebene – achte!" „It’s Yiddish", sagte der Engländer in mein spätes Begreifen hinein, „die Sprache der Ostjuden",
und mit einer Kopfbewegung zu dem zwischen uns Sitzenden hin: „Bei denen ist sie immer noch in Gebrauch." Dem Schlaks
schien es nichts auszumachen, dass nun über ihn geredet wurde, so über ihn hinweg. Er lächelte freundlich und nickte zu allem,
was wir über ihn und seine Welt sagten, die Welt der Ultraorthodoxie. Er verstand es wohl nur halb, sein Englisch war, wie sich
zeigte, schwach.
Inzwischen hatte der Bus die Straße, die von der Küstenebene ins judäische Bergland hinaufführt, verlassen und erreichte nun
Jerusalems westliche Vorstädte. Er fuhr aber nicht geradezu in die Stadt hinein, er brachte jeden Fahrgast bis vor seine Tür. Der
Fahrer ließ keinen Umweg aus, er nahm all die Hänge und Haarnadelkurven, so schnell er konnte, erfüllt von einer grimmigen
Freude, seine schwarze Fracht ordentlich zu rütteln und zu rollen. Linksherum riß er das Steuer, rechtsherum, jagte bergan und
bergab, neben mir gerieten die Schläfenlocken ins Schwingen. Tief drangen wir in Jerusalems kalkweiße Vorstädte ein, steil
aufragend an den Hängen wie Festungswerke. Jetzt hielt der Bus. Und weil er auf einer Anhöhe hielt, bot sich freie Sicht weit ins
Land. Ich sah, wo ich war, und erschrak. Es war aber nicht das Land, es war das Licht. Einer war über die Erde gegangen und
hatte Schwefel gesät. Viel Himmel sahen wir, ganz Jerusalem sah ich daliegen, dahinter die Berge von Judäa, wieder dahinter das
Land Moab jenseits des Jordantals, und alles in diesem schwefligen Unheilslicht. Es griff nach dem Verstand, nach dem Glauben,
dass alles gut wird, es stach in die Gegend des Solarplexus – Innewerden eines unverzeihlichen Leichtsinns, einer Gefahr. Ich war
nicht der einzige im Bus, dem so zumute war. Alle ließen von ihren leisen Gesprächen ab, sahen von ihren Büchern auf, schauten
hinaus und verstummten. Vielleicht der Chamsin, versuchte ich mich zu beruhigen, der Wind aus der Wüste, der Jerusalem immer
wieder in seinen gelben Dunst hüllt und das Gemüt auch, der Idiotenwind, der einen Schweif von Verrücktheit nach sich zieht.
Aber der Chamsin kam gewöhnlich im Frühling, und noch war Winter.
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Wenn es nicht der Chamsin war, was war es dann? Wo hatte ich dieses Licht schon einmal gesehen, diesen schwefligen
Vorschein einer Gefahr? Plötzlich wusste ich es – auf Bildern. Bildern, die nichts Gutes verheißen. Es gab Maler, die dieses Licht
kannten. Noch vor einer Stunde war ich unter Menschen gewesen, die guten Mutes waren oder wenigstens so taten, die ein
Zutrauen in die Welt an den Tag legten, und die Welt gab sich alle Mühe, ihnen eine vertraute zu sein – die eingespielten
Flughafenriten, der gute Espresso an der Flughafenbar, die beruhigenden Ansprachen des Kabinen-personals. Der Bus fuhr
wieder an, fuhr durch Straßen und Viertel, in denen lauter Schwarzgekleidete ihrer Wege gingen. Was war das da draußen, ein
Leichenbegängnis? Etwas fehlte, das Leichte, der leichte Sinn, der den Tod verlacht. Gesenkten Hauptes gingen die Leute einher,
als wagten sie nicht aufzuschauen und fürchteten, etwas zu erblicken. In diesem Licht konnte ein Zeichen erscheinen, eines, das
man wünschte, nie gesehen zu haben. Als die anderen Fahrgäste ausgestiegen waren und nur noch das englische Paar und ich
im Bus saßen, riß der Mann ein Blatt aus seinem Taschenkalender, schrieb ein Wort darauf und gab es mir – „Akedah". Ein
wichtiges Wort, sagte er, ich möge ihm einmal nachgehen. Ich versprach, es zu googeln. Er schüttelte den Kopf. Etwas mehr
Mühe würde ich mir schon geben müssen. Er sagte noch, ein Lied heiße so, geschrieben habe es ein spanischer Sepharde im 12.
Jahrhundert, „und wir singen es noch immer, am Abend, bevor der Schofar geblasen wird. Sie kennen den Schofar, das
Widderhorn?" Ich nickte, es war Zeit für mich. Ich steckte das Blatt ein, zahlte den Fahrer, sprang ab, riß die Hecktür auf, die wilde
Fahrt hatte alles Gepäck durcheinandergeworfen, zog meinen zerbeulten, zerschrammten blauen Koffer hervor und stand vor der
Mauer, hinter der ich die nächsten Wochen und Monate verbringen würde, vor Sultan Süleymans Mauer um das
dreitausendjährige Jerusalem. Den blauen Koffer in der Hand, betrat ich durchs Jaffator die Heilige Stadt.
I . Die erste Zeit
Das Fenster
Sobald das Tor durchschritten war, fiel alle Beklommenheit von mir ab – gerettet. Es war nur ein altes Stadttor, eines von sieben in
Jerusalems osmanischer Mauer, aber diese Mauer stand fest. Jerusalem stand fest. Ich war in festen Mauern und würde sie so
bald nicht wieder verlassen. Rasch regelte ich, was mit dem arabischen Wirt meines Hostels am Jaffator zu regeln war, schob den
Koffer ins Zimmer, das er mir zuwies, die Nummer 29, eine strenge, steinerne Kammer, das Eisenbett füllte sie fast ganz aus,
schloss die Tür gleich wieder zu und ging los, einem Bild nach, einer Erinnerung. Jetzt war der richtige Moment, danach zu
suchen, die Stunde der Abenddämmerung, in der die Häuser erleuchtet werden und warmes Licht aus den Fenstern fällt. Schon
einmal war ich hier gewesen, um diese Abendzeit in diesen stillen Treppengassen, in denen, während hoch am Himmel der Tag in
verschwenderischen Farben verglüht, schon die Nacht steht. Da hatte ich das Fenster gesehen – den erleuchteten Raum, den
gedeckten Tisch. Der Anblick traf mich wie ein Schlag aufs Herz. Reglos verharrte ich vor dem Fenster und starrte hinein, bis der
Gedanke mich aufschreckte, du kannst hier nicht bleiben, man wird dich sehen.
Die Tür in die Wohnung hinein stand halb offen, gleich würden die, denen der Tisch bereitet war, eintreten zu ihrem Sabbatmahl.
Ich hatte mich losgerissen und war ins Dunkel zurückgetreten, aus dem ich gekommen war, aber ich ging nicht mit leeren Händen.
Ich schnitt das Bild aus dem Fensterrahmen und nahm es mit, ein Dieb in der Nacht. Viele Jahre war das her, wieder lief ich durch
diese Gassen und suchte das Fenster, dachte darüber nach, was mich damals so getroffen hatte. „Der bereitete Tisch", so hieß
das gestohlene Bild, darum ging es. In einer sich auflösenden Welt stand der Tisch da, wie er immer dagestanden hatte, und
verweigerte die Auflösung. Jemand wollte es so, jemand hatte ihn für die Seinen festlich gedeckt, jemand hielt diese Stunde heilig,
und die Welt legte sich und wurde still, wie der Wind sich legt am Abend, sie wurde heil für ein paar Minuten..
Ich nahm es mir nicht vor, und doch fand ich mich Abend für Abend, wenn die Dämmerung einsetzte, durch die Treppengassen
des jüdischen Viertels über der Klagemauer streunend, auf der Suche nach etwas so Lächerlichem wie einem Fenster, an dem ich
vor Jahren ein paar Sekunden lang stehengeblieben war. Einige Male ging mein Puls schneller, dann glaubte ich, es gefunden zu
haben, aber jedes Mal irrte ich mich und gab die Suche auf, für diesen Abend und schließlich ganz. Hier wird viel gebaut, sagte ich
mir, dein Fenster gibt es nicht mehr.
Zwei Felsen
In einer so strahlenden Frühe erwachte ich in meinem Eisenbett, als wisse die Welt nichts von gestern und kenne kein Morgen.
Dann stand ich im eiskalten Wasser, das von der Decke fiel. Nach dem Duschen nahm ich den Feger und schob die
Duschwasserlache in das Loch im Steinboden, zog meine wärmsten Sachen an und die Tür von Zimmer 29 zu, beachtete die in
Tabletspielen gefangene Hostelwache so wenig wie sie mich, sprang die steile Treppe hinab, zwängte mich an der Wechselstube
im Eingang vorbei, hinein ins Gedränge der David Street. Eine enge Ader des alten Jerusalem, in die nie ein Sonnenstrahl fiel,
vom Jaffator her strömten unablässig Menschen herein. Ich wartete eine Lücke ab und glitt in den Strom. Darin standen die
Händler wie Bären in einem fischreichen Fluss. Wie jene, mussten sie sich keine Mühe geben beim Fischen, sie sperrten einfach
den Mund auf. „Hello, Sir! Shopping, Sir! Come see my shop!" Der vertraute Refrain des Basars, der vertraute Reflex stellte sich
ein: Augen zu Boden, nur nicht hinsehen. Einige pfiffen nach Kundschaft. Jeden fahrlässigen Blick fingen sie ein, es würde Kraft
kosten, sich wieder loszureißen. Einmal hineingelockt in einen dieser schmalen, aber oft tiefen Läden, fällt es dem Nichtorientalen
in seiner skrupulösen Unbeholfenheit schwer, freizukommen, die Händler wissen das – die jahrtausendalte Basarschläue der
Heiligen Stadt.
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Wer nach Jerusalem pilgert oder reist, der will aus Jerusalem auch etwas heimbringen, das ist immer so gewesen, darauf ist
Verlaß. Jerusalem, made in China. Souvenirs der religiösen, der politischen, der folkloristischen Art. Falsche Antiquitäten, vielleicht
auch ein paar echte darunter. Teppiche, garantiert beduinisch, Ikonen, garantiert altrussisch, „special prize, Sir!". Die meisten
Händler sind Moslems, aber natürlich führen sie alle gängigen Kippa-Sorten. Schlichte schwarze, wie fromme Juden sie tragen,
und die aus schwarzem Samt für die ganz Frommen. Auch gehäkelte weiße mit Symbolen darauf nach dem weit schlechteren
Geschmack der Siedler. „Dazu vielleicht ein T-Shirt, Sir, das hier mit dem Fallschirmjägerlogo? Oder lieber das mit 'Guns N’
Moses'? Katholische Meßgewänder, bitte sehr, in Rot, Grün und Weiß. Oder darf es eine schwarze Ganzkörper-hülle sein, mit
Sehschlitz für die Salafistengattin? Doch lieber etwas Traditionelles? Ein Kopftuch vielleicht im haschemitischen Stil, rot-weiß mit
schwarzer Kordel, wie der jordanische König es trägt? Kommen Sie, Sir, ich zeige Ihnen, wie man es anlegt. Ah, Sie bevorzugen
ein palästinensisches, schwarzweiß wie auf den Jassir-Arafat-Plakaten? Auch nicht, zu politisch, lieber was aus Bethlehem?
Eine Krippe, aus Olivenholz geschnitzt, in jeder gewünschten Größe. Oder sind Sie Moslem, Sir? Schauen Sie – die Kaaba, in
Kupfer getrieben, dazu gratis den heiligen Qur’an." Das alles dutzendfach, tausendfach, dicht an dicht, ein Angebot, scharf
zugeschnitten auf die Segmente Pilger, Tourist. Aber auch für den durchreisenden Fanatiker ist etwas dabei, und selbst die
bedauernswerteste aller Gruppen, die ganz Unmusikalischen, die an Jerusalem nur mal nippen wollten und bald merkten, dass
das nicht geht – selbst solche Leute fanden hier in der David Street irgendein buntes Tuch, eine armenische Vase, ein Mitbringsel
aus dem Morgenland.
Wenn ich früh durch die Gassen ging, über Steine manchmal, über die schon Römersandalen gelaufen waren, wuchtige Platten,
so weich getreten von Byzantinern, Mamelukken, Kreuzfahrern, Osmanen, dass ich bei Regen auf ihnen ausglitt; wenn ich dann
den Basarhändlern zusah, wie sie ihre blechernen Läden, die mitunter ihr ganzes Geschäft enthielten, aufklappten wie
Schwarzmarkthändler ihre langen Mäntel, wie sie mit langen Hakenstöcken ihre Köder hochhängten, Morgen für Morgen dieselben
Teppiche, Burnusse und lustigen T-Shirts, die durchsichtige Bauchtanzwäsche für das Abenteuer daheim, rot oder quietschgelb
und mit falschen Goldmünzen behängt, dann hatte der Basar etwas verzweifelt Trostloses, und es wiederholte, steigerte,
vervielfachte sich von Laden zu Laden. Wie auch nicht. Jerusalem hat nichts anderes zu bieten als das, nie zu bieten gehabt. Kein
Gold, kein Öl, keine seltenen Erden. Nicht einmal die Orangen und Granatäpfel, die von früh bis spät in seinen vier Vierteln – dem
armenischen, christlichen, jüdischen, moslemischen – zu Saft gepresst und zu nicht minder saftigen Preisen den Fremden gereicht
werden, nicht einmal diese Früchte kommen von hier. Sie wachsen in der fruchtbaren Küstenebene unten am Mittelmeer, dem
Land der Philister, das im Namen der Palästinenser fortlebt.
So arm ist Jerusalem, weltlich betrachtet. Bettelarm. Nur eines hat die Stadt zu bieten, ihre Heiligkeit für den Rest der Welt. Ein
guter Ort, um das zu begreifen, war das Dach meines Hostels. Ich hatte ohnehin genug vom Trubel, und so stieg ich aus der
Schattenwelt der Basargassen wie der die enge Treppe hinauf ins Hostel und die noch engere aufs Dach. Nun sah ich klarer.
Hingebreitet im gleißenden Mittagslicht lag das steinerne Jerusalem, und aus dieser weißgrauen Steinlandschaft ragten zwei
Hügel heraus, zwei Kuppeln, seine beiden heiligen Felsen: Golgatha und Tempelberg. Was vom Felsen auf dem Tempelberg
gesagt wird, reicht so tief wie möglich hinein in die Anfänge alttestamentarischer Erinnerung. Es ist der Fels vieler Namen.
Grabhöhle Adams. Verschlußstein der Sintflut. Thronsitz Jahwes. Nabel der Welt. Und noch ein Wort gehörte hierher, der
englische Sepharde hatte es mir im Taxi aufgeschrieben. Akedah, das heißt Bindung. Auf den Tempelbergfelsen dort drüben soll
Abraham seinen gebundenen Sohn gelegt haben, Isaak, bereit, ihn zu opfern. Akedah – die Bindung des eigenen Sohnes mit
Stricken als Bund des Vaters mit Gott, dem Gott, der ein solches Opfer nicht will und Abraham in den Arm fällt. Aber auch die
Bindung des Abraham, seine Bereitschaft, so weit zu gehen. Der Fels auf dem Tempelberg ist der alttestamentarische, der
jüdische Felsen. Dort zu wohnen, mitten unter seinem erwählten Volk, hatte Gott den Juden verheißen.
Auf diesem Fels bauten sie Jahwe ein irdisches Haus, den großen Tempel, den erst die Babylonier und dann endgültig die Römer
zerstörten, im Jahre 70 nach Christus. Der Überlieferung nach stand das Allerheiligste im Inneren des Tempels auf dem Felsen
selbst. Auf ihn legte der Hohepriester die Schaufel mit glühenden Kohlen, hier räucherte er, hier stand der Brandopferaltar, hier
floss das Blut der Opfertiere. Es war der heiligste jüdische Ort der Tempelzeit. Auf dem zweiten Fels hatte das Kreuz gestanden.
Nur ein paar hundert Meter von Abrahams Opferstein entfernt – und ihm so fern wie nur möglich, das andere Ende der biblischen
Parabel. Dem Abraham, der ihm den Sohn opfern will, verwehrt Gott dieses Opfer im letzten Moment. Auf Golgatha opfert er
selbst seinen Sohn. Der eine Felsen antwortet dem anderen.
Von meinem Dach aus war das alles nicht zu begreifen. Es war nicht einmal zu sehen, denn zwei Kuppeln verstecken die beiden
Felsen – die goldene Kuppel des Felsendoms bedeckt Abrahams Grab, und die graue Kuppel der Grabeskirche überwölbt
Golgatha. Und um es noch komplizierter, noch magnetischer zu machen – der Fels auf dem Tempel-berg ist auch ein
moslemischer heiliger Ort. Hierher, zum allerheiligsten Stein des jüdischen Tempels, sah sich ein halbes Jahrtausend nach dessen
Zerstörung der Prophet Mohammed entrückt. Zum Tempelberg habe er, so glauben die Moslems, al-Isra angetreten, seine
mystische Nachtreise von Mekka nach Jerusalem.
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Als sein Nachfolger, der Kalif Omar, 638 Jerusalem eroberte, fand er den jüdischen Tempelberg so vor, wie ihn die Römer
hinterlassen hatten, zerstört, verwaist. Und er stieß auf die belebte Grabeskirche, denn das Jerusalem, das er einnahm, hatte bis
dahin zum christlichen Reich von Byzanz gehört, es war eine weithin christliche Stadt. Omars Nachfolger, der Kalif Abd al-Malik,
mochte den Felsendom nicht so einzig und dominant stehenlassen. Er ließ Ende des 7. Jahrhunderts syrische und byzantinische
Architekten einen ebenso prächtigen Dom über den Felsen auf dem Tempelberg bauen, nach dem Vorbild der Grabeskirche.
Damit legte er den Grundstein für den explosivsten Ort im Jerusalem der Gegenwart – der heiligste Ort der Juden befindet sich im
Innersten der ersten moslemischen Moschee der Welt.
Die Nacht zog herauf, ich stieg wieder herab vom Dach und lief durch die Gassen, doch der Basar, die tägliche Zirkulation der
Menge, das ganze Treiben der heiligen Stadt, das mich noch vor einer Stunde eingenommen hatte, ließ mich nun kalt. Das war
nur die Schale, der harte Kern blieben die beiden Stifterfelsen, deren einen ich eben berührt hatte. Grabeskirche und Tempelberg
– nichts wäre Jerusalem ohne dieses Magnetfeld. Zu allen Zeiten zog es Suchende an, solche, die Gott und solche, die Zuflucht
suchten, und oft war das ein und dasselbe gewesen. Die ersten Pilger aus Europa kamen bald nach der Kreuzigung, und der
Strom riß nie ab. Jerusalem wäre nicht Jerusalem, spielte historische Zeit eine Rolle. Überall sonst auf der Welt wären solche Orte
abgekühlt, wäre ihr Magnetismus längst erloschen. Nicht hier. Wie stark aufgeladen beide Felsen noch waren, ich würde es bald
erfahren.
Die Nacht zog herauf, ich stieg wieder herab vom Dach und lief durch die Gassen, doch der Basar, die tägliche Zirkulation der
Menge, das ganze Treiben der heiligen Stadt, das mich noch vor einer Stunde eingenommen hatte, ließ mich nun kalt. Das war
nur die Schale, der harte Kern blieben die beiden Stifterfelsen, deren einen ich eben berührt hatte. Grabeskirche und Tempelberg
– nichts wäre Jerusalem ohne dieses Magnetfeld. Zu allen Zeiten zog es Suchende an, solche, die Gott und solche, die Zuflucht
suchten, und oft war das ein und dasselbe gewesen. Die ersten Pilger aus Europa kamen bald nach der Kreuzigung, und der
Strom riß nie ab. Jerusalem wäre nicht Jerusalem, spielte historische Zeit eine Rolle. Überall sonst auf der Welt wären solche Orte
abgekühlt, wäre ihr Magnetismus längst erloschen. Nicht hier. Wie stark aufgeladen beide Felsen noch waren, ich würde es bald
erfahren.
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Degen, Michael: Der traurige Prinz. Roman einer wahren Begegnung | Rowohlt.Berlin | ET: 6. März 2015
ISBN: 978-3871347689 | Gebundene Ausgabe | 256 Seiten | 19,95 € | Auch als E-Book
Vaduz, 1983: Nach einem Gastspiel kommt ein deutscher Schauspieler mit einem Mann ins Gespräch, er erkennt
die unverwechselbare Stimme und erschrickt über das müde Gesicht: Es ist der weltberühmte Oskar Werner,
Theatergott und oscarnominierter Filmstar. In dieser Nacht erzählt Werner sein erstaunliches Leben: ein Wiener
Bub aus armen Verhältnissen, der früh an der „Burg“ spielte, der gegen die Nazis opponierte, desertierte und
knapp dem Tod entkam. Später liegt Werner die Welt zu Füßen, er arbeitet mit Richard Burton, François Truffaut.
Dann aber lehnt er Angebote etwa von Stanley Kubrick ab – aus künstlerischen Zweifeln, die er nur noch trinkend
erträgt. Der jüngere Kollege blickt in den Abgrund einer gequälten Seele, erkennt die Tragik des Ruhms. Michael
Degen ist Oskar Werner („Jules und Jim“, „Das Narrenschiff“ u.a.) wirklich begegnet. Er erzählt Werners Leben,
das durch finstere Zeiten, über Glanz und Triumph in die Selbstzerstörung führte und berichtet von prägenden
Erlebnissen, mit Gustaf Gründgens oder Ingmar Bergman. Fast eine künstlerische Autobiographie – neben „Nicht
alle waren Mörder“ das persönlichste Buch des großen Schauspielers und Autors.
Michael Degen, 1932 in Chemnitz geboren überlebte den Nationalsozialismus mit seiner Mutter im Berliner
Untergrund. Nach dem Krieg absolvierte er eine Ausbildung am Deutschen Theater in Berlin. Er trat an allen
großen deutschsprachigen Bühnen auf und arbeitete mit Regisseuren wie Ingmar Bergman, Peter Zadek und
George Tabori zusammen. Seine Autobiographie „Nicht alle waren Mörder“ wurde zum Bestseller, es folgten
deren zweiter Teil, „Mein heiliges Land“ (2007), und der Roman „Familienbande“ (2011) über Michael Mann, den
jüngsten Sohn der Familie Mann.
Während eines Gastspiels in Vaduz fand ich eines Abends einen Zettel auf dem Garderobentisch. Darauf die Mitteilung, man
erwarte mich nach der Aufführung in der Kassenhalle des Theaters. Keine Unterschrift. Ich beachtete den Zettel nicht weiter,
wurde dann beim Abschminken aber doch neugierig. Also ging ich durch den leeren Saal ins Foyer und lugte durch eine
halboffene Tür in den schon abgedunkelten Kassenraum. Ebenfalls gähnende Leere. In einer dunklen Ecke nahe beim Ausgang
jedoch entdeckte ich eine männliche Gestalt. Mir den Rücken zugewandt, reagierte sie nicht auf mein Räuspern und sah durch die
Türfenster auf die Straße hinaus. Bewegungslos. Nach einer ganzen Weile, in der ich ebenso stillschweigend dastand, wandte
sich der Mann in einer raschen Bewegung zu mir um, mit einem solchen Schwung, dass er beinahe seine forciert aufrechte
Haltung eingebüßt hätte. Er ging noch einen Schritt auf mich zu und starrte mich nun seinerseits an. Kein Wort fiel. Weder von ihm
noch von mir. Keiner von uns beiden machte auch nur die geringsten Anstalten, sich dem anderen zu nähern. Woher kenne ich
diese Augen?, fragte ich mich. Im Halbdunkel kamen sie mir unnatürlich hell vor. Es waren Augen von so zwingendem Ausdruck,
dass ich mich ihnen nicht entziehen konnte. „Wie sind Sie nur auf die Idee gekommen, den Jean so widerwärtig, so brutal und
bösartig darzustellen?", sagte er plötzlich, und mit einem Schlag wusste ich, wen ich vor mir hatte. Diese unverwechselbare,
männlich und immer noch jugendlich klingende Stimme, mit diesem leicht wienerischen Tonfall darin. Jeder einschlägige
Theatergänger hätte ihn daran sofort erkannt. Ja, das konnte nur er sein. Er, den ich als mein Vorbild bezeichnet hätte – wäre ich
unbescheidener gewesen. „Das war wohl mehr der Einfall meines Spielleiters", entschuldigte ich mich leise. Wir hatten „Fräuleicn
Julie" von August Strindberg gegeben. „Kein Spielleiter ist es wert, dass man sich ihm so rückhaltlos in die Hand gibt. Nicht einmal
Ingmar Bergman." Dann lud er mich in sein Haus ein. „Darf ich Sie auf einen kleinen Drink nach Triesen bitten, hinauf in meine
Teixlburg? Es ist nicht sehr weit von hier. Mein Wagen steht gleich vor dem Theater im Parkverbot. Und keine Furcht, ich werde
Sie nicht allzu spät ins Hotel zurückbringen. Wenn Sie erlauben?"
Ich nahm die Einladung an. Es war eine einmalige Gelegenheit, und der Abend ist mir unvergesslich geblieben.
„Übrigens, sprechen Sie mich bitte nicht mit meinem Künstlernamen an", bat er mich auf der Fahrt nach oben. „Ich heiße
Bschließmayer. Oskar Josef Bschließmayer." Als ich ihn etwas verwirrt ansah, die Frage nach dem Warum im Gesicht, zuckte er
leicht die Achseln und erklärte ein bisschen zögernd, dass das wohl mit der Sehnsucht nach seiner verkorksten Kindheit zu tun
habe, die ihm trotzdem bis zum heutigen Tage als eine Art Paradies vorkommen würde. Er nahm in rasantem Tempo, sportlich,
wie man sagt, engste Serpentinen. Nach der Ankunft an seinem Haus führte er mich in einen großräumigen Salon, dort bot er mir
einen von zwei bequemen Ohrensesseln an, nahe an einem großen Panoramafenster. Von hier aus hatte man tagsüber sicher
einen wundervollen Ausblick auf die Berge und ins Tal. Dann ging er zu einem Teewagen, auf dem jede Menge Flaschen standen.
„Und für Sie?", fragte er, während er sich einen Fernet-Branca eingoss, den er sofort gierig in einem Zug hinunterstürzte.
„Wenn Sie einen Weißwein für mich hätten?" „Grüner Veltliner?"
„Meine Lieblingsmarke." „Das sagt man nicht. Nicht beim Wein", berichtigte er mich, während er sich einen weiteren FernetBranca einschenkte. Dann griff er nach einem wertvollen Kristallglas und einer Flasche ohne Etikett.
„Ein Geschenk des Hauses Bründlmayer. Mein Lieblingswein. Ich hoffe, Sie wissen ihn zu schätzen."
Er nahm mir gegenüber im zweiten Ohrensessel Platz, trank auch den zweiten Fernet-Branca, ohne das Glas abzusetzen, und
sah mich an.
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Bei Tag müssen Sie hier eine herrliche Aussicht haben", sagte ich und zeigte auf das Panoramafenster, das sich über die
Stirnseite des Salons zog. Dann wies ich auf das Bücherregal in seinem Rücken, das die ganze Breitseite des Raums einnahm.
Neben der Unmenge von Büchern, die teils zerlesen wirkten, teils kostbare Einbände hatten, war ein ziemlich großes Fach noch
halb frei, in dem, ordentlich geschichtet, lose gebundene Manuskriptstapel lagen, in denen ich Drehbücher zu erkennen glaubte.
„Sind das all Ihre abgedrehten Filme?", fragte ich in die eingetretene Stille hinein. Er schenkte sich ein und lächelte amüsiert.
„Der Adlerblick des Komödianten. Meine Filme?" Sein Lächeln wurde wehmütig, und er sah mich traurig an. „Das sind die
Angebote der letzten fünf oder sechs Jahre. Ich habe keines von ihnen gelesen." Ich begriff erst gar nicht, was er da sagte. Dass
ein Mann, dessen Talent, dessen Charisma so einzigartig, so überragend war, dass selbst Hollywood vor ihm in die Knie ging,
seine Berufung so konsequent aufgegeben haben sollte, wollte mir nicht in den Sinn.
„Aber es heißt doch, Sie hätten schon als Teenager nichts anderes als die Schauspielerei im Kopf gehabt." Er lachte, schüttelte
den Kopf und bediente sich erneut beim Fernet-Branca. „Nein, eigentlich wollte ich Musiker werden. Die Violine hätte mir sehr
gelegen. Oder das Dirigieren. Wo aber sollte das Geld für so ein Studium herkommen? Die Mutter lehnte meinen Wunsch sofort
ab und meinte, ich solle mir etwas anderes, weniger Verrücktes suchen. Wahrscheinlich glaubte sie auch nicht, dass es mir mit so
einem Beruf wirklich ernst war. Ich weiß ja selbst nicht, wie ich auf den Gedanken kam. Von einem Toscanini oder Furtwängler
ahnte ich damals noch nichts, ich war auch noch nie in einem Konzert gewesen. Nur ins Theater bin ich schon gegangen. Meine
geliebte Großi, meine Großmutter, hat mich ein paarmal auf die Stehplätze im letzten Rang mitgenommen. Sie schimpfte immer
auf diesen 'Rang unterm Dach', weil die Schauspieler von dort aus so winzig wirkten. 'Wie Käfer im Gras, vom Kirchturm aus
gesehen', hat sie immer gesagt. Meine Großi liebte ich im Grunde mehr als meine Mutter und meinen Vater zusammen. Bei den
Sonntagsausflügen in die Wachau spielte ich der Mutter und der Großi dann einiges von dem vor, das ich gesehen hatte. Und die
Großi staunte. 'Das habe ich alles gar nicht sehen können von da oben', versicherte sie meiner Mutter. 'Der Bub hat ja
Habichtsaugen.' 'Das ist bisher aber auch das einzige Talent, das mir an ihm aufgefallen ist', erwiderte meine Mutter kalt. Die
Frauen warfen sich daraufhin ein paar Grobheiten an den Kopf, wobei die Großi mich vehement in Schutz nahm: 'Über den Oskar
wirst du noch staunen', sagte sie immer wieder, 'der hat es in sich. Das spür ich.'" Er schwieg einen Moment und hing seinen
Erinnerungen nach.
„Sie hat es leider nicht mehr erleben können, meine Großi. Ich hätte sie so gern im Zuschauerraum gewusst, während ich meine
großen Rollen an der Burg spielte. Ins Kino ging sie ja nicht. 'Das ist Aftertheater', sagte sie jedes Mal, wenn ich vorgeschlagen
hab, mir mit ihr einen Film anzusehen. An der Theaterei aber bekam ich mit der Zeit immer mehr Spaß, und ermutigt wurde ich
auch. Sogar von meiner Mutter. 'Oskars Straßentheater' nannte es die Großi, wenn ich den Passanten auf der Gasse etwas
vorspielte. Sie war oft dabei und schlug die Hände vors Gesicht, damit man ihren vom Lachen verzerrten Mund nicht sah.
Meine erfolgreichste Darbietung war der hilflose blinde Bub, zu dem mir ständig neue Variationen einfielen. Ich konnte fabelhaft
stolpern und sogar hinfallen. Sechs Jahre alt, klein, stockdünn, so kreierte ich meinen blinden Oskar – und bis zum heutigen Tag
bin ich mir nicht sicher, ob ich es nicht dabei hätte belassen sollen. Das Theaterspielen wird doch ewig ein Beruf für
Unerwachsene bleiben. Damals aber faszinierte mich die unmittelbare Nähe der Zuseher, ihre spontanen Reaktionen auf mich.
Das hob mich von allen anderen ab. Es kam mir wie Zauberei vor, was ich da tat, und diese Direktheit war viel aufregender als das
Spielen über die arrogante Distanz hinweg, mit der wir Komödianten auf dem Theater von den Zuschauern getrennt sind. Denken
Sie: Allein in der Burg beträgt der Abstand zwischen Rampe und erster Sitzreihe mindestens zwei Meter. Zum Anfassen taugt das
nicht gerade. In der Gasse jedoch, in der ich tagtäglich auf meine Mutter zu warten hatte, bis sie von der Arbeit heimkam, da fiel
mir nichts anderes ein, was mir und meiner Großi im Rücken so viel Spaß brachte und die Zeit so rasch vergehen ließ. Das Mutterl
gab ja nie den Wohnungsschlüssel aus der Hand. Weder mir noch der Großi.
Zum Beispiel spielte ich den Schüchternen, Blinden, der sich vor fremden Stimmen fürchtet und sich tastend an Hauswänden
entlangdrückt. Von den Leuten gefragt, wo ich denn zu Hause sei, presste ich die Augen fest zu, schüttelte den Kopf, riss die
Augen dann auf und schaute in die falsche Richtung. Einmal kam mir ein älteres Paar entgegen, das mich entgeistert und mit
tiefem Mitleid betrachtete. Großi ging als scheinbar uninteressierte Passantin vorbei und flüsterte mir zu, dass ich die beiden in
Ruhe lassen sollte. Aber dann fragten die mich, ob ich Hunger hätte. Ich schüttelte den Kopf. Dann berieten sie sich und
beschlossen, mich nach Hause zu bringen, da ich ja offensichtlich blind sei und die Orientierung verloren habe. Jetzt konnte ich
nicht mehr zurück, auch wenn die Großi mich aus der Entfernung mit gespielten Drohgebärden und lautlosem Gelächter zu
stoppen versuchte. Ich wandte mich von dem Paar ab und blickte kurz zu ihr hinüber. Da musste ich auch lachen, konnte es aber
mit einem Weinkrampf kaschieren. Ich war selbst verwundert über die Tränen, die sofort aus meinen Augen rollten. Woran ich in
dem Augenblick gedacht habe? Ich erinnere mich nicht mehr. Es wird wohl etwas Trauriges gewesen sein. Und wie ist das bei
Ihnen? Können Sie aus dem Stand in Tränen ausbrechen?" Er sah mich forschend an.
Ich hielt seinem Blick stand: „Wenn es die Situation erfordert, sicherlich." Er nickte, als habe er keine andere Antwort erwartet, und
nahm einen Schluck. „Diese Technik habe ich später auch auf die Bühne übernommen. Damals sah ich nur, dass die Großi nun
wirklich erschreckt war und auf mich zulief. Ich hörte, wie das alte Paar sie beruhigte, dass sie schon mit mir zurechtkämen. Ich
drehte mich wieder zur Hauswand, lachte und weinte in mich hinein und flüsterte etwas von 'Zuhause' und 'Strozzigasse'. Ich tat,
als ob ich in großer Aufregung wäre, tastete die Hauswand ab, und die alten Leute nahmen mich bei den Händen, führten mich
behutsam über die Josefstädte Straße zur Strozzigasse hinüber und fragten mich nach der Hausnummer. Als ich glaubte, weit
genug von der Großi entfernt zu sein, griff ich wieder an eine Wand.
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Nach ein paar Metern blieb ich stehen, rief 'Hier, hier ist es!' und fasste an den Knauf einer Haustür. 'Hier muss ich warten, bis die
Mama von der Arbeit kommt. Sie ist nämlich eine Hutmacherin und hat viel zu tun.' Die alte Dame strich mir kurz über die Haare,
ergriff dann die Hand ihres Mannes und zog ihn fort. Offenbar ging ihr mein gespieltes kleines Schicksal zu nahe, denn sie hatte
Tränen in den Augen. Beide nahmen gar nicht wahr, dass ich die Augen offen hatte und sie direkt ansah. Das erzählte ich danach
der Großi, die ich auf der Straße wiedertraf, und sie sagte voller Staunen: 'Du hast sie hypnotisiert. In dir steckt etwas ganz
Furchtbares.' Dann nahm sie mich in den Arm, und wir gingen nebeneinander her. 'Weißt du eigentlich, warum wir hier in die
Josefstadt gekommen sind?', fragte ich. 'Du wolltest dir die Bilder in den Schaukästen vom Theater ansehen', erwiderte sie." Er
hielt inne. Nach einer langen Pause, in der er gedankenverloren durch die spiegelnde Scheibe ins dunkle Draußen schaute, sagte
er: „Eigentlich hat mir das Theater auf der Straße den meisten Spaß gemacht. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war alles,
was ich danach tat, nur geiles Geltungsbedürfnis und Geldmacherei. Niemals mehr hat mir etwas so viel Vergnügen bereitet wie
das Spiel damals auf den Wiener Gassen.“
Er füllte sein Glas aufs Neue und schenkte, ohne mich zu fragen, auch mir nach. „Ich war ein Straßenkind und kam früh mit dem
Alkohol in Berührung. Mein Elternhaus war so gut wie nicht vorhanden. In den zwanziger Jahren, als ich geboren wurde, 1922, um
genau zu sein –“ Er unterbrach sich und fixierte mich. „Welcher Jahrgang sind Sie eigentlich?", fragte er, sprach aber sofort weiter,
ohne meine Antwort abzuwarten: „1922, das war ein Jahr vor Hitlers Putschversuch in München. Adolfs Schatten legte sich schon
über uns alle. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich. Na, bei so vielen dunklen Vorzeichen musste es bei mir doch
schiefgehen. Dabei hatte ich mich so darauf gefreut, das vielgepriesene Licht der Welt zu erblicken, ich glaubte wohl, ein Paradies
vorzufinden." Er setzte das Glas an die Lippen, trank, fing zu lachen an und verschluckte sich. Dann lächelte er traurig und trank
den Rest. Wie viele Gläser hat er sich seit unserer Ankunft eigentlich schon einverleibt?, fragte ich mich.
„Paradies", murmelte er. „Was da auf den ersten Blick so verführerisch aussieht, ist doch mehr oder weniger zum Speiben! Alles,
was ich wollte, war mein Spaß und Vergnügen darüber, die Leute zum Lachen zu bringen. Oder auch zum Weinen. Und, hatten
sie Spaß? Na klar hatten sie den. Und was für einen. Mit fünfzehn Jahren kam ich einmal an der Albertina vorbei und sah, wie
davor alte Frauen mit Zahnbürsten das Trottoir putzen mussten. Viele Leute standen um sie herum und brüllten vor Lachen,
immer wieder deutete einer auf eine Stelle, die nicht sauber genug war, wie er meinte. Gleich sprangen ein halbes Dutzend Nazis
in kackbraunen Uniformen herbei und stießen eine der Frauen mit Fußtritten zurück an jene Stelle, die nach allgemeiner Meinung
übersehen worden war. Ich drängte mich durch und schrie meine Wut und mein Entsetzen heraus. Dann riss ich einer der Damen
die Zahnbürste aus der Hand und begann wie verrückt, das Straßenpflaster zu bürsten.
Einer der Braunen zerrte mich am Kragen hoch, warf der alten Frau die Zahnbürste wieder zu und gab mir eine mächtige
Ohrfeige. 'Ein deutscher Junge hilft diesem Kroppzeug nicht', schnarrte er unaufgeregt. ‚Hau ab.'" Bei dieser Erinnerung hatten
sich seine Augen wütend verdunkelt. Er griff erneut zur Flasche. „O ja, und ich hatte auch meinen Spaß damals. Wissen Sie, was
mich beinahe von Anfang an gereizt hat? Ich wollte König sein. Von Kindesbeinen an. Als König hätte ich so etwas wie die Nazis
nicht zugelassen. Es gibt Kollegen, die das Gegenteil antreibt, natürlich: Sie wollen alles dürfen, alles machen, nach Lust und
Laune. Aber bei mir fängt der Mensch dann erst an, Mensch zu sein, wenn er sich aus freiem Willen beherrscht, ohne in
Unterdrückung und Tyrannei zu leben und ohne an die Knute göttlicher Rache zu denken."
„Glauben Sie denn an Gott?", unterbrach ich ihn. „Schauen Sie, wer glaubt denn heute noch an diesen von uns selbst erfundenen
Popanz? Er ist doch ganz offensichtlich der Phantasie frühester menschenähnlicher Kreaturen entsprungen!" „Die Juden tun das
noch zum großen Teil." „Nun ja, die Juden! Die haben Gott ja auch nicht getötet. Die haben ihn erfunden. Den einen einzigen.
Doch der ist auch längst überholt. Hat nichts mehr zu tun mit der gewaltigen, unfassbaren Geisteskraft eines Schöpfers, der
Universum, Endlosigkeit und Ewigkeit geschaffen hat. Was weiß der vom Menschen? Oder achten Sie etwa auf all das Kleingetier
unter unseren Füßen? Auf die Insekten, auf die Sie treten? Es mag schon sein, dass Jesus uns darauf aufmerksam gemacht hat.
Er war ja ein Revoluzzer. Ein erfolgloser, letzten Endes. Denn um ihn, Gott, auch nur scheibchenweise zu erkennen, bräuchte
man eine psychische und geistige Energie, die kein Mensch haben kann. Hierin lag auch Jesus’ schwerwiegender Irrtum. Mit dem
Dahingehen seiner physischen Existenz ging allmählich all das wieder verloren, was er gesät zu haben glaubte. Selbst seine
Jünger, die Tag und Nacht um ihn gewesen waren, verloren ihn nach der Kreuzigung gewissermaßen aus den Augen. Und was
war seine größte Qual, noch größer wahrscheinlich als die der Kreuzigung? Es war das Wissen, was er von der menschlichen
Natur zu halten hatte. Sprachen seine Jünger denn noch von ihm, so wie er war? Nein, sie schilderten der Nachwelt einen Mann,
den sie nach ihren Wünschen und Vorstellungen schufen. Ein göttliches Wesen. Ein Messias. Und schauen Sie sich die heutige
Kirche an. Seine Stellvertretung auf Erden."
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Er verschluckte sich beinahe an seinem Fernet-Branca. „Wo ist heutzutage auch nur der Hauch seiner Gegenwart zu spüren? Und
wie kommt es, dass so viele Menschen dieser doch recht primitiven Kreation eines Gottes nachlaufen? Heutzutage, in unserer
modernen Welt? Das kann einen schon krank machen. Finden Sie nicht? Auch deshalb bin ich nach wie vor der Überzeugung,
dass die Schauspielerei, dieser kindische und unerwachsene Beruf, der einzige war, der für mich in Frage kam. Wenn ich Lust
hatte, mich in einen Halunken hineinzuversetzen, konnte ich eine solche Erfahrung machen. Oder auch das Gegenteil davon:
Stellen Sie sich vor, Sie verweigern beispielsweise einem dritten Richard den Untertanengehorsam. Das hätte in der Realität die
sofortige Hinrichtung bedeutet, Ihren Kopf hätten Sie verloren.
Für den Schauspieler dagegen bleibt alles nur Bühnenhandlung. Vielleicht würden Sie mit Ungehorsam die Kollegen zur
Verzweiflung treiben, und in extremen Fällen könnte es zu Pfiffen und Protesten aus dem Publikum kommen. Peinlich wär’s, mehr
aber auch nicht. Das Schlimmste, das einem Komödianten geschehen könnte, wäre die fristlose Entlassung. Doch die Erfahrung,
sich der Macht zu widersetzen, die hätte man erlebt. Oder, wenn man eben den Richard selber spielt, die Erfahrung, Macht
auszuüben. Und wo kann man das sonst? Es sei denn, natürlich, man entschließt sich, ein skrupelloser Politiker zu werden. Aber
wer will schon sein Leben mit dem Hitlers oder Stalins tauschen? Sie etwa?“
„Aber Macht hatten die Kerle, und zwar mehr als jeder andere vor ihnen. Das können Sie nicht leugnen."
„Ja, freilich. Und durch wen? Durch die Hirnlosigkeit des Volkes und den hemmungslosen Einsatz von Gewalt. Ein König dagegen
bekam die Macht von Gott, oder von sonst wem, der hinter dieser Bezeichnung steckt.“ „Glauben Sie denn an einen Gott?", fragte
ich noch einmal und bemühte mich, es so beiläufig wie möglich klingen zu lassen.
„Sie sollten lieber fragen, wer überhaupt noch glaubt. Vorgeben tun es viele. Aber ernsthaft, wer sollte an diese Gebilde, das der
Phantasie unserer Vorfahren entsprungen ist, wahrhaft noch glauben? Für die einen ist es die dreigeteilte Gottheit, für die anderen
ein strenger Vater, dessen Namen man nur an den höchsten Feier tagen in den Mund nehmen darf. Vom griechischen und
römischen Göttergewimmel wollen wir gar nicht erst reden. Und die paradiesischen Versprechungen des Islam kann man ja nicht
ernst nehmen. All das hat doch nichts zu tun mit der Allmacht eines Schöpfers – für den sind doch nicht einmal Begriffe wie
Endlosigkeit oder Ewigkeit existent. Mich interessiert deshalb nur die eine Frage: Wie konnten so ungeheure Menschenmassen
diesen primitiven Götzen bis zum heutigen Tag nachlaufen? Bei unserem kulturellen Entwicklungsstand! Oder sollte man das
Adjektiv 'kulturell' besser weglassen? Was meinen Sie?" Ich wollte ihm nicht widersprechen. Konnte ich es überhaupt? Er stand
auf und trat dicht vor das große Fenster. „Nein, nein", sagte er nach einer Weile. „Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass
mein Beruf für mich der einzig stimmige gewesen ist, dass er mir eine wohltuende Unabhängigkeit, wenigstens für ein paar
Stunden am Tag oder besser am Abend, beschert hat."
„Und deshalb Ihre königlichen Lieblingsrollen?" „Ja. Ich konnte mich dabei stets mit dem Schild der Gottgewähltheit schützen, mich
insgeheim über die Masse der Schafe lustig machen, sie streicheln oder sie abschlachten lassen, wenn mir danach war, und
gleichzeitig den Leuten im Parkett den ‚Spiegel vorhalten‘, wie es der größte aller theatralischen Meister einmal so genial formuliert
hat. Andererseits schäme ich mich dieser lebenslänglichen Beschäftigung. Denn Theater ist ja doch eher ein Spielchen für halbe
Kinder, für die ewig Heranwachsenden. Finden Sie nicht? Wenn ich nach meinem Beruf gefragt wurde, hatte ich immer
Hemmungen, das Wort Schauspieler auszusprechen. Auch heute noch."
Er drehte sich zu mir herum und kam langsam auf mich zu. „Wie geht es Ihnen damit?" Seltsam, dachte ich bei mir – ich habe
ähnliche Hemmungen. Nur sind meine Gründe völlig andere. Ich schäme mich keineswegs. Im Gegenteil: Ich betrachte es als
Angeberei, mich so zu titulieren. Er wartete meine Antwort aber nicht ab: „Haben Sie eigentlich schon einmal eine der großen
Rollen von Shakespeare gespielt? Sollte Ihnen das noch nicht gelungen sein, ist Ihnen der wahre theatralische Ritterschlag noch
nicht zuteilgeworden.“ Er schwieg eine Weile. Es machte den Eindruck, als habe er nun gänzlich den Faden verloren. In die immer
länger werdende Stille hinein fragte ich: „Wo finde ich denn hier die Toilette?" Ohne aufzusehen, erklärte er mir in knappen Worten
den Weg zu jenem Ort, den wir beide in dieser Nacht noch häufig würden aufsuchen müssen. Als ich zurückkam, griff er gerade
wieder zur Fernet-Branca-Flasche und nahm seinen Monolog auf, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. „Wie beginnt man
denn sein Leben, wenn man mit dem Namen Oskar Josef Bschließmayer auf die Welt kommt?
Wenn ich heute darüber nachdenke, wäre ich am liebsten gleich wieder in den Mutterleib zurückgekrochen.
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Diner, Dan: Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage | DVA | ET: 2. März 2015
ISBN: 978-3421046833 | Gebunden | 176 Seiten | 19,99 € | Auch als E-Book
Vor 50 Jahren nahmen die Bundesrepublik Deutschland und der Staat Israel diplomatische Beziehungen auf –
vorläufiger Endpunkt einer dramatischen Vorgeschichte, die im Luxemburger Abkommen zur sogenannten
Wiedergutmachung von 1952 ihren Ausgang nahm. In dichter Erzählung sucht der Historiker Dan Diner die
Tiefenschichten jener zwiespältigen deutsch-israelischen Annäherung auszuleuchten, vor allem die politisch-theologischen Aspekte der Diskussion auf israelischer Seite – nur wenige Jahre nach dem Mord an den europäischen
Juden. Es geht ihm dabei um Sprache und Habitus, Fluch und Bann, um Erinnern und Vergessen, Anerkennung
und Nichtanerkennung und schließlich um die Entscheidung zwischen jüdischer Tradition und israelischer Staatsraison: Durfte man mit dem Land der Mörder in Verhandlungen treten und materielle Entschädigung annehmen?
Dan Diner, geboren 1946, lehrt Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Von 1999 bis
2014 war er Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig.
Ein Zeremonientisch in Luxemburg
Frostig war die Stimmung an jenem Morgen des 10. September 1952 im Cercle Municipal der Stadt Luxemburg, dem festlichen
Stadtpalais am Place d’Armes. Frostig sollte es zugehen, als die Vertreter des jüdischen Volkes auf der einen und der
Bundesrepublik Deutschland auf der anderen Seite einander in dessen Zeremoniensaal, dem Salle Flamande, für alle Welt
sichtbar begegneten. Für demonstrative Distanz bestand guter Grund. Nur wenige Jahre nach der Katastrophe und gegen den
erbitterten Widerstand nicht unerheblicher Teile der jüdischen, vornehmlich der israelischen Ö6entlichkeit hatten die Vertreter des
jüdischen Volkes in Gestalt des Staates Israel sowie der Claims Conference sich dazu durchgerungen, mit dem Rechtsnachfolger
des Deutschen Reiches ein Abkommen über Restitution und Entschädigung zu schließen – die sogenannte Wiedergutmachung.
Zwiespältig war das Unternehmen von Anfang an gewesen. Seinen zeremoniellen Ausdruck fand diese Ambivalenz im abends
zuvor von den Delegationsführern der vertragsschließenden Parteien erzielten Einvernehmen, während und unmittelbar nach
Vertragsunterzeichnung weder Reden zu halten noch Vertraulichkeiten auszutauschen. Nach außen hin sollte, trotz der zuvor
diplomatisch erzielten Übereinkunft in der Sache bleibender Dissens demonstriert werden. Einen das Vertragswerk besiegelnden
Händedruck galt es zu vermeiden; Stille sollte obwalten.
Als nun in aller Frühe beide Delegationen durch gegenüberliegende, zeremoniell sich ö6nende Türen in den Saal schritten, waren
allenfalls verhaltene Laute gegenseitiger Vorstellung vernehmbar. Wortlos nahmen die Delegationen am massiven
Zeremonientisch des salle des mariages einander gegenüber Platz. Schweigend unterzeichneten Außenminister (und Bundeskanzler) Konrad Adenauer auf der einen Seite und sein israelischer Amtskollege Moshe Sharett auf der anderen das doppelt
ausgefertigte Dokument; Nahum Goldmann unterfertigte als Präsidenten der Claims Conference die anliegenden Protokolle. Der
vereinbarten Etikette ostentativer Distanz war Genüge getan.
Statt ungesagter Worte sind Bilder überliefert. Die „Episode der nicht gehaltenen Reden" wurde für Zeitgenossen wie Nachwelt
ausgiebig auf Zelluloid gebannt.3 Die eindrücklichen Bilder schienen zu bezeugen, dass Deutsche und Juden nur wenige Jahre
nach der Katastrophe, für die sich erst später das Wort vom Holocaust einstellen sollte, das Fundament für einen Neuanfang
legten. Diese Lesart kam der deutschen Seite entgegen. Ein solcher Neubeginn sollte freilich nicht als Wiederanknüpfung an die
vormalige, durch die Geschichte dementierte Gemeinsamkeit von Deutschen und Juden verstanden werden. Von nun an waltete
ein anders Verhältnis vor, gezeichnet von einer scharf gezogenen Linie kollektiver Unterscheidung. Unter diesen Voraussetzungen
und vor dem Hintergrund der Katastrophe erstrebten Juden und Deutsche ein den Erfordernisses des Tages geschuldetes
Auskommen. Diese Konstellation nahm in Luxemburg in der Szene sich anschweigender Delegationen choreographisch Gestalt
an. Es schien, als laste über der Begegnung die Aura eines Banns. Ein solcher Eindruck entsprach dem Empfinden der jüdischisraelischen Seite.
Die Choreographie der mise en scène verhaltener Annäherung bei bleibender Entzweiung war den israelischen Unterhändlern, die
am 20. März 1952 im Hotel Oud Castel des holländischen Ortes Wassenaar bei Den Haag die Verhandlungen eröffnet hatten, mit
auf den Weg gegeben worden. Wenige Wochen zuvor war es der israelischen Regierung unter großen Mühen gelungen, eine
parlamentarische Legitimation für die Aufnahme von Verhandlungen mit Deutschland zu erwirken. Die dreitägige Debatte über die
Restitutionsfrage Anfang Januar war die wohl dramatischste, die jemals im israelischen Parlament geführten worden ist.
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Nur wenige Jahre nach den kurz aufeinander folgenden Ereignissen von Katastrophe und Staatsgründung hatten aufgebrachte
Parlamentarier die Regierung in geradezu liturgisch aufgeladener Sprache beschworen, die Ehre Israels nicht zu beflecken und
sich vor dem Frevel einer direkten Kontaktaufnahme mit den Deutschen zu behüten. Die israelischen Unterhändler hatten der
Debatte beigewohnt. Noch jahrelang standen sie, wie einer von ihnen später zu berichten wusste, unter dem Eindruck jenes
dramatischen Geschehens – ein gewaltiger kollektiver Aufschrei, dessen Echo sie als gleichsam heiliger Auftrag in die
Verhandlungen begleiten sollte. Diesem Auftrag galt es, wenn schon nicht in der Sache, so doch der Form nach zu entsprechen:
Von den Deutschen galt es Abstand zu halten. Von den Deutschen Abstand zu halten, war für die israelischen Unterhändler nicht
leicht gewesen. Allein schon der Umstand, dass sie durchweg deutsch-jüdischer Herkunft, habituell recht eigentlich Deutsche
gewesen waren, ließ erahnen, dass die mit ihrer Herkunft verbundenen Prägungen womöglich zu Befangenheiten führen könnten.
Bereits vor einer vertraulichen frühen Sondierung, die in Anwesenheit Konrad Adenauers stattfand, hatte Gershon Avner, der
Direktor der Abteilung Westeuropa im israelischen Außenministerium – auch er deutschstämmig und später Sprecher der
israelischen Verhandlungsdelegation in Wassenaar – derartige Besorgnisse vernehmen lassen: Dem Treffen solle unbedingt eine
israelische Amtsperson beiwohnen, die zwar fließend Deutsch spreche, nicht aber durch eine deutsch-jüdische Herkunft
beeinträchtigt wäre – handicapé, wie es in der Begründung Avners hieß. Die Wahl fiel auf Maurice Fischer, den israelischen
Botschafter in Paris, der früher im belgischen Antwerpen beheimatet gewesen war.
Die Vermutung, die deutsch-jüdische Herkunft israelischer Unterhändler könnte sich belastend auf die Gespräche auswirken,
bestätigte sich während der Verhandlungen in Wassenaar. Der anfangs demonstrativ eingehaltene Abstand der israelischen
Gesandten den bundesdeutschen Unterhändlern gegenüber schmolz zusehends dahin. Auf Dauer erwies sich die vormals geteilte
deutsche Verhaltens- und Sprachkultur als stärker denn die beabsichtigte strikte Unterscheidung zweier Kollektive – von
Deutschen und von Juden.
Für die Erö6nung der Verhandlungen im holländischen Wassenaar hatte die israelische Seite Vorkehrungen zur Wahrung der
rituellen Distanz getroffen. So sollten die Delegationen den Raum nacheinander und in einem Abstand von fünf Minuten betreten,
damit es nicht zu einer zufälligen Begegnung auf den Fluren käme. Auch der sonst übliche, Vertrauen einflößende Brauch, zur
Begrüßung die entgegengestreckte rechte Hand zu ergreifen, galt als unangebracht und sei durch eine angedeutete stumme
Verbeugung zu ersetzen. Außer durch verhaltene Körpersprache sollte die Choreographie der Distanz vor allem durch die
israelische Weigerung aufrechterhalten werden, Deutsch als Verkehrs- und Verhandlungssprache gelten zu lassen. Tatsächlich
hätte nichts näher gelegen, als sich untereinander auf Deutsch zu verständigen. Deutsch war allen Delegierten vertrautes Medium
gewesen; Deutsch war die Muttersprache aller an den deutsch-israelischen Verhandlungen beteiligten Unterhändler. Allerdings
hätte die Verwendung des Deutschen gegen den Imperativ ostentativer Distanznahme verstoßen. Deutsch, in der Vergangenheit
vielleicht die Sprache der Juden Europas, galt Juden, besonders israelischen Juden, inzwischen als kontaminiert, seine
Verwendung war anstößig, zumal im ö6entlichen Raum und erst recht von Staats wegen
Das geradezu rituelle jüdische Begehren, infolge der Katastrophe alles Deutsche zu exorzieren, erreichte im Moment einer
simultanen Bannung Deutschlands und der Staatswerdung Israels seinen Höhepunkt, um davon ausgehend tiefe Wurzeln in das
Gewebe des neu gezeugten, untrennbar mit den Zeitikonen 1945/48 verbundenen jüdischen Selbstverständnisses zu schlagen.
Ein solcher Exorzismus verwarf Embleme jüdischer Zugehörigkeit, die auf Deutsches zurückgingen, vornehmlich die der Kultur des
aschkenasischen Judentums vertraut gewesene deutsche Sprache. Der Rückzug dieses Mediums aus dem öffentlichen Raum –
eine Tendenz, die in Palästina mit dem zionistischen Vorhaben einer hebräischen Nationsbildung einherging und schon vor der
Katastrophe begonnen hatte –, nahm jetzt den Charakter einer regelrechten Austreibung an.
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Doron, Lizzie : Who the Fuck Is Kafka? | Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler | dtv Premium |
ET: Feb. 2015 | Deutsche Erstausgabe | ISBN 978-3-423-26047-3 | 256 Seiten | 14,90 €
Eine israelisch-palästinensische Konferenz in Rom. Nadim sitzt mit Lizzie Doron auf dem Podium. Ist Nadim ein
arabischer Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürtel? Nein, er hat nur seine Reiseunterlagen mit schwarzem
Klebeband am Hosenbund befestigt. Mit der Begegnung zwischen der israelischen Autorin und dem arabischpalästinensischen Journalisten aus Ost-Jerusalem beginnt eine wechselvolle Freundschaft, die beide an die
Grenzen der Verständigung treibt. Lizzie hat den Holocaust im Gepäck, Nadim die Naqhba – die große Katastrophe, wie die Palästinenser die Folgen des 48er-Krieges nennen. Israel – Palästina: ein übervölkertes Asyl in
Absurdistan. Lizzie und Nadim wollten das Terrain dieses Schauplatzes gemeinsam vermessen. Doch Lizzie
muss ihre Concierge beruhigen, wenn sie fragt, ob alles in Ordnung sei, weil der Araber seit einer halben Stunde
im Haus ist. Lizzie muss akzeptieren, dass Nadims Frau nicht mit am Tisch sitzt, wenn sie beide besucht, Und
Lizzie erfährt, warum in Nadims Wagen immer ein Paar Highheels liegt. Nadim muss ertragen, dass Lizzies
friedensbewegten Peace-Now-Freunde ihm misstrauen, und dass sein Kontakt mit einer Israelin seine Leute
provoziert. Nach drei Jahren ist Schluss: Nadim erhält Todesdrohungen, er zieht sich zurück. Doch Lizzie setzt
ihre Aufzeichnungen fort und kämpft weiter um das Bleiberecht von Nadims Frau, die zwar aus Libyen stammt
und in Gaza aufgewachsen ist, die aber trotz ihrer Ehe mit einem Israeli immer noch so etwas wie eine
staatenlose Ausländerin ist. Das Ergebnis ist dieses Buch.
Lizzie Doron, geboren 1953, lebt in Tel Aviv und Berlin. Sie lehrte Linguistik an der Universität in Tel Aviv, bevor
sie Schriftstellerin wurde.
„Ich bin Nadim aus Jersualem“, hörte ich einen Mann in fließendem Englisch und mit starkem arabischen Akzent sagen. Ich hatte
den Vortragssaal zu spät betreten. Maria, die italienische Gastgeberin, eine etwa vierzigjährige Frau mit mediterranem Aussehen,
brünettem Haar und der heiseren Stimme einer Raucherin, drängte mich, schnell meinen Platz auf dem Podium einzunehmen. Ich
gab mir Mühe, mich leise auf den freien Stuhl zu setzen, der mich erwartete, und betrachtete neugierig den Menschen, der jetzt
sprach. Die dämmrige Beleuchtung erschwerte mir die Sicht. Ich hörte Nadims warme, angenehme Stimme und in meinem Kopf
wurde eine andere Stimme laut.
„Operation gegossenes Blei" hatte der Nachrichtensprecher den Krieg genannt, der in dem Land herrschte, aus dem ich kam. Er
berichtete, die Luftwaffe und Bodentruppen seien in Gaza eingedrungen und hätten das Feuer erwidert, als Reaktion auf Schüsse
an der Grenze zum Gazastreifen. Er nannte die Terrororganisationen, die während der letzten Wochen über sechzig Raketen auf
die grenznahen Siedlungen abgeschossen hatten. Es war schon Krieg, als mich die Einladung zu einem Wochenende in Rom
erreichte. Eine Vereinigung von Träumern, die die Realitäten im Nahen Osten verändern wollten, lud israelische und
palästinensische Friedensaktivisten zu einem dreitägigen Kongress ein.
Ich hatte zugesagt, war nach Rom gereist und lauschte jetzt den Worten Nadim Abu Hanis aus Ost-Jerusalem.
„Ich kam vier Stunden vor dem Abflug zum Flughafen", sagte er, „und gab dem Sicherheitsmenschen mein Ticket. Ich wurde zum
Security Check geführt und der Willkür des Metalldetektors überlassen, der mir zu Ehren begeistert zu pfeifen begann. Man
brachte mich in einen Nebenraum, und dort ging es los mit den Fragen. Ein Sicherheitsbeauftragter wollte wissen, wohin ich fuhr
und warum. Ich sagte, ich führe nach Rom, um Frieden zu bringen. Bei diesen Worten brachen die Umstehenden in lautes
Gelächter aus."
Bevor ich das Haus verlassen hatte, hatte Dani, mein Mann, beklagt, dass uns dieser Traum viel Geld koste, seit Jahren würden
wir meine Reisen in Sachen Frieden finanzieren. Für ihn, als -Finanzberater, lohnten sich solche Ausgaben nicht. „Du bist schon
seit dreißig Jahren damit beschäftigt, ohne dass es etwas gebracht hätte. Wärst du meine Klientin, hätte ich dir schon längst
geraten, den Laden dichtzumachen."
Ich hatte geschwiegen. Ich wusste, dass er Recht hatte.
„Vor dreißig Jahren bist du allerdings nur zu Demonstrationen gegangen", erklärte er, „und das hat nichts gekostet."
Etwas in mir sagte mir, dass dies eine meiner letzten Friedenskonferenzen sein würde.
„Danach werden wir nur noch für Kriege Geld ausgeben", versprach ich, um Dani aufzumuntern.
Ich brachte die Gedanken, die mir durch den Kopf schossen, zum Schweigen und konzentrierte mich auf Nadims Worte.
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„Ich verstehe", sagte der Securitymensch mit übertriebenem Ernst und bat mich zu warten. Erst, nachdem er in seinem Rechner
Informationen eingeholt hatte, erklärte er, ich sei vermutlich in Ordnung und entschuldigte sich dafür, dass er die Gefahr, die von
meiner Familiensituation ausgehe, kontrollieren müsse. Er stellte eine Reihe von Fragen zu meiner Frau und meinen Kindern und
erkundigte sich, ob unter ihnen ein Terrorist sei. Was Laila, meine Frau, betraf, fiel meine Antwort eindeutig aus, doch in Bezug auf
meine Kinder, sagte ich, falle es mir schwer zu antworten, denn mein ältester Sohn sei zehneinhalb und der jüngere neun. Dann
kamen die anderen Verwandten an die Reihe. Ich erklärte, dass ich acht Geschwister hätte, oder besser gesagt Schwestern,
leider sei ich der einzige Sohn meines Vaters.
„Gibt es Terroristen in Ihrer Familie?", wollte er wissen.
Falls es einen Terroristen gibt, dachte ich, kann nur ich es sein. Meine Schwestern sind längst verheiratet und haben sich in alle
Winde verstreut, sie leben in Jordanien, in Gaza, in Dubai, in Ägypten.
„Sind Sie Mitglied einer terroristischen Vereinigung?"
„Nein."
„Hat sich jemand aus ihrer Familie an Terroraktionen beteiligt? Dafür gespendet? Sich freiwillig gemeldet?"
Acht Mal antwortete ich mit Nein.
Über zwei Stunden später gestatte er mir zwar auszureisen, ließ mich aber wissen, dass das Flugzeug, mit dem ich fliegen wollte,
schon gestartet sei. Er versuchte mich mit der Mitteilung zu beruhigen, dass gleich, das hieß in fünfeinhalb Stunden, die nächste
Maschine fliege, und mir war klar, dass ich auch diesmal die Zeit im Duty free shop vertrödeln würde.
Bestimmt verstand der Mann nicht, warum ich ihn anlächelte, er konnte ja nicht wissen, dass ich das Duty Free liebte, und das
Duty Free liebte mich. Alle dort kannten mich – Nadim Abu Hani aus Ost-Jerusalem, er kauft Schuhe, Hemden, Trainingsanzüge,
Unterhosen … er kauft alles, er hat immer Zeit.
Wie Sie gewiss verstanden haben, verpasste ich meinen geplanten Flug und kam verspätet in Rom an, dafür aber mit neuen
Turnschuhen. Er deutete auf seine Füße. Im Publikum wurde wieder gelacht, und ich merkte, dass ich ebenfalls lachte.
„Ich bitte Sie, meine Verspätung zu entschuldigen", schloss er.
Er weiß, wie man eine Geschichte erzählt, dachte ich bewundernd.
„Was tun Sie? Ich meine beruflich?", erkundigte sich einer der Zuhörer.
„Für meinen Lebensunterhalt unterrichte ich Italienisch an der Universität, und in meiner Freizeit arbeite ich für
Menschenrechtsorganisationen."
„Was tun Sie da?", fragte der Mann.
„Ich filme", antwortete er kurz und schwieg.
„Sie filmen also das, was sie Ihnen antun?", kam ein Ruf aus dem Publikum.
Nadim antwortete nicht, er hatte das Mikrofon schon an Maria weitergereicht.
Ich ahnte nicht, dass an diesem Tag etwas zwischen uns begann, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ich drei Jahre
später an einem Juniabend in meiner Küche sitzen und mich fragen würde, ob wir uns am folgenden Morgen um elf Uhr dreißig bei
Gericht treffen würden.
Ich betrachtete ihn genauer, die schön geschwungenen Lippen, das runde Gesicht. Mein Blick blieb an den langen Wimpern
hängen, die seine Augen verschatteten. Eine hochgeschobene Brille mit silbernem Gestell schmückte sein Haar wie eine Krone.
Araber tragen keine Brille, schoss es mir durch den Kopf, und sofort schob ich diesen rassistischen Gedanken beiseite.
Das Publikum dankte Nadim mit einem Applaus für seine Rede.
Maria wandte sich mit einer Frage an mich.
„Ich bin aus Israel, aus Tel Aviv", antwortete ich.
„Sind Sie am Flughafen auch ausgezogen worden?", rief jemand.
Ich wollte dem netten Mann antworten, dass wir keine Flugzeuge kidnappten und keine Wohnblocks sprengten oder Bomben in
Straßen explodieren ließen, und dass wir im allgemeinen auch keine Sprengladungen in Schultertaschen spazierentrugen, aber ich
entschied, den Zwischenruf zu ignorieren. Höflich entschuldigte ich mich für die Verspätung.
„Der Abflug verzögerte sich, wie üblich, aus Sicherheitsgründen, und deshalb bin ich zu spät gekommen."
Abermals traf mich ein Zwischenruf: „Warum habt ihr wieder einen Krieg angefangen?"
Gewiss würde ich die Raketen gegen israelische Ziele nicht gegen die Kampfflugzeuge aufrechnen, die Hintergründe der Kämpfe
waren schwer zu erklären, und um die Wahrheit zu sagen, war ich auch über die Einzelheiten nicht informiert. Ich beschloss, mich
nicht auf eine direkte Konfrontation einzulassen.
„Der Staat Israel hat alle Juden aufgenommen, die in der Diaspora vertrieben wurden", fing ich stattdessen an. „In unser Land
kamen Überlebende des Holocaust. Es kamen auch diejenigen, die vor der stalinistischen Bedrohung und vor den Pogromen in
den arabischen Ländern flohen. Der Staat Israel ist im Grunde eine psychiatrische Anstalt für posttraumatisierte Juden." Ich
überlegte, wie ich es erklären könnte. „Wir alle kamen nach -Israel, um uns gegenseitig zu helfen, um Schutz vor einer
existenziellen Bedrohung zu finden. Wir suchten Heilung für unsere Seele und unsere Körper, wir wollten unsere Traumata überwinden.„
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Ebbrecht-Hartmann, Tobias: Übergänge: Passagen durch eine deutsch-israelische Filmgeschichte |
Neofelis | 2014 | Softcover | 300 Seiten | ISBN: 978-3-943414-51-6 | 26,00
In den vergangenen Jahren zog das israelische Kino auf zahlreichen Festivals weltweit Aufmerksamkeit auf sich.
Viele der oft ausgezeichneten Filme sind Koproduktionen und es ist keine Ausnahme, wenn israelische Regisseure durch deutsche Filmförderung unterstützt werden, vor allem dann, wenn Episoden der deutsch-israelischen
Geschichte oder grenzüberschreitende Begegnungen thematisiert werden. Solche deutsch-israelischen
Filmbeziehungen haben bereits eine lange Tradition, die sogar bis in die Zeit vor der Staatsgründung
zurückreicht, als jüdische Filmemacher aus Deutschland Palästina bereisten, um den dortigen zionistischen
Aufbau auch in ihrer deutschen Heimat publik zu machen. Spätere Filme erzählten dann Geschichten von
deutschsprachigen Einwanderern oder zeigen Israelis in Deutschland und Deutsche in Israel oder Figuren, die
sich zwischen beiden Ländern bewegen. Ebbrecht-Hartmann nimmt sich dieser Geschichte an und versucht sie
anhand von konkreten Filmen und Ereignissen zu rekonstruieren – von den Anfängen der Filmproduktion im
Mandatsgebiet Palästina bis in die Gegenwart
Tobias Ebbrecht-Hartmann, geboren 1975, ist Filmwissenschaftler und Spezialist Filmgeschichte. Er lehrt und
forscht an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam und war zuvor in Yad Vashem (Jerusalem) und im
Graduiertenkolleg Mediale Historiographien (Weimar) tätig. Er ist zudem Kurator des „Paul-Spiegel-Filmfestivals –
Jüdische Welten". Tobias Ebbrecht-Hartmann ist an der Hebrew University tätig.
1.
Filmgeschichten zwischen Deutschland und Israel
Filme sind ein Medium der Begegnung. Sie ermöglichen es, andere Lebenswelten kennenzulernen und die Perspektive eines
anderen einzunehmen. Sie dienen aber auch dazu, die eigene Position zu klären und den eigenen Standort aus anderer
Perspektive zu betrachten. Filme stellen darum auch immer etwas Imaginäres dar, visualisieren die Vorstellung über den anderen,
die von bestimmten Bildern im Kopf, persönlichen und historischen Erfahrungen und von kollektiv geteilten Annahmen geprägt
wird. Das gilt auch für das sehr vielschichtige deutsch-israelische Verhältnis. Deutschland und Israel sind auf vielen Ebenen
miteinanderverbunden und doch auch wieder fremd. Eine gemeinsame, aber immer auch von Anfeindungen und Vorurteilen
geprägte, deutsch-jüdische Vergangenheit verbindet Geschichte und Familiengeschichtenbeider Länder. Die Shoah, der
millionenfache Mord an der jüdischen Bevölkerung Europas, prägt ihr Verhältnis bis heute. Die schwierigen, aber letztlich durchaus
erfolgreichen diplomatischen, ökonomischen und kulturellen Annäherungen beider Länder nach dem Zweiten Weltkrieg gehören
aber auch zu dieser gemeinsamen Geschichte und Gegenwart. Heute stehen wir vor einer widersprüchlichen Situation. Während
in Deutschland das Bild Israels und der Israelis hauptsächlich durch den medial verstärkten Nahostkonflikt geprägt ist und ein
großer Teil der Bevölkerung den kleinen jüdischen Staat als gefährliche Bedrohung des Weltfriedens wahrnimmt, steigt das
Ansehen Deutschlands in der israelischen Bevölkerung. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wird Deutschland in Israel
als verlässlicher Partner wahrgenommen. Während die steigende Antisemitismusbeispielsweise in Frankreich Besorgnis in Israel
erregt, bekommen deutsche Politiker wie Joschka Fischer und Angela Merkel hohe Sympathiewerte. 2012 bewerteten 88,9
Prozent der israelischen Bevölkerung die deutsch-israelischen Beziehungen als normal. 1998 hatten dies nur 54,7 Prozent so
gesehen. 82,8 Prozentbetrachten das heutige Deutschland als „anderes Deutschland“, was sich auch in der hohen Zahl an Israelis
ausdrückt, die heute nach Deutschland ziehen oder das Land besuchen.1 17.000Israelis leben derzeit temporär oder dauerhaft in
Berlin und 2012besuchten sechsmal mehr Israelis die deutsche Hauptstadt als im Jahr 2000.2 Berlin mit seiner ambivalenten
Geschichte ist heute ein neues Jerusalem für viele Israelis. Umgekehrt halten viele Deutsche zu Israel Distanz.
Eine Mischung aus Schuldabwehr und moralisch einseitiger Anklage bestimmt das deutsche Verhältnis zu dem jüdischen Staat am
Mittelmeer. Das Kino ist ein Ort, an dem diese Distanz aufgebrochen werden kann und aufgebrochen wurde. Israelische Filme
sind in den letzten Jahren erfolgreich auf internationalen Festivals gezeigt worden und schafften es auch immer öfter in deutsche
Kinos und ins Fernsehen. Sie zeigen oft Bilder vom Land und seiner konfliktreichen Gegenwart, die andere Perspektiven zulassen
als die binäre Vorstellung von Besatzern auf der einen Seite und Opfern auf der anderen. Und doch sind die Begegnungen
zwischen Deutschen und Israelis, die Übergänge zwischen Deutschland und Israel auf der Leinwand noch immer beeinflusst und
geprägt von den Konflikten, Ängsten und Vorurteilen der Vergangenheit und Gegenwart, insbesondere den beiden dominanten
Themen Shoah und Nahostkonflikt. Aber sie zeigen auch Neugier, proben den interessierten Blick auf das jeweils andere Land
und die dort lebenden Menschen.
----------------------------------------------------------------------------------------------1 Moshe Zimmermann: Facelift. Das Image der Deutschen in Israel seit der Wiedervereinigung. In: José Brunner (Hrsg.):
Deutsche(s) in Palästina und Israel. Alltag, Kultur, Politik (= Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 41). Göttingen:
Wallstein 2013, S. 288–304, hier S. 288. 2 Gisela Dachs: Berlin. Diaspora der Israelis. In: Zeit Online, 28.10.2013. http://
www.zeit.de/politik/ausland/2013-10/israel-emigration-berlin-yair-lapid (Zugriff am 15.07.2014).
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Dieses Buch möchte einige dieser Filmbegegnungen in Geschichte und Gegenwart vorstellen und zeigen, wie sehr der neugierige
Blick des Reisenden diese Begegnungen geprägt und die Wahrnehmung des fremden, aber auch des eigenen Landes dadurch
verändert hat. Natürlich möchte es auch etwas von der Faszination israelischer Filme weitergeben und auf diese Weise den
Facettenreichtum der israelischen Filmgeschichte vermitteln.
Deutsch-israelische Begegnungen vollziehen sich in den hier vorgestellten Filmen meist auf mehreren Ebenen. Sie zeigen sich in
der Handlung und den Figuren, die aus den beiden Ländern und Kulturen kommend aufeinandertreffen. Sie zeigen sich aber auch
auf der Ebene der Produktion selbst. Um die Filme zu realisieren, kamen meist Filmemacher aus beiden Ländern zusammen,
lernten sich so besser kennen und brachten gemeinsame Erfahrungen, Interessen, Bilder und Vorstellungen in die Filme ein.
Übergänge
Zu dieser Zeit reiste ein deutsch-jüdischer Filmemacher nach Palästina. Sein Handwerk hatte er in Babelsberg beim deutschen
Filmunternehmen Ufa gelernt. Er war an verschiedenen Großproduktionen des Weimarer Kinos beteiligt und beeinflusst vom Stil
der Avantgarde und des progressiven Filmschaffens in der Weimarer Republik. Im Auftrag des Jüdischen Nationalfonds drehte er
in Palästina einen Film, der Land und Menschen dem Publikum in Europa bekannt machen sollte: Avodah (Palästina 1935). Der
Filmemacher hieß Helmar Lerski und sein Film – musikalisch untermalt von dem bekannten Komponisten Paul Dessau – beginnt
mit einer signifikanten Eröffnungsszene: Ein Mann geht über staubige Landstraßen und steinige Berghänge. Die Kamera filmt ihn
von hinten. Er kommt an eine Grenze. Ein Schild weist den Weg nach Palästina. Ein Schlagbaum öffnet sich. Nun schwenkt die
Kamera langsam von den Füßen des Mannes über seine abgenutzte Kleidung. Erstmals, darauf macht die israelische
Filmwissenschaftlerin Nurith Gertz in dem Dokumentarfilm Historia shel Ha-Kolno‘a Israeli (Israels Kino erzählt, IL/F 2009, R:
Raphael Nadjari) aufmerksam, wird das Gesicht des Wanderers sichtbar. Freudig lächelt er in die Kamera, bevor diese in der
nächsten Einstellung über eine felsige Wüstenlandschaft schwenkt (Abb. 1). Vom gesichts- und geschichtslosen Wanderer –
unverkennbar eine Umkehrung des antisemitischen Zerrbildes des ewig wanderden Juden Ahasver – wird der Einwanderer zum
Subjekt seiner Geschichte. Der touristische Blick auf das Land verbindet sich mit einem Moment filmischer Subjektivierung, aber
auch mit dem kolonialen Bild vom leeren Land, das nun fruchtbar gemacht werden soll. Aber noch andere Motive in dieser
Sequenz sind interessant: das Motiv des Wassers als Symbol des Lebens, aber auch als Spiegel eines Himmels auf Erden, und
das Bild der Grenze, die einen Übergang darstellt, eine Transformation und nicht notwendig eine Trennung. All diese Motive
tauchen später immer wieder auf: die Grenze, der Übergang, der Einwanderer, die Frage nach Herkunft und Geschichte – und
natürlich das Thema Identität.
Das israelische Kino ist bis heute von diesen Fragen und Motiven geprägt. Auch die bereits in einem jüdischen Staat geborenen
Generationen sind mit ihnen beschäftigt, suchen sogar in den letzten Jahren verstärkt nach der Herkunftsgeschichte ihrer
Familien, die für lange Jahre ins Private abgedrängt war. Die Einwanderer/innen, die das Land aufbauten, waren nicht immer
freiwillig gekommen. Oft wurden sie aus Ländern vertrieben, die sie als ihre Heimat betrachteten. Dies galt auch und in besonderer
Weise für einen Teil der aus Deutschland emigrierten Juden, die es oft schwer hatten, sich den klimatischen und kulturellen
Bedingungen in Palästina und Israel anzupassen, die neue Sprache Hebräisch zu lernen und die Liebe zur Kultur gegen harte
Landarbeit einzutauschen. Der Filmemacher Arnon Goldfinger hat sich dieser Erfahrung in seinem autobiographischen
Dokumentarfilm Ha-Dira (Die Wohnung, IL/D 2011) am Gegenstand der Wohnung seiner aus Deutschland eingewanderten
Großmutter genähert. Das nach ihrem Tod verwaiste Apartment wird zur Zeitkapsel, zu einem Ort des Übergangs, des Transits,
ein kleines Deutschland und Berlin inmitten von Tel Aviv, zu einem Ort der Begegnung zwischen Vergangenheit und Gegenwart,
Deutschland und Israel, der sich von einem privaten in einen transnationalen Zwischenraum transformiert. Siegfried Kracauer hat
einmal den Historiker mit einem Touristen verglichen und dabei betont, dass die „Aufgabe des Besichtigens“ ein „bewegliches Ich“
erfordere.3 Filme können das Material für solche Forschungsreisen bilden. Sie lassen uns nicht nur manchmal fremd wirkende
Welten erkunden und entfernte Zeiten kennenlernen, sondern sie ermöglichen auch einen distanzierten Blick auf das scheinbar
bereits Vertraute. Nähe und Distanz durchweben sich. Die Leinwand wird durchlässig. Bilder, Geschichten, eigene Erinnerungen
und Projektionen kommen zusammen. Im besten
© Neofelis Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten
--------------------------------3 Siegfried Kracauer: Geschichte – vor den letzten Dingen. Werke, Bd. 4. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 93.
4 Kracauer: Geschichte, S. 95–96. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Vgl. ebd., S. 104.
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Gareis, Fredy: Tel Aviv – Berlin: Geschichten von tausendundeiner Straße | Malik | 2014
Gebunden | 288 Seiten | ISBN: 978-3-89029-438-4 | 19,99 €
Fredy Gareis fährt vier Monate lang von Tel Aviv nach Berlin, mit einem alten Stahlrad, ohne jedes Training. 5000
Kilometer, die ihn durch Länder wie Jordanien, Libanon, Albanien und Kosovo führen. Auf seiner Fahrt durch
blühende und vernarbte Landschaften sammelt er die Geschichten der Bewohner mit über vierzig Konfessionen
ein – mit Gespür für politische und geschichtliche Hintergründe. Er trifft auf Saddam, den Obsthändler, und auf
alte UCK-Kämpfer. Auf Menschen, die von Deutschland träumen, und auf Priester, die ihn mit Raki abfüllen. Er
muss mit Überfällen und Nahtoderlebnissen klarkommen und wird zum philosophierenden Radnomaden und
Asphaltcowboy.
Fredy Gareis, 1975 in Alma-Ata, Kasachstan geboren, arbeitet seit 2007 als freier Journalist. Für eine
Undercover-Reportage recherchierte er fünf Monate lang verdeckt bei Scientology. Früh begann er durch die
Welt zu reisen, etwa nach Sibirien, wo er seiner Familiengeschichte bis an den Himbeersee folgte. 2010 bis 2012
berichtete er als freier Korrespondent aus Israel und dem Nahen Osten u.a. für den Tagesspiegel, Die Zeit und
Deutschlandradio.
Twenty years from now you will be more disappointed by the things you didn’t do than by the ones you did do.
MARK TWAIN
PROLOG
Die Sonne bringt die Luft zum Flirren, sie strahlt auf die judäischen Wüstenberge, sie brezelt auf meinen glatt rasierten Kopf, bringt
mich zum Schwitzen: In Strömen läuft es an mir herunter, so viel Wasser sieht das Westjordanland nicht alle Tage. Ich muss
kämpfen auf dieser steilen Straße zwischen Bethlehem und Ma’ale Adumim, zwischen palästinensischem Westjordanland und
israelischem Siedlungsgebiet. Ich keuche, trete rhythmisch, bin aber so langsam, dass ich auch schieben könnte. Der Verkehr
röhrt an mir vorbei. Ich versuche, nicht auf die grauen Befestigungen des israelischen Checkpoints am Ende der Straße zu
schauen, hefte meinen Blick auf den Asphalt, bewege mich auf meinem Rad von der einen zur anderen Seite, schwankend wie ein
Wüstenkamel.
Ich konzentriere mich auf meine Atmung, auf die Muskeln in meinen Beinen, auf die Körnung des Asphalts. Ein Auto schiebt sich
von links in mein Blickfeld, eine schwarze Skoda-Limousine, sie schneidet mir den Weg ab und kommt direkt vor mir zum Stehen.
Zwei Männer steigen aus. Zwei bleiben im Fond und werfen mir durch das Rückfenster Blicke zu, die scharf sind wie gewetzte
Messer. „POLICE!", schreit einer der Ausgestiegenen, ein breitschultriger Mann mit Schnauzer und schwarzem, dreckigem TShirt. Sein Unterarm ist voller Tätowierungen, primitiven Stechereien, ohne Maschine in die Haut geritzt. Police my ass. Sein
Kollege geht um mich herum, schneidet mir den Fluchtweg ab. Er legt die Hand an die Hüfte, als wäre er bereit, ein Messer, eine
Knarre zu ziehen. Er ist schmal und hat einen krummen Rücken, schulterlange, fettige Haare. Hinterhältig sieht er aus, fies wie ein
Schurke aus „Tausendundeiner Nacht".
Schnauzer tritt dicht an mich ran. Er rüttelt an meiner Lenkertasche. „Can I see ID?", frage ich und weiß doch, dass ich keine
sehen werde. Schnauzer rüttelt weiter an der Lenkertasche, er will sie aufreißen, scheitert am Ortlieb-System. Er schreit mich
wieder an: „MONEY! TELEPHONE!" Ich rieche seinen fauligen Atem.
Meine Scheiße, wie bin ich bloß auf diese verrückte Idee gekommen, hier durchzufahren? Ah ja, ich wollte ein Abenteuer. Nach
zwei Jahren als Korrespondent im Nahen Osten war ich konfliktmüde, nach sieben Jahren als freier Journalist medienmüde.
Fühlte mich wie ein Parasit, der nur von den Geschichten der anderen lebt. Aber wo war meine eigene dabei geblieben? Wann
hatte ich zum letzten Mal meiner Stimme zuhören können? Immer übertönt vom Grundrauschen des Arbeitsalltags. Vor Jahren
hatte ich über ein paar sehr mutige Frauen geschrieben. Eine von ihnen war Roz Savage (wie großartig ist denn dieser
Nachname?), eine Bankerin in der Londoner Hochfinanz, sie hatte Haus, Auto, Mann und noch eine Menge mehr, aber eines
Tages, in Sichtweite ihres 40. Geburtstages, setzte sie sich hin und seufzte. Sollte das alles sein? Sie schrieb auf ihrem teuren,
persönlichen Papier ihren Nachruf. Sie las die kurzen Zeilen, sie zerknüllte das Blatt, sie machte einen neuen Versuch. Diesmal
flossen die Zeilen nur so aufs Papier. Roz schrieb auf, wie man sich an sie erinnern sollte.
Sie kündigte ihren Job. Ruderte die Themse runter. Dann überquerte sie den Atlantik. Dann den Pazifik. Alles alleine. Ich traf sie
auf Hawaii. Roz hatte ihre sandblonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und packte Lebensmittel in ihr Boot für die
letzte Etappe nach Australien. Zu Hause sagten Freunde, wie geil, dass dich jemand dafür bezahlt, ein Interview auf Hawaii,
Mensch, Journalisten haben vielleicht ein Leben. Dabei wäre ich am liebsten mit in das Boot gehüpft und hätte mich in den
nächsten Monaten von Erdnussbutter und Sardinen aus der Dose ernährt und dem Schlagrhythmus der Ruder hingegeben.
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Der Redakteur kam mit diesem Wechsel von der Hochfinanz auf einen niedrigen Rudersitz überhaupt nicht klar. „Warum", fragte
er immer wieder, „warum macht die das? Ist die verrückt?" Manche verstehen einfach nicht, dass es um mehr geht, als das Leben
nur der Länge nach abzuleben. Auch die Breite will genutzt werden. Die Gedanken waren mir nicht neu. Aber dann frisst der Alltag
dich auf. Die Wochen und Monate vergehen – und kommen nie wieder zurück. Es ist so, wie der römische Philosoph Seneca einst
geschrieben hat: „Nur ein kleiner Teil des Lebens ist es, den wir leben. Die gesamte übrige Spanne ist nicht Leben, sondern
Zeit." True, true.
Etwas für den Körper wäre gut, sagte ich mir. Den Kopf defragmentieren. Sich des ganzen digitalen Mülls entledigen, der
sinnlosen Nachrichten, Posts, Tweets. Zu viel Oberfläche, zu wenig Tiefe. Mir zumindest frittiert die Datenflut das Gehirn. Ich muss
raus, muss auf Infodiät. Nur, was tun? Rudern wie Roz oder wandern wie Wolfgang Büscher? Ich dachte an meine Reise nach
Russland, schon ein paar Jahre her, und an Björn, meinen dänischen Freund – zwei Meter groß, Bart, Typ Wikinger –, den ich in
Odessa getroffen hatte. Ich war auf dem Rückweg von Sibirien, wo ich meiner Familiengeschichte bis ins ehemalige Straflager
meiner Oma gefolgt war, an den Himbeersee und den Ort gleichen Namens, in der Nähe der kasachischen Grenze. Dorthin war
meine Oma mit ihrer Familie deportiert worden, hatte zehn Jahre für Stalin im Winter gefrorenes Soda aus den kleinen, wirklich
himbeerfarbenen Seen in der Umgebung brechen müssen. Russlanddeutsche, die zwangsrepatriiert worden waren.
Björn war damals gerade unterwegs in den Iran. Mit dem Rad. Sein Bart war so buschig, dass er ein Vogelnest darin hätte
verstecken können. Abends in der Nähe der Potemkinschen Treppe saßen wir in einer Bar, vor uns eine Karaffe Wodka, eine
Karaffe Wasser, getrockneter Fisch, und Björn erzählte mir von dem Dorf in der Ukraine, wo ihn die Lokalzeitung auf die Titelseite
gezerrt hatte, mit einem Zwei-Kilo-Stück Speck, Geschenk der Gemeinde, abgelichtet hatte. Er erzählte von der Familie in der
Nähe von Tschernobyl, die ihn für ein paar Tage aufgenommen hatte. Der Vater redete von den Kindern, die die Eltern hatten
wegschicken müssen, damit sie nicht in der Strahlung aufwuchsen. Die Familie teilte mit Björn Essen und Tränen. Im Kaukasus
war er Menschen begegnet, die mit Kalaschnikows in den Bäumen saßen und ihn schon von Weitem mit seinem Rad kommen
sahen.
„Es gibt keine bessere Art zu reisen", sagte Björn.
„Warum?"
„Entweder denken die Leute, du bist harmlos, und das „noch in der gefährlichsten Gegend. Oder sie haben einfach so viel Mitleid
mit dem armen Tropf, der sich keinen anderen Transport leisten kann, dass sie dir Tür und Tor öffnen."
„MONEY!! TELEPHONE!!" Der Schnauzer schreit immer noch, Krummrücken hält die Umgebung im Blick. Die beiden sind nicht im
Geringsten nervös. Die haben schon viel Schlimmeres gemacht, denke ich mir. Ich verhalte mich ruhig, kann sowieso weder vor
noch zurück. So viel zu Mitleid mit dem armen Tropf.
Der Verkehr fließt weiter an mir, an uns vorbei. Wie sieht diese Szene wohl aus den Autofenstern aus? Mein Herz schlägt schnell,
ich kann es hören in meiner Brust, laut und deutlich. Obwohl die Typen mich eingekeilt haben, denke ich an Flucht. Soll ich es
wagen? Die Straße in entgegengesetzter Richtung runterrasen? Was dann? Ich bin nicht naiv. Ich habe damit gerechnet,
überfallen zu werden. Aber doch nicht hier. Nicht in meinem Revier. Über mir der azurblaue Himmel. Neben mir die sandbraunen
Wüstenberge. Unter mir die graue Straße. Vor mir der Schnauzer. „MONEY!!! TELEPHONE!!!", schreit er zum wiederholten Mal,
und ich fühle seinen Speichel auf meinem Gesicht. Er reißt an der Lenkertasche, endlich hat er sie offen, von hinten tritt
Krummrücken näher ran, ich schaue zu den grauen Befestigungstürmen des israelischen Checkpoints. Sie sind verdammt weit
weg. Super Urlaub.
KAPITEL I
„Junge, du bist doch bescheuert!"
Wo, bitte, geht’s denn hier zum Nahostkonflikt?
Schlaflose Nächte in den letzten Tagen. Geträumt von wilden Hunden, geplatzten Reifen und Überfällen in der einsamen Wüste.
Ich habe ein bisschen Angst vor der ganzen Sache. Aber nur ein bisschen. Is’ klar. Doch jetzt stehe ich hier, in Tel Aviv am Strand
bei 25 Grad, und umarme meine Freundin. Ich drücke ihr die Luft aus dem schmalen Körper und verstecke meine Nase in ihren
blonden Haaren. Sie weint ein wenig, mein Herz klopft, und vor mir liegen etwa 5000 Kilometer mit dem Rad nach Berlin.
Zumindest haben das meine amateurhaften Berechnungen ergeben. Ich küsse meine Freundin. Wische ihr eine Träne aus dem
rechten Auge. Die Sonne über dem Mittelmeer wirft ein Schlaglicht auf uns. „Geh jetzt, bitte", sagt mein Liebling. Zwischen all den
Menschen, die Bier trinken, Strandball spielen, sich in der Sonne aalen und lachen, steige ich auf mein mit fünf Taschen
bepacktes Rad – und sage einfach Tschüss. Als würden wir uns morgen, spätestens übermorgen wiedersehen. Das ist dieser
erste sprichwörtliche Schritt. Hoch auf den Ledersattel, der sich in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten meinem Arsch
anpassen wird. Hoffentlich.
Mein Rad fühlt sich schwer an unter mir. Es ist ein solides Teil aus Stahl mit zwölf Gängen, noch gebaut in Westdeutschland. Die
Kette, die Reifen – alles noch original, also mehr als 20 Jahre alt. Dafür hat es nur 90 Euro gekostet. Ich habe es auf eBay
geschossen. Ich muss mich erst noch daran gewöhnen, navigiere es wie einen schweren Tanker durch das sanft dahinwogende
Meer aus Menschen, ihre mediterrane Bräune leuchtet im hellen Schein der Januarsonne.
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Wenn das Meir Dizengoff, der erste Bürgermeister Tel Avivs, sehen könnte, diesen puren Hedonismus, diese friedvolle
Strandbesatzung. Der wollte nämlich das Gelände am liebsten industriell erschließen. Weil er sich nicht vorstellen konnte, warum
Juden Interesse am Baden zeigen sollten. Der Journalist Sholem Asch hingegen schrieb 1937: „Jeder Jude hat zwei Bitten an
Gott: einen Platz im Paradies im Jenseits – und im Diesseits einen Platz am Strand von Tel Aviv." Die Stadt als leuchtender
Gegenentwurf zu den grauen und ärmlichen Schteteln im östlichen Europa.
Tel Aviv, der „Frühlingshügel", ist gerade mal 104 Jahre alt. Israelis nennen die Stadt mit ihrer 24-Stunden-Kultur auch gerne The
Bubble, die Blase. Weil du hier alle Sorgen vergessen kannst. Der Strand ist 14 Kilometer lang, die Biergläser sind immer voll und
eiskalt, die Frauen filmhaft schön, die Nächte feucht und dampfend. Über mir fliegen Kampfhubschrauber Richtung Gaza. Es sind
gerade mal 60 Kilometer dorthin, und doch ist es Welten entfernt. In Tel Aviv ist man hedonistisch liberal, gerade weil die Konflikte
in der Region gefühlt so weit weg sind. Während die Linken am Strand zu Bronzestatuen werden, Volleyball spielen oder das
neueste Restaurant belagern, betreiben die Rechten in Jerusalem knallharte Politik, rühren die Trommeln gegen die Flüchtlinge
aus Afrika, gegen die Palästinenser, gegen den Iran. Theoretisch könnte ich diese wundervolle Küste immer Richtung Norden
entlangfahren, durch den Libanon, durch Syrien, und ratz, fatz wäre ich schon in der Türkei.
Theoretisch. Alles nicht so leicht im Nahen Osten. Grenzen sind hier noch echte Hindernisse.
Ich fahre vorbei an den Segelbooten in der Marina, den ganzen Restaurants. Denke nur: shit, shit, shit. Weil mir klar wird, dass ich
nicht morgen und auch nicht übermorgen zurück sein werde. Weil das nur die ersten Pedaltritte von Millionen sind. Weil ich mich
frage, wann ich meine Freundin wiedersehen werde. Werde ich sie überhaupt wiedersehen? Die Region ist nicht gerade bekannt
für ihre rücksichtsvollen Autofahrer. Links schwappt das Meer sanft an den Strand, rechts in den Gassen zwischen den Häusern
regieren die Katzen, ganze Banden marodieren durch die Straßen, mit vernarbten Gesichtern, abgebissenen Ohren, lahmen
Beinen. Abends warten sie an den Ecken auf die alten Frauen, die in der Dunkelheit, damit sie keiner dabei erwischt, kleine
Türmchen aus Trockenfutter auf dem Bürgersteig errichten. Tel Aviv riecht salzig nach Meer und sauer nach Katzenpisse.
Im Norden der Stadt biege ich auf den Radweg am Yarkon-Fluss ab, fahre unter den Kronen von Platanen und Eukalyptusbäumen
entlang, atme die Luft dieser grünen Lungen, die um diese Jahreszeit noch frisch ist. Der Fluss liegt faul in seinem Bett, ein
türkisgrünes Eldorado für Moskitos. Im Altertum war der Yarkon die Grenze zwischen den Stämmen Ephraim und Dan, zwei von
den zwölfen, aus denen sich Jahwes auserwähltes Volk„ zusammensetzte. Jetzt führt er mich aus der „Weißen Stadt". Der Name
kommt von den etwa 4000 Gebäuden im Bauhausstil. Schüler von Gropius und Mies van der Rohe flohen vor den Nazis und
ließen hier in der neuen Heimat ihre Ideen von Aufbruch, Modernität und Weltbürgertum in die Architektur Tel Avivs einfließen.
Immer am Fluss entlang, raus aus diesem Großstadtknäuel, in dem 42 Prozent der israelischen Bevölkerung leben, lieben und
sterben.
Vor zwei Jahren bin ich in Israel aus dem Flugzeug gestiegen, die Grenzbeamtin strich ihre schwarzen Locken nach hinten, und
während ich noch dachte, ganz hübsch, die Kleine, blaffte sie mich an:
„Was willst du hier?"
In der Tat, was wollte ich hier? Eigentlich hatte ich keinen Schimmer von Israel. Ich schaute auf den kaugummikauenden Mund
der Beamtin (hatte ich jemals in Deutschland ein so schönes Wesen im Staatsdienst gesehen?) und sagte:
„Ich bin Journalist. Ich werde für die deutschen Medien berichten. "Wichtig schob ich nach: „Als Korrespondent" und zeigte ihr das
entsprechende Schreiben einer deutschen Redaktion.
Ja, Korrespondent, das hatte einen guten Klang. Das wollte ich immer werden, seit ich mir mit 16 Jahren von meinem ersten
selbst verdienten Geld (Zeitungen austragen – allerdings muss ich beichten, dass ich die Zeitungen auch oft einfach zur nächsten
Papiertonne „ausgetragen" habe) ein Abo der Zeitschrift Geo geleistet hatte.
Sie warf einen Blick auf meine Papiere, dann einen auf mich und sagte: „Ah, großartig, noch mehr Journalisten."
Mag sein, Israel brauchte mich also nicht. Aber ich brauchte Israel. Denn in Berlin gab es für mich als Journalisten keine
Perspektive, Deutschland ist irgendwie so … fertig. Die letzte wirklich große Sache war doch die Wende; Menschen, die eine
Mauer, ein System zum Einsturz brachten. Da war ich erst 15 und hätte vor dem Fernseher Rotz und Wasser geheult. Wenn
meine Mutter nicht neben mir gesessen hätte. Kann doch nicht vor der Mutter flennen.
Israel also.
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Ghandtschi, Ali: Mein Israel. Juden und Palästinenser erzählen | Suhrkamp | ET: 8. März 2015
Taschenbuch-Originalausgabe | ISBN: 9783518465783 | 16,00 €
Der Berliner Fotograf Ali Ghandtschi porträtierte in Israel Schriftsteller und Künstler; er wollte sich ein Urteil über
das Land bilden und Fragen stellen. Um mit seinen Gesprächspartnern nicht gleich über Politik zu sprechen,
fragte er sie nach ihrer Kindheit. Fast alle freuten sich, dass sich jemand für ihre persönliche Geschichte
interessiert. Natürlich handeln die Gespräche, die Erinnerungen immer auch von der Gegenwart, der aktuellen
Lage: in Israel hat eben alles mit Politik zu tun – und so sind auch Kindheitserinnerungen politisch. Ghandtschis
Bilder zeigen einen scheinbar normalen Alltag. Sie erzählen vom Übertönen, Ausstreichen, Rechthabenwollen,
von der Suche nach der einen Wahrheit. Aus unterschiedlichsten Stimmen – moderat religiöse, orthodoxe und
säkulare Juden, Zionisten und palästinensische Israelis – ergibt sich ein Bild mit unerwarteten Perspektiven.
Ali Ghandtschi, 1969 in Teheran geboren, arbeitet seit 1995 als freier Fotograf. Er fotografiert für nationale und
internationale Musik- und Kulturmagazine, Theater und Museen, ist Fotograf der Berlinale und des Internationalen Literaturfestivals Berlin.
Für Laura, Elias und Maja
Ich erinnere mich, wie ich als Kind, im Teheran der siebziger Jahre, auf unserem Schwarzweißfernseher Moshe Dayan sah. Ich
war beeindruckt von seiner Augenklappe und musste an Schlachten auf Seeräuberschiffen denken.
Später, nach der iranischen Revolution und unserer Übersiedlung nach Deutschland, zeigte unser neuer Farbfernseher die Bilder
der Intifada: Jugendliche, die Steine schleuderten gegen Soldaten mit Maschinengewehren. Dann explodierende Busse, zerfetzte
Körper, Drohungen von Politikern; 2005 schließlich Israels Rückzug aus Gaza.
In meiner Jugend hatte ich israelische Freunde, die nach dem Libanonkrieg von 1982 aus der Armee ausgeschieden waren und
nun die Welt bereisten, um das Erlebte zu verarbeiten.
Israel hat mich immer begleitet, Diskussionen zum Thema Israel gehörten zu meinem Leben. Jeder hatte eine Meinung, auch ich.
Gleichzeitig hatte ich immer das Gefühl, eigentlich viel zu wenig über dieses Land zu wissen.
Als Fotograf des internationalen Literaturfestivals in Berlin hatte ich Kontakt zu israelischen Lyrikern und Schriftstellern. Im April
2011 beschloss ich, nach Israel zu reisen, Porträts von Künstlern zu machen und diese in einer Ausstellung zu zeigen.
Am Flughafen Ben-Gurion befragten mich sieben Beamte mehrere Stunden lang, was ich – Deutscher, Perser, Nichtjude – in
Israel wolle. Schließlich ließ man mich einreisen. Und plötzlich fühlte ich mich merkwürdig zu Hause. Die Freundlichkeit und der
Umgang der Menschen miteinander erinnerten mich an den Iran. Ich war im Nahen Osten angekommen, in einem Land, dass sich
von den umgebenden Ländern abgrenzte und dennoch von der Mentalität des Orients durchdrungen schien.
Am ersten Tag meiner Reise besuchte ich die Altstadt von Jerusalem. An der Klagemauer geriet ich in Feierlichkeiten von
orthodoxen Juden zu Ehren eines reichen Amerikaners, der dem Rabbiner der Klagemauer eine neue Torarolle übergeben hatte.
Hunderte tanzten ausgelassen zu den Klängen eines Kinderchors, der von verzerrten, ohrenbetäubenden E-Pianoklängen
begleitet wurde. Ich fotografierte das Fest und wurde bald von den Feiernden aufgefordert, mitzutanzen. Mit meiner Pappkippa auf
dem Kopf sah ich wahrscheinlich aus wie ein Diasporajude auf Heimatbesuch. Nach einer Weile fragte mich der Assistent des
Rabbiners, woher ich käme. Als ich ihm von meiner Herkunft erzählte und auf Nachfrage verneinen musste, Jude zu sein, war die
Party für mich vorbei. Ich wurde aufgefordert, die Veranstaltung zu verlassen.
Dann ging ich zum Felsendom. Als ich meinen islamischen Namen nannte, wurde ich eingelassen. Ein freundlicher Mann zeigte
mir jede Ecke des Doms, zu dem wiederum Juden keinen Zutritt haben. Israelische Freunde, denen ich am Abend von meinen
Erlebnissen erzählte, bezeichneten mich – halb im Ernst, halb scherzhaft – als „Religionshure". Für jemanden, der wie ich in einer
Gesellschaft lebt, in der Religion im öffentlichen Raum so gut wie keine Rolle spielt, waren das ganz neue Erfahrungen.
Mir wurde bald klar, dass es nicht genügen würde, in Israel einfach nur Porträts zu machen. Dieses Land faszinierte mich, ich
wollte einen anderen Zugang dazu finden. Ich hatte ein Aufnahmegerät dabei und begann, die Künstler zu interviewen. Um das
Gespräch nicht gleich auf Politik zu lenken, bat ich sie, mir eine Kindheitserinnerung mit Bezug zu Israel beziehungsweise dem
damaligen Palästina zu erzählen. Fast alle waren begeistert von der Idee, dass sich jemand für persönliche Geschichten
interessierte und nicht zwingend über Politik sprechen wollte. Dennoch spannten die Erzähler den Bogen fast immer bis zur
heutigen Zeit. Da alles in Israel mit Politik zu tun hat, sind auch Kindheitserinnerungen politisch.
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Nach drei Wochen hatte ich achtzehn Interviews geführt und war von den Geschichten so gefangen, dass das fotografische
Porträt in den Hintergrund trat. Es war etwas anderes, das ich im Bild festhalten wollte. Ich begann, Nachrichten, die Menschen in
der Öffentlichkeit hinterlassen hatten, zu fotografieren: Wandzeitungen, Graffiti, Parolen.
Zurück in Deutschland zeigte ich eine Auswahl der Geschichten und Bilder im Rahmen einer Ausstellung während des
internationalen Literaturfestivals im Haus der Berliner Festspiele, was auf reges Interesse stieß. Ich beschloss, das Projekt weiter
zu verfolgen. Auf fünfmehrwöchigen Reisen nach Israel sammelte ich fast achtzig Geschichten verschiedenster Persönlichkeiten
und machte zahllose Aufnahmen – insbesondere von Wänden und Mauern.
Mein Plan, ein ausgewogenes Bild Israels aufzuzeigen, ging allerdings nicht auf. Die israelische Gesellschaft ist weit vielfältiger,
als wir sie durch die Medien wahrnehmen.
Viele Intellektuelle, insbesondere linke und moderate, stehen der israelischen Politik sehr kritisch gegenüber und sind für
Gespräche offen. Ultranationalistische und ultraorthodoxe Juden sowie islamische Würdenträger dagegen waren meist gar nicht
bereit, mit mir zu sprechen. Der Radiomoderator und Rechtsanwalt Yoram Sheftel zum Beispiel, der den ehemaligen KZ-Aufseher
John Demjanjuk bei seinem Prozess 1986 in Israel verteidigte, beschimpfte mich am Telefon lauthals, was ich als Deutscher
mir erlaube, ihn anzurufen.
Ich war froh, dass sich Israel Har’el bereit erklärte, mir seine Geschichte zu erzählen. Er gehört zu den Gründern der
nationalistischen und messianischen Siedlerbewegung „Gush Emunim". Außerdem veröffentlicht er seit vielen Jahren Kolumnen in
der Tageszeitung Haaretz. Das macht ihn auch jenseits der rechten Kreise zu einer Stimme des öffentlichen Lebens.
Auch der kontrovers diskutierte Musiker Ariel Zilber wollte anfangs nicht mit mir sprechen. Erst als ich ihm sagte, dass ich den
auch von Siedlern verehrten Rabbiner Adin Steinsaltz getroffen hatte, war er bereit, mir seine Geschichte zu erzählen. Linke und
moderate Kräfte des Landes lehnen Ariel Zilber ab, weil er seit einigen Jahren extrem nationalistische Positionen einnimmt. Selbst
die aktuelle Regierung unter Benjamin Netanjahu und Avigdor Lieberman findet er zu linksgerichtet. Als wir nach unserem
Gespräch in einem schäbigen Café in einem Industriegebiet Tel Avivs auf die Straße traten, wurde er indes von jungen
Bauarbeitern, die am Nachbargebäude beschäftigt waren, erkannt und frenetisch bejubelt. Chaim Gouri, einer der beliebtesten
Lyriker des Landes und bei weitem kein Extremist, sagte höflich ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg, so erzählte er mir am Telefon,
half er, ehemalige KZ-Häftlinge zu betreuen, und begleitete als Journalist den Eichmann-Prozess. Dies mache es ihm bis heute
unmöglich, an einem deutschen Projekt teilzunehmen. Er wisse, dass ich ein junger Mann und unschuldig sei, ich solle es ihm
aber bitte nachsehen. Einige arabische Israelis wiederum wollten sich nicht interviewen lassen, weil sie nicht zusammen mit Juden
in einem Buch erscheinen wollten, auch aus der Angst heraus, dadurch in der arabischen Welt angefeindet zu werden. Wenn ich
zwei Bücher herausbringen würde, eines mit Interviews von Juden, eines mit Interviews von Arabern – dann wären sie bereit, mit
dabei zu sein.
Mein Israel? Wessen Israel ist also damit gemeint?
Das Land ist voll der verschiedensten Biographien. Innerhalb der jüdischen Gesellschaft gibt es so viele verschiedene
Strömungen: Juden aus dem europäischen und dem arabischen Raum, eritreische und persische Juden, moderat religiöse,
messianische, orthodoxe und ultraorthodoxe. Es gibt säkulare Juden, Zionisten und absolute Antizionisten, die mit HolocaustLeugnern gemeinsame Sache machen. Dazu gibt es die Siedler, und wer die richtig schlimm findet, der kennt noch nicht die
Hilltop-Gangs. Dazwischen und darum herum gibt es natürlich noch Beduinen, Drusen und die mit 20% Bevölkerungsanteil nicht
ganz kleine Gruppe der von den Juden „arabische Israelis" genannten moslemischen und christlichen Araber, die sich selbst aber
als „palästinensische Israelis" bezeichnen. Und obwohl das Land so klein ist, ist es den einzelnen Gruppen möglich, ein Leben zu
führen, ohne mit Mitgliedern der jeweils anderen Gruppierungen in Berührung zu kommen. Das war eine Erkenntnis, die mich mit
am meisten irritierte.
Ein bisschen fühle ich mich wie in dem Witz, den mir der Rabbiner Adin Steinsaltz erzählte: Ein Journalist kommt nach Israel und
wird gefragt, was er tue. Er schreibe an einem Buch, antwortet dieser. Seit wann er denn im Land sei? „Seit gestern." Und wann er
denn wieder abreise? „Morgen." Und wie das Buch heißen soll? „Israel gestern, heute und morgen". Das, was ich in den drei
Jahren, in denen ich regelmäßig in Israel war, gehört und erfahren habe, kann nur ein winziger Einblick in die Komplexität dieses
Landes sein, das sich in stetigem Wandel befindet. Es bleibt interessant,
in welche Richtung es sich entwickeln wird.
Ali Ghandtschi
Die Gespräche wurden auf Englisch geführt, nur die mit Uri Avnery, Asher Reich, Micha Ulman und Ruth Peled-Ney auf Deutsch.
Alle Gespräche fanden vor dem Gazakrieg „Operation Protective Edge" vom Sommer 2014 statt.
Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.
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Guggenheimer, Michael: Tel Aviv – Hafuch Gadol und Warten im Mersand | edition clandestin | 2013
Gebunden | ISBN: 9783905297423 | 29,00 €
Michael Guggenheimers 50 Geschichten über Menschen des pulsierenden Tel Avis sind ein Buch für alle, die
Tel Aviv lieben. Er lebt und arbeitet als Publizist arbeitet in Zürich. Wenn man ihn fragt, wo er geboren wurde,
sagt er Tel Aviv, nicht Israel. Er liebt Tel Aviv und die Literatur des Landes. Wenn er Tel Aviv besucht, dann
fotografiert er regelmäßig, liest in einem der Boulevardcafés die Tageszeitung Ha’aretz oder schreibt eine
Geschichte, die in Tel Aviv stattfindet.
Der vertauschte Name
Nachmittags um vier begann am 14. Mai 1948 im grossen Ausstellungssaal des Museums von Tel Aviv die Zeremonie. David Ben
Gurion, Vorsitzender des Exekutivkomitees der Jewish Agency for Palestine, eröffnete die Versammlung, in der er die
Unabhängigkeitserklärung des neuen Staates verlas. Die ernst dreinblickenden Männer, welche den etwa 200 anwesenden
Gästen auf einer leicht erhöhten Tribüne hinter einem langen Tisch gegenüber sassen, unterschrieben einer nach dem anderen
das Dokument. Herzl Rosenblum durfte mit dem Namen, den er seit seiner Geburt trug und auf den seine Ausweise lauteten, das
Dokument nicht unterschreiben. Herzl Rosenblum, 1948 Chefredakteur der Tageszeitung Yedioth Acharonot, gab nach und
unterschrieb mit seinem Pseudonym Herzl Vardi. Herzl Vardi ist eine der 37 Personen, deren Unterschrift unter der
Unabhängigkeitserklärung Israels steht. Unterschrieben hat Herzl Vardi die Erklärung mit einem Füllfederhalter der Marke Parker,
der in der Papeterie Lautmann in unmittelbarer Nähe des damaligen Museums der Stadt Tel Aviv am Tag der
Unabhängigkeitserklärung gekauft wurde.
Der Teppich, auf dem David Ben Gurion, der erste Ministerpräsident Israels und die anderen Unterzeichner des Dokuments im
Museumssaal am Rothschild Boulevard 16 zur Bühne schritten, wurde drei Stunden vor dem Anlass um die Ecke im Teppichladen
von Georg Stumpf zusammengerollt und von zwei starken Männern als Leihgabe von kurzer Dauer zum Museum getragen. Das
Holz für die Bühne, am Vormittag desselben Tages in Eile gezimmert, stammte aus dem Laden „Hamaschbir Le Tsarchan“ neben
Stumpfs Laden. Die grosse Fotografie von Theodor Herzl, vor der Ben Gurion die Unabhängigkeitserklärung verlas, holte Zeev
Sharef, der Organisator des Anlasses, ebenfalls erst am selben Tag in den Büros von Keren Hajessod nebenan ab. Rudi
Weissenstein, Fotograf an der nahen Allenby Road, verfolgte den Anlass mit seiner Kamera und Raffi Meyersteyn von der Shalom
Aleichem Strasse 18 in Tel Aviv, besser bekannt unter dem Namen „Radio-Doktor“, sorgte dafür, dass die Ansprache auf einer
Langspielplatte aufgenommen wurde.
„Der Anlass wurde nicht im Habimah Theater durchgeführt, weil das Theater von der Luft aus leichter zu orten gewesen wäre. Es
kam nämlich damals noch vereinzelt zu Luftangriffen der ägyptischen Luftwaffe, daher wurde ein weniger auffälliges Gebäude
gewählt“, erzählt Michael Levin. Levin, der seit 1984 in Frankreich lebt, ist Grafiker in Paris, Levin ist ein Sammler. Es gibt nichts
rund um die Unabhängigkeitserklärung Israels vom 5. Iyar 5708, das Levin nicht erforscht, erbeten, erbettelt, gekauft hätte. Anfang
Juni 1970 schrieb der damals 17-jährige Schüler an David Ben Gurion, er werde sich von jetzt an der Erforschung der
Unabhängigkeitserklärung widmen. Ben Gurions handgeschriebene Antwort auf Hebräisch zeigt Levin 42 Jahre später mit Stolz.
„Lieber Michael, lerne! Und sei nach deinem Militärdienst ein Pionier“, antwortete der Ministerpräsident dem Gymnasiasten, der
damals in Ramat Gan bei Tel Aviv lebte. Levin hat seinen Plan mit Hartnäckigkeit umgesetzt: Alles über den Festakt im Tel Aviver
Kunstmuseum vom Freitag, den 14. Mai 1948 um 16.00 Uhr weiss der hagere Grafiker. Wer die 350 geladenen Gäste waren, wie
die ersten Textentwürfe der Einladung lauteten, dass die Gäste in dunkler, festlicher Kleidung zu erscheinen hatten, wie die sieben
Musiker des Philharmonischen Orchesters unter der Leitung von Dirigent Georg Singer hiessen, die den Anlass musikalisch
umrahmten, wer der Grafiker war, der die Unabhängigkeitserklärung gestaltete, nämlich Otto Wallish – nichts ist dem Sammler
entgangen. Alle 37 Unterzeichner oder deren Angehörige hat er kontaktiert, von jedem kennt er die Biografie, er weiss sogar, wer
unter ihnen die Erklärung erst nach der Verkündung im Museumssaal unterschrieben hat und weshalb erst dann.
Wenn Michael Levin Bekannten seine Sammlung zeigt, weist er darauf hin, dass am Tag der Unabhängigkeitserklärung noch nicht
feststand, dass der neue Staat auch Israel heissen werde. Die ersten Briefmarken, gedruckt am Tag nach der
Unabhängigkeitserklärung, tragen noch die Bezeichnung „Doar Ivri“, Hebräische Post. „Der neue Staat hätte auch genauso gut
Zion heissen können“, erzählt der umtriebige Forscher mit der schwarzumrandeten Designerbrille, der trotz seinen 55 Jahren wie
ein Pfadfinder aussieht. Dass der Staat Israel heisse, sei dem Umstand zu verdanken, dass Zion sich auf Englisch ausgesprochen
ähnlich wie das hebräische Wort für Beischlaf anhöre. Nein, das ist kein Witz!, fügt er an. Michael Levin hat sich Abzüge der
offiziellen Fotos von Fotograf Weissenstein besorgt, die Langspielplatte mit der Stimme Ben Gurions, den Musikstücken und der
Nationalhymne Hatikva, die von den Anwesenden gesungen wurde, hat er bei Radio-Doktor Meyersteyn kopieren lassen. Alles
weiss Michael Levin. Sogar, dass es Ben Gurion wichtig gewesen sei, dass die Bilder, die im Museumssaal hingen, von bekannten
jüdischen Malern stammten. Und die Geschichte, dass Herzl Rosenblum nicht mit seinem eigenen Namen hat unterschreiben
dürfen, hat ihm Herzl Rosenblum alias Herzl Vardi persönlich erzählt.
© edition clandestin, 2013. Alle Rechte vorbehalten
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Gundar-Goshen, Ayelet: Löwen wecken | Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama Kein & Aber | Feb. 2015
| ISBN: 978-3-0369-5714-2 | Hardcover | 432 Seiten | 22,90 €
Als Neurochirurg Etan Grien mitten in der Nacht einen illegalen Einwanderer überfährt und erkennt, dass der
Mann sterben wird, trifft er eine folgenschwere Entscheidung: Er lässt den Mann liegen und meldet den Unfall
nicht. Doch am nächsten Morgen steht die Frau des Opfers vor seiner Haustür und macht Etan einen ungewöhnlichen Vorschlag, der sein Leben komplett umkrempelt. Löwen wecken ist die Geschichte eines Mannes, der
einen falschen Schritt tut und diesen Weg dann weiterverfolgen muss. Ein Roman, der sich in der Grauzone
zwischen Liebe und Hass, Schuld und Vergebung, Gut und Böse bewegt, und der zeigt, wie zerbrechlich unser
geordnetes Leben sein kann.
Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, lebt und arbeitet als Autorin und Psychologin in Tel Aviv. Für ihre
Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihr erster Roman, „Eine
Nacht, Markowitz“ (2013) wird derzeit von der BBC verfilmt; er wurde mit dem renommierten Sapir-Preis für das
beste Debüt Israels zugesprochen.
Für Yoav
Und er dachte sich gerade, dies sei der schönste Mond, den er je gesehen habe, als er diesen Mann umfuhr. Und als er ihn
umfuhr, dachte er im ersten Moment immer noch an den Mond, dachte weiter an den Mond und hörte dann mit einem Schlag auf,
als hätte man eine Kerze ausgeblasen. Er hört die Tür des Jeeps aufgehen und weiß, er ist derjenige, der sie öffnet, er derjenige,
der nun aussteigt. Aber dieses Wissen ist nur lose mit seinem Körper verbunden, wie das Wandern der Zunge übers Zahnfleisch
kurz nach der Betäubungsspritze, alles da, aber anders. Seine Füße treten auf den groben Wüstensand, er hört ein Knirschen bei
jedem Schritt, und dieser Laut beweist ihm, dass er tatsächlich geht. Und irgendwo am Ende des nächsten Schritts erwartet ihn
der Mann, den er umgefahren hat, von hier kann man ihn nicht sehen, aber er ist dort, noch einen Schritt, und er ist da. Der Fuß
ist schon in der Luft, verlangsamt jedoch, möchte ihn hinausschieben, den nächsten, den endgültigen Schritt, nach dem nichts
anderes mehr übrig bleibt, als den am Straßenrand liegenden Mann anzusehen. Könnte man diesen Schritt nur einfrieren, aber
natürlich kann man diesen Schritt nicht einfrieren, ebenso wenig wie man den Moment davor einfrieren kann, den genauen
Moment, in dem ein Jeep einen Menschen umfuhr, das heißt, den genauen Moment, in dem der Mann, der den Jeep lenkte, den
Mann, der zu Fuß ging, umfuhr. Dieser Mann, der zu Fuß ging – erst der nächste Schritt wird zeigen, ob er noch ein Mensch ist
oder bereits etwas anderes, ein Wort, das man nur denken braucht, und schon erstarrt der Fuß in der Luft, mitten im Schritt, denn
am Ende des Schritts könnte sich zeigen, dass der Mann, der zu Fuß ging, kein gehender Mensch mehr ist, oder überhaupt kein
Mensch mehr, nur noch die Hülle eines Menschen, eine aufgesprungene Hülle, und der Mensch ist weg. Und wenn der liegende
Mann kein Mensch mehr ist, dann ist kaum auszudenken, was mit dem stehenden, bebenden Mann wird, der sich nicht einmal
überwindenkann, einen einfachen Schritt fertig zu tun. Was mit ihm wird.
Erster Teil
1
Der Staub war überall. Eine dünne, weiße Schicht, wie der Puderzucker auf einer Geburtstagstorte, die kein Mensch wollte. Er
sammelte sich auf den Wedeln der Palmen, auf den erwachsenen Bäumen, die von Lastwagen angekarrt und auf dem Hauptplatz
in den Boden gesteckt worden waren, weil niemand jungen Setzlingen zutraute, in dieser Erde Wurzeln zu schlagen; er bedeckte
die Wahlplakate, die drei Monatenach den Kommunalwahlen immer noch von den Balkonen der Häuser baumelten: Glatzköpfige,
schnurrbärtige Männer spähen durch den Staub auf ihre potenziellen Wähler, einige mit kompetentem Lächeln, andere mit
ernstem Blick, je nach Empfehlung des angeheuerten Medienberaters. Staub auf den Reklameschildern, Staub auf den
Busstationen, Staub auf den Bougainvilleen, die schlapp vor Durst am Straßenrand rankten, Staub überall. Trotzdem schien kein
Mensch darauf zu achten. Die Einwohner von Beer Scheva nahmen den Staub genauso hin, wie sie alles Übrige hinnahmen –
Arbeitslosigkeit, Kriminalität, mit zerbrochenen Flaschen übersäte Grünanlagen. Die Stadtbewohner erwachten allmorgendlich in
staubbedeckten Straßen, gingen verstaubt zur Arbeit, machten Sex unter einer Staubschicht und gebaren Kinder, denen der
Staub aus den Augen schaute. Manchmal überlegte er, wen er mehr hasste – den Staub oder die Einwohner von Beer Scheva.
Vermutlich den Staub. Die Einwohner von Beer Scheva klebten ihm nicht jeden Morgen auf dem Wagen. Der Staub ja. Eine
dünne, weiße Schicht, die das leuchtende Rot des Jeeps trübte und es in ein verblichenes Rosa verwandelte, eine Parodie seiner
selbst. Wütend fuhr Etan mit einem Zeigefinger über die Windschutzscheibe und wischte etwas von der Schmach ab. Der Staub
klebte auch noch an seiner Hand, als er sie an der Hose abgewischt hatte, und er wusste, er würde bis zum Händewaschen im
Soroka-Krankenhaus warten müssen, um sich wieder wirklich sauber zu fühlen. Beschissen, diese Stadt.
(Manchmal hörte er seine eigenen Gedanken und erschrak. Dann erinnerte er sich daran, dass er kein Rassist war. Er wählte die
Menschenrechtspartei Meretz. Er war mit einer Frau verheiratet, die früher, bevor sie sich in Liat Grien verwandelte, Liat Samocha
geheißen, also einen echt irakischen Familiennamen getragen hatte. Nach dieser Aufzählung beruhigte er sich ein wenig, und
dann konnte er diese Stadt wieder reinen Gewissens hassen.)
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Als er ins Auto stieg, achtete er darauf, jede Berührung mit dem beschmutzten Finger zu vermeiden, als sei er gar nicht Teil seines
Körpers, sondern eine Gewebeprobe, die er zur Untersuchung in der Hand hielt. Gleich würde er sie Prof. Sakkai vorlegen, damit
sie sie gemeinsam mit wissbegierigen Blicken prüfen konnten – verrate uns, wer du bist! Aber Prof. Sakkai war jetzt viele
Kilometer weit weg, erwachte an einem staubfreien Morgen in den grünen Straßen Raananas, setzte sich gemütlich in seinen
silbrigen Mercedes und schlängelte sich durch die Verkehrsstaus der Landesmitte zum Krankenhaus.
Während Etan noch zügig durch die leeren Straßen von Beer Scheva fuhr, wünschte er Prof. Sakkai mindestens eine Stunde und
fünfzehn Minuten Stillstand an der Geha-Kreuzung, mit kaputter Klimaanlage und verschwitztem Hemd. Doch er wusste sehr wohl,
Mercedes-Klimaanlagen gingen nicht kaputt und die Staus an der Geha-Kreuzung waren nur eine süße Erinnerung an das, was er
bei seinem Umzug hierher zurückgelassen hatte – die Metropole. Den Ort, wo alle hinwollten. Stimmt, in Beer Scheva gab es
keine Verkehrsstaus, und das betonte er auch in jedem Gespräch mit Bekannten aus dem Landeszentrum. Aber wenn er das tat –
mit dem gefälligen Lächeln und dem klaren Blick eines edlen Wüstenbewohners – , dachte er immer, dass es auch auf dem
Friedhof keine Staus gebe, und doch wollte er dort nicht wohnen. Die Häuser entlang der Reger-Allee erinnerten tatsächlich an
einen Friedhof. Eine verblichene, einheitliche Reihe von Steinklötzen, die einmal weiß gewesen waren, heute jedoch an Grau
grenzten. Riesige Grabmäler, aus deren Fenstern hier und da ein müdes, staubiges Gespenstergesicht blickte. Auf dem Parkplatz
des Soroka traf er Dr. Zendorf, der ihn mit breitem Lächeln fragte, „und wie geht es Dr. Grien heute?", worauf Etan sich ebenfalls
ein schiefes Lächeln abrang, es nach besten Kräften übers Gesicht verteilte und antwortete, „alles in Ordnung". Dann passierten
sie gemeinsam das Krankenhaustor, tauschten das Klima und die Uhrzeit, die die Natur ihnen aufzwang, gegen die dreiste
Anmaßung von Klimaanlagen und künstlicher Beleuchtung, die ewigen Morgen und nie vergehenden Frühling verhießen. Am
Eingang zur Station verließ Etan Dr. Zendorf, um sich den staubigen Finger lange am Waschbecken zu schrubben, bis eine junge
Schwester vorbeikam und anmerkte, er habe die Finger eines Pianisten. Das stimmt, dachte er, er hat die Finger eines Pianisten.
Frauen sagten ihm das immer. Aber das einzige Instrument, das er spielte, waren defekte, angeknackste Neuronen, auf denen er
mit behandschuhten Händen klimperte, um zu sehen, ob er ihnen eine Melodie entlocken konnte. Ein sonderbares Instrument, das
Gehirn. Man wusste nie richtig, welchen Ton man bekam, wenn man diese oder jene Taste anschlug. Natürlich würde jemand,
dessen Occipital- oder Hinterhauptslappen man mit einem leichten Stromstoß reizte, mit hoher Wahrscheinlichkeit Farben sehen,
ebenso wie ein Druck auf die Neuronen im Temporal- oder Schläfenlappen in den meisten Fällen die Illusion von Tönen und
Stimmen erzeugte. Aber welche Töne? Welche Bilder?
Da wurde die Sache kompliziert. Denn während die Wissenschaft klare, einheitliche Gesetze liebte, hoben sich die Menschen
offensichtlich liebend gern voneinander ab. Wie erschreckend zäh versteiften sie sich darauf, neue, abweichende Symptome zu
entwickeln, die zwar nichts als Variationen eines musikalischen Themas sein mochten, aber doch zu weit auseinanderlagen, um
sie in einer allgemeingültigen Aussage zusammenzufassen. Zwei Patienten mit der gleichen Schädigung des orbitofrontalen
Kortex würden niemals so gut sein, sich auf dieselben Nebenerscheinungen zu einigen. Der eine wurde grob und raubeinig, der
andere lachte obsessiv. Einer gab unsinnige Witze von sich, den zweiten befiel der unbeherrschbare Drang, jeden Gegenstand,
der ihm in die Quere kam, aufzuheben. Stimmt, die Erklärung gegenüber den entsetzten Angehörigen würde immer gleich lauten:
Aus irgendeinem Grund (Verkehrsunfall? Krebsgeschwür? Querschläger?) ist der orbitofrontale Kortex geschädigt, der das
Verhalten steuert. In neurokognitiver Hinsicht ist alles in Ordnung: Das Gedächtnis arbeitet, und die Denkfunktionen sind gleich
geblieben. Aber der Mensch, den Sie gekannt haben, ist nicht mehr. Wer würde an seine Stelle treten? Das war unklar. Bisher.
Von diesem Punkt an: eine Welt der Zufälle. Die Zufälligkeit, dieses aufreizende Hürchen, tanzte zwischen den Betten der Station
herum, spuckte auf die Arztkittel, kitzelte die Ausrufezeichen der Wissenschaft, bis sie sich gesenkten Hauptes zu Fragezeichen
rundeten. Wie soll man denn dann überhaupt noch was wissen?!, hatte Etan mal zum Holzpodium im Hörsaal emporgerufen.
Fünfzehn Jahre war das her, und immer noch erinnerte er sich an seine jähe Erregung, als ihm an einem schläfrigen
Novembermittag aufgegangen war, dass sein Studienfach nicht berechenbarer war als jeder andere Tätigkeitsbereich. Eine
Studentin, die neben ihm eingenickt war, schreckte bei dem Zwischenruf auf und blitzte ihn feindselig an. Die übrigen Hörer
warteten auf die Fortsetzung der Vorlesung, deren Inhalt sicher Prüfungsstoff sein würde. Der Einzige, der die Frage nicht als
störend empfand, war Prof. Sakkai selbst, der ihm einen belustigten Blick vom Lehrerpult zuwarf. „Und wie ist Ihr Name, bitte?"
„Etan. Etan Grien."
„Die einzige Möglichkeit, Erkenntnis zu erlangen, Etan, besteht darin, dem Tod nachzuspüren. Der Tod lehrt Sie alles, was Sie
wissen müssen. Nehmen Sie zum Beispiel den Fall von Henry Molaison, einem Epileptiker aus Connecticut. 1953 vermutete ein
Neurochirurg namens William Scoville, die Epilepsie gehe von den beiden medialen Temporallappen aus, und Henry Molaison
wurde einer neuartigen Operation unterzogen, bei der die angeblich krankheitsauslösenden Hirnpartien entfernt wurden, darunter
ein Großteil des Hippocampus. Wissen Sie, was danach passiert ist?"
„Ist er gestorben?"
„Ja und nein. Henry Molaison war nicht tot, denn er überstand die Operation und lebte weiter. Aber in anderer Hinsicht war
Molaison doch gestorben, denn nach seinem Erwachen aus der Narkose war er unfähig, auch nur eine einzige neue Erinnerung
zu bilden. Er konnte sich nicht verlieben oder einen Groll nachtragen oder einen neuen Gedanken entwickeln, denn nach zwei
Minuten war das Objekt der Liebe oder des Grolls oder der neue Gedanke schlichtweg ausgelöscht.
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Er wurde als Siebenundzwanzigjähriger operiert, und obwohl er erst mit zweiundachtzig starb, blieb er praktisch ewig
siebenundzwanzig. Verstehen Sie, Etan, erst nachdem man ihm den Hippocampus weitgehend entfernt hatte, erkannte man, dass
der die Speicherung im Langzeitgedächtnis steuert. Wir müssen warten, bis etwas zerstört ist, um zu begreifen, was vorher richtig
funktioniert hat. Das ist praktisch die Basismethode der Hirnforschung – wobei Sie nicht einfach hingehen und jemandem Hirnteile
entnehmen können, um zu prüfen, was dabei herauskommt, sondern Sie warten ab, bis der Zufall für Sie arbeitet. Und dann
stürzen sich die Wissenschaftler wie die Aasgeier auf das, was nach der Arbeit des Zufalls übrig geblieben ist, und versuchen,
dasselbe zu erlangen wie Sie – ein wenig Wissen." War damals, in jenem Hörsaal, der Köder ausgelegt worden? Hatte Prof.
Sakkai da bereits erfasst, dass dieser strebsame, faszinierte Student ihm wie ein treuer Hund überallhin folgen würde? Als Etan
jetzt seinen weißen Kittel überzog, war er fast amüsiert über seine damalige Naivität. Er, der nicht an Gott glaubte, der schon als
Kind keine Geschichte hören wollte, die auch nur einen Hauch von Übernatürlichem aufwies, hatte diesen Dozenten zum
wandelnden Halbgott erhoben. Und als der treue Hund sich dann partout nicht tot stellen oder den Taubblinden mimen wollte,
hatte der wandelnde Halbgott seinen Zorn über ihn ausgegossen, ihn aus dem Tel Aviver Garten Eden in diese Ödnis, ins SorokaKrankenhaus vertrieben.
„Dr. Grien?"
Die junge Schwester blieb bei ihm stehen und berichtete ihm von den Vorkommnissen der Nacht. Er hörte mit einem Ohr zu und
begab sich dann auf den Weg zur Kaffeemaschine. Beim Gang durch den Korridor warf er einen kurzen Blick auf die Patienten:
Eine junge Frau weinte leise vor sich hin. Ein Russe mittleren Alters versuchte sich mit zitternden Händen an einem Sudoku. Vier
Angehörige einer Beduinenfamilie starrten mit glasigen Augen auf einen Fernseher an der Wand. Etan blickte schräg auf den
Bildschirm: Ein Gepard knabberte stur die letzten Fleischreste von dem, was vorher einmal – wenn man dem Sprecher Glauben
schenkte – ein Fuchs gewesen war. Siehe da, die Tatsache, dass alles Leben dem Vergehen geweiht ist, diese Tatsache, die man
um Himmels willen nicht auf den Krankenhausfluren erwähnen durfte, konnte also wenigstens noch im Fernsehen folgenlos
thematisiert werden. Würde Dr. Etan Grien durch diesen Betondschungel namens Soroka wandern und schlicht und einfach vom
Tod reden, würden die Patienten ausrasten. Tränen, Schreie, tätliche Angriffe auf das Krankenhauspersonal. Unzählige Male hatte
er einen gerührten Patienten sie „Engel in Weiß" nennen hören. Und obwohl er wusste, es steckten keine Engel, sondern
Menschen aus Fleisch und Blut unter den weißen Kitteln, reagierte er nicht kleinlich. Wenn die Menschen nun mal Engel brauchten
– wie käme er dazu, sie ihnen zu verweigern? Was machte es, wenn eine Schwester nur haarscharf einer Anklage wegen
Fahrlässigkeit entgangen war, weil sie einer heiseren Kehle ein Medikament eingeflößt hatte, das für eine andere heisere Kehle
bestimmt war? Auch Engel irrten sich mal, besonders, wenn sie dreiundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatten. Wenn von
Trauer und Wut überwältigte Angehörige sich auf einen verängstigten Praktikanten oder eine erschrockene Fachärztin stürzten,
wusste Etan, sie wären über wahre Engel genauso hergefallen, um ihnen die Federn aus den Flügeln zu reißen, damit sie nicht
durchs goldene Himmelreich schwirrten, während ihr geliebter Anverwandter in Grabesfinsternis verbannt wurde. Und all diese
Seelen, die dem Tod sonst nicht mal flüchtig ins Gesicht sehen konnten, betrachteten ihn nun gelassen, sogar wohlwollend, als er
seinen Schrecken in der afrikanischen Savanne verbreitete. Denn jetzt schauten nicht mehr nur die Beduinen auf den Bildschirm –
auch der Russe löste sich von seinem Sudoku und reckte den Hals, und sogar die tränenerstickte Frau verfolgte das Geschehen
durch feuchte Wimpern. Der Gepard kaute emsig an den letzten Fleischresten des Fuchses mit dem roten Schwanz. Der Sprecher
redete von Dürre. Bei Regenmangel fingen die Savannentiere an, ihre Jungen zu fressen. Die Szene wechselte, und die Besucher
der neurochirurgischen Station betrachteten nun fasziniert „die seltene Dokumentation", wie der Sprecher sagte, eines
afrikanischen Löwen, der seine eigenen Nachkommen verspeiste, und Etan Grien wusste in tiefstem Herzen, er hatte dem Gott
der Wissenschaft nicht für das Morphium zu danken, sondern für den Toshiba-33-Zoll.
Vor vier Jahren hatte eine kahlköpfige Patientin ihn einen Zyniker geschimpft und ihm ins Gesicht gespuckt. Er spürte im Geist
immer noch den Speichel über seine Wange rinnen. Sie war jung, nicht besonders hübsch. Trotzdem war sie mit einer Grazie
durch die Flure gewandelt, die Mitpatienten und Schwestern veranlasste, ihr unwillkürlich den Weg freizumachen. Doch eines
Tages, bei der Morgenvisite an ihrem Bett, hatte sie ihn als Zyniker beschimpft und ihm ins Gesicht gespuckt. Vergeblich hatte er
über den Auslöser dieses Verhaltens gerätselt. Bei den früheren Visiten hatte er stets sachliche Fragen gestellt und knappe
Antworten erhalten. Nie war er von ihr auf dem Korridor angesprochen worden. Gerade weil er keinen Grund finden konnte,
betrübte ihn der Vorfall. Unwillkürlich kamen ihm Gedanken über Blinde, die einen bestens durchschauten, über kahlköpfige
Frauen, denen der nahe Tod möglicherweise einen Herz und Nieren durchdringenden Röntgenblick verliehen hatte. In jener Nacht,
auf dem Doppelbett, dessen Laken nach Sperma roch, hatte er Liat gefragt: Bin ich ein Zyniker? Sie hatte gelacht, und er war
eingeschnappt gewesen. Ist es so schlimm? Nein, hatte sie gesagt und ihm einen Kuss auf die Nasenspitze gegeben, nicht
zynischer als andere. Und er war wirklich kein Zyniker. War nicht zynischer als andere. Dr. Etan Grien wurde seine Patienten nicht
mehr – und nicht weniger – leid als üblich auf den Stationen. Und doch hatte man ihn über den Ozean von Staub und Sand hinweg
ins Exil geschickt, ihn aus dem Schoß des Krankenhauses im Landeszentrum in die Betonwüste des Soroka verbannt. „Du Idiot",
fauchte er sich an, als er das ratternde Klimagerät in seinem Dienstzimmer in Gang zu setzen versuchte, „du naiver Idiot." Denn
was hätte einen begnadeten Mediziner zu einem Frontalzusammenstoß mit seinem Chef bewegen können, wenn nicht Idiotie?
Was, wenn nicht die reinste Idiotie, hatte ihn veranlasst, auch dann noch auf seiner Meinung zu beharren, als dieser Chef, sein
ehemaliger Mentor, ihm geraten hatte, sich vorzusehen?
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Gysi, Gregor | Schorlemmer, Friedrich: Was bleiben wird. Gespräche über ein schwieriges Land | Aufbau
ET: 9. März 2015 | ISBN: 978-3-351-03599-0 | Gebunden | 320 Seiten | 19,95 € | Auch als Hörbuch
Vor der Wende standen Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer auf verschiedenen Seiten. Heute erinnern sie
sich, wie sie das verschwundene Land erlebten. Sie sprechen über das, was bleibt und das, was auf den Müll der
Geschichte gehört. Gysi, Sohn des Widerstandskämpfers und späteren DDR-Kulturministers Klaus Gysi, gehörte
zu den eher systemnahen, wenn auch von der Nomenklatura beäugten Persönlichkeiten der DDR. Schorlemmer,
Pfarrer, Oppositioneller und Mitinitiator der Bürgerrechtsbewegung Schwerter zu Pflugscharen, stand der DDR
und ihren Oberen immer kritisch gegenüber. Ohne Scheuklappen und falsche Ressentiments sprechen sie mit
dem Journalisten Hans-Dieter Schütt über das, was bewahrenswert sein könnte an diesem schwierigen Land,
das sie, wie 17 Millionen andere auch, geprägt hat. Angesichts eines entfesselten Kapitalismus versucht dieses
Buch, eine Alternative zu beschreiben.
Gregor Gysi, geboren 1948, ist Rechtsanwalt und Politiker. Der Sohn des DDR-Kulturministers Klaus Gysi und
Neffe von Doris Lessing trat 1967 in die SED ein und vertrat als Rechtsanwalt u. a. Robert Havemann, Rudolf
Bahro und Bärbel Bohley. Er war Vorsitzender der SED-PDS, seit 1990 sitz er im Bundestag, seit 2005 als
Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke.
Friedrich Schorlemmer, geboren 1944, ist Publizist und Theologe. 1978 bis 1992 Dozent am Evangelischen
Predigerseminar und Prediger an der Schlosskirche in der Lutherstadt Wittenberg. Er wurde u. a. mit dem
Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
1.
Hans-Dieter Schütt: Hinter allem steckt die Frage: Wieso überstanden Kommunisten die schweren Prüfungen der Nazizeit,
hielten ihren Kopf hin im Kampf gegen Barbaren – und dann, in der Bürokratie der Bonzen, knicken sie ein in die Duldung, ins
Schweigen, in die Mittäter-schaft in einem drögen Parteistaat. Unfassbar eigentlich. Wie ist das zu erklären?
Gregor Gysi: Ich habe das meinen Vater gefragt und bekam da, es war entgegen seiner sonstigen Art, eine höchst
unbefriedigende Antwort; das übliche Ausweichen: Disziplin, vor dem Klassengegner keine Blößen zeigen, also das geläufige
Beschwichtigungsvokabular, das ihn selber auch quälte. Ja, diese Menschen, diese Antifaschisten, hatten gegen Hitler die Kraft
für einen lebensgefährlichen Mut. Mein Vater und meine Mutter zum Beispiel waren in Frankreich. Als Hitler Polen besetzte hatte,
blieben sie dort, wurden interniert, wussten danach nicht, wie und wovon sie ihr Leben fristen sollten. Eines Tages beschloss die
Partei die Rückkehr meines Vaters nach Hitlerdeutschland - schon das war der helle herzlose Wahnsinn, meine Mutter hatte einen
jüdischen Großvater, mein Vater eine jüdische Mutter, und er war Mitglied der KPD. Aber sie machten sich auf die Reise. Dorthin,
wo man viele Gründe haben würde, meinen Vater umzubringen. Er folgte dem Auftrag trotzdem. Sie stiegen in den Zug, und
meine Mutter hat das Folgende später als ein schreckliches Erlebnis bezeichnet. Die beiden saßen nämlich im Abteil, und sechs
SS-Leute stiegen ein. Und dann verstieg sich mein Vater zu etwas Unfassbarem: Er erzählte nur jüdische Witze. Einen nach dem
anderen. Unaufhörlich. Die SS-Leute lachten lautschallend. So praktizierte mein Vater den Angriff als beste Verteidigung, und
meine Mutter starb in dieser Situation schon mal alle vorstellbaren Tode. In Berlin arbeiteten sie für einen Verlag, der
Firmenfestschriften verfertigte, trieben Spionage. Meine Mutter blieb immer resolut und reaktionsschnell und clever, und sie
versteckte auch gefährdete Personen. Und dann in der DDR, wie gesagt, diese disziplinierte Mutlosigkeit, auch meines Vaters, vor
den eigenen Genossen. Ich habe über das Thema mal mit Helmut Kohl gesprochen – man stelle sich das vor: Helmut Kohl erklärt
mir meinen Vater! –, aber er sagte tatsächlich etwas Einleuchtendes. Kohl meinte, die Antifaschisten hätten sich im Kampf gegen
die Nazis gleichsam in einer Familie gefühlt, mit der Gewissheit tiefer und verpflichtender Solidarität selbst noch weit über den
möglichen Tod hinaus. Aber der Widerstand gegen die verknöcherte eigene Partei, der mit Bannfluch geendet hätte, der hätte in
die totale Einsamkeit, in die Isolation geführt. Wer habe davor nicht Angst: dem Empfinden, als aussätzig zu gelten? Diese Angst
sei doch nur zu verständlich, und sie konnte so erfolgreich zur Züchtigung, zur Beschneidung des Charakters benutzt werden.
Meine Schwester sagte zudem: Vergiss nicht, dass die Kapitalismuserfahrung dieser Kommunistengeneration mit deren
Faschismuserfahrung zusammenfiel. Und angesichts dieser Erfahrungen galt der Sozialismus als großartige Möglichkeit, und
dafür trug man gern alles mit, was die Realität an Schmutz und Unvollkommenheit zumindest noch mitschleppte.
Schütt: Und nie mehr würde man wahrscheinlich zulassen, dass einem andere zu nahe kommen, Menschen außerhalb des
eigenen Erfahrungshorizontes.
Gysi: Ich habe den Jazzmusiker Coco Schumann kennengelernt, als jüdischer Junge wurde er von Berlin nach Theresienstadt
verschleppt, von dort nach Auschwitz. Weil er schon als Kind Gitarre spielen konnte, kam er in die Kapelle. Die spielte „La
Paloma”, wenn die Juden, vor allem Kinder, zur Gaskammer geführt wurden. Ich fragte ihn, ob er das Lied heute noch hören
könne. Er sagte nur: „Die Musik kann doch nichts dafür.” Ich empfand diesen Satz als etwas Großartiges und zugleich
Unfassbares. Was so ein Bewusstsein alles ordnen, bewältigen muss. Er hat während seiner Musikkarriere - er spielte in großen
Bands und Orchestern - nie über diese Erlebnisse gesprochen.
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Er hat mir gesagt, warum: Er wollte nicht wie ein Sonderfall behandelt werden, nicht besonders feinfühlig oder rücksichtsvoll. Er
habe Angst gehabt, so erzählt er, dass ihn seine Kollegen nicht mehr unverblümt auf mögliche falsche Töne aufmerksam gemacht
hätten, sei es aus Scham oder schlechtem Gewissen. Er wollte angenommen, normal behandelt, nicht seltsam angestarrt werden.
Erst sehr spät im Leben schrieb Schumann seine Geschichte auf. Für eines allerdings hatte er stets vorgesorgt: Er hat zu Hause
einen Koffer, einen kleinen Koffer nur. Aber da ist das Nötigste drin, er kann jederzeit weggehen, er ist immer auf einen schnellen
Abschied vorbereitet und gefasst.
Friedrich Schorlemmer: Es macht mich frösteln, was Sie da erzählen. Mir kommt da immer die Frage, wo ich gestanden hätte in
so verfluchten Zeiten. Es gibt ja in jedem Menschen auch einen negativen Möglichkeitssinn. Du weißt nicht wirklich, wozu du fähig
wärest, änderten sich die Verhältnisse nur um ein entscheidendes Quäntchen Druck und Fanatismus.
Schütt: Es gibt einen Aufsatz von Thomas Mann, „Bruder Hitler“, und ein Theaterstück von Heinar Kipphardt, „Bruder Eichmann“.
Schorlemmer: Worauf verweist solch eine Beschwörung beklemmender verwandtschaftlicher Nähe zum Bösen? Darauf, dass die
Sorgfalt in geschichtlicher Betrachtung dort wächst, wo man sich selber in die Variante einschließt, verführbar zu sein fürs
Grässlichste. So wie man freilich unbestritten auch fürs Gütigste verführbar bleibt. Sei niemand zu gewiss, wenn über
Anfechtbarkeit geredet wird. Ich habe mal geschrieben: „Ich bin Kain, der den anderen nicht erträgt. Ich bin Absalom, der
Vatermörder. Ich bin das blöde Volk. Ich bin Petrus, der Treue schwört und dann als Erster Jesus verleugnet, einen Moment
depressiv wird, dann sofort wieder obenauf ist, erneut in der Rechthaberpose. Ich bin froh, dass ich das alles nicht durchleben
muss. Und alles durchlebe ich doch – in meiner Seele.“
Gysi: Soll ich Ihnen sagen, Herr Schorlemmer, was als Kind mein größtes Problem war? Dass ich wusste: Ich hätte nie Nazi
werden können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Also irgendwie ist das ein irrer, wirrer Gedanke, ich weiß. Ich war mir immer des
Glücks bewusst, das jüdische Schicksal der Generationen vor mir nicht miterlebt haben zu müssen, aber ich dachte auch daran,
dass ich nicht die geringste Chance einer sogenannten normalen Entwicklung gehabt hätte wie andere Jungs. Ich hätte mir nie
den Wunsch erfüllen können, dazuzugehören. Ich muss mir keine Gedanken darüber machen, wie ich mich in der Nazizeit
verhalten hätte. Das ist mein biographisches Privileg. Ich atme bei so einem Gedanken auf und bin zugleich tief betroffen.
Schorlemmer: Das gehört zur Perfidie dieses zwanzigsten Jahrhunderts. Die Juden waren zwangsläufig Opfer, das war ihnen von
diesen deutschen Menschenverächtern vorbestimmt worden, sie kamen qua Geburt in die Hölle. Das war die eine Entsetzlichkeit.
Die andere: Kommunisten, die vor die Schranken der Schauprozesse gezerrt wurden, die sollten ihr Schicksal auch noch
klassenbewusst annehmen, die sollten mit ihrer Verurteilung, ihrer Verschleppung, ja Auslöschung auch noch einverstanden sein,
die sollten sich noch vor den Gewehrmündungen der Erschießungskommandos als gute, einsichtige Genossen zeigen.
Gysi: Mein Vater hat seine auch jüdische Herkunft eher heruntergespielt. Er wollte nicht nur Opfer sein. Er war Kommunist, das
war eine bewusste Entscheidung gewesen, die zählte. Damit war der geschichtliche Weg gewiesen.
Schorlemmer: Wie gesagt, ich komme aus der tiefen Überzeugung von der Ambivalenz des Menschen. Ihr Kommunisten aber
hattet den Weltgeist gepachtet, die Wahrheit im Besitz und das Grundgesetz der geschichtlichen Entwicklung in der Tasche.
Gysi: Sie reden, als sei ich mit gigantisch ausgebeulten Hosen durch die kleine DDR-Welt gegangen. Ich hatte nüscht
diesbezügliches in der Tasche.
Schorlemmer: Aber ohne zielgewissen Kompass ist der Kommunist nicht Kommunist. Die Geschichte als technische Zeichnung,
ihr Gang ist am Reißbrett planbar, das Beglückungsprogramm wird umgesetzt nach unumstößlichen Bauanleitungen, so, wie sie
ein Tischler für seinen Tisch hat. Elementare Widersprüche wurden in diversen dialektischen Verrenkungen verharmlost.
Gysi: Ja, ja, und wo gehobelt wird, fallen Späne.
Schorlemmer: War doch so! Das Sprichwort, das Sie zitieren, ist übrigens eine frohgemute, unbekümmerte Wahrheit des
Tischlers, nicht des Holzes.
Gysi: Geschichte als technische Zeichnung! Na ja, ich muss schon sagen, ich habe da natürlich meine Lektion auch hinter mir. Ich
glaube inzwischen weit weniger an geschichtliche Gesetzmäßigkeiten als früher. Es gibt ausrechenbare Konstellationen, aber
letztlich ist der Zufall ein weit größerer Geschichtemacher, als ich das früher anerkennen wollte. Es war nicht vorherbestimmt,
dass die Griechen in der Schlacht bei Marathon siegen würden. Die Wahrscheinlichkeit sprach sogar dafür, dass die Perser
siegen. Aber die Griechen gewannen, und ohne diesen Sieg hätten wir keine griechische Kultur in dem Sinne, wie wir sie jetzt
kennen, erlebt. Damit ist nicht gesagt, dass es keine Ursachen gibt für die Dinge, natürlich gibt es ursächliche Zusammenhänge,
und es gibt Verantwortliche. Aber unanfechtbare historische Gesetze? Man kann wahrscheinlich sagen: Geschichte läuft wie ein
Fußgänger, dessen Weg beständig auf Gabelungen und Kreuzungen stößt. Er entscheidet sich mal für diese und mal für jene
Abbiegung. Sackgassen werden meist zu spät bemerkt, und wer in sie einbiegt, lässt die meiste Zeit und die meiste Energie. In
der DDR galt es aus besprochenen Gründen nicht als opportun, Geschichte als eine Art Wahl zwischen mehreren denkbaren
Alternativen zu sehen.
Schorlemmer: Schon gar nicht Sozialismus und Parteigeschichte.
Gysi: Ja, das hatten immer nur zwangsläufige Abfolgen notwendiger und unaufhaltsamer Siege zu sein. Niederlagen waren
höchstens kurzzeitige Rückschläge und wurden entsprechend dialektisch interpretiert.
Schorlemmer: Das erlebt man aber heutzutage auch, und zwar an jedem Wahlabend, wenn die Parteichefs die erhaltenen
Stimmen kommentieren – Ihre Partei, Herr Gysi, eingeschlossen. Geschichte schreiben ist bei einigen immer noch die Methode,
sich das Vergangene und dessen Wahrheiten unbedingt vom Hals zu halten.
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Gysi: Erbe ziert nicht nur, es klebt auch. Geschichte ist Geschichte, soll Erich Honecker immerhin mal gesagt haben, als er die
Frage beantwortete, ob auf einem bestimmten Bilddokument weiterhin ein geschmähter Genosse wegretuschiert werden solle.
Das plötzliche Auftauchen des Verstoßenen auf dem Foto nach Honeckers Votum hat man wohl allenthalben mit Beifall quittiert,
statt sich zu Recht über die bis dahin vorgenommene Bildfälschung zu empören. Ich sag das nur, um darauf hinzuweisen, dass
aus dem, was Sie über das marxistisch-leninistische Denken äußerten, über dieses Denken in Determiniertheiten, also dass
daraus etwas resultiert, das besonders bei Linken aus der DDR anzutreffen ist: eine gewisse Unwilligkeit und wenig Übung darin,
spielerisch mit Vergangenheit umzugehen. Ja, man will die Logik, die Gesetzmäßigkeit, man hat viel drauf bei Welterklärungen,
aber Metaphysik ist nicht so das Ding. Man hat kein freies, einverständiges Verhältnis zum Zufall, zur Unerklärlichkeit bestimmter
Dinge.
Schorlemmer: Das war für viele der gute Grund, zum Marxismus zu stoßen: geschichtliche Verlässlichkeit, ein klarer Weg durch
den Dschungel der Geschichte, endlich auf der Seite der Sieger - vor lichten Horizonten - sein!
Gysi: Das schafft Sicherheit. Was immer auch bedeutet, ein wenig das Hoheitsrecht über das eigene Leben aufzugeben. Und sich
so darüber hinwegzutäuschen, dass wir doch in dem, was wir tun, weit weniger frei sind, als wir immer denken. Wir setzen auf Rot
und Schwarz, die Kugel rollt ins Bunte. Das ist im Großen so wie im Kleinen.
Schorlemmer: Wir wissen nicht wirklich, was an unserer eigenen Biographie freier Wille und was Fremdbestimmung ist. Aber
Leben ist für mich eine Dennoch-Existenz. Ist Grundvertrauen. Ist mehr, als mir die Verhältnisse zugestehen wollen. Die Welt will
immer, dass wir ihr gerecht werden, so wie sie ist. Und nie ist sie gut. Gut ist, was mir gut tut. Indem ich Gutes tue. Und manchmal
auch sage: Lass es gut sein, also etwas so tue, dass es gut wird, andern gut tut. Oder aber etwas sein lassen. Das kann auch gut
sein. Man ist wirklich Momenten und deren Konstellation ausgesetzt. Man weiß nie, wo die Weiche steht, die dem Leben Richtung
gibt.
Gysi: In meiner Gesprächsreihe am Deutschen Theater war Mario Adorf zu Gast. Er erzählte Folgendes: Er war in einem
katholischen Kinderheim. Alle stürmten eines Tages an die Fenster, denn rundum brannten Häuser. Es war die sogenannte
Reichskristallnacht. Die Synagogen standen in Flammen. Am nächsten Morgen trat eine der Franziskanerschwestern an Marios
Bett, legte dem Jungen die Hand auf die Stirn, stellte Fieber fest und verordnete Ruhe statt Schule. Er sah später, wie sie ans
Fenster trat und weinte. Mario ging hin und sah, wie Menschen auf Lastkraftwagen geladen und weggefahren wurden. Er fragte,
wer das ist. "Juden", sagte sie. Er fragte weiter, was sie getan hätte. Sie sagte, nichts, außer das sie Juden seien. Er war
betroffen. Am Nachmittag kamen seine Mitschüler vom Unterricht zurück und präsentierten stolz ihre vollen Taschen. Sie waren
durch die Stadt gelaufen und hatten in den aufgebrochenen und verwüsteten Geschäften der Juden alles geklaut, was nicht nietund nagelfest war. Mario Adorf sagte: “Sehen Sie, Herr Gysi, so zufällig kann das Leben sein. Wenn ich mit den anderen zur
Schule gegangen wäre, hätte auch ich geplündert und gestohlen. Aber da ich neben der weinenden Franziskanerschwester stand,
wurde es zu einem traurigen Grunderlebnis für mich." Das ist er, der Zufall im Leben.
2.
Schütt: Kann man mit Ihnen über Gott reden, Herr Gysi?
Gysi: Unbedingt. In Fjodor Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“ kehrt ein Satz immer wieder: Wenn es Gott nicht gäbe,
wäre alles erlaubt.
Schorlemmer: Ja, dann wäre unser gesamtes Menschsein nicht mehr bestimmbar. Leben ist ein Entgrenzungsangebot – gegen
das die Religion Begrenzungsgebote setzt.
Gysi: Ja, und deshalb denke ich, dass eine gottlose Gesellschaft verhängnisvoll wäre.
Schorlemmer: Der Marxismus verstand sich letztlich auch als Religion, und man sollte da nicht bloß gläubig sein, sondern im
Geist der Dogmen - rechtgläubig. Immer auf der vorgegebenen Linie entlang „Bewusstsein haben" und Parteidisziplin üben. Und
immer dieses eine Schlag-Wort: Dialektik. Die SED handhabte die Dialektik nicht für die Wahrheitssuche, sondern meist nur, um in
Widersprüchen Schmerzfreiheit zugunsten der eigenen Ideologie herzustellen. Wenn du unbequem bliebst in deinen Ansichten,
dann wurdest du forsch oder hochnäsig oder mitleidig zurechtgewiesen: „Das müssen Sie dialektisch sehen.”
Schütt: Zu jeder Sache gab es zwei Ansichten – unsere und die falsche. In marxistisch-leninistischen Köpfen war die Dialektik die
unantastbare Lehre von der immerwährenden Schuld der anderen.
Gysi: Ethik lässt sich nach dem Niedergang des ersten Sozialismusversuches nicht mehr uneingeschränkt mit sozialistischen
Ideen begründen. Es bleiben da für viele Menschen nur die Religionen, in denen übrigens auch die Menschenrechte ihre Wurzeln
haben. Einzig die katholische und die evangelische Kirche sind in Deutschland in der Lage, einen Moralkodex aufzustellen und
aufrechtzuerhalten, der die Mehrheit der Gesellschaft auch erreicht. Die Politik kann das nicht.
Schütt: Aber Sie selber sind nicht religiös.
Gysi: Stimmt. Aber Nichtreligiosität verlangt keinen Kampf gegen die Religionen, wie das in der DDR zeitweise der Fall war.
Nichtreligiosität kann den Wert der Religion für die Gesellschaft durchaus anerkennen. Es gibt Menschen, und ich zähle mich
dazu, die sind ungläubig, aber deswegen nicht geschichtslos. Ich weiß doch zum Beispiel um den Wert meiner kulturellen, jüdischchristlichen Prägung für mein Leben. Existenz in politischen Gemeinschaften kann nicht als profaner Bezirk abgegrenzt werden, in
dem wir es nur mit Fragen der Rechts- und Machtorganisation zu tun haben. Die Gemeinschaft ist immer auch ein Bereich
religiöser Ordnung. Ich finde, die religiösen Kräfte, die es in einer Gesellschaft gibt, dürfen nicht missachtet werden. Eins ist in der
DDR gründlich gelungen: die Entkirchlichung der Gesellschaft.
Lothar de Maizière hat immer zu mir gesagt: „Gregor, es gibt doch irgendwas außerhalb von uns." Ja, der Mensch endet im Elend,
wenn er alle Himmel über sich einreißt und nur noch sich selber als Gott feiert. Deshalb möchte ich keine Entkirchlichung der
Gesellschaft. Ich möchte allerdings auch nicht, dass Religionen den Staat, die Politik bestimmen oder dass man mich missioniert.
Weder religiös noch politisch.
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Schütt: Herr Gysi, Sie sagen, Sie seien nicht gläubig. Sie haben eine schwere Operation hinter sich ...
Gysi: Man darf das deutlicher formulieren: Ich lag schon mal im Sterben. Viele sagen ja, spätestens in solchen Stunden beginnst
du, an Gott zu glauben. Bei mir blieb das aus.
Schütt: Glauben Sie nicht dennoch - etwa an eine wissenschaftliche Weltanschauung?
Schorlemmer: So was ist ja nun der Grundirrtum allen ideologischen Geländer-Denkens!
Gysi: Eine Weltanschauung kann zumindest nicht nur aus wissenschaftlichen Elementen bestehen. Aber die Aufklärung - und
damit auch das Weltbild, das ihr entsprang - ist ohne Wissenschaft nicht zu denken.
Schorlemmer: Wissenschaftliche Weltanschauung! Wissenschaftlicher Kommunismus! So eine Schimäre habt ihr in der DDR
mitgemacht, obwohl ihr Abitur hattet. Diesen geistigen Götzendienst konnte ich nie begreifen. Ernst Bloch, ein gläubiger Marxist,
sagte: „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.” Das war sein Bekenntnis zur Transzendenz. Die Welt, die wir
erforschen können, sollten wir erforschen - und gleichzeitig nach Kriterien fragen, sie sinnstiftend zu nutzen. Aber es gibt auch die
Welt, vor der wir staunend stehen sollten, ohne ihre Geheimnisse zu zerstören. Es geht immer um das friedliche Verhältnis von
Drang und Demut. Fassungslosigkeit gehört zur Anschauung der Welt, im schönen wie im aufschreckenden Sinne.
Gysi: Im Augenblick hat die Finanzwirtschaft mehr Einfluss auf unser Leben als Gott. Das ist die Tragik.
Schütt: Gott ist ein „unaussprechlich Wesen", sagt Luther. Wie erfährt man Gott?
Schorlemmer: Mein Vater betete abends für uns Kinder, wir lagen bereits in den Betten, er wirkte groß und stark, er war groß und
stark, und er faltete die Hände, und wir sangen dann in die Nacht hinein ein Lied von Paul Gerhardt. „Will Satan mich
verschlingen,/ so lass die Englein singen: ,Dies Kind muss unverletzt sein.'" Bei diesem Gesang fühlte ich immer: Ich bin gemeint.
Das Lied nimmt meine Ängste ernst, und es gibt etwas, das mir hilft, mich tröstet, mir gut zuredet. Gut zusprechen, das ist es
doch.
Schütt: Sie haben mal gesagt, Herr Schorlemmer, Ihr Beruf des Predigers sei im Grunde eine Anmaßung. Also, was maßen Sie
sich eigentlich an?
Schorlemmer: Die Anmaßung besteht darin, dass ich, um über Gott reden zu dürfen, kein Berufungserlebnis vorweisen kann.
Und vom Unnennbaren so rede, als hätte ich gestern eine persönliche Audienz bei IHM gehabt.
Gysi: Kann ein Politiker auch nicht. Genau genommen, kennt er das Ziel, für das er redet, wenn er denn programmatisch redet,
auch nicht.
Schütt: Woraus schöpfen Sie denn?
Schorlemmer: Ich schöpfe aus einem Leben, das sich durch sich selber bezeugt, das sich auf biblische Texte konzentriert, das
Poesie wahrnimmt und dubezogen bleibt, ein Leben also, das im Reden von Gott hoffentlich immer ein menschliches, ein
menschenbezogenes Reden ist. Wie sagt Heinrich Böll in seinen „Ansichten eines Clowns“ so wunderbar: Die Katholiken mag er
nicht, weil die so falsch sind; die Protestanten mag er nicht, wegen ihrer dauernden Gewissensfummelei; und die Atheisten mag er
nicht, weil die ihm zu viel von Gott reden. Wir sollen als Theologen von Gott reden, wir sind aber Menschen und können als solche
nicht von Gott reden. Wir sollen beides: um unser Sollen wissen wie auch um unser Nichtkönnen – und eben damit Gott die Ehre
geben. So etwa sagte es Karl Barth.
Gysi: Im Augenblick hat die Finanzwirtschaft mehr Einfluss auf unser Leben als Gott. Das ist die Tragik.
Schütt: Gott ist ein „unaussprechlich Wesen", sagt Luther. Wie erfährt man Gott?
Schorlemmer: Mein Vater betete abends für uns Kinder, wir lagen bereits in den Betten, er wirkte groß und stark, er war groß und
stark, und er faltete die Hände, und wir sangen dann in die Nacht hinein ein Lied von Paul Gerhardt. „Will Satan mich
verschlingen,/ so lass die Englein singen: „Dies Kind muss unverletzt sein.“ Bei diesem Gesang fühlte ich immer: Ich bin gemeint.
Das Lied nimmt meine Ängste ernst, und es gibt etwas, das mir hilft, mich tröstet, mir gut zuredet. Gut zusprechen, das ist es
doch.
Schütt: Sie haben mal gesagt, Herr Schorlemmer, Ihr Beruf des Predigers sei im Grunde eine Anmaßung. Also, was maßen Sie
sich eigentlich an?
Schorlemmer: Die Anmaßung besteht darin, dass ich, um über Gott reden zu dürfen, kein Berufungserlebnis vorweisen kann.
Und vom Unnennbaren so rede, als hätte ich gestern eine persönliche Audienz bei IHM gehabt.
Gysi: Kann ein Politiker auch nicht. Genau genommen, kennt er das Ziel, für das er redet, wenn er denn programmatisch redet,
auch nicht.
Schütt: Woraus schöpfen Sie denn?
Schorlemmer: Ich schöpfe aus einem Leben, das sich durch sich selber bezeugt, das sich auf biblische Texte konzentriert, das
Poesie wahrnimmt und dubezogen bleibt, ein Leben also, das im Reden von Gott hoffentlich immer ein menschliches, ein
menschenbezogenes Reden ist. Wie sagt Heinrich Böll in seinen „Ansichten eines Clowns“ so wunderbar: Die Katholiken mag er
nicht, weil die so falsch sind; die Protestanten mag er nicht, wegen ihrer dauernden Gewissensfummelei; und die Atheisten mag er
nicht, weil die ihm zu viel von Gott reden. Wir sollen als Theologen von Gott reden, wir sind aber Menschen und können als solche
nicht von Gott reden. Wir sollen beides: um unser Sollen wissen wie auch um unser Nichtkönnen – und eben damit Gott die Ehre
geben. So etwa sagte es Karl Barth
Schütt: Was heißt Erlösung?
Schorlemmer: Das ist der Kern einer anthropologisch-ethisch begründeten Nachhaltigkeit. Es geht um ein gelöstes Leben – ohne
Überhebung oder Beweisnot, sondern in jenem erwähnten Bewusstsein: Ich bin begnadet, weil es mich gibt. Ich bin ein geliebtes
Wesen. Ich bin wertvoll. Luther fragt nicht nur, wie wir mit dem Leben gut zurechtkommen, er fragt, wie kommen wir zu einem
geheilten Leben.
Schütt: Heil statt Wohl-Stand.
Gysi: Das Heil nicht ohne Wohl, Gott nicht ohne Brot.
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Schorlemmer: Leben aus Vertrauen: Ich gebe mich mit allem hin, was mir gegeben ist – und gewinne so Kraft, etwas zu tun, was
dieser Welt guttun möge. Aber ich muss die Welt nicht retten. Ich kann sie auch nicht retten. Ich bleibe der Gnade bedürftig und
bin der Gnade gewürdigt.
Schütt: Es gibt ein Foto, Schorlemmer unter einem Luther-Wandspruch: „Niemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott an
ihm eine große Tat will.“
Gysi: Das ist ja eigentlich unser Grundgesetz, nur anders formuliert: Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie ist unbedingt
zu schützen. Der Indikativ geht dem Imperativ voraus.
Schütt: Sie sprechen vom Glauben in das Voraussetzungslose unserer Existenz. Was nützt dies aber in einer Welt, in der wir von
Interessen und Kalkülen geradezu verätzt sind?
Schorlemmer: Wenn ich das nur beantworten könnte … sagt, wir seien die Lieblingsidee Gottes, die ersten Freigelassenen der
Schöpfung. Ich füge despektierlich hinzu: Gott hat bei der Erschaffung Adams auch noch geübt. Da ist manches schief gelaufen,
angefangen vom Kampf zwischen der nomadischen und der sesshaften Existenz. Beides kennzeichnet ein grundverschiedenes
Verhältnis zu Besitz und Natur. Gesiegt hat die Besitz ergreifende sesshafte Welt, auch das könnte die Erde kaputtmachen.
Schütt: Die Alternative?
Schorlemmer: Wir sprachen sie doch an! Keinem gehört, was allen gehören muss, weil alle davon leben, aber alle fühlen sich für
alles verantwortlich. Das wäre nomadisch.
Schütt: Dostojewski fragt, wie man eigentlich an einem Baum vorbeigehen könne, ohne glücklich zu sein!
Schorlemmer: Schön! Heute eine gelungene Zeile von Goethe lesen, ein paar Bagatellen Beethovens hören, Cellokonzerte mit
Casals. Davon noch einen Tag und noch einen Tag! Die Tage werden nicht reichen! Natürlich gibt es Stunden, da erreicht mich
nichts. Aber auch dann weiß ich, dass ich über einen Resonanzraum in mir verfüge, den die Sorgen nicht zubetonieren können.
Schütt: Es ist schwer, sich so gar nicht von einer Sintflut-Mentalität oder aber einer Mentalität des fortwährenden Agierens und
der Agilität für noch bessere Effektivität anstecken zu lassen.
Gysi: Längerfristige Probleme brauchen zu deren Lösung längerfristiges Engagement. Längerfristiges Engagement jedoch ist
nicht lusterfüllt, sondern unglaublich mühsam. Dazu gehören Durststrecken, also ein Bedarf an täglichem Niederlage-Training.
Mitunter wird einen das Gefühl der Sinnlosigkeit überkommen, der Zweifel wird nagen, klar.
Schorlemmer: Du sagst dir dann, und Sie, Gysi, kennen das sicher auch: Während andere ins Theater oder gut essen gehen,
rennst du fortwährend und ohne messbaren Erfolg auf Aktionstagen oder anderen thematischen Veranstaltungen zu Beförderung
und Wahrung der Schöpfung herum. Manchmal sage ich mir, du hast dich Jahrzehnte mit gemüht, hast die Ohnmächtigkeit
durchgestanden bis in die letzten Fasern deiner Kraft. Nun sind die Jüngeren dran. Aber Ich kann auf Dauer so nicht denken. Mir
tut sie weh, diese häufig anzutreffende Kurzlebigkeit der Zivilcourage. Durch meine Beschäftigung mit Albert Schweitzer bin ich auf
einen Gedanken gestoßen, der mich neuerdings regelrecht verfolgt.
Es geht darum, den Impuls zur Veränderung der Dinge, etwa beim Schutz der Natur, nach wie vor aus dem Staunen über das
Wunderbare, aus der Dankbarkeit heraus zu beziehen, nicht primär aus der Sorge. Nicht, weil etwas gefährdet ist, sondern weil
etwas so schön ist, kann der Verlust nicht tatenlos hingenommen werden. Das Aufbringen von Gegenkraft darf uns nicht die Sinne
dafür töten, warum wir sie in uns aufrufen, diese Kraft. Ich rede einer Umkehr der Empfindungen das Wort, dem Überschwang, der
Grundbegeisterung, etwas nicht fassen zu können und deshalb Sorge zu tragen, dass es nicht angegriffen, zerstört wird. Zuerst
Loblieder singen.
Gysi: Was nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Modells als neue Qualität des Miteinanders gedacht war, hat nunmehr
ein anderes furchtbares Gesicht. Was als Aufbruch zu neuen Ufern gefeiert wurde, gilt heute als merkwürdige Verirrung des
Geistes und hat mit dem 11. September 2001 endgültig seine Versprechenskraft verloren. Die Mischung aus Marktwirtschaft und
Demokratie, aus Rechts- und Sozialstaat, kurz: die westliche Lebens- und Wirtschaftsform, hat weltweit Desintegration und
Ungleichheit hervorgebracht. Plötzlich wurden der Terrorismus gegen den Westen und der westliche Kampf gegen diesen
Terrorismus zur Nachfolgefront des Kalten Krieges. Der Westen führt im Grunde Krieg mit sich selbst. Er schleift nämlich per
Globalisierung just das, was ihn einigermaßen friedlich hält – Moderation durch den Wohlfahrtsstaat und Verzicht darauf, Freiheit
und Demokratie zum Imperialismus zu erheben –, und damit produziert er immer neue Terroristen. Und: Innerhalb der westlichen
Grenzen produziert er Unmut und Protest, die irgendwann ebenfalls die Verankerung im Gemäßigten sprengen könnten.
Schorlemmer: Weil das Wünschen nicht mehr hilft. Weil die Versprechen ausgehen. Weil alles so organisiert wird, dass die
Gelder weiter auf die eine Seite, die Härten aber nur auf die andere Seite verteilt werden.
Gysi: Das Gewaltmonopol der westlichen Ökonomie, das den Menschen erbarmungslos aus seiner sicheren Erwartung auf Arbeit
jagt, wird in anderen Teilen der Welt begleitet von einem Schreckensmonopol, das diejenigen an sich gerissen haben, die offenbar
gar nichts mehr erwarten – und die genau diese Erschütterung in kriegerische Religion oder rächendes Nationalgefühl umsetzen,
in einen zerstörerischen Stolz jedenfalls, mit dem immer stärker an immer neuen Tatorten zu rechnen sein wird.
Schorlemmer: Die Diplomatie findet nicht länger auf dem Parkett statt, und sie ist kein gepflegtes Geschäft der Hinterzimmer
mehr, vielmehr wurde sie zum Nervenkrieg zwischen Verschanzten und Spezialeinheiten; wo Annäherung geschieht, ist es in
zunehmendem Maße eine auf Schussweite.
Schütt: Könnte man erklären, wer Gott ist?
Schorlemmer: Nein. Den will ich auch nicht erklären. Er erklärt mich. Aber diese Fragen zu Gott bringen mich wieder auf meine
Schulsituation: Als Juri Gagarin ins All flog, stand nach seiner Rückkehr in irgendwelchen Agitationsheften: „Gagarin war im
Weltall. Er hat keinen Gott gesehen.”
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Schütt: Heiner Müller lässt seinen Gagarin in „Germania 3" sagen: „Dunkel, Genossen, ist der Weltraum, sehr dunkel."
Gysi: Ich hatte in der Gesprächsreihe am Deutschen Theater Sigmund Jähn zu Gast.
Schütt: Der erste Deutsche im All - immerhin: ein DDR-Bürger.
Gysi: Wir lagen eben nicht überall nur hinterm Mond. Ich habe Jähn gefragt, was für ihn das Schönste gewesen sei da oben. Das
größte Wunder war für ihn, dass er aufgrund der Fluggeschwindigkeit jede Stunde einen Sonnenaufgang und einen
Sonnenuntergang erlebte.
Schorlemmer: Aber Gott hat er bestimmt auch nicht gesehen.
Gysi: Ich kann mich an einen sowjetischen Film erinnern, in dem zumindest ein einziger witziger Dialog vorkam. Ein gläubiger
junger Mann trifft auf einen Atheisten, und der haut ihn an: „Was du immer für einen Quatsch erzählst, von wegen Gott! Gagarin
war oben und hat
Gott nicht gesehen.” Fragt der andere: „Hast du Gagarin schon gesehen?” - „Nein." - „Na, dann gibt’s den auch nicht.”
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Hajaj, Claire: Ismaels Orangen | Blanvalet | ET: 6. März 2015 | Deutsche Erstausgabe |
ISBN: 978-3-7645-0516-5 | Gebunden | 448 Seiten | 19,99 € | Auch als Audio-CD, Hörbuch Download + E-Book
Jaffa, April 1948. Der siebenjährige Salim Al-Ismaeli, Sohn eines palästinensischen Orangenzüchters, freut sich
darauf, die ersten Früchte des Orangenbaums zu ernten, der zu seiner Geburt gepflanzt wurde. Doch der Krieg
bricht aus und treibt die ganze Familie in die Flucht. Von nun an hat Salim nur noch einen Traum: Eines Tages zu
seinem Baum zurückzukehren und im Land seiner Väter zu leben. Zur selben Zeit wächst Judith als Tochter von
Holocaust-Überlebenden in England auf – und sehnt sich danach, irgendwann ein normales und glückliches Leben
führen zu dürfen. Als Salim und Judith sich im London der 60er Jahre begegnen und ineinander verlieben, nimmt
das Schicksal seinen Lauf und stellt ihre Liebe auf eine harte Probe … Hajaj erzählt in ihrem Debütroman eine
Geschichte, die auf Erlebnissen und Erfahrungen ihrer eigenen Familie beruh
Claire Hajaj, wurde 1973 als Tochter einer jüdischen Mutter und eines palästinensischen Vaters in London
geboren. Sie verbrachte ihr bisheriges Leben zwischen der jüdischen und der palästinensischen Kultur und
versucht, beide zu vereinbaren. In ihrer Kindheit lebte sie sowohl im Nahen Osten als auch im ländlichen England.
Ihren Master in Klassischer und Englischer Literatur machte sie in Oxford. Hajaj bereiste vier Kontinente und
arbeitete für die UN in Kriegsgebieten wie Burma oder Bagdad. Sie schrieb Beiträge für den BBC World Service,
außerdem veröffentlichte sie Artikel in Time Out und Newsweek. Zur Zeit lebt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter
in Beirut.
1948: „Yalla, Salim, los! Die Juden werden dich holen, Bauernjunge! Sie schmeißen dich raus und verhauen dir den knochigen
Hintern wie einem Esel.“
Zwei Jungen standen einander auf der Staubstraße zwischen Jaffas Orangenhainen und dem Meer gegenüber.
Der eine war älter, kräftig gebaut und schwarzhaarig. An Kinn, Armen und Bauch wabbelten Fettwülste wie an einem schlachtreifen
Lamm. In einigen Jahren würden sie sich in die respekteinflößende Leibesfülle eines A’yan verwandeln – eines wohlhabenden
Mannes, der im Kaffeehaus herumsaß, in einer weißen Villa wohnte und eine teure Ehefrau hatte. Doch bis jetzt brachte die
Körpermasse nur den Vorteil der kräftemäßigen Überlegenheit. Ansonsten musste sich ihr Besitzer eben schwitzend durch die
warme Frühlingsluft quälen.
Der Jüngere der beiden hatte sich dem sich allmählich verdunkelnden Wasser zugewandt. Er hatte einen Fußball in der Hand und
trug geschnürte schwarze Schulschuhe und ordentliche braune Shorts. Das weiße Hemd war manierlich in den Hosenbund gesteckt
und bis zum Kinn zugeknöpft; sein schmales, blasses Gesicht sei wie ein offenes Buch, pflegten die Frères zu scherzen, eine leere
Seite, auf die jeder schreiben konnte.
„Nenn mich nicht Fellah“, erwiderte er zögernd und drehte den Fußball zwischen den Händen hin und her. Es war nicht ratsam, sich
mit Masen anzulegen, der mit seinen knapp zehn Jahren schon ordentlich hinlangen konnte.
„Ich bin kein Bauer.“
„Warum nicht? Du wohnst auf einer Farm, und dein Vater lässt dich Obst pflücken wie die Fellahin.“
Salim lag eine zornige Antwort auf der Zunge, doch er schluckte sie, plötzlich verunsichert, hinunter. Hatte er letzte Woche nicht
selbst darum gebettelt, mit zu den Orangenhainen zu dürfen? Die Erntezeit neigte sich dem Ende zu, und die Arbeiter seines Vaters
hatten das Obst auf der Farm der Familie gepflückt – fünfzehn ganze Dunums, fünfzehntausend Quadratmeter gutes Orangenland.
Er hatte es sich zum Geburtstag gewünscht, bei der Ernte mithelfen zu können: Er war jetzt sieben, und eines Tages würde er sich
die Haine mit Hassan und Rafan teilen. Lass mich mitkommen, hatte er gebeten. Aber sein Vater hatte Nein gesagt, und Salim hatte
zu seiner Schande geweint.
„Mein Vater gibt Fellahin Arbeit, deiner steckt sie ins Gefängnis“, wechselte er die Strategie. Masens Vater war einer der obersten
Richter von Jaffa, ein Kadi. Hassan sagte, dass er vor Geld stank. „Wenn die Juden kommen und in eurem Haus wohnen, kann dein
Vater ihnen helfen, uns alle einzusperren.“
Masen grinste. „Keine Angst“, sagte er. „Wenn du mich nett bittest, kümmere ich mich um dich und deine hübsche Mama. Aber
Hassan, dieser Blödmann, kann schauen, wo er bleibt.“
Er nahm Salim den Fußball weg und schlug den Weg zum Meer ein. Der kleine Junge folgte ihm, ohne nachzudenken, und schritt,
die Arme seitlich herabbaumelnd, in den Sonnenuntergang hinein.
„Die Juden kommen sowieso nicht. Nicht, solange die Briten hier sind“, verkündete Salim, dem plötzlich einfiel, was Frère Philippe
ihm heute Morgen in St. Joseph gesagt hatte. In der Pause war es zu einer Rauferei zwischen zwei Jungen gekommen: Der eine
hatte den Vater des anderen als Verräter bezeichnet, weil er seine Dunums an die Juden verkauft hatte.
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Daraufhin hatte der andere zurückgebrüllt, zumindest sei er nicht wie ein Feigling aus seinem Haus geflohen. Die beiden schlugen
sogar noch aufeinander ein, als sie an den Ohren gepackt und abgeführt wurden. Salim hatte dagestanden wie erstarrt, während
Masen sie lachend angefeuert hatte. Danach hatte Frère Philippe ihm sanft die Wange getätschelt. „Keine Angst, Habibi“ – mein
Freund –, sagte er, während im Hintergrund das Schnalzen der Peitsche ertönte, als die beiden Raufbolde ihre Tracht Prügel
bezogen. „Dieses ganze Gerede von den Juden und Armeen … Es sind nicht alle wild darauf zu kämpfen, nicht, solange die Briten
hier sind und Gott über seine Schäflein wacht.“
„Gott hilft denen, die sich selbst helfen“, entgegnete ein anderer Frère mit finsterer Miene.
„Wollen wir es hoffen …“, meinte ein anderer. „Denn auf die Briten würde ich mich nicht verlassen.“
„Du bist ja so ein Esel, Salim“, höhnte Masen und holte ihn damit in die Gegenwart zurück. „Den Briten ist es egal, ob wir leben
oder sterben. Sie wollen dieses Land zerteilen wie eine Orange und den Juden das größte Stück geben. Aber bei Gott, wir werden
bereit sein. Sollen sie die Najjada nur herausfordern. Ich kann es kaum erwarten, einen Juden abzuknallen.“
„Du darfst ja gar nicht zur Najjada“, verkündete er, steckte die Hände in die Hosentaschen und straffte die Schultern. „Du bist
nämlich noch ein Junge. Mama sagt, die nehmen nur Männer.“
„Deine Mama hat eben den Verstand einer Frau“, höhnte Masen. „Al-Hawari ist ein Freund meines Vaters. Außerdem würde ich es
dir sowieso nicht sagen, wenn ich mich freiwillig melde. Kleine Esel wie du dürfen da nicht mitmachen.“
„Ich bin kein Esel“, flüsterte Salim, als Masen vorauslief. Manchmal, in seinen kühnsten Träumen, malte Salim sich aus, dass er
Masen zu Boden stieß und ihn trat wie einen fetten Fußball. Doch Masen war mit seinen riesigen Fäusten und seinem grausamen
Spott sogar noch angsteinflößender als die Juden. Hoffentlich kriegen die Juden Masen, wenn sie kommen.
Und die Juden würden kommen. Das tuschelten die Frères in der Schule einander zu. Die Landbevölkerung floh vor den
herannahenden feindlichen Kämpfern, sodass es in Jaffa von Flüchtlingen mit ihren schmutzigen Säcken und ihren quengelnden
Kindern nur so wimmelte. Salims Vater hatte sich beim Bürgermeister über sie beschwert, doch seine Mutter ließ
Lebensmittelpakete an die Frauen mit Kleinkindern verteilen. Salim begriff nicht, warum diese Leute lieber in Jaffas Moscheen und
Kirchen schliefen anstatt bei sich zu Hause.
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Haratischwili, Nino: Das achte Leben (Für Brilka) | Frankfurter Verlagsanstalt | 2014
ISBN 978-3-87134-784-9 | Gebunden | 240 Seiten | 19,95 € | Auch als E-Book
Georgien, 1900: Mit der Geburt Stasias, Tochter eines angesehenen Schokoladenfabrikanten, beginnt der
Roman über sechs Generationen. Stasia wächst in der wohlhabenden Oberschicht auf und heiratet jung den
Weißgardisten Simon Jaschi, der am Vorabend der Oktoberrevolution nach Petrograd versetzt wird. Als Stalin an
die Macht kommt, sucht Stasia mit ihren beiden Kindern in Tbilissi Schutz bei ihrer atemberaubend schönen
Schwester. Doch als ein Geheimdienstler auf sie aufmerksam wird, hat das fatale Folgen... Deutschland, 2006:
Nach Mauerfall der Mauer und Auflösung der UdSSR herrscht in Georgien Bürgerkrieg. Stasias hochintelligente
Urenkelin Niza hat mit ihrer Familie gebrochen und ist nach Berlin ausgewandert. Als ihre zwölfjährige Nichte
Brilka nach einer Reise in den Westen nicht mehr nach Tbilissi zurückkehren möchte, spürt Niza sie auf. Ihr wird
sie die ganze Geschichte erzählen...
Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi, ist preisgekrönte Theaterautorin und -regisseurin. 2010 erhielt sie
den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Ihr Romandebüt „Juja“ gewann 2011 den Debütpreis des Buddenbrookhauses Lübeck. Zuletzt erschien ihr Einakter „Die zweite Frau“ in der Anthologie „Techno der Jaguare. Neue
Erzählerinnen aus Georgien“ (2013). Für ihren „Das achte Leben (Für Brilka)“ erhielt sie ein „GrenzgängerStipendium“ der Robert-Bosch-Stiftung für Recherchen in Russland und Georgien. Die Autorin lebt in Hamburg.
PROLOG oder DIE PARTITUR DES VERGESSENS
2006
Eigentlich hat diese Geschichte mehrere Anfänge. Ich kann mich schwer für einen entscheiden. Da sie alle den Anfang ergeben.
Man könnte diese Geschichte in einer Berliner Altbauwohnung beginnen – recht unspektakulär und mit zwei nackten Körpern im
Bett. Mit einem siebenundzwanzigjährigen Mann, einem gnadenlos talentierten Musiker, der gerade dabei ist, sein Talent an seine
Launen, an die unstillbare Sehnsucht nach Nähe und an den Alkohol zu verschenken. Man kann die Geschichte aber auch mit
einem zwölfjährigen Mädchen beginnen, das beschließt, der Welt, in der sie lebt, ein Nein ins Gesicht zu schleudern und einen
anderen Anfang für sich und ihre Geschichte zu suchen. Oder man kann ganz weit, zu den Wurzeln, zurückgehen und dort
beginnen. Oder man fängt die Geschichte mit allen drei Anfängen gleichzeitig an. In dem Moment, wo Aman Baron, den man
meist unter dem Namen „der Baron" oder auch nur „Baron" kannte, mir gestand, dass er mich herzzerreißend schlimm,
unerträglich leicht, zum Schreien laut und sprachlos leise liebte – das mit einer etwas kränkeln-den, geschwächten, illusionslosen
und bemüht harten Liebe –, verließ meine zwölfjährige Nichte Brilka ihr Amsterdamer Hotel und ging Richtung Bahnhof. Sie trug
nur eine kleine Sporttasche bei sich, besaß kaum Bargeld und hatte ein Thunfischsandwich in der Hand. Sie wollte nach Wien und
kauft e sich ein billiges Wochenendticket, das an Regionalzüge gebunden war. An der Rezeption hatte sie einen
handgeschriebenen Zettel hinterlassen, auf dem stand, dass sie nicht vorhabe, mit der Tanzgruppe wieder in ihre Heimat
zurückzukehren, und es vergeblich sei, nach ihr zu suchen. In genau diesem Moment zündete ich mir eine Zigarette an und
bekam einen Hustenanfall – teils aus Überforderung wegen dem, was ich zu hören bekam, teils wegen des Rauches, an dem ich
mich verschluckt hatte. Aman, den ich selbst niemals „den Baron“ nannte, kam sofort zu mir, klopfte mir so hart auf den Rücken,
dass mir die Luft wegblieb, und sah mich fassungslos an. Auch wenn er nur vier Jahre jünger war als ich, fühlte ich mich um
Jahrzehnte älter, und außerdem war ich gerade auf dem besten Weg, eine tragische Figur zu werden. Ohne dass es jemandem
groß auffiel, denn ich war mittlerweile eine Meisterin der Blendung.
An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich seine Enttäuschung – meine Reaktion hatte er nach seinem Geständnis nicht erwartet.
Vor allem nicht, nachdem er mir angeboten hatte, gemeinsam mit ihm auf die Tournee zu gehen, die er in zwei Wochen antreten
wollte. Draußen begann es leicht zu regnen, es war Juni, ein warmer Abend mit schwerelosen Wolken, die den Himmel
schmückten wie kleine Wattebäuschchen. Als ich den Anfall überstanden und Brilka den ersten Zug ihrer Odyssee bestiegen
hatte, riss ich die Balkontür auf und ließ mich auf das Sofa fallen. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Ich lebte in einem fremden
Land, hatte den Kontakt zu den meisten Menschen, die ich einst geliebt hatte und die mir früher etwas bedeutet hatten,
abgebrochen und eine Gastprofessur angenommen, die zwar meine Existenz sicherte, aber nichts mit mir zu tun hatte. An dem
Abend, an dem er mir sagte, dass er mit mir normal werden wolle, fuhr Brilka, die Tochter meiner toten Schwester und meine
einzige Nichte, nach Wien, an einen Ort, den sie sich als ihre Wahlheimat ausgemalt hatte, als ihre persönliche Utopie, und das
alles aus Verbundenheit mit einer toten Frau. Diese tote Frau, meine Großtante und somit Brilkas Urgroßtante, hatte sie in ihrer
Fantasie zu ihrer Heldin gemacht. Sie plante, in Wien die Rechte für die Lieder ihrer Urgroßtante zu bekommen. Und den Spuren
dieses Gespensts folgend, hofft e sie auf Erlösung und die endgültige Antwort auf die gähnende Leere in sich. Aber das alles
ahnte ich damals noch nicht. Nachdem ich mich auf das Sofa gesetzt und mein Gesicht in die Hände gelegt hatte, nachdem ich
mir die Augen gerieben und Amans Blick so lange es ging ausgewichen war, wusste ich, dass ich wieder würde weinen müssen,
aber nicht jetzt, nicht in diesem Moment, wo Brilka aus dem Zugfenster das alte, neue Europa an sich vorüberziehen sah und zum
ersten Mal seit ihrer Ankunft auf dem Kontinent der Gleichgültigkeit lächelte. Ich weiß nicht, was sie beim Verlassen der Stadt mit
diesen winzigen Brücken sah, das sie zum Lächeln brachte, aber das ist nicht mehr wichtig. Hauptsache, sie lächelte.
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Ich würde weinen müssen, dachte ich in gerade dem Moment. Um es nicht zu tun, drehte ich mich um, ging ins Schlafzimmer und
legte mich hin. Lange musste ich nicht auf Aman warten, eine Trauer wie die seine kann man sehr schnell heilen, wenn man
Heilung mit dem Körper anbietet – vor allem, wenn der Kranke siebenundzwanzig ist. Ich küsste mich selbst aus meinem
Dornröschenschlaf. Und als Aman seinen Kopf auf meinen Bauch legte, verließ meine zwölfjährige Nichte die Niederlande und
fuhr in ihrem nach Dosenbier und Einsamkeit stinkenden Abteil über die deutsche Grenze, während viele hundert Kilometer
entfernt ihre nichts ahnende Tante einem siebenundzwanzigjährigen Schatten die Liebe vortäuschte. Sie durchquerte
Deutschland, in der Hoffnung, voranzukommen. 12 Nachdem Aman eingeschlafen war, stand ich auf, ging ins Bad, setzte mich
auf den Rand der Badewanne und begann zu weinen.
Mit Jahrhunderttränen beweinte ich die Vortäuschung der Liebe, die Sehnsucht nach dem Glauben an die Worte, die einst mein
Leben so stark geprägt hatten. Ich ging in die Küche, ich rauchte eine Zigarette und starrte aus dem Fenster. Es hatte aufgehört
zu regnen, und aus irgendeinem Grund wusste ich, dass etwas geschah, etwas in Gang gesetzt worden war, irgendetwas
außerhalb der Wohnung mit den hohen Decken und den verwaisten Büchern. Mit den vielen Lampen, die ich so eifrig gesammelt
hatte, als Ersatz für den Himmel, als eine Illusion des wahren Lichts. Die Beleuchtung meines eigenen Tunnels. Aber der Tunnel
war geblieben, die Lichter hatten mich nur kurz, nur vorübergehend trösten können. Vielleicht muss man noch sagen, dass Brilka
ein sehr hochgewachsenes Mädchen war, fast zwei Köpfe größer als ich, was bei meiner Größe nicht so schwer ist, eine
raspelkurze Jungenfrisur und eine John-Lennon-Brille trug, in alte Jeans und ein Holzfällerhemd gekleidet war, mit perfekt
gerundeten Kakaobohnenaugen, die stets nach Sternen suchten, mit einer endlos hohen Stirn – hinter der viel Kummer verborgen
lag. Gerade war sie ihrer Tanzgruppe entflohen, die einen Gastauftritt in Amsterdam hatte, sie tanzte die Männerparts, weil sie für
die folkloristischen, sanft en Frauentänze aus unserer Heimat ein wenig zu schrill, zu groß, zu düster war. Nach langem Bitten
erlaubte man ihr schließlich, als Mann verkleidet aufzutreten und die wilden Gebärden zu tanzen; ihr langer Zopf war im letzten
Jahr dieser Erlaubnis zum Opfer gefallen.
Sie durfte Kniesprünge und Degengefechte aufführen, die ihr schon immer besser gelangen als die wellenförmigen, verträumten
Bewegungen der Frauen. Sie tanzte und tanzte für ihr Leben gern, und nachdem man ihr für das holländische Publikum auch
einen Solopart gab, weil sie so gut war, so viel besser als die jungen Männer, die sie anfangs belächelt hatten, verließ sie die
Truppe, auf dem Weg zu ihren Antworten, die ihr auch der Tanz nicht geben konnte. Am nächsten Abend rief mich meine Mutter
an, die mir jedes Mal drohte, zu sterben, wenn ich nicht bald zurückkäme in meine Heimat, aus der ich vor vielen Jahren geflohen
war. Sie teilte mir mit zittriger Stimme mit, dass „das Kind" verschwunden sei. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, von welchem
Kind die Rede war und wie das Ganze mit mir zusammenhing. – Also, noch mal, wo genau ist sie gewesen? – In Amsterdam, was
ist mit dir los, verdammt? Hörst du mir nicht zu? Sie ist gestern abgehauen und hat eine Nachricht hinterlassen.
Ich wurde von der Gruppenleiterin angerufen. Man hat alles auf den Kopf gestellt und …
– Warte, warte, warte. Wie kann ein elfjähriges Mädchen aus einem Hotel verschwinden, vor allem, wenn sie …
– Sie ist zwölf. Sie ist im November zwölf geworden. Du hast es natürlich vergessen. Wie konnte es denn auch anders sein.
Ich nahm einen tiefen Zug von meiner Zigarette, bereitete mich auf das Unheil vor, das mir bevorstand. Denn nach der Stimme
meiner Mutter zu urteilen, würde ich mich nicht so schnell aus der Affäre ziehen und verschwinden können; meine allerliebste
Beschäftigung der letzten Lebensjahre. Ich wappnete mich für die obligatorischen Vorwürfe, die allesamt darauf zielten, mir
weiszumachen, welch eine schlechte Tochter und welch ein gescheiterter Mensch ich war. Dinge, die ich auch ohne meine Mutter
allzu gut wusste.
– Okay, sie ist zwölf geworden, ich habe es eben vergessen, aber das trägt nun nichts zur Sache bei. Hat man die Polizei
eingeschaltet?
– Ja, was denkst du denn? Man sucht sie.
– Dann wird man sie auch finden. Sie ist ein kleines, verzogenes Mädchen mit einem Touristenvisum, wie ich vermute, und sie …
– Hast du eigentlich noch einen Funken Menschlichkeit in dir?
– Tut mir leid. Ich versuche nur, laut zu denken.
– Umso schlimmer, wenn es deine Gedanken sind.
– Mama!
– Sie werden sich bei mir melden. In maximal einer Stunde, sagten sie, und ich bete, dass man sie findet, schnell findet. Und dann
will ich, dass du hinfährst, wo immer sie auch ist, sehr weit wird sie nicht gekommen sein, und ich will, dass du sie holst.
– Ich …
– Sie ist die Tochter deiner Schwester. Und du wirst sie holen. Versprich es mir!
– Aber …
– Tu es!
– Oh Gott. Ist ja gut.
– Und nimm den Namen Gottes nicht in den Mund.
– Darf ich jetzt nicht mal „Oh Gott" sagen, oder was?
– Du wirst sie zu dir holen. Und dann setzt du sie in den Flieger.
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In der gleichen Nacht fand man sie in einer kleinen österreichischen Stadt, kurz vor Wien. Wo sie auf einen Anschlusszug wartete
und von der österreichischen Polizei aufgegriffen und auf die Wache mitgenommen wurde. Meine Mutter weckte mich und teilte
mir mit, ich solle nach Mödling fahren.
– Wohin?– Mödling heißt die Stadt. Schreib es dir auf.
– Ist ja gut.
– Du weißt doch nicht mal, welchen Tag wir heute haben.
– Ich schreibe es mir auf! Wo zum Teufel ist das?
– In der Nähe von Wien.
– Und was hat sie dort verloren?
– Sie wollte wohl nach Wien.
– Wien?
– Ja, Wien. Muss dir doch bekannt vorkommen.
– Ich habe es verstanden.
– Und nimm deinen Ausweis mit. Sie wissen, dass die Tante das Kind abholt. Und haben deinen Namen notiert.
– Können die sie nicht einfach in einen Flieger setzen?
– Niza!
– Okay, ich ziehe mich schon an. Ist gut.
– Und ruf an, sobald du sie hast.
Sie knallte den Hörer auf. So fängt diese Geschichte an.
Warum Wien? Warum das alles nach der Nacht meiner Flucht vor den Tränen? Das hatte alles seinen Grund, aber dann müsste
ich an einer ganz anderen Stelle zu erzählen beginnen. Ich heiße Niza. In meinem Namen ist ein Wort enthalten, ein Wort, das in
unserer Muttersprache „Himmel" bedeutet. „Za". Vielleicht war mein bisheriges Leben die Suche nach diesem einen Himmel, den
man mir schon von Geburt an als Versprechen mit auf den Weg gegeben hatte. Meine Schwester hieß Daria. In ihrem Namen ist
das Wort „Chaos“ enthalten. „Aria“. Das Zerwühlen und Aufwühlen, das Durcheinanderbringen und Nicht-mehr-Zurechtrücken. Ich
bin ihr verpflichtet. Ich bin ihrem Chaos verpflichtet. Ich bin immer schon verpflichtet gewesen, in ihrem Chaos meinen Himmel zu
suchen. Vielleicht geht es aber einfach um Brilka. Um Brilka, deren Name in der Sprache meiner Kindheit nichts bedeutet. Deren
Name unbeschriftet und unstigmatisiert ist. Um Brilka, die sich diesen Namen selbst gegeben hat und so lange darauf beharrt hat,
dass man sie so nennt, bis die anderen ihren wirklichen Namen vergaßen. Und auch wenn ich es dir nie gesagt habe: Ich würde
dir dabei so gern helfen, Brilka, so unglaublich gern, deine Geschichte anders und neu zu schreiben. Um dies nicht nur sagen,
sondern auch beweisen zu können, schreibe ich dies hier nieder. Nur deshalb.
Ich verdanke diese Zeilen einem Jahrhundert, das alle betrogen und hintergangen hat, alle die, die hofft en. Ich verdanke diese
Zeilen einem lange andauernden Verrat, der sich wie ein Fluch über meine Familie gelegt hatte. Ich verdanke diese Zeilen meiner
Schwester, der ich nie verzeihen konnte, dass sie in jener Nacht ohne Flügel losgeflogen ist, meinem Großvater, dem meine
Schwester das Herz herausgerissen hat, meiner Urgroßmutter, die mit mir einen Pas de deux tanzte, als sie dreiundachtzig war,
meiner Mutter, die Gott suchte … Ich verdanke diese Zeilen Miro, der mich mit Liebe wie mit einem Gift infizierte, ich verdanke
diese Zeilen meinem Vater, den ich nie wirklich kennenlernen durfte, ich verdanke diese Zeilen einem Schokoladenfabrikanten und
einem weiß-roten Oberleutnant, einer Gefängniszelle, aber auch einem Operationstisch mitten in einem Klassenraum, einem
Buch, das ich nie geschrieben hätte, wenn … Ich verdanke diese Zeilen unendlich vielen vergossenen Tränen, ich verdanke diese
Zeilen mir selber, die die Heimat verließ, um sich zu finden, und sich doch zunehmend verlor; ich verdanke aber diese Zeilen vor
allem dir, Brilka. Ich verdanke sie dir, weil du das achte Leben verdienst. Weil man sagt, dass die Zahl Acht gleichgesetzt ist mit
der Ewigkeit, mit dem wiederkehrenden Fluss. Ich schenke dir meine Acht. Uns verbindet ein Jahrhundert. Ein rotes Jahrhundert.
Auf immer und Acht. Du bist dran, Brilka. Ich habe dein Herz adoptiert. Ich habe meines weggeschleudert.
Nimm meine Acht an. Du bist das Zauberkind. Du bist es. Durchbrich den Himmel und das Chaos, durchbrich uns alle, durchbrich
diese Zeilen, durchbrich die Gespensterwelt und die wirkliche Welt, durchbrich die Umkehrung der Liebe, des Glaubens, verkürz
die Zentimeter, die uns immer vom Glück trennten, durchbrich das Schicksal, das keines war. Durchbrich mich und dich.
Durchlebe alle Kriege. Passiere alle Grenzen. Ich widme dir alle Götter und alle Rosenkränze, alle Verbrennungen, alle geköpft en
Hoffnungen, alle Geschichten. Durchbreche sie. Denn du hast die Mittel dazu, Brilka. Die Acht, denke daran. In dieser Zahl werden
wir alle für immer miteinander verwoben sein und immer aneinander lauschen können, durch die Jahrhunderte hindurch. Du wirst
es können.
Sei alles, was wir waren und nicht waren. Sei ein Leutnant, eine Seiltänzerin, ein Matrose, eine Schauspielerin, ein Filmemacher,
eine Pianistin, eine Geliebte, eine Mutter, eine Krankenschwester, eine Schriftstellerin, sei rot und weiß oder blau, sei Chaos und
Himmel und sei sie und ich und sei all dies nicht, tanze vor allem unzählige Pas de deux. Durchbrich diese Geschichte und lass sie
hinter dir. Geboren wurde ich am 8. November 1973, in einer Dorfklinik, nicht weiter erwähnenswert, in der Nähe von Tbilissi,
Georgien.
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Es ist ein kleines Land. Es ist auch schön, dem kann ich nichts entgegensetzen, sogar du wirst mir zustimmen, Brilka. Mit Bergen
und einer steinigen Küste am Schwarzen Meer. Die Küste ist zwar im Laufe des letzten Jahrhunderts um einiges geschrumpft ,
dank der großen Zahl an Bürgerkriegen, dämlichen politischen Entscheidungen, hasserfüllten Konflikten, aber ein schöner Teil
davon ist noch da. Auch wenn du die Legende allzu gut kennst, Brilka, möchte ich sie an dieser Stelle kurz erwähnen, um dir
deutlich zu machen, worauf ich hinauswill; die Legende, nach der unser Land folgendermaßen entstand: Gott teilte eines schönen,
sonnigen Tages seine von ihm erschaffene Erdkugel in Länder auf (das muss noch lange vor dem Turmbau zu Babel gewesen
sein) und veranstaltete einen Jahrmarkt, auf dem alle Menschen sich lautstark überboten, um die Gunst von Gott buhlend, in der
Hoffnung, so das beste Fleckchen Erde abzukriegen (ich vermute, die Italiener waren die Effektivsten in der Kunst der
Beeindruckung und die Tschuktschen hatten es nicht so recht drauf). Nach einem langen Tag war die Welt in viele Länder
aufgeteilt und Gott müde.
Aber Gott – so weise wie eh und je – hatte für sich natürlich eine Art Urlaubssitz zurückbehalten, das schönste Fleckchen Erde:
reich an Flüssen, an Wasserfällen, an saftigen Früchten und – er muss es geahnt haben – mit dem besten Wein der Welt. Und als
sich die aufgeregten Menschen auf den Weg in ihre neue Heimat gemacht hatten, wollte sich der liebe Gott unter einem schattigen
Baum ausruhen, wo er einen schnarchenden Mann entdeckte (bestimmt mit einem Schnurrbart und einer gemütlichen Wampe, so
habe ich ihn mir zumindest immer vorgestellt). Er war bei Aufteilung nicht dabei gewesen, und Gott wunderte sich. Er weckte ihn
und fragte, was er hier tue und warum er kein Interesse an einer eigenen Heimat habe. Der Mann lächelte mild (vielleicht hatte er
sich bereits ein, zwei Gläschen Rotwein genehmigt) und meinte (da gibt es verschiedene Versionen der Legende, aber einigen wir
uns auf diese), dass er auch so zufrieden sei, die Sonne scheine, es sei ein herrlicher Tag und er würde sich mit dem begnügen,
was Gott für ihn übrig hätte. Und der liebe Gott, gütig wie eh und je, beeindruckt von der Lässigkeit und dem nicht vorhandenen
Ehrgeiz des Mannes, schenkte ihm sein eigenes Urlaubsparadies, also Georgien, das Land, aus dem du, Brilka, ich und die
meisten Menschen, von denen ich in unserer Geschichte berichten werde, stammen.
Was ich damit sagen will, ist: Bedenke, dass diese Lässigkeit (sprich Faulheit) und der nicht vorhandene Ehrgeiz (das Fehlen von
Argumenten) in unserem Land als wahrlich erhabene Eigenschaft en gelten. Bedenke auch, dass trotz einer tiefreichenden
Identifikation mit dem lieben Gott (natürlich dem orthodoxen Gott und keinem anderen) es die Menschen dieses Landes nicht
davon abhält, an alles zu glauben, was auch nur ansatzweise märchenhaft , geheimnisvoll oder legendär anmutet – und das muss
keineswegs nur die Bibel sein. Ob es die Riesen in den Bergen sind, die hauseigenen Gespenster, die bösen Blicke, die einen
Menschen ins Unglück stürzen können, die einen Fluch nach sich ziehenden schwarzen Katzen, die Macht des Kaffeesatzes oder
die Wahrheit, die nur die Karten enthüllen (heutzutage, sagtest du ja, ließe man sich sogar neue Autos mit Weihwasser bespritzen,
um möglichst unfallfrei zu bleiben.) Das Land, ehemals die goldene Kolchis, die den Griechen das Geheimnis der Liebe in Form
des Goldenen Vlieses hat mitgeben müssen, da die widerspenstige und bis zur Besinnungslosigkeit verliebte Königstochter Medea
das so befahl. Das Land, das bei seinen Bewohnern liebenswerte Eigenschaften wie die heiliggesprochene Gastfreundschaft und
weniger liebenswerte Eigenschaft en wie Faulheit, Opportunismus und Konformismus begünstigt (das wird keineswegs von der
Mehrheit so wahrgenommen, auch darin sind wir uns beide einig). Das Land, in dessen Sprache es kein Geschlecht gibt
(keineswegs gleichzusetzen mit Gleichberechtigung).
Ein Land, das im letzten Jahrhundert nach 135 Jahren zaristischer und russischer Schirmherrschaft es genau vier Jahre lang
schafft e, eine Demokratie zu errichten, bis sie dann schließlich erneut von den größtenteils russischen, aber auch georgischen
Bolschewiken gestürzt und als Sozialistische Republik Georgien und somit als eine Teilrepublik der Sowjetunion proklamiert
wurde. In dieser Union blieb das Land für die nächsten siebzig Jahre. Es folgten mehrere Umbrüche, blutig niedergemetzelte
Demonstrationen, etliche Bürgerkriege, schließlich die lang ersehnte Demokratie, obwohl die Bezeichnung eine Frage der
Perspektive und der Auslegung geblieben ist. 20
Ich finde, dass unser Land durchaus sehr komisch sein kann (nicht nur tragisch, will ich damit sagen). Dass in unserem Land auch
das Vergessen sehr gut möglich ist, einhergehend mit dem Verdrängen. Verdrängen von eigenen Wunden, von eigenen Fehlern,
aber auch von zu Unrecht zugefügtem Schmerz, von Unterdrückung, von Verlusten. Trotzdem hebt man ja das Glas und lacht.
Das finde ich beeindruckend, wirklich, angesichts der wenig erfreulichen Dinge, die das letzte Jahrhundert mit sich gebracht hat
und an deren Folgen die Menschen bis heute leiden (auch wenn ich dich hier bereits widersprechen höre!). Es ist ein Land, aus
dem außer den großen Henkern des 20. Jahrhunderts auch viele wunderbare Menschen stammen, die ich persönlich sehr liebte
und liebe. Manche von ihnen sind geflohen, manche haben sich auf der Suche verlaufen, manche leben nicht mehr, manche sind
zurückgekehrt, manche haben ihre großen Tage bereits hinter sich oder hoff en noch auf sie, aber die meisten kennt keiner. Ein
Land, das bis heute seinem Goldenen Zeitalter zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert nachweint und hofft , eines Tages
wieder den einstigen Glanz zurückzugewinnen (ja, Progress heißt in unserem Land gleichzeitig immer auch Regress). Traditionen
erscheinen wie ein fahler Abglanz dessen, was sie einst waren. Das Streben nach Freiheit gleicht der sinnlosen Suche nach
ungewissen Ufern, denn man hat sich vor allem in den letzten achtzehn Jahren nicht einmal darauf verständigen können, was
genau man unter Freiheit versteht. Und so gleicht das Land, in dem ich vor zweiunddreißig Jahren auf die Welt gekommen bin,
heute einem König, der immer noch mit einer glänzenden Krone und einem prachtvollen Mantel dasitzt, Befehle erteilt, schaltet
und waltet – ohne wahrzunehmen, dass sein ganzer Hof längst geflohen und er allein ist.
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Herzberg, André: Alle Nähe fern | Ullstein Verlag | ET: 6. März 2015
ISBN-13 9783550080562 | Hardcover | Gebunden | 272 Seiten | 21,00 €
André Herzberg erzählt die Geschichte einer jüdischen Familie, drei Generationen vom Ende des 19.
Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Der Großvater Heinrich Zimmermann hatte es vom einfachen Lederhändler
zum mittelständischen Unternehmer gebracht, pflegte ein deutsch-nationales Weltbild. In buchstäblich letzter
Sekunde gehen er und seine Frau ins Exil. Den Sohn Paul haben sie schon vorher nach England in Sicherheit
gebracht. Nach dem Krieg geht Paul als überzeugter Kommunist in die DDR, verdrängt dort seine Herkunft, lebt
„bescheiden“ als ranghoher Funktionär. Sein Sohn Jakob, der Erzähler des Romans, wird nach einer schwierigen
Kindheit Sänger, durchlebt nach dem Mauerfall eine existentielle Krise und findet nach langem Suchen zum
Judentum und zu sich selbst. Lakonisch und bildgewaltig erzählt André Herzberg von der generationsübergreifenden lebenslangen Sehnsucht nach Bindung und Zugehörigkeit: zu einem Land, zu einer Partei, zu
einer Familie. Und von Fremdheit zwischen Vätern und Söhnen.
André Herzberg, 1955 in Ostberlin geboren, ist seit über dreißig Jahren Musiker und vor allem als Frontmann
und Sänger der in der DDR gegründeten Rockband Pankow berühmt geworden. Seine Familie lebt heute in
Afrika, England und Deutschland. Von Herzberg erschienen bisher eine Erzählungssammlung und der
autobiografische Roman „Mosaik“.
Ich, Jakob Zimmermann, bin die Mitte.
Ich habe den Stein ins Rollen gebracht. Meinetwegen findet das Familientreffen statt. Da sitze ich also, man hat mich für das Foto
auf den Sessel gesetzt, ich sitze da und reiße die Augen auf, ich achte nicht darauf, wer mich fotografiert, höchstens drehe ich den
Kopf herum wegen des Blitzes. Ich bin damit beschäftigt, die Stimmen um mich herum zu hören, solange es nicht plötzlich laut
wird, gar schrill, bleibe ich entspannt, es kann Deutsch, Englisch oder sogar Hebräisch sein, ganz egal, nur Angst soll es mir nicht
machen. Ich kann ihre Auren sehen, obwohl ich noch nicht sehen kann, ich weiß nicht, warum sie nicht richtig miteinander lachen,
sprechen, lieben, warum sie nur im Korsett sind. Es würde alles explodieren, wenn nur einer explodiert, aber trotzdem, in mir wird
etwas geweckt, was mich nie mehr verlassen wird, eine Sehnsucht, eine Behaglichkeit, eine Zufriedenheit, dieses Gewirr von
Stimmen, dieses Brummen, die mittleren Töne, die hellen, wie eine Sinfonie, ich werde von ihnen allen gehalten, ich gehe durch
ihre Hände. Ich bin Familie.
Ich spüre sie, von einem zum anderen, wie sie um mich sitzen, stehen, reden, mich schon nicht mehr beachten, Großvater
Heinrich mit seinen grauen Haaren, seiner Brille, Großmutter Rosa mit ihrer hohen Stimme, ihren weichen Händen, meinen Onkel
Konrad, auch mit Brille, wie er dem Alten grollt, aber Platz macht, meinen Vater Paul, wie er ständig die junge Republik lobt, aber
niemals Heinrich in die Parade fährt, meine Mutter Lea, wie sie Paul verachtet, aber im Augenblick trotzdem glücklich ist, denn sie
hat keine eigene Familie mehr, und ich sehe meine Geschwister, meinen Bruder Johann, der dem Vater nacheifert, ihn zu
übertreffen sucht, und meine Schwester Lena, wie sie still auf dem Ecksofa sitzt, von Opa und Oma verwöhnt, wären sie bloß
nicht nur zu Besuch. Dahinter sind noch mehr Leute, die aber so durchsichtig scheinen, dass ich sie nur unscharf sehen kann,
meine Tante Gertrud, äußerlich meiner Großmutter ähnlich, aber mit hochmütigem Blick, ihre Augen unter ihrem Schleier am Hut
blitzen, sie verachtet Männer, das spüre ich, besonders in diesem Moment, wo wir alle beisammen sind, da ist mir meine Tante
Fanny neben ihr schon viel lieber, sie ist schön, hat diesen wunderbaren Bubikopf, sieht verwegen aus, und sie liebt Kinder, sie
lacht. Sie hat den Onkel Franz, ihren jüngeren Bruder, auf dem Schoß. Dahinter sind noch andere aus der Familie, alle Vorfahren
zurück bis zu unserem Stammvater Abraham und seiner Frau Sara, ihrem Sohn Isaak, seiner Frau Rebecca. Es ist wunderbar für
mich, weil wir so viele sind. Ich sehe noch ein besonders warmes Licht, eine Aura, aber ohne Gesicht, ich spüre die Wärme, die
Aura gehört meiner Großmutter Johanna, sie steht hinter meiner Mutter, die kann sie aber nicht spüren, deshalb ist meine Mutter
oft so traurig. Die Familie ist riesengroß, der Raum ist voller Menschen, ich ahne schon, das werde ich mein ganzes Leben lang
vermissen.
Jetzt aber kommt der Mohel, er reist in der Welt umher, um Beschneidungen vorzunehmen, er sieht mich, mit dem anderen Auge
sucht er schon einen Platz, wo er seine Instrumente hinpacken kann. Die Kommode wird abgeräumt. Er packt aus, mir wird die
Windel geöffnet, mein kleiner Schwanz herausgeholt, fest packt der Mohel zu, ich kann nichts sehen, all diese Köpfe, die über mir
zusammengebeugt stehen, aber ich schreie, ich spüre ein Brennen zwischen den Beinen, was schnell nachlässt. Dann reiben sie
da unten an mir herum, Mutter ist weit weg, sie hat Angst, will es nicht mit ansehen, Großvater hat schon alles unter Kontrolle. Er
hat ein Glas Kognak in der Hand und prostet den Männern zu, unser Blut geht schon lange in deutsche Erde, setzt er zu seiner
Rede an, und alle verziehen das Gesicht, ganz besonders Konrad, weil er die Leier schon sein ganzes Leben kennt. Dann kommt
die Aufzählung der Familiengeschichte von vierzehnhundertdreiundneunzig, als wir aus Spanien rausgeschmissen wurden,
weshalb wir früher Spanier hießen, bis heute. Noch ahne ich nichts von dem Schmerz, der in dem Satz liegt, den Heinrich so
triumphierend dahersagt, ich bin mit dem kleinen Ritz an meinem Schwänzchen beschäftigt, unser Blut geht schon lange in
deutsche Erde. Sie verpacken mich wieder, dann stehen die Männer zusammen, Mazeltov prosten sie sich zu, die Frauen
glucksen, bis auf meine Großmutter Rosa, die mich in den Armen hält.
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Der Mohel sagt die Segenssprüche, mein Vater blickt nach unten, grinst meine Mutter an, aber er würde nichts sagen, nicht gegen
seinen Vater, sogar Konrad unterdrückt eine wütende Bemerkung, er weiß, dass sich so schnell keine Gelegenheit für die Familie
wieder ergeben wird. Und richtig, wir werden nie alle zusammentreffen, alle haben sich schon lange verabschiedet, von Gott, von
dieser Art Tradition, dieses Familien-treffen wegen meiner Brit Mila hat nie statt-gefunden, und ich bin plötzlich kein Baby mehr, ich
bin auch nicht beschnitten, ich sehe im Halbdunkel die digitalen Ziffern meines Weckers aus dem Supermarkt, dieses unerbittliche
Folterinstrument, was nur auf hört mit der Bewegung, wenn die Batterie leer ist, ich muss aufstehen.
1.
Ja, Vater , mach ich, ich muss los, so verabschiedet sich Heinrich aus dem Büro, rennt zum Bahnhof und setzt sich in den
Frühzug nach Bremen. Den Herrn Mayer hat er schon mal getroffen, er weiß, wer der Mann ist, Arthur hat ihm natürlich die
Frachtpapiere mitgegeben, die Heinrich unter dem Revers fühlt. Er soll das eingetroffene Leder prüfen. Als er im Hafen ankommt,
sieht er schon von weitem das Schiff mit dem roten Schornstein am Kai, das wird es sein. Heinrich muss sich sputen, das Abladen
hat bereits begonnen.
Da stehen sie, Mayer in der Mitte. Er drängelt sich zu ihm durch, als er neben ihm eine junge Frau stehen sieht, die müde und
desinteressiert aussieht, sie muss eine Tochter vom Mayer sein, warum ist sie dabei, denkt Heinrich, er spürt plötzlich eine
Trockenheit im Hals, dass er sich räuspern muss. Er gerät in einen seltsamen Zustand, nimmt nur noch wie im Nebel wahr, was
um ihn herum vorgeht, was er selber tut. Das macht ihn ängstlich, aber er hat keine Zeit nachzudenken, er sagt höflich guten
Morgen in die Runde, sagt seinen Spruch wegen des Lederpostens, den das Schiff mitgebracht hat, dabei starrt er in ihre
Richtung.
Sowie sich ihr Vater umdreht, um mit dem Zollbeamten zu verhandeln, schiebt Heinrich seine Hand in ihre, bringt seinen Mund an
ihr Ohr und flüstert, ich will mit dir schlafen, und Rosa, die Tochter von Karl Mayer, ist in diesem Moment im selben Rausch wie
Heinrich, sie sieht ihn nicht an, schaut, wie sie vorher geschaut hat, höchstens lächelt sie ein klein wenig, sagt, ohne die Lippen zu
bewegen, na, dann mach mal. Diese Antwort löst eine Explosion in Heinrichs Kopf aus, er denkt nach, sagt ihr Treffpunkt, Datum
und Uhrzeit, sie schaut weiter desinteressiert und nickt nach einer Weile ganz leicht. Drei Tage später ist er wieder in Bremen,
wartet auf sie im Zimmer des Hotels, die vereinbarte Uhrzeit ist lange vorüber, und Heinrich will schon aufgeben, als es leise
klopft. Ich bin nicht losgekommen, sagt Rosa atemlos, da hat er sie schon in den Armen, öffnet ihr das Kleid, und Rosa macht
auch keinen Versuch der Erklärung mehr. Er ist nicht besonders zart, sondern dringt schnell in sie ein, dass es ihr weh tut, aber
Rosa, die schon viel über das erste Mal gehört hat, genießt es trotzdem, weil der Moment ihrer ersten Begegnung ihr nicht mehr
aus dem Kopf gehen wollte, im Gegenteil, sie hat die Nächte nicht mehr schlafen können, sie war nur noch abwesend, es war wie
ein Sog, der sie gezogen hat bis hierher, bis er von ihr heruntergleitet, erst da sind sie beide ruhiger. Als Heinrich sie ansieht, wie
sie neben ihm auf dem Bett liegt, und sagt, ich möchte dich heiraten, lächelt sie und lacht dann los, wieder setzt das Brausen, das
Schweben in ihrem Kopf ein.
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Himmelfarb, Jan: Sterndeutung | C.H. Beck | ET 21. Januar 2015
ISBN 978-3-406-67486-0 | Gebunden | 394 Seiten | 21,95 €
Anfang der 90er Jahre. Kurz vor seinem 51. Geburtstag versucht sich Arthur Segal, Übersetzer und fast seriöser
Autohändler, seiner selbst und der Geschichte seiner jüdischen Familie zu vergewissern. Es ist eine Geschichte
von Liebe und Arbeit, Verfolgung und Überleben, Glück und Chuzpe. Wie fühlt es sich an, wenn man den
eigenen Geburtsort nicht genau angeben kann, wenn man als Jude im Osten der Geburt schon zum Tode
verurteilt war? Wenn man den Holocaust durch ein Wunder überlebte und spät, als Kontingentflüchtling, mit der
Familie aus der Ukraine ins Land der ehemaligen Täter zog und sich dort sogar ein gutes Leben aufbauen
konnte? Wenn die blitzgescheite Tochter plötzlich Elitestudentin wird, einen deutschen Freund hat und auf dem
Weg in eine schöne, neue Normalität ist? Allmählich entsteht eine Erzählung von Vergangenheit und vor allem
von der Gegenwart, eine Familien- und Generationengeschichte, lebendig, komisch, hart.
Jan Himmelfarb, geboren 1985 in der Ukraine, zog 1992 mit seiner Familie nach Deutschland. Er studierte
Betriebswirtschaftslehre und arbeitet seit 2009 als Betriebswirt bei einem Industrieunternehmen in NordrheinWestfalen. 2013 nahm er am Klagenfurter Literaturkurs teil.
Halstuch und Fleischkombinat
Die Schrift auf Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden ist nicht immer leicht zu entziffern. Kam meine Großmutter am 5. oder am
6. Oktober 1898 zur Welt? Eine rundliche Fünf oder eine eckige Sechs auf knittrig-vergilbtem Papier. Die zusammengefaltete
Heiratsurkunde meiner Eltern habe ich auseinandergebreitet; die Zeichen verlieren sich in den Falten. Aber ein Wort erkenne ich
mühelos. Ein Wort springt mir auf fast jeder Seite entgegen. Ich legte die Urkunden zurück in die Schublade. All meine Vorfahren
waren Juden. Meine Eltern, meine vier Großeltern, meine acht Urgroßeltern und meine sechzehn Ururgroßeltern waren Juden.
Außerdem war ein Drittel aller Schachweltmeister Juden, ein Viertel aller großen Geiger und Pianisten, ein Fünftel aller
Nobelpreisträger. Aber was ändert das? Meine Familie hat nur eine Geschichte.
Mutter und Vater lernten sich 1939 in Kamenez-Podolsk kennen, das im ukrainisch-sowjetischen Westen an der Grenze zu Polen
lag. Sie arbeitete als Schreibkraft in der Bauverwaltung, er wurde als junger Ingenieur nach Kamenez-Podolsk abkommandiert, um
die Inbetriebnahme eines Fleischkombinats zu beschleunigen. Die Planbauzeit des Kombinats betrug zwölf Monate, der
Verarbeitungsumfang sollte sich auf 50 Schweine, 15 Rinder und 20 Tonnen Geflügel täglich belaufen. Als Endprodukte waren
verschiedene Wurstsorten, Würstchen, Speck vorgesehen. Das bei Baubeginn entrollte Plakat zeigte ein zufriedenes rosarotes
Schweinchen und einen sowjetischen Arbeiter mit kurzen blonden Haaren. Darüber war ein knallroter Slogan gemalt: Gesunde
Ernährung für unser arbeitendes Volk! Und unter das appetitliche Tier und den lächelnden Menschen: Das Leben ist besser, das
Leben ist schöner geworden!
Als Vater im Frühling 1939 zur Bautruppe stieß, waren dreizehn von zwölf Planmonaten verstrichen. Er stürzte sich auf die losen
Schrauben und rostenden Gewinde. Ab dem ersten Tag, da er Hand anlegte, wuchs der Bau in die Höhe. Nachdem Haken zu
Seilen und Messer zu Bändern gefunden hatten, schlug der Betriebsleiter am ersten ordentlichen Arbeitstag vor versammelter
Belegschaft die rechte Faust in die linke Handfläche und verkündete: In einem halben Jahr haben wir den Produktionsrückstand
von sechs Monaten aufgeholt, Genossen! Wir werden hier in Kamenez-Podolsk eine unseres Landes würdige Arbeit verrichten.
Beifall, zustimmendes Gemurmel. Die Frauen und Männer maßen einander mit kritischem Blick, wer sah besonders motiviert aus,
wer würde die Norm übererfüllen, sie dadurch erhöhen und die Zulagen senken? Dann flogen sie den Arbeitsplätzen zu, um gleich
am ersten Tag 100 Schweine, 30 Rinder und 40 Tonnen Geflügel abzufertigen. Wie groß wird ihre Enttäuschung gewesen sein,
als sich im Verlauf der symbolträchtigen ersten Schicht nur 28 Schweine, vier Rinder und fünfeinhalb Tonnen Geflügel einfanden?
Die vorhandene Kapazität wurde während der zwei Friedensjahre an keinem einzigen Tag auch nur annähernd ausgeschöpft, weil
ein Fleischkombinat zwar Unmengen geräucherter Salami, leckerer Würste und knackiger Würstchen, aber keine Schweine,
Rinder, Hühner und Truthähne herzustellen vermag.
Es gab erfolgreichere Betriebe, die den Plan konstant nach oben durchbrachen. Aber was ging dort als ein Schinken in die Bücher
ein? Nur allzu oft ein geringeltes Schweineschwänzchen. Und wies man Hühnerkrallen nicht dann und wann als Brustfilets aus?
Und Klauen als Rinderwürste? Nein, ich halte es lieber mit dem Fleischkombinat von Kamenez-Podolsk, das schlechte Zahlen,
aber Qualitätsware ablieferte. Ohne das Plansoll je erfüllt zu haben, wurde es im Juni 1941 von einer deutschen Bombe zielgenau
getroffen und zerstört. Aber weil mein Vater am Bau des Fleischkombinats mitwirkte, weil meine Mutter ebendort Schreibarbeiten
verrichtete, blühte in Kamenez-Podolsk die Liebe. Nach der Fertigstellung des Kombinats nahm Vater die frischgewonnene Braut
mit sich zurück nach Charkow, wo er mit seinen Eltern lebte. Auch dort wurde ihr eine Anstellung als Schreibkraft zugewiesen. Im
friedvollen Bauch, der von der feindlichen Welt abschirmte, trug sie mich täglich zur Arbeit. Mutter trat herein. Ich schob ein
Wörterbuch über das angegriffene Papier.
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Das Essen ist fertig. Wie oft muss ich euch noch rufen?, sagte sie. Ich ging mit ihr in die Küche. Wo ist Julia?, fragte ich. Sie hat
gesagt, dass sie bei einer Freundin zu Abend essen wird. Und deine Tochter braucht wieder mal eine gesonderte Einladung.
Wenn man dich schon zweimal rufen muss, muss man sie mindestens dreimal rufen. Anna, zum Dritten! Komm endlich! Anna
stürmte herein. Auch von ihr muss ich sprechen. Schließlich ist sie mein einziges Kind. Ich könnte mit dem Wann und Wie ihres
späten Auftritts beginnen, der auf eingeübte Unpünktlichkeit und fehlende Aufmerksamkeit gegen andere schließen lässt. Aber
Wichtigeres beherrschte beim Abendessen die Gemüter. Dass Anna im nächsten Herbst ein Wirtschaftsstudium beginnen und bis
dahin Deutsch gelernt haben wird, ist beschlossene Sache. Nur die Wahl der Universität sorgt nach wie vor für Gespräche, die mir
Schmerzen unter der linken Schulter bereiten. Grundsolide staatliche Hochschulen liegen ja um die Ecke, in Düsseldorf, Bochum,
Dortmund. Anständig studieren, sagte ich, kannst du auch hier. Und dabei zu Hause wohnen bleiben. Nein, sagte sie, es gibt
Besseres, die UWF Wehnau … Die zufällig so weit weg ist, dass du ruhigen Gewissens ausziehst, ergänzte ich.
Meine Schuld ist es nicht, dass die Absolventen der UWF doppelt so viel verdienen wie die von anderen Universitäten. Oma, ich
habe es Mama und Papa tausendmal erklärt. Die beste Universität in Deutschland! Ein ganzes Jahr werde ich im Ausland
verbringen, in England, Amerika oder Italien. Vielleicht sogar in Japan! Was heißt UWF?, fragte Mutter. Universität für
wirtschaftliche Finanzen. Und nur weil ich will, werde ich nicht gleich genommen. Es gibt mehr Bewerber als freie Plätze. Erst
muss ich zwei Prüfungen bestehen. Wo ist dieses Institut?, fragte Mutter. In Wehnau. Das ist eine kleine Stadt, dreihundert
Kilometer von hier. Oma, wir fahren unbedingt hin, nur wir beide. Das ist weit weg. Dann kannst du nicht jeden Abend nach Hause
kommen. Du kannst kein bisschen kochen. Wer wird dir Suppen zubereiten? Anna, du verdirbst dir dort den Magen. Nein, das
sagte Mutter nicht, in Wahrheit sagte sie: Verplappere dich bei den Prüfungen bloß nicht, sag nicht, dass du Jüdin bist. So ein
Blödsinn! Woher hast du das, Oma? Wenn du solche Angst hast, warum bist du dann hierhergekommen? War es dort etwa
besser?, flüsterte Mutter, allein Anna hörte sie nicht. Warum habt ihr Angst zuzugeben, dass wir Juden sind?, rief sie. Ich habe
keine Angst, sagte ich. Aber an die große Glocke hängen muss man es nicht. Das ist Blödsinn. Bei dieser Universität! Die ist so
international ausgerichtet, die freuen sich über ausländische Studenten.
Mutter seufzte und sagte: Sie lernt dort noch einen Russen oder Deutschen kennen. Und dann heiraten sie. Meinst du, es gibt in
Wehnau mehr Deutsche und Russen als hier?, fragte ich. Hier können wir wenigstens etwas tun, sagte Mutter. Ihr könnt gar nichts
tun. Ich tue, was ich will, rief Anna. Ein dumpfer Schmerz machte sich unter meiner linken Schulter breit; dies war ein Gespräch,
das wir schon, wenn auch ohne Mutter, viele Male erbittert geführt hatten, und wir bedienten uns nicht nur der gleichen
Argumente, sondern derselben Ausdrücke, die uns in der Vergangenheit am überzeugendsten erschienen waren. Trotzdem sagte
ich, weil ich Wichtiges ungern verschweige und dadurch in der Schwebe lasse: Die Universitäten hier sind vielleicht etwas
bescheidener, dafür verlangen sie kein Geld. Mutter schreckte auf. Bezahlt man dafür? Wie viel? Dreitausend Mark pro Semester,
antwortete ich. Wirklich? Stimmt das, Anna? Ja. Na und? Erstens lohnt sich das. Zweitens ist nicht ausgemacht, dass ich zahlen
muss. Studenten aus weniger wohlhabenden Familien brauchen vielleicht keine Studiengebühren zu zahlen. Dann brauchen wir
uns keine Sorgen zu machen, du wirst umsonst studieren, sagte ich. Mutter sagte noch: Das ist sehr viel Geld, wer soll dafür
aufkommen? Doch weil ständig über Wichtiges zu reden die Nerven strapaziert, fügte sie hinzu: Julia meinte, du sollst die
Getränke für die Geburtstagsfeier besorgen. Saft, Limonade, zwei Flaschen … eine Flasche … steht alles auf dem Zettel hier. Wir
würden vielleicht zu viert feiern, hätten wir nicht die ersten drei Monate im Wohnheim verbracht, wo man mit anderen Leuten
spätestens vor der Dusche auf Tuchfühlung geht. So werden übermorgen einige neue Freunde eintrudeln und denken: Nun, er
sieht aus, wie er aussieht, seine Haare werden grau, er wird schließlich nicht dreißig.
Bevor ich zu den Prüfungen nach Wehnau fahre, muss ich richtig gut Deutsch können, sagte Anna. Aber ich schaffe das nicht,
wenn die Regeln nicht klar sind. Im Sprachkurs heute haben wir Präpositionen durchgenommen. Sie stehen oft mit anderen Fällen
als im Russischen! Das ist schlimm genug. Aber die Lehrerin behauptete auch noch, wegen stehe meist mit dem Genitiv,
manchmal mit dem Dativ, gelegentlich sei das Ansichtssache. Wie? Sie soll uns sagen, was richtig ist. Kurz ist die Atempause
gewesen. Der Oktober bleibt sich treu: Nässe, unwirtlicher Wind, lockende Baumalleen. Nach dem Essen sind Mutter und Anna zu
einem Spaziergang in das nahe gelegene Wäldchen aufgebrochen. Welke Blätter haben sich von den Bäumen gelöst, rascheln
unter den Schritten. Schön, traurig und bunt sind diese Zeit und dieses Wäldchen und sind es wert, in Augenschein genommen zu
werden, selbst bei anbrechender Dunkelheit.
Doch warum schloss ich mich meiner Mutter und meiner Tochter, die meinten, ein bisschen frische Luft täte auch mir gut, nicht
an? Sagen wir: wegen der Nachkommen. Natürlich kann ich meiner einzigen Tochter einfach alles erzählen oder sie fragt ihre
Großmutter. Indes wird sie vielleicht einmal Kinder haben, die, wenn alles gut geht, wiederum Kinder haben werden. Neugierig
mögen die werden und sollen wissen, wie alles war – oder wenigstens gewesen sein könnte. Sagen wir: weil es sein muss. Weil
man aus dem Bekannten kommt, ins Unbekannte geht. Das einzig Fassbare ist die Vergangenheit. Oder etwa nicht? Mein
Großvater mütterlicherseits, Israel Mendel, Sohn eines Tischlers, Lehrer der Mathematik, der Geschichte und des Deutschen,
zeugte zwei Mädchen und einen Jungen, die seine Frau Hannah zur Welt brachte.
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Der Junge starb so früh, dass Mutter sich an seinen Rufnamen nicht erinnert. Einen Friedhof, der seinen Namen wieder
vergegenwärtigte, gibt es nicht, weil die Grabsteine im Krieg beim Straßenbau verwendet wurden. Lange hatten sie in einem
kleinen ukrainischen Ort gelebt. Als nach der Russischen Revolution die Rote Armee einmarschierte, wähnte sich die vierköpfige
Familie ob des Machtwechsels so glücklich, dass sie westwärts floh. Der Flüchtlingsstrom ergoss sich bis nach Frankreich und
Amerika, doch Israel und Hannah hielten bald in Kamenez-Podolsk, freiwillig, denn sie hatten keine weitreichenden Absichten. Ich
hörte, wie Mutter die Wohnungstür öffnete, und trat zu ihr hinaus in den Flur. Die Möhren und Rosinen!, sagte sie. Die habe ich bei
euch vergessen. Ich will für deinen Geburtstag einen Salat vorbereiten. Gute Nacht!
Warte!, sagte ich. Um nach der Revolution nach Kamenez-Podolsk zu gelangen, seid ihr da mit einem Fuhrwerk zur nächsten
Station gefahren? Liefen die Großeltern daneben und stützten die Bündel und Koffer, und auf dem Karren saßen die Tante und
du? Hieltet ihr die wertvollsten Habseligkeiten fest? War es so? War es andersherum? Mutter starrte mich an, dann antwortete sie:
Arthur, bist du verrückt? Woher soll ich es wissen? Ich war zwei oder drei. Warum fragst du mich das jetzt? Warum ausgerechnet
Kamenez-Podolsk? Warum seid ihr nicht anderswohin gegangen, weit weg? Woher soll ich es wissen? Warum nicht KamenezPodolsk? Dein Großvater war ein sehr kluger und gebildeter Mensch. Aber was hat es uns genutzt? Wir sind immer arm gewesen.
Das Leben war schwer.
Aber es gab andere große Städte. In Kamenez-Podolsk haben bis zuletzt die Konterrevolutionäre gehaust. Was interessierten die
meinen Vater? Sie waren bestimmt nicht mehr da, als wir hinkamen. Hat Großvater in Kamenez-Podolsk auch Deutsch,
Geschichte und Mathematik unterrichtet? Nein, nur Mathematik. Er meinte, für Geschichte seien mittlerweile andere Lehrer
zuständig. Und dann? Was war dann? Nach dem Krieg war ich in Kamenez-Podolsk. Mir wurde erzählt, eine Nachbarin habe
deiner Großmutter, als die Deutschen einmarschierten und die Juden sich auf dem Marktplatz versammeln sollten, das Halstuch
entrissen und gemeint: Das brauchst du sowieso nicht mehr. Mutter schwieg, ich schwieg. Der folgenschwere Transit eines
leichten Kleidungsstücks von einem Hals zum anderen – nie wird Mutter sagen, was geschah, nachdem das Halstuch einen neuen
Besitzer gefunden hatte. Für sie ist diese Enteignung Erinnerung genug, daran krallt sie sich fest und schweigt sich sonst aus.
Lass mich nach Hause gehen, sagte sie. Ich bin müde.
Ein im Unwetter geknicktes Bäumchen treibt Blätter, auch wenn ein Sturm naht, der es mit den Wurzeln herausreißen wird.
Obwohl im fernen Deutschland jede Jüdin Sara und jeder Jude Israel als zweiten Rufnamen annehmen musste (was freilich wie
ein fauler, sozusagen jüdischer Trick anmutet, die Bedeutung des Weltjudentums herunterzuspielen, indem aus vielen Juden zwei
gemacht wurden), unterrichtete mein Großvater Israel Mendel in Kamenez-Podolsk Kinder. Als im Großdeutschen Reich jüdische
Gebetshäuser und Geschäfte in Flammen aufgingen und Fensterscheiben klirrten, sorgten die Mendels für die kalte Jahreszeit
vor, hamsterten Kartoffeln oder was sich sonst noch auftreiben ließ. Das Unheil nahte in riesigen Stiefeln, zertrat ganze Länder,
aber sie versuchten, möglichst satt und warm durch den Winter zu kommen, lebten in ihrer eigenen Zeit und schlugen sich durch
wie andere auch. Aber dazu sagt Mutter auch nicht viel.
Als am 22. Juni 1941 der Krieg begann, Kamenez-Podolsk gleich in den ersten Kriegsstunden bombardiert wurde, flohen viele mit
der Eisenbahn, auf Fuhren, zu Fuß. Israel Mendel, Lehrer der Mathematik, der Geschichte und des Deutschen, nunmehr ein alter
Mann, der mit Mühe die Beine bewegte, floh nicht. Scharf geschossen wird überall und unglücklich getroffen werden kann man
überall. Was hatte ein unpolitischer Lehrer schon zu erwarten? Wozu fliehenden Parteileuten und Verwaltungsbonzen nachlaufen?
Warum vor den zwar nicht immer liebenswürdigen, doch selten ungerechten Deutschen Reißaus nehmen?
Schnell endete der für die Rote Armee ruhmlose Kampf um die Stadt, marschierten die Deutschen ein, rollten ihre Panzer weiter
nach Osten. Gespräche auf Deutsch aus dem Wohnungsfenster wird mein Großvater nicht geführt haben. Aber die Korrektheit der
neuen Herren äußerte sich bald darin, dass gelbe Sterne gegen kleine Gebühr verteilt, ein Ghetto eingerichtet, Zwangsarbeit
angeordnet und eine Kontribution in Höhe von 110 000 Rubel und acht Kilogramm Gold auferlegt wurde. Als in der zweiten
Julihälfte Tausende Juden aus Ungarn in das Ghetto abgeschoben wurden, weitere Juden aus den umliegenden Dörfern
hinzukamen, mochte dem alt gewordenen Israel Mendel schwanen, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging, seine
Erfahrungen verjährt waren und die von ihm gelehrte Sprache – Deutschlehrer war er ja gewesen – zu den Eroberern gehörte wie
das Fertigladen zum Gewehr. Doch für solche sprachlichen Erkenntnisse war es zu spät. In den letzten Augusttagen, zwei Monate
nach Kriegsbeginn, erlöste der Höhere SS- und Polizeiführer Jeckeln mit seiner Brigade und einem Polizeibataillon den
Feldkommandanten, der kundgetan hatte, dass er nicht wisse, was er mit den Juden in der Umgebung anfangen solle. An zwei
Tagen wurden mehr als 23 000 Juden in Gruben bei Kamenez-Podolsk erschossen. Auch die Großmutter Hannah, der, wie es
scheint, auf dem Weg zum Sammelplatz das Halstuch geraubt wurde, und der Großvater Israel Mendel und deren jüngere
Tochter. Daher habe ich Mutters Verwandte nie kennengelernt. Sie ist die einzige geborene Mendel, die ich kenne. Meine
Großmutter väterlicherseits kannte ich dagegen gut. Sie hatte eine Singer’sche Nähmaschine und nähte. Ihr Mann, Arthur Segal,
der Vater meines Vaters, war Schuster gewesen. Mein Name ihm zu Ehren, da er im September 1940, ein Jahr vor meiner
Geburt, am kranken Herzen starb. Ich kannte meine Großmutter väterlicherseits sehr gut, wir lebten lange unter einem Dach, und
als ich elf oder zwölf Jahre alt war, konnte ich sie fragen: Was hast du vor meiner Geburt gemacht, Oma?
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Sie antwortete auf Russisch mit jiddischem Akzent: Schwer war das Leben und traurig. Als hätte sie sich mit meiner Mutter, ihrer
Schwiegertochter, abgesprochen. Doch es genügte, gemeinsam zu leben, um auf die gleiche Weise zu antworten.
Eine Zeit, sagte Großmutter, gab es, da aßen hungernde Menschen die Rinde von den Bäumen. Verstehst du, so wurde
gehungert, dass sie die Rinde von den Bäumen aßen. Kinder machten Jagd auf Ratten. Nicht um zu spielen, sondern um sie zu
essen. Nie wurden Lebensmittel sichtbar auf offener Straße getragen, weil sie einem aus den Händen und dem Mund gerissen
wurden. Oder eine Schar bettelnder Waisen mit großen Augen verfolgte dich. Arthur, wir waren arm, wir besaßen fast nichts, aber
wir überstanden das, Gott sei Dank. Wir waren eine ganze Familie, dein Vater, möge er für uns beten, war da. Wenn du
erwachsen bist, heirate schnell. Ich sage dir, finde schnell eine jüdische Frau und zögert nicht mit den Kindern. Zuweilen geriet ihr
die Geschichte durcheinander. Sagte ich: Und die Oktoberrevolution?, bekam ich eine Begebenheit aus der Nachkriegszeit zu
hören. Fragte ich nach dem Kriegsausbruch, kam sie auf das Kriegsende zu sprechen. Was soll ich erzählen?, sagte sie. Ich habe
dir alles gesagt. Was ich dir zu erzählen hatte, habe ich erzählt. Das Leben war hart. Wir haben viel gearbeitet und alles verloren.
Wir haben das ganze Leben lang gearbeitet, und was haben wir? Nichts, außer dieser Wohnung. Trotzdem haben uns die
Antisemiten immer verfolgt. Die Ukrainer sind alle Antisemiten. Einmal stießen sie mich aus der Straßenbahn, als sie merkten,
dass ich Jüdin bin. Der Waggon war überfüllt, ich stand direkt neben der Tür, zwei Banditen sagten: Jidowka, was nimmst du den
Leuten den Platz weg! und stießen mich hinunter.
Ach, Großmutter, sie haben dich bloß aus der Straßenbahn geworfen, aber nirgendwo hineingezwängt. Nein, das sagte ich nicht,
ich fragte: Hast du dich verletzt? Gott sei Dank stand die Straßenbahn an einer Haltestelle. Und was passierte dann? Was soll
passiert sein? Ich war auf der Straße. Ich kam erst zu mir, nachdem die Straßenbahn abgefahren war. Und was geschah im
Waggon? Wurden die beiden bestraft? Ach wo! Die haben Beifall geerntet. Merke dir das und hüte dich vor den Ukrainern. Die
Russen sind auch schlimm, aber nicht so. Selbst bei deiner Geburt! Die Schaffnerin, diese Antisemitin, ließ deine Mutter in
absoluter Dunkelheit gebären. Oma, es gab einen Schimmer. Außerdem half die Zugführerin. Blödsinn! Woher willst du das
wissen? Sie schrie und drohte, wenn wir Licht machten, werfe sie uns aus dem Zug. Ich würde, was ich über meine Vorfahren
weiß, so zusammenfassen: Bürger ihrer Zeit, nicht hervorstechend in irgendeiner Hinsicht, getrieben von dem Wunsch nach der
Verbesserung ihrer irdischen Lage, sich vor den stürmischen Zeiten duckend, unvermögend bis arm, einflusslos, manchmal an
kleinen Rädchen drehend, religiös bisweilen, mehr oder weniger in der jüdischen Kultur verwurzelt und noch nicht vollkommen mit
der Ausbeutung der nichtjüdischen Nachbarn vertraut. Und was ist mit wilder Liebe, komplizierten Charakteren, spannenden
Verwerfungen, gemeinen Intrigen, Tulpen auf dem Dach und Rosen im Schnee? Die wird es gegeben haben, irgendwo,
irgendwann. Wie gerne, neugierig, doch behutsam, holte ich Tulpen vom allerhöchsten Dach herunter, wie zärtlich grübe ich
Rosen aus dem tiefsten Schnee. Ich möchte nicht mit dem Finger auf Schuldige zeigen, doch ich benenne die Verantwortlichen:
Großmutter, die nie von sich aus erzählte, und Mutter, die sofort müde wird, wenn die Rede auf Kamenez-Podolsk kommt. Frage
ich, verschleiert sich ihr Blick, Worte tröpfeln oder sie stellt Gegenfragen, denen ich, um eine Antwort nie verlegen, mit
Gegengegenfragen begegne. Dann gibt sie ausgesuchte Ereignisse preis – immer dieselben. Mehr höre ich nicht und hake um
ihretwillen
selten nach.
Ich bin nicht dabei gewesen, ich weiß nichts von jener Zeit, mich trifft keine Schuld. Die Geschichte vom Fleischkombinat habe ich
einem Kamenez-Podolsker Archiv entnommen. Schon schreit ein Vogel. Zwei Hängebirken, Sträucher, Gras, mehr ist nicht vor
unseren Fenstern. Was zieht das kleine geflügelte Wirbeltier an? Warum trumpft es ausgerechnet hier auf? Warum die mageren,
bleichen Birken (schief, mit Moos bewachsen) und nicht die vor Kraft strotzende, einladende Buche vor den Nachbarfenstern?
Hören Sie diese Vogelschreie? Es stört überaus, nicht?, fragte ich den Nachbarn einmal im Vorbeigehen. Warum, ich habe nie
darauf geachtet, sagte er. Sollen sie singen, wenn sie wollen. Bald weicht die Dunkelheit, doch hell wird es nicht. Dieser Oktober
ist kalt und dunkel und kündigt eine unwirtlichere Zeit an. Die Vögel erheben stur die Stimmen, und wenn sie keine Lust mehr
haben, fliegen sie weg. Und ich bin nur ein kleiner jüdischer Sowjetbürger, der im fortgeschrittenen Alter nach Deutschland
ausgewandert ist. Morgen werde ich 51.
© Verlag C. H. Beck, 2015. Alle Rechte vorbehalten
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Joffe, Josef: Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß! Der jüdische Humor als Weisheit, Witz und
Waffe | Siedler
ET: 9. März 2015 | Gebunden | ca. 240 Seiten | ca. € 19,99 | ISBN: 978-3-8275-0054-0 | Auch als E-Book
erhältlich
Der jüdische Witz ist aggressiv, entlarvend, selbstironisch. Seine eigentliche Pointe lautet: Ihr müsst uns gar nicht
niedermachen, das machen wir selber viel besser. Und damit zeigen wir, dass wir schneller und gewitzter sind als
ihr. Kundig und mit viel Esprit erzählt Josef Joffe vom jüdischen Humor: von seiner Tradition, seinen Eigenheiten,
seinen Figuren, auch von antisemitischen und sonstigen Verfremdungen, nicht zuletzt von seinen Tradierungen
bis in die Gegenwart. Eine deutsch-jüdische Kultur, die von Moses Mendelssohn bis zu Franz Kafka reicht und
die ein Drittel der deutschen Nobelpreisträger vor 1933 hervorgebracht hat, gibt es nicht mehr, auch die osteuropäische ist verschwunden. Aber der jüdische Humor lebt. Und er funktioniert wie eh und je: das Wortspiel, die
Aggression, die sich in Selbstironie auflöst, die zugespitzte, aber nicht verletzende Pointe, der schnelle Stich in
die Blase der Selbstgefälligkeit, das Hangeln im Absurden, ein atemloses Tempo – die Melancholie verfliegt im
befreienden Gag, das Menschlich-Allzumenschliche wird mit einer Prise Lebensweisheit serviert.
Josef Joffe ist seit dem Jahr 2000 Herausgeber der ZEIT. Davor war er Ressortleiter Außenpolitik bei der
Süddeutschen Zeitung. Er lehrte Internationale Politik in München, an der Johns Hopkins University und in
Harvard, in Stanford unterrichtet er seit 2004. Als Kenner der amerikanischen Politik veröffentlichte Joffe
zahlreiche Sachbücher, zuletzt „The Myth of America’s Decline" (2013). Joffe ist Mitglied im Aufsichtsrat des Leo
Baeck Institut New York, das ein reichhaltiges Archiv der deutsch-jüdischen Geschichte pflegt. In Deutschland ist
er Vorsitzender des Kuratoriums des Abraham-Geiger-Kollegs an der Universität Potsdam.
Gewidmet meiner Frau Christine Brinck Joffe,
die klaglos meine Witze ertragen hat – auch die
endlosen Wiederholungen
Vorwort
Der jüdische Witz – die Fortsetzung
Mensch sein, heißt Geschichten erzählen. Gute Geschichten haben einen Anfang, eine Mitte und ein Ende – drei Elemente, die
möglichst eng beieinander liegen sollten. Gute Geschichten mäandrieren nicht. Sie sind knapp, gradlinig und zur Pointe zugespitzt.
Die besten enden im Gelächter. Das ist schon die Definition eines gelungenen Witzes. Sigmund Freud, von dem in diesem Buch
noch öfters die Rede sein wird, hat es so ausgedruckt: Was der Witz zu sagen hat, erzählt er nicht bloß mit wenigen, sondern zu
wenigen Wörtern.
Witze haben sich die Urmenschen (Homo sapiens) wahrscheinlich schon am Lagerfeuer erzählt, nachdem sie mit ihren größeren
Gehirnen vor etwa 60 000 Jahren die Neandertaler zu verdrängen begannen. So lange vor TV und Smartphone gab es kaum
einen anderen Zeitvertreib. Das Leben bestand aus Essen, Jagen, Rauben, Sex – und Geschichten erzählen. Wer die Aufmerksamkeit der Gruppe auf sich lenken oder sie zum Lachen bringen konnte, kriegte Punkte nicht nur bei den anderen Kerlen,
sondern auch bei den Mädchen. Hier, auf dem Weg von Afrika nach Mittelost und dann Europa, wurde der Ur-Vorläufer des
Stand-up Comic geboren.
Der Witz ist freilich eine mindere Form des Humors, weil er nicht dem eigenen Kopf entspringt, sondern in anderen Köpfen
vorfabriziert worden ist. Er erfordert keinen Geistesblitz, der Funken sprühen lasst. Der Erzähler muss nur ein gutes Gedächtnis
haben, die passende Situation erkennen und die Frechheit besitzen, die Aufmerksamkeit der Gruppe zu kapern. Das geht nicht
immer gut aus. Wir kennen den Typen, der mit seinen Witzen nervt und anödet, weil sie bezugslos von der Festplatte purzeln
und die Unterhaltung abtöten, statt sie zu animieren.
Dennoch hat dieser Autor Zeit seines Lebens Witze ebenso gern gehört wie erzählt – das ganze Spektrum vom Wortspiel bis zur
nicht-salonfähigen Sorte. Insbesondere hatten es ihm jüdische Witze angetan. Wenn die gut sind, sind sie besonders gut, weil sie
Doppelbödigkeit, Ironie, Selbstironie, Verbalakrobatik und Galgenhumor mischen. Das Ganze wird serviert mit Frechheit, Selbstverspottung (wie schon Freud notierte) und Auflehnung gegen Gott und Geistlichkeit. Oben drauf kommt eine Portion des
Absurden und scheinbar Widersinnigen. Wenn er richtig gut ist (und es gibt reichlich platte Beispiele), ist der jüdische Witz so
geistreich wie weise – und mit garantiertem Gelächter.
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Nach Aberhunderten von Witzen begann der Autor darüber nachzusinnen, wie man die „mündliche Überlieferung" zu Papier zu
bringen könne. Doch rasch wurde ihm klar, dass es beim reinen Aufschreiben nicht bleiben konnte. Denn: So mancher jüdischer
Witz erfordert eine (leider pointentötende) Erklärung, die sich auf den kulturellen Kontext bezieht – auf Ritus und Speisegesetze,
auf das Verhältnis zu Gott, Glauben und Religion. Wenn man schon Witze erklären muss (eine Todsünde), warum nicht
umgekehrt mit Witzen die Kultur und Religion begreiflich machen – umso mehr, als ein jüdischer Witz ein ganzes TheologieSeminar in ein paar Satze fassen kann? Also macht dieses Buch aus der Not eine Tugend, indem es Witze als spielerische
Einführung ins Judentum nutzt, das den meisten deutschen Lesern unvertraut ist. Unvertrautheit trifft inzwischen mehr und mehr
auch für das Christentum zu. Vor zwei Generationen kannte fast jeder das Neue, aber auch das Alte Testament; die Bibel war das
einigende Band zwischen „oben" und „unten", Stadt und Land, Nord und Sud. Heute kann man nicht mehr auf diese Kenntnisse
zahlen. Wie viele kennen noch das Gleichnis vom Weinberg? Oder, wie der Autor einer TV-Umfrage entnahm, den Unterschied
zwischen „Golgatha" und einer bekannten Zahnpasta.
Ein zweiter, noch wichtigerer Gesichtspunkt kam hinzu. Zwar gibt es reichlich Jüdische-Witze-Sammlungen auf Deutsch. Aber
diese schöpfen aus inzwischen verschütteten Quellen: der untergegangenen jüdischen Kultur Osteuropas und Russlands. Die
klassischen Witze, die immer wieder auftauchen, haben sozusagen einen Bart, auch die allerbesten. Außerdem: Selbst Juden
kennen die alte Welt nicht mehr, die bevölkert war von Schnorrern und Schadchen (Heiratsvermittlern), Fuhrleuten und
Hausierern, Wunderrabbis und Zweiflern, Zaren, Butteln und Gutsherren. Folglich konnte es im 21. Jahrhundert bei den alten
Witzen nicht bleiben; neue Quellen mussten angezapft werden. Manche klassischen Witze sind zwar zeitlos oder lassen sich
weitgehend getrennt von ihrem historischen Hintergrund erzählen. Aber der lebendige jüdische Witz hat inzwischen eine neue,
eine anglophone Heimat gefunden, vorweg in Amerika, gefolgt von Großbritannien und Kanada. Kein Wunder. In der EU leben
etwa 1,1 Millionen Juden, um 1900 waren es in Europa inklusive Russland neun Millionen. In der anglo-amerikanischen Welt
wohnen nunmehr knapp sieben Millionen Juden; rechnet man Menschen jüdischer Herkunft hinzu, die keine oder eine andere
Religion haben, werden es (geschätzt) 9,5 Millionen. Dazu kommen knapp sieben Millionen in Israel, welche die kaum
beantwortbare Frage aufwerfen, ob die nun „jüdischen" oder „israelischen" Humor produzieren (davon mehr im Haupttext). Der
anglophone jüdische Humor, der in diesem Buch viel Raum einnimmt, ist in der Moderne des 20. und 21. Jahrhunderts zu Hause –
nicht mehr im Ghetto, sondern in den großen Städten von New York Uber Montreal bis London und deren grünen Vororten. Die
Figuren und Situationen sind neu, die Strukturen bleiben aber „jüdisch"; was das ist, wird im Anfangskapitel ausgebreitet. Auf
jeden Fall hat die größte jüdische Gemeinde auf Erden dem alten Kanon reichlich neue Kapitel hinzugefugt.
Aus diesem Grund versucht dieses Buch etwas Neues im deutschen Sprachraum anzubieten, und nicht nur einen Aufguss jener
Klassiker, welche die vielen deutschen Sammlungen bevölkern. Der Autor zehrt dabei von seinen langen Aufenthalten in den USA,
wo er studiert, geforscht und gelehrt hat. Typisch „amerikanisch" sind zum Beispiel die Witze Uber die „Jewish Mother", die im
alten Europa so gut wie keine Rolle spielte. Typisch sind auch die Witze, die um Aufstieg, Assimilation und Entfremdung vom
Judentum kreisen, obwohl deren Wiege in der deutschsprachigen Moderne des frühen 20. Jahrhundert stand. In Berlin, Wien,
Prag und Budapest begannen die Juden das Bethaus mit Kanzlei, Buhne, Schreibtisch und Ordinationszimmer zu vertauschen –
und eine neue Kultur zu begründen. Dieses Buch will sozusagen „Der jüdische Witz – die Fortsetzung" sein, also die
alteuropäische Tradition mit der anglo-amerikanischen Neuen Welt verknüpfen. Der jüdische Witz ist nicht tot, wie der Verlust der
alten Heimat vermuten ließe. Er hat nur seinen Wohnort und seine Sprache gewechselt. Der Weg über Atlantik und Kanal hat ihm
nicht geschadet. Der Umzug hat den jüdischen Witz befruchtet und beflügelt. Die Fortsetzung ist ein neuer Baum auf dem Boden
des Vertrauten.
Josef Joffe
Frühjahr 2015
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Kapitel 1
Vom osteuropäischen Schtetl zur amerikanischen Sitcom
Das Wesen des jüdischen Humors
Warum noch ein Buch über den jüdischen Witz? Amazon bietet über 50 Bande auf Deutsch an. Auf Amazon-Englisch sind es 220.
Die beste Antwort liefert ein jüdischer Klassiker:
„Warum muss ein Jude eine Frage immer mit einer Gegenfrage beantworten?“ – „Warum denn nicht?"
Die simpelste Antwort auf die Frage „Warum noch ein Buch über den jüdischen Humor?" wäre demnach „Warum denn nicht?" Es
gibt offenbar einen bleibenden Bedarf, selbst in Deutschland, wo im Vergleich zur Vor-Nazizeit kaum noch Juden leben. Offiziell
sind es hunderttausend Gemeindemitglieder; vor 1933 waren es rund sechshunderttausend – in bedeutend sichtbareren
Positionen als heute: Journalismus und Literatur, Theater und Film, Forschung und Lehre, Politik und Wirtschaft.
Eine deutsch-jüdische Kultur, die von Mendel(s)sohn (dem Komponisten wie dem Architekten) bis zu Freud, Kafka und Zweig führt
und ein Drittel der deutschen Nobelpreisträger vor 1933 gezeugt hat, gibt es nicht mehr, die osteuropäische, den Urquell des
jüdischen Humors, auch nicht. Aber der jüdische Witz lebt. Dieses Buch enthalt nicht nur unverzichtbare Klassiker, sondern auch
neuere Witze. Manchmal werden sie richtig, öfter falsch erzählt, wobei das „Jüdeln" – was manche für Jiddisch halten – zum
peinlichen Pointenkiller gerat und das Gegenteil von Vertrautheit signalisiert. Außerdem: So mancher jüdischer Witz ist keiner,
sondern entstammt dem Ur-Schatz der Menschheit. Deshalb will dieses Buch versuchen, nur echte jüdische Witze vorzulegen –
was, etwas hochtrabend, eine Art Theorie des jüdischen Humors erfordert. Wie unterscheidet sich dieser von Humor als solchem?
Was macht ihn aus? Was ist der Unterschied zwischen einem jüdischen und einem Judenwitz, der zur antisemitischen Gattung zu
rechnen ist, also mit uralten Vorurteilen Uber Juden arbeitet? Zum zweiten will dieses Buch versuchen, auf spielerische, „witzige"
Art und Weise das Wesen des Judentums auszuleuchten: das Verhältnis zu Gott, Glauben und Ritus. Das Judentum ist zwar die
Mutter der beiden weitaus größeren Buchreligionen, aber in Deutschland so gut wie unbekannt, weil es hier anders als in Amerika,
England und Frankreich kaum noch Juden gibt. Vor 1933 machten Juden fast ein Prozent der deutschen Bevölkerung aus; heute
sind es ein achtel Prozent (oder ein viertel, rechnet man die geschätzte Zahl der Nicht-Gemeindemitglieder dazu). Noch
unvertrauter ist jedoch der Islam, und selbst das Christentum – mit Athen, Rom und Jerusalem eine Mutter der westlichen Kultur –
nimmt hierzulande immer weniger Raum im kollektiven Bewusstsein ein. Deutschland, ja Europa (abzüglich Polen und Irland)
„entchristianisiert" sich.
Wer kennt sich noch halbwegs in der Bibel aus, ohne die man die Hälfte der Kunst, Musik und Architektur, auch einen Großteil der
Literatur – Dostojewski, Joyce, Mann – nicht verstehen kann? Selbst ein durch und durch verweltlichter Dichter und AgitpropGenie wie Bertolt Brecht antwortete auf die Frage, welche Literatur ihn am stärksten inspiriert hatte: „Sie werden lachen, die Bibel."
Jüdische Witze Uber Gott und Rabbiner, Speisegesetze und Riten fugen sich nebenbei zum „Religionsunterricht" zusammen. Die
gut gesetzte Pointe transportiert im Lachen das Ernste wie das Ernsthafte, sei’s die jüdische Conditio humana, sei’s der schwierige
Umgang mit einem Gott, der sich zum christlichen so verhalt wie ein gelegentlich strenger, aufbrausender und unberechenbarer
Vater zu einer stets gütigen, verzeihenden Mutter.
Was wäre denn ein echter jüdischer Witz? Vor gar nicht allzu langer Zeit erzählte ein bedeutender deutscher Verleger während der
Grabrede für einen alten jüdischen Freund einen jüdischen Witz, der keiner ist:
Ein Jude kommt allabendlich in die Bar und bestellt zwei Whiskys, die er nacheinander austrinkt. Irgendwann fragt ihn
der berätselte Barkeeper, warum er nicht gleich einen Doppelten bestelle. Der Gast klärt ihn auf: „Mein Freund und ich
sind Kriegskameraden. In einem fast tödlichen Hinterhalt haben wir einander geschworen, nur noch zu zweit zu trinken,
wenn wir lebend davon kämen. Also bestelle ich immer zwei Drinks, und er macht das Gleiche ein paar Tausend
Kilometer weiter." – „Verstehe", murmelt der Barkeeper und serviert den nächsten Whisky. Ein paar Wochen später
ordert der Stammgast nur einen Whisky. „Was ist los", fragt der Barmann, „ist Ihr Freund etwa gestorben?" – „Nein,
nein, um Gotteswillen. Aber in der Gemeinde haben sie mir ins Gewissen geredet, und deshalb habe ich aufgehört zu
trinken. Er darf natürlich weiter trinken."
Das ist kein jüdischer Witz, wie gleich erklärt werden soll, sondern ein irisch-katholischer Klassiker, der so lauft:
Paddy bestellt regelmäßig drei Pint Guinness, setzt sich in eine Ecke, wo er nacheinander jeweils einen Schluck aus den
drei Gläsern nimmt. Nach einigen Wochen überwältigt Neugier die Diskretion, und der Barkeeper fragt: „Sie wissen doch,
dass Bier abgestanden schmeckt, wenn es nicht frisch getrunken wird. Warum bestellen Sie nicht ein Glas nach dem
anderen?" – „Sie haben Recht, aber die Sache ist so: Ich lebe hier in Dublin, meine beiden Brüder leben in Boston und
Melbourne. Wir haben einander versprochen, immer zu dritt zu trinken. Also trinke ich ein Bier für mich selber und die
beiden anderen für meine Brüder. Die machen es genauso."
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Eines Tages bestellt Paddy nur zwei Guinness. Der Barkeeper setzt eine ernste Miene auf: „Ich will nicht Ihre Trauer
stören, aber nehmen Sie bitte mein Beileid entgegen." Paddy blickt verwirrt, dann lacht er: „O nein, nicht was Sie denken
– kein Todesfall. Wir sind aber gerade in eine Baptistengemeinde eingetreten, und da hat meine Frau mir den Alkohol
verboten. Das gilt aber nicht für meine beiden Brüder."
Die irische Version stimmt; der Paddy-Witz ist ein katholischer Seitenhieb gegen den angelsächsischen Protestantismus, vor allem
gegen die gestrengen Baptisten, eine Speerspitze der amerikanischen Prohibition. Das Judentum hingegen, anders als der Islam
oder manche protestantische Gemeinschaft, achtet Alkohol nicht. Im Gegenteil – Wein in Maßen ist integraler Bestandteil des
Rituals, und weil Alkoholgenuss kein Tabubruch ist, gibt es auch kaum jüdische Besäufnis-Witze. Zu Pessach, das den Auszug
aus Ägypten feiert und aus dem das christliche Ostern wurde, müssen während des Seder-Mahls* vier Glaser Wein getrunken
werden. In diesem Fall symbolisiert der Wein, der Sklaven vorenthalten wurde, die wiedergewonnene Freiheit. Vorgeschrieben ist
auch das erste Glas Wein, das zusammen mit dem Gebet das Sabbat-Mahl am Freitagabend einläutet. Während des PurimFestes, das mit dem christlichen Karneval zusammenfallt und mit diesem gewiss den gemeinsamen heidnischen Ursprung in der
Tagundnachtgleiche teilt, ist Alkoholgenuss bis zur Trunkenheit geradezu Pflicht (im Fasching ist es keine Pflicht, aber Sitte). Das
Besäufnis markiert die Freude über die Rettung der Juden vor der Vernichtung durch den persischen Erzschurken Haman, der als
erster Minister unter Ahasveros (Xerxes) diente.
Wir werden im Lauf dieses Buches öfter auf den Unterschied zwischen echten und sogenannten jüdischen Witzen zurückkommen.
Vorweg aber eine nicht minder gravierende Frage: Gibt es denn überhaupt noch neue jüdische Witze? Witzologen behaupten, es
existiere ohnehin nur ein Dutzend „Urwitze", die seit Jahrhunderten um die Welt wandern; die Abertausende von anderen seien
Fußnoten und Variationen – so, wie laut Alfred North Whitehead alle Philosophie seit zweitausendfünfhundert Jahren bloß
Fußnoten zu Platon seien. Richtig ist, dass die meisten jüdischen Witze einer langst untergegangenen Kultur entstammen. Diese
hatte sich nach den Kreuzzügen und den Vertreibungen der Juden aus Deutschland, England, Frankreich und Spanien in einem
weiten, nach Osten ausgreifenden Bogen entfaltet. Im 16. Jahrhundert beherbergte Polen die größte jüdische Gemeinde Europas.
Warschau, Wilna (Vilnius, die Hauptstadt Litauens) und Krakau waren Zentren des jüdischen Lebens. Es ging weiter nach Osten
und Südosten: nach St. Petersburg in Russland, Kowno im heutigen Belarus, Czernowitz in der Bukowina, Lemberg und Odessa
in der Ukraine. Diese „Produktionsanlage" ist ein für alle Mal geschlossen, aus den bekannten Gründen. Die Restbestände der
jüdischen Kultur fielen im Kommunismus der Flucht zum Opfer, dann, nach dem Kollaps der Sowjetunion, der
Massenauswanderung. Und trotzdem: Die Herstellung lauft weiter, hauptsächlich in Amerika. Hier darf man inzwischen mit nur
gelinder Übertreibung behaupten, dass der Humor ein jüdischer ist: verbal, aggressiv, selbstironisch – ein Genre, das mit scharfer
Pointe das Absurde in der Conditio humana aufspießt und zugleich im wohligen Gelächter auflöst.
Weil die größte jüdische Gemeinschaft seit dem Holocaust inzwischen anglo-amerikanisch ist (sieben Millionen in den USA und in
Kanada, rund eine halbe Million in Großbritannien), tauchen in diesem Buch zahlreiche Witze aus dieser neuen Welt auf. Die
„Witzfabrik" ist von Europa über den Kanal und den Atlantik gewandert, wo zwar bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
Diskriminierung und gesellschaftliche Ausgrenzung herrschten, aber weder Unterdrückung noch Verfolgung. Die Grundstruktur ist
die alte, die Lebenswelt eine neue. In der angloamerikanischen Welt fehlen Zar und Gutsherr, Wunderrabbi und Schadchen
(Heiratsvermittler), Pogrom und mörderischer Judenhass. Die Witze handeln stattdessen von Assimilation und Aufstieg, von
Neureichen und Emporkömmlingen, vom Verlust des Glaubens und Familienzusammenhalts in einer Welt, in der das Ghetto nicht
aufgezwungen und bald, im Laufe des Aufstiegs, auch nicht mehr selber gewählt wurde.
Die historische Quelle des jüdisch-amerikanischen Humors im 20. Jahrhundert war der sogenannte „Borscht Belt" („BorschtGürtel") in den Catskill-Bergen von New York. Bis in die sechziger Jahre zogen Generationen von Einwanderern mit ihren Familien
von New York und Ostküste in die Sommerfrische der Catskills, um in der Natur Sentimentales aus dem „Old Country" und Witze
über ihre neue Heimat zu genießen. Das ist vorbei, weil Ausgrenzung wie Selbstausgrenzung weitgehend verschwunden sind, und
damit auch die Reibungsflächen, an seinerzeit legendäre Ferienanlagen wie Grossinger’s und Kutsher’s sind seit Jahrzehnten
geschlossen. Amerikas Juden sind langst angekommen; auf die Ferienghettos von gestern sind sie nicht mehr angewiesen. Heute
verbringt die Mittelschicht ihren Urlaub in Naples und Boca Raton in Florida, die Geldelite in den Hamptons auf Long Island, auf
Martha’s Vineyard bei Boston und in Aspen, Colorado, wo überall die Preise dezidiert hoher liegen. Der Grundstein des jüdischamerikanischen Humors jedoch wurde im Borscht-Gürtel gelegt. Hier begannen die Karrieren von Woody Allen, Mel Brooks, Billy
Crystal, Jerry Lewis, den Marx Brother, Danny Kaye oder Henny Youngman, von dem übrigens der beste Kommentar zum
Verhältnis der Generationen stammt: „Warum vertragen sich Großeltern und Enkel so gut? Weil sie denselben Feind haben."
------------------------* Das Seder-Mahl mutierte im Christentum zum Abendmahl. So zeigen die großen Gemälde von Leonardo, Tizian und Rubens
Jesus mit den Aposteln beim Pessach-Seder, dem Letzten Abendmahl. Im christlichen Ritual ist das ungesäuerte Brot (Mazze,
etwa zwanzig mal zwanzig Zentimeter groß) als Hostie symbolisch zum Leib Christi, der Wein zum Blut des Erlösers geworden.
Laut der biblischen Legende hatten die Israeliten bei der Flucht aus Ägypten nicht mehr die Zeit, um den Teig mit Hefe zu
versetzen. In der Eile wurde offensichtlich auch der weltliche Cracker geboren.
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Schnell, böse und dennoch weise – mit garantiertem Gelächter. Dieser Humor ist zum amerikanischen geworden, bei Juden und
Christen, Schwarzen, Braunen und Weisen. Und wir kennen ihn hierzulande, ohne den Ursprung zu erkennen. Denken wir nur an
die Sitcoms, die auch in Deutschland laufen: Friends, How I Met Your Mother, The Big Bang Theory, Two-and-a-Half Men,
Cheers, Der Prinz von Bel Air (die im afro-amerikanischen Milieu spielt), Chaos City, Scrubs – Die Anfänger, Ally McBeal. In all
diesen Serien tauchen zwar jüdische Schauspieler auf, aber selten Juden als solche, und doch ist der Humor, wenn man so will,
jüdisch. Die hervorstechende Ausnahme ist Die Nanny, eine Serie aus den Neunzigern, die heute im deutschen Fernsehen gezeigt
wird und in der jüdische Figuren im Zentrum stehen. Die Hauptfigur ist Miss Fine, ein Kindermädchen aus dem jüdischen
Kleinbürgertum von Queens, das an der Upper East Side drei blonde Oberschichtenkinder betreut. Sie übertreibt und verhohnepiepelt ihre „typisch jüdischen" Eigenschaften, während sie gleichzeitig über WASP-Eigenheiten herzieht – und selbstverständlich
die besten Spruche kriegt. Apropos WASP („Wespe"), die alte Elite der „White Anglo-Saxon Protestants", ein Wortspiel, wo die
Pointe nur auf Englisch funktioniert:
Zwei Bienen treffen sich zufällig im Central Park, und die eine stöhnt: „Ich habe seit Tagen kein Futter mehr gefunden.
Ich sterbe vor Hunger." Die andere: „Kein Problem. Flieg rüber zur Ostseite des Parks, 62. Straße und Fifth Avenue. Da
läuft gerade eine prächtige jüdische Hochzeit – Blumen, Kuchen und Süßigkeiten in Hülle und Fülle, mehr als ein ganzes
Bienenvolk je essen könnte.„ Zwei Stunden später kommt der Kamerad glücklich zurück: „Es war herrlich – wie du es
versprochen hast. Ich bin bis zu den Fühlern vollgestopft." Da unterbricht ihn der Freund: „Was ist das für eine kleine
Kappe, die du auf dem Kopf hast." – „Das ist eine Kippa." – „Wieso trägst du die?" – „So they would not think I was a
WASP."
Ob in Nanny, How I Met Your Mother oder Seinfeld, das Prinzip ist stets das gleiche: das Wortspiel, die Aggression, die sich in
Selbstironie auflöst, die zugespitzte, aber nicht verletzende Pointe, der schnelle Stich in die Blase Selbstgefälligkeit, das Hangeln
im Absurden, das atemlose Tempo der Gags*, die Beleidigung, die im Wortwitz verdampft. Die Melancholie verfliegt im
befreienden Gag, das Menschlich-Allzumenschliche wird mit einer Prise Lebensweisheit serviert. Gelacht wird mit- und
übereinander, nicht über den Trottel, der über seine eigenen Füße oder vom hohen Ross fallt wie bei Laurel und Hardy (Dick und
Doof). Juden lachen hauptsächlich sich selber aus.
Der Erste, der das Prinzip des Sich-selbst-auf-den-Arm nehmen in gelehrter Sprache analysiert hat, war Sigmund Freud in seinem
Buch Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Uber die „Theorie" des jüdischen Humors wird noch zu reden sein. Zuerst
die kritische Unterscheidung zwischen „Judenwitz" und „jüdischem Witz". Der Judenwitz ist ein antijüdischer Witz, weil er
klassische Vorurteile über die Juden bestätigt, etwa über ihre Geldgier, Anatomie oder ihr Hygiene-Defizit. Zwei Beispiele:
Ein Jude trifft einen anderen nach einem Jahr im Badehaus wieder und begrüßt ihn: „So schnell sieht man sich wieder.„
Frage: Warum haben Juden so große Nasen? Antwort: Weil Luft umsonst ist.
Das sind keine jüdischen Witze; ihre Funktion ist die Reproduktion antisemitischer Klischees.* Der Bad-Witz unterstellt den Juden
mangelnde Sauberkeit. Dies ist umso erstaunlicher, als dass das ständige Waschen integraler Teil des Rituals ist, das schon im
Buch Levitikus eingefordert wird. Waschen ist Pflicht vor und nach dem Essen sowie vor dem Gebet. Nach der Menstruation
müssen gläubige Frauen in die Mikwe, das rituelle Tauchbad, wo das Wasser fliessen muss und nicht stehen darf. Sauberkeit ist
sozusagen eine jüdische Obsession. Echte jüdische Witze im Wasser-und-Bad-Segment laufen als Wortspielereien:
Am Hotelempfang: „Wünscht der Herr ein Zimmer mit fließend Wasser?" – „Wieso? Bin ich eine Forelle?"
„Hast Du ein Bad genommen?" – „Wieso? Fehlt denn eines?
------------------------* Hier muss ein kleines Denkmal für Henri Regnier, den großen Unterhaltungschef des NDR, gesetzt werden, der sozusagen ein
Anhänger des jüdischen Prinzips war: „Es gilt", dozierte er, „den Knochen kurz hoch zu halten und gleich wieder fallen zu lassen" –
also die Pointe nicht durch endloses Herumnagen abzutöten.
* Ein anschauliches Beispiel bietet der große preußische Kriegsphilosoph Carl von Clausewitz, der aus Litauen von Juden
berichtet, die „wie Ungeziefer in Schmutz und Elend wimmeln". Er wünschte sich ein „Feuer", damit „dieser Schmutz von der
reinlichen Flamme in reinliche Asche verwandelt wurde" (Militärische und politische Schriften, „Aus Briefen 1812: In russischen
Diensten").
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Der Nasen-Witz ist ebenfalls kein jüdischer, sondern ein anti-jüdischer, der rassistische Klischees aufnimmt. Den richtigen, hier
gerafft wiedergegeben, erzählt Friedrich Torberg in seinem unnachahmlich geistreichen Buch „Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten"
Ein Reisender aus Wien, der mit Judentum nichts mehr am Hut hat und noch weniger mit der englischen Küche, erspäht
1930 in London ein koscheres Restaurant. Es serviert jene jüdische Kost, die so eng mit der mitteleuropäischen verwandt
ist. Durch und durch assimiliert, bestellt der Jude aus purer Sentimentalität einen Rindsbraten, wie er ihn aus der Heimat
kennt, und zur Abrundung einen Käse. Der Kellner bedauert: „Sorry, Sir, wir sind streng koscher, und milchig und
fleischig dürfen nach dem Speisegesetz nicht gemischt werden" (sozusagen eine frühe Version der Trennkost). – „Aber
der Herr am Fenster hat doch auch einen Braten, dann Käse bekommen." – „Gewiss doch", flötet der Kellner, „aber der
ist kein Jude, deshalb gilt das Gesetz für ihn nicht." – „Ich", entgegnet der Wiener, „bin es auch nicht." Woraufhin der
Kellner den Chef holt, der im Anmarsch sein Käppchen zurechtrückt und einen bohrenden, wütenden Blick auf das
Gesicht des Gastes wirft. Dann schießt sein Finger nach vorn, zu dessen Nase: „No cheese!"
Auch hier gibt die „typisch jüdische" Nase die Pointe her, aber der Unterschied zum Judenwitz ist so breit wie die Themse. Die
Geschichte nimmt das Vorurteil ins Visier und auf den Arm. Sie macht sich lustig über die eigenen Glaubensgenossen, die für ein
Stück Käse ihre Identität verleugnen, ihr aber nicht entfliehen können. Auf der zweiten Ebene aber verspottet die Anekdote die
Antisemiten. Statt das Stereotyp zu entkräften – etwa: „Auch Christen haben krumme Nasen" –, wird es übernommen und
umgedreht, um Unverwundbarkeit und Überlegenheit zu beweisen. Die Botschaft: „Ihr könnt uns gar nicht treffen, das machen wir
selber viel besser."*
So auch der knappe böse Witz über den Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF), einen besonders patriotischen Verein, der
1919 gegründet wurde, um antijüdische Hetze über Feigheit und Drückebergerei im Ersten Weltkrieg auf gründlich-deutsche
Weise zu widerlegen – also mit Fakten wie dem, dass 85 000 deutsche Juden gekämpft hatten und 12 000 gefallen waren. Sein
Motto: „Der RjF sieht die Grundlage seiner Arbeit in einem restlosen Bekenntnis zur deutschen Heimat. Er hat kein Ziel und kein
Streben außerhalb dieser deutschen Heimat und wendet sich aufs schärfste gegen jede Bestrebung, die uns deutsche Juden zu
dieser deutschen Heimat in eine Fremdstellung bringen will." Es hat bekanntlich nicht viel geholfen. Deshalb dieser böse Witz,
wonach der RjF – wahlweise auch der „Verband nationaldeutscher Juden" – Plakate geklebt hatte, auf denen stand: „Raus mit
uns!" Oder: „Nieder mit uns!“ Zum Unterschied zwischen Judenwitz und jüdischem Witz lese man Friedrich Torbergs fulminanten
Verriss von Salcia Landmanns „Der jüdische Witz“, eines Bestsellers, der 1960 erschienen und inzwischen in die vierzehnte
Auflage gegangen ist. Der Essay tragt den Titel „Wai geschrien! Oder: „Salcia Landmann ermordet den jüdischen Witz" und wurde
zum ersten Mal im Oktober 1961 in Der Monat veröffentlicht. Er gipfelt in dem akribisch belegten Vorwurf, sie habe neben echten
jüdischen Witzen (unbewusst) auch viele antisemitische Witze gesammelt, diese aber nicht richtig erzählen können (was leider
manchmal auch zutrifft). Viele Beispiele, so Torberg, dienten dem Beweis, „dass die Juden betrügerisch und geldgierig sind,
verlogen und verschlagen, schmutzig und unappetitlich, dummdreist und ungebildet, Gefühlsrohheit und wehleidig, pietätlos und
taktlos, feig und wasserscheu …"
Es handele sich demnach um Judenwitze. Gerade deshalb, steigert sich Torberg, „ist das Buch ein Erfolg geworden, weil es
antisemitisch ist, weil es den Vorstellungen entgegenkommt, die sich ein deutscher Durchschnittsbürger von den Juden macht".
Ohne dass dieser, so fügt er hinzu, ein eingefleischter Judenhasser, geschweige denn ein verkappter Nazi wäre. Allein die „typisch
jüdischen" Namen, die Landmann benutzt! Torberg zählt sie alle auf: Fleckseif, Katzenschein, Bruchband, Mehlklos, Wasserfleck,
Grünschwanz, Quadratstein, Vogeldreck, Sonnenstich, Papierkragen, Wassergeruch… Nomen ist hier nicht bloß Omen, sondern
Diffamierung. Dieses Buch verzichtet deshalb weitgehend auf sogenannte jüdische Namen, obwohl es die selbstverständlich gibt:
von Kohn und Levi, den Hohe und gewöhnlichen Priestern im alten Tempel, über eine ganze Reihe von Steinen, Bergen und
Baumen zu Städten: Rubinstein, Goldstein, Eisenstein; Goldberg, Silberberg; Mandelbaum, Citrinbaum, Birnbaum; Breslauer,
Berliner, Frankfurter, Prager … Ein richtig jüdischer Witz, der sich über jüdische Namen lustig macht, lauft so:
Im Zug stellt sich ein Spross des baltischen Uradels commentgemäß einem jüdischen Reisenden vor: „Ich heiß UngernSternberg." Der Jude: „Das glaube ich Ihnen.“
Alle Rechte bei und vorbehalten durch Siedler Verlag, München
------------* Der klassische Versuch der Entkräftung findet sich in Shakespeares Der Kaufmann von Venedig, wo Shylock deklamiert: „Wen
ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?"
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Hellmuth Karasek: Das find ich aber gar nicht komisch. Geschichte in Witzen und Geschichten über Witze
Quadriga Verlag | ET: 12. März 2015 | Hardcover | ISBN: 978-3-86995-075-4 | Auch als E-Book, Hörbuch +
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Warum erzählt man (einander) Witze? Wo erzählt man sie, wann und wann nicht? Warum lacht man über
manche Witze, und warum lacht man nur eine bestimmte Zeit über sie? Vor allem aber: Wie erzählt man Witze?
In welchen Situationen entstehen sie? Hellmuth Karasek war mehr als ein Jahrzehnt Mitstreiter von Marcel ReichRanicki im Literarischen Quartett, zehn Jahre Ratefuchs in Günther Jauchs legendärer 5 Millionen SKL-Show und
Witze-Duellant in zahlreichen Auftritten mit Eckart von Hirschhausen. Sein Buch „Soll das ein Witz sein?“ hat er
mit seinem Publikum erprobt und dabei vor allem Witze erzählt. Dabei entstand ein erstaunlicher Dialog, auch in
Witzen. Eine Reise durch die weite Welt des Komischen. Ein Buch, das Spaß macht. Kein Witz.
Hellmuth Karasek, geboren 1934 im tschechischen Brünn, leitete mehr als 20 Jahre lang das Kulturressort des
Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, war Herausgeber des „Berliner Tagesspiegels“ und ist jetzt Kolumnist und
Autor von „Die Welt“ und der „Welt am Sonntag“. Zu seinen Büchern gehören u.v.a. „Billy Wilder. Eine Nahaufnahme“, „Go West!“, die Autobiografie „Auf der Flucht“ und „Soll das ein Witz sein?“.
STATT EINES VORWORTS:
VON KANT ZUM ELEFANT
Pünktlich zum Jahreswechsel wählte die Welt am Sonntag in ihrem ersten Themenbuch zum neuen Jahr das Thema „Wie lustig
sind die Deutschen?“. Sind wir zu Recht weltweit für unsere Humorlosigkeit verschrien, oder ist dies ein dumpfes Vorurteil? Sind
wir wirklich die Nation, die zum Lachen in den Keller geht, die sich auf die fünfte Jahreszeit des Karneval bezieht und sonst den
Kabarettisten ihr Lachbedürfnis anvertraut? Der Lachsack seligen Angedenkens ist schon eine Weile außer Gebrauch. Eckart von
Hirschhausen brach für den deutschen Humor in einem langen Interview eine Lanze.
Ich hatte das Glück, mit Eckart von Hirschhausen einen gemeinsamen Abend unter dem Titel „Ist das ein Witz?“ zu bestreiten. Die
Premiere war in Berlin, in der Bar jeder Vernunft, und Hirschhausen tat, was er in fast allen seinen öffentlichen Veranstaltungen
macht: Er ging am Schluss ins Publikum und sammelte dort Witze ein. Auf diese Weise hatten wir ein schönes Feedback und
lösten die Einseitigkeit des Witzeerzählens von der Bühne herab zu einer Art kommunikativem Stammtisch auf, jedenfalls in
Ansätzen.
Damals war Günther Jauch im Publikum, meldete sich im Auftrag von seinem und meinem Freund Marcel Reif zu Wort, um einen
neuen Witz beizusteuern. Seit einigen Jahren gehen Günther Jauch, Marcel Reif und ich, unsere Frauen und ein befreundetes
Ehepaar von Jauch im Sommer an einem gemeinsamen Abend auf Sylt essen, und das endet zwangsläufig, möchte ich fast
sagen, im Witzeerzählen. Die Witze spiegeln sicher auch unsere Gemütslagen, Zeitstimmungen und persönliches Ungemach und
Gemach wider. In Berlin also war es der folgende Witz, den Jauch uns öffentlich erzählte:
Ein Mann in einer Bar. Er hat einen Hund bei sich, den er auf den Tresen setzt. Der Barkeeper bringt dem Mann einen Drink und
setzt vor dem Hund einen Blechnapf mit Wasser hin. Der Gast bedankt sich entschuldigend, indem er sagt: „Ich musste meinen
Hund auf den Tresen setzen, er hat leider keine Beine.“ Der Barkeeper zeigt, auch um seine Verlegenheit zu überbrücken, mit der
Frage „Wie heißt denn Ihr Hund?“ Anteilnahme. „Ach“, sagt der Mann, „der Hund hat auch keinen Namen, denn wenn ich ihn rufe,
kommt er ja ohnehin nicht.“ Darauf schiebt der Barkeeper, noch verlegener, die Frage nach: „Was machen Sie denn so mit Ihrem
Hund?“ Und der Mann antwortet: „Um die Häuser ziehen.“
Eckart von Hirschhausen erzählt den Witz viel, viel kürzer und allgemeiner. Bei ihm lautet der Witz so:
Was macht man mit einem Hund ohne Beine?
Antwort: Um die Häuser ziehen.
Hirschhausen, so habe ich daran gemerkt, kommt es auf die knappe, kurze, kahle Pointe an. Für mich sind Witze eher
Erzählungen, die eine Atmosphäre schaffen. Die Atmosphäre des Bar-Witzes ist die vom einsamen Mann, der am Tresen seinen
Kummer mit einem oder mehreren Drinks löscht. Es ist der Kummer der Einsamkeit. In einer bestimmten Zeit galten Bartender als
die Tröster, Beichtväter und Gesprächspartner der einsamen Trinker. Am schönsten kommt das in dem Frank-Sinatra-Lied One
for my baby and one for the long, long road zum Ausdruck. Der Witz hat eine Beckett’sche Stimmung. Becketts Figuren und
Helden sitzen sozusagen beinlos in Urnen oder in Sandbergen eingegraben, die Heldin des Stücks Glückliche Tage steckt bis zum
Hals in einem Sandberg, kann sich kaum bewegen, blinzelt aber der Sonne zu und sagt: „Das wird wieder ein glücklicher Tag
gewesen sein.“ Womit sie den Sonnenuntergang meint, den sie genauso reglos wie den Sonnenaufgang erlebt hat. Um die
Häuser ziehen, das ist die entsprechende Beckett-Pointe dieses in Wahrheit trostlosen Witzes, der mit seiner absurden
Trostlosigkeit Solidarität und Trost für alle einsamen Bar-Hocker liefert.
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Wie gesagt: Ich habe den Witz als Erzählform für mich entdeckt, als eine eigene literarische Gattung, ähnlich wie das Volkslied
und das Volksmärchen anonym, und natürlich gibt es sowohl gute wie schlechte Erzählungen, aber immer hat der Witz die
Aufgabe, in einem Erzählkreis soziales Mitgefühl zu stiften und dem meist traurigen Anlass wenigstens ein fröhliches Gelächter zu
entlocken.
Hirschhausen erzählt noch einen anderen Witz:
Ein Berliner, dem sein Fahrrad gerade gestohlen worden ist, sagt: „Ein Wunder ist geschehen! Ich kann wieder laufen! – Jemand
hat mein Fahrrad geklaut.“
Dieser Witz ist hier sozusagen seines historischen Ursprungs beraubt. Es ist ein Witz, der sich blasphemisch über Wunder lustig
macht, indem er ein Wunder ad absurdum führt. Die Lahmen wieder gehen zu machen, die Toten aufzuerwecken, das sind die
Wunder der christlichen Religion. Und der Witz, der hier in Berlin nach einem banalen Fahrraddiebstahl auftaucht, gehört natürlich
in den Kontext eines der berühmtesten Wunderorte, nach Lourdes, wo die Mühseligen und Beladenen hingehen, in der Hoffnung,
auf wunderbare Weise geheilt wieder abreisen zu können. Also:
Riesengedränge in Lourdes. Auf einmal hört man einen Mann: „Jetzt kann ich wieder gehen! Jetzt kann ich wieder gehen!“ Alle
drehen sich nach dem Geheilten um, der ärgerlich fortfährt: „Jetzt haben sie mir mein Auto gestohlen.“
Auch dieser Witz also braucht einen historischen Kontext, eine atmosphärische Umgebung, aus der er nicht beliebig gerissen
werden kann, weil er mit den Wurzeln seinen Humus verliert. Auch das macht ihn mit Märchen, Volksliedern und
Kalendergeschichten verwandt: dass er im Lachen oder im erlösenden Gelächter, das eine Pointe auslöst, die Schmerzen zeigt,
die die Menschen gerade bedrücken, und sich damit in einen bestimmten Kontext stellt.
Schon Immanuel Kant hat über das Wesen des Lachens und des Witzes keine blanke theoretische Abhandlung geliefert, sondern
einfach Geschichten über das Lachen erzählt:
Wenn jemand erzählt: daß ein Indianer, der an der Tafel eines Engländers in Surate eine Bouteille mit Ale öffnen und alles dies
Bier, in Schaum verwandelt, herausdringen sah, mit vielen Ausrufungen seine große Verwunderung anzeigte, und auf die Frage
des Engländers: was ist denn hier sich so sehr zu verwundern? antwortete: Ich wundere mich auch nicht darüber, daß es
herausgeht, sondern wie ihrs habt hereinkriegen können; so lachen wir, und es macht uns eine herzliche Lust: nicht, weil wir uns
etwa klüger finden als diesen Unwissenden, oder sonst über etwas, was uns der Verstand hierin Wohlgefälliges bemerken ließe;
sondern unsre Erwartung war gespannt, und verschwindet plötzlich in nichts. Oder wenn der Erbe eines reichen Verwandten
diesem sein Leichenbegängnis recht feierlich veranstalten will, aber klagt, daß es ihm hiermit nicht recht gelingen wolle; denn (sagt
er): je mehr ich meinen Trauerleuten Geld gebe betrübt auszusehen, desto lustiger sehen sie aus; so lachen wir laut, und der
Grund liegt darin, daß eine Erwartung sich plötzlich in nichts verwandelt. Man muß wohl bemerken: daß sie sich nicht in das
positive Gegenteil eines erwarteten Gegenstandes – denn das ist immer etwas, und kann oft betrüben –, sondern in nichts
verwandeln müsse. Denn wenn jemand uns mit der Erzählung einer Geschichte große Erwartung erregt, und wir beim Schlusse
die Unwahrheit derselben sofort einsehen, so macht es uns Mißfallen; wie z. B. die von Leuten, welche vor großem Gram in einer
Nacht graue Haare bekommen haben sollen. Dagegen, wenn auf eine dergleichen Erzählung zur Erwiderung, ein anderer Schalk
sehr umständlich den Gram eines Kaufmanns erzählt, der, aus Indien mit allem seinem Vermögen in Waren nach Europa
zurückkehrend, in einem schweren Sturm alles über Bord zu werfen genötigt wurde, und sich dermaßen grämte, daß ihm darüber,
in derselben Nacht die Perücke grau ward; so lachen wir, und es macht uns Vergnügen, weil wir unsern eignen Mißgriff nach
einem für uns übrigens gleichgültigen Gegenstande, oder vielmehr unsere verfolgte Idee, wie einen Ball, noch eine Zeitlang hinund herschlagen, indem wir bloß gemeint sind ihn zu greifen und festzuhalten. Es ist hier nicht die Abfertigung eines Lügners oder
Dummkopfs, welche das Vergnügen erweckt; denn auch für sich würde die letztere mit angenommenem Ernst erzählte Geschichte
eine Gesellschaft in ein helles Lachen versetzen; und jenes wäre gewöhnlichermaßen auch der Aufmerksamkeit nicht wert.
Zurück in die Zukunft: vom Witzeerzähler Kant zum heutigen Witzeerzähler an sich, dem dreisten, unvorsichtigen, zwanghaften,
der sich oft auf schlüpfriges Parkett begibt. Für ihn wiederhole ich einen Witz, der eigentlich nur erzählt werden kann und der den
Titel für dieses Buch liefert, Das find ich aber gar nicht komisch:
In einer Abendgesellschaft erzählt ein junger Mann einen Witz über einen Elefanten, der durstig zum Nil gelangt und endlich
trinken kann, nachdem er lange durch die Hitze gelaufen ist. Er tunkt seinen Rüssel ins Wasser, will sich das Wasser in den Mund
schaufeln, da taucht ein Krokodil auf, schnappt nach dem Rüssel, beißt ihn ab und lacht höhnisch und laut: „Ha ha haha!“
Da sagt der arme Elefant ohne Rüssel: „Daf find iff aber gar nift komiff!“
Als er kurz vor der Pointe ist, fällt dem unbedachten jungen Mann fast zu spät, aber siedend heiß ein: Um Gotteswillen! Der
Gastgeber hat denselben Sprachfehler wie der Elefant im Witz, nachdem ihm der Rüssel abgebissen wurde.
Er ist also schon an der Stelle, als das Krokodil den Rüssel abgebissen hat und höhnisch lacht. Wie den rüssellosen Sprachfehler
nicht wiederholen und doch noch die Kurve kriegen? Und so erzählt er: „Das Krokodil lacht ‚Ha ha ha!‘, und der Elefant ohne
Rüssel läuft und läuft und läuft.“
Darauf der Gastgeber mit dem Sprachfehler: „Daf find iff aber gar nift komiff.“
Das ist ein Witz über das Witzeerzählen, über das Erzählen von Witzen par excellence. Den Witz, den ich hier noch einmal
erzähle, weil er meinem Buch den Titel gegeben hat, ist ein Witz, der sich schriftlich nur sehr schwer wiedergeben lässt. Erzählen
Sie ihn laut! Und verziehen Sie Ihre Lippen so, als hätten Sie keinen Rüssel mehr, indem Sie Zähne und Lippen nicht benutzen.
Also! Geht doch! Alfo! Geht doff!
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AUS GEGEBENEM ANLASS: ALT UND ÄLTER
Man wird, wenn man alt wird, immer älter. In Sprüngen, in Schüben, die einen wie ein Unwetter überfallen. Oder die einen
niederdrücken wollen und das auch schaffen, langsamer oder schneller, weil man, wie der Volksmund sagt („Volksmund“, auch so
ein veraltetes Wort, längst aus dem Gebrauch gekommen und genommen), immer mehr Jahre auf dem Buckel hat.
Merkwürdigerweise ist der Komparativ von alt, also älter, meist jünger als älter, erst recht als alt. Ein „älterer Herr“ ist jünger als ein
„alter Mann“, das hat auch mit der sozialen Konnotation zu tun. Ein „älterer Herr“, das ist einer, der mit bedächtigen Schritten im
Kurpark beim Kurkonzert entlangschlendert, das Stöckchen mehr zur Zier in der Hand als zur Hilfe. Ein „alter Mann“, das ist meist
jemand, dem man es ansieht, dass er sich ein Leben lang krummgemacht hat, um seinen Lebensunterhalt unter Aufbietung seiner
Kräfte zu erwerben, wobei er dem Verschleiß, der Abnutzung unterworfen war. Ich erinnere mich an einen angeheirateten
Großonkel, Gerbermeister in Metzingen, der von der jahrzehntelangen Arbeit an den Laugebecken mit der Lohgerbe, die
penetrant stank und in der er die schweren Häute mit Stöcken und Stangen bewegt und herausgehoben hatte, klein und gichtig
geworden war und in seinen späten Jahren mit Ächzen und humpelnden Schritten durch sein Haus schlich, den kurz geschorenen
Kopf ab und zu an den grauweißen Stoppeln kratzend. Er hatte nur noch völlig abgenutzte Zahnstummel im Mund, und es hatte
ihm die Hände gekrümmt und den Körper schief verzogen. Er wirkte wunderbar knorrig und sprach, wenn er sich unbeobachtet
fühlte, mit sich allein, brummend, schwer verständlich, nach innen artikulierend. Er war zehn Jahre jünger, als ich es heute bin,
und wirkt in meiner Erinnerung zehn Jahre älter. Im Übrigen war er in seinen Sinnesäußerungen viel vitaler als mancher
Stöckchen schwingende ältere Herr.
Der Stöckchen schwingende ältere Herr im Park und der durch sein Haus humpelnde alte Mann, das sind zugegebenermaßen
Vignetten, wie sie ein Achtzigjähriger in seine Erinnerung schneidet, sie stammen alle noch aus einer Zeit, die längst nicht mehr
die unsere ist, eher an Bad Gastein oder an Karlsbad erinnernd. Fahre ich heute durch Vorstädte, dann sehe ich, wenn es dunkelt,
fast überall Wohnheime und in der Nähe Kliniken mit neonbeleuchteten Zähnen mit Wurzeln als Werbe- und Wahrzeichen, die die
totale Stille und Menschenleere erleuchten. Den mümmelnden Greis gibt es nicht mehr. Er trägt Implantate. Nicht nur im Mund,
auch in Hüfte und Knie. Oder er hat einen festsitzenden Zahnersatz im Mund, was mich prompt zu meinem ersten Kalauerwitz
führt.
Was entsteht, wenn ein Gebiss in einen Teller Spaghetti fällt?
Antwort: Zahnpasta.
Dieser Kalauer zeigt, dass man an allen Witzen ihre Entstehungszeit ablesen kann, ja, dass Witze ein Zeitgradmesser für ihre
Entstehungszeit und ihr Verfallsdatum sind. An ihnen lässt sich eine Archäologie der Zeitläufe ablesen. Die Menschen müssen mit
der italienischen Küche lange vertraut sein, also längst wissen, was Pasta ist. Und sie müssen, das ist noch länger her, über
Zahnersatz verfügen. Von Helmut Schmidt, dem kernig bissigen Altkanzler, schrieb ein Sportreporter als „Schmidt-Schnauze“, die
noch über Biss und Macht verfügte – und noch nicht nur das gern befragte Altersorakel der Nation war. Kanzler Schmidt grüßte
mit seinen Zähnen. Gemeint war das bleckende Lächeln der Dritten.
Alt, älter, am ältesten. Früher, als die Menschen noch nicht alt wurden, hatte man einen Riesenrespekt vor den Alten, jedenfalls im
Regelfall, bevor Freud entdeckt hatte, dass die Urhorde sich in einem Aufstand der Jungen durch Morden und Totschlag der Alten
entledigte. In frühkulturellen Zeiten hat sich das als Ödipus-Mythos niedergeschlagen, und in jedem Adoleszenten entdeckte der
Vater der Psychoanalyse den Ödipus-Komplex.
Als die Alten in Wahrheit noch nicht alt wurden, machte man die Ältesten, also den Superlativ des Alten, zu Häuptlingen: zum
Dorfältesten, zum Stammesältesten. Das spukt noch im Ältestenrat des Bundestages als Bezeichnung nach. Und in der Tatsache,
dass nach Neuwahlen, wenn sich das Parlament neu konstituiert, der älteste Parlamentarier die erste Sitzung leitet, in der dann
der Bundestagspräsident gewählt wird, der nicht mehr der Älteste sein muss und meist auch nicht ist. Alterspräsident des
Bundestages, das ist eine kurze Ehre.
Andere Institutionen wie die Senate diverser Parlamente und Gerichtshöfe lassen wenigstens noch im lateinischen Namen (ein
Senat setzt sich aus Senioren zusammen) diese Altersstufung anklingen. Außerhalb dieser parlamentarischen Ordnungen ist das
Adjektiv „alt“ eigentlich nur noch despektierlich gemeint: „alter Esel“, „alter Sack“, altmodisch spöttisch „alter Herr“ (der aus der
Hierarchie der Studentenverbindungen kommt) oder gar „altes Haus“, was so alt klingt wie „bemoostes Haupt“, das seinen Namen
wohl den Bronzedenkmälern verdankt, die sich mit Grünspan bedecken, also verwittern, wenn sie lange dem Altern in der Luft
ausgesetzt sind, und so an bemooste alte Steine erinnern. Dass man im
Slang noch bei Jugendbanden „Alter“ sagt, ist wohl noch eine Reminiszenz an die (türkische) Urhorde. „He, Alter“ hat etwas
gleichzeitig Bewunderndes und Spöttisches.
Im Alten Testament der Bibel wurden die Menschen in der Legende angeblich uralt, mehrere Hundert Jahre. Darin gibt es die
Geschichte von Lot und seinen Töchtern, die mangels anderer junger Männer, die alle bei Sodom und Gomorrha untergegangen
waren, ihren alten Vater zum Beischlaf nötigten, um der Menschheit das Weiterleben zu garantieren.
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Die mehrhundertjährigen Methusaleme sind wahnwitzige Übertreibungen – zu viel des Guten, wahrlich. Das sogenannte biblische
Alter, das selten erreicht wurde, währte siebzig Jahre und, wenn es hochkommt, achtzig. Erreichte man das einigermaßen gesund,
bekam man als bemoostes Haupt den Ehrennamen „rüstiger Greis“ – was sich zugegebenermaßen lächerlich anhört, wie der
„Jüngling“ für den jungen Mann verrostet klingt oder gar die „Maid“, die die Jungfrau und Jungfer ersetzte, weil mit ihr der Zustand
der Unschuld vor der Defloration gemeint war. Das alles hat in der Gegenwart wenig oder gar nicht zu suchen – es sei denn, man
schaut auf die enthemmte Soldateska afrikanischer Muslime, die einfach in der Schule junge Mädchen raubten. Ich möchte nicht
verhehlen, dass dies sich mit einem hehren römischen Mythos trifft – dem Raub der Sabinerinnen. Aber das ist römische
Geschichte und Kunstgeschichte seit der Renaissance und hatte in der Gegenwart wenig zu suchen und wenig zu bedeuten. Bis
wir es auf einmal in der Tagesschau als krude religiöse Barbarei wiedersehen müssen.
Wenn wir Alten übrigens beim Einkaufen „junger Mann“ genannt werden, meist von jüngeren Verkäuferinnen, dann ist das die pure
Schmeichelei, die aber außer einer spöttischen Ironie keine Wahrheit hat, außer vielleicht der: „Sie halten sich noch für jung, also
gut, dann will ich Ihnen den Gefallen tun, Sie so zu nennen, aber Sie wissen schon, dass ich das keinesfalls ernst nehme. Im
Theaterrollenfach wären Sie längst der komische Alte, der Kauz, der Hagestolz, eine Commedia dell' Arte-Figur.“
Da wir inzwischen immer älter werden, gibt es dafür natürlich auch eine passende Geschichte.
In der sagt ein Achtzigjähriger zu einem anderen Achtzigjährigen: „Sag mal, wie hast du es geschafft, das bildschöne 22-jährige
Model zur Heirat rumzukriegen?“
Antwortet der andere: „Indem ich ihr vorgelogen habe, ich sei Neunzig!“
Das ist, um mit Wien zu sprechen, eine „mörtelmäßige“ Geschichte, die auf den Opernball gehört, zum ewig jungen Playboy Hugh
Hefner oder dem New York-Bebauer Donald Trump. Mit anderen Worten: Den Achtzigjährigen darf man sich als betucht
vorstellen. Da steht er seiner Angeheirateten, wenn er neunzig ist, nicht mehr lange im Wege. Es ist die abstruse Sehnsucht nach
der ewig währenden Liebe und unerlöschlicher Lendenkraft.
Archäologie des Alters im Witz: 1986 lernte ich Billy Wilder kennen. Und bei einem der langen Gespräche, die wir erst über
Wochen, später über Monate führten, erzählte er mir eine Geschichte aus der Zeit, als er noch Drehbuchautor in Hollywood war.
1986 war Wilder achtzig Jahre alt. Drehbuchautor war er in den späten Dreißigern und frühen Vierzigern. 1939 schrieb er an
Lubitschs unsterblicher Komödie Ninotschka mit, in der „die Garbo lacht“ und in „Europa die Lichter ausgingen“. Nun also die
Geschichte. Sie handelt davon, dass im Alter die Würde des Altwerdenden bedroht ist, und stemmt sich mit sardonischem Grimm
dagegen. Wie sich Alte bekleckern, wie sie vergesslich werden, ja, wie ihre Gebrechen und Schwächen sich nicht mehr
kontrollieren lassen.
Also, Wilder war zum Hollywood-Mogul Zanuck geladen, der damals um die achtzig war. Wilder erzählte, dass er eine junge
Assistentin bei sich hatte und als Zanuck ihm öffnete, bemerkte er, dass dessen Hose offen stand. Um dem alten Mann
gegenüber der jungen Frau eine Peinlichkeit zu ersparen, raunte er von Mann zu Mann dem Alten zu: „Verzeihung, Mr. Zanuck,
your fly is open, Ihr Hosenstall.“
Der alte Zanuck reagierte laut und zornig. Er herrschte Billy Wilder vor der jungen Frau an: „Sie glauben wohl, ich wäre alt, weil ich
meine Hose nach dem Pinkeln nicht mehr schließe. Aber alt, wirklich alt, bin ich erst, wenn ich sie vor dem Pinkeln nicht mehr
öffne.“
Wie gesagt, das erzählte ein Achtzigjähriger einem Mittdreißiger (Zanuck-Wilder), der mir nun seine Geschichte erzählte, als er
selbst achtzig war und ich dreißig Jahre jünger. Und jetzt, wo ich sie hier wieder erzähle, ist sie sozusagen von einem
Achtzigjährigen über einen Achtzigjährigen erzählt, der selbst über einen Achtzigjährigen erzählte. Also (falsch gerechnet, aber
richtig gedacht): eine bleibende, sich ewig wiederholende Geschichte von 80+80+80. Ist gleich 240.
Nun ist das keine umwerfende Geschichte, aber doch eine wahre, wütende, über den Zerfall, den das Alter jedem, der alt wird,
zumutet. Und ich bin die einzige Quelle, die sie überliefern kann. Das gilt auch für die folgende über einen späten Besuch bei
Marcel Reich-Ranicki. Er war ein großartiger alter Mann, der zu einer zornigen Wahrheit, auch dem eigenen Alter gegenüber,
neigte. Er schloss keinen faulen Frieden mit dem Zustand, von dem Philip Roth sagte, er sei ein Massaker. Philip Roth hat so weit
vor ihm kapituliert, dass er aufgehört hat zu schreiben.
Nun also zu einem meiner letzten Besuche, wenn nicht dem letzten Besuch bei Marcel Reich-Ranicki. Ich fragte ihn also: „Wie
geht es dir?“ Und er antwortete schlicht und einfach: „Schlecht!“ Er sagte es laut, so als wolle er keine Beschönigungen mehr
machen. „Schlecht!“ Und ich versuchte, mich in eine besänftigende, tröstende Formel zu retten, indem ich sagte: „Du siehst aber
gut aus!“ Worauf er ungnädig antwortete: „Im Gesicht fehlt mir ja auch nichts!“
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1965 bis 2015. Deutschland - Israel
Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor
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Kron, Norbert + Shalev, Amichai (Hrsg.): Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen. Israelische und deutsche
Autoren schreiben über das andere Land (Anthologie) | S. Fischer
ET: 5.3.2015 | ISBN: 978-3-10-002391-9 | Hardcover | 18,99 €
Vor 50 Jahren nahmen die Staaten Israel und Deutschland ihre diplomatischen Beziehungen auf. Ging es früher
vorrangig um Vergangenheitsbewältigung, um die Auseinandersetzung mit historischer oder familiärer Schuld, so
sind heute auch freundschaftliche Begegnungen und kulturelle Verbundenheit Normalität. Politik, Literatur, Party
– wie erlebt dies die „dritte Generation“ vor dem Hintergrund der Geschichte? Davon erzählen die hier versammelten Erzählungen aus beiden Ländern. Das Buch erscheint parallel in einer hebräischen Ausgabe. Mit Erzählungen von Yiftach Aloni, Yiftach Ashkenazy, Yair Asulin, Sarah Blau, Anat Einhar, Liat Elkayam, Idit Elnathan,
Asaf Gavron, Galit Dahan Karlibach, Amichai Shalev sowie Julia Franck, Norbert Kron, Marko Martin, Eva
Menasse, Rainer Merkel, Albert Ostermaier, Moritz Rinke, Jochen Schmidt und Sarah Stricker.
Norbert Kron, geboren 1965, lebt als Schriftsteller und Journalist in Berlin.
Amichai Shalev, geboren 1973, lebt als Schriftsteller in Herzliya.
Vorwort der Herausgeber
Immer sind es die Schicksale einzelner Menschen, die die faszinierendsten Geschichten erzählen, Geschichten, die sich in
Büchern oft wie erfunden anhören. Wie diese zum Beispiel, die sich vor ein paar Jahren ereignete. Sie handelt von einem Mann,
der zu einem der größten Stars auf Youtube avancierte, zu einer Art Popstar, der mit seinem Tanz Millionen von Usern begeisterte
und verstörte, und das im Alter von 90 Jahren. Adolek Kohn war nämlich nach Auschwitz, Theresienstadt und zu anderen
ehemaligen Konzentrationslagern gefahren, um dort vor den Toren zu Gloria Gaynours weltberühmten Dancefloorhit ‚I will survive‘
zu tanzen, zusammen mit seiner Familie, mit seiner Tochter und drei Enkelkindern. Zuerst unbeholfen, fast täppisch, dann sich zu
fröhlicher Lebenslust steigernd, sieht man den alten Herrn im Video dort vor dem Tor mit der Aufschrift ‚Arbeit macht frei‘ tanzen
oder den Kopf zu den Diskorhythmen aus einem der ausgestellten Güterwaggons stecken. Ein Tabubruch, natürlich, eine
aufwühlende Provokation. Aber Adolek Kohn durfte das. Er ist selbst einer der Überlebenden, wurde als junger Mann mit seiner
Mutter nach Auschwitz deportiert, wo diese an der Rampe selektiert und in die Gaskammer geschickt wurde, während er selbst
Glück hatte und im Arbeitslager überlebte. Oder ging auch er damit zu weit?
Die erhitzte Diskussion wurde in den User-Kommentaren des Videos, das seine Tochter, die Künstlerin Jane Korman, als Video
Art Work initiiert hatte, zigtausendfach mit großen Emotionen geführt. Der Tanz des alten Mannes und seiner Familie beschäftigte
die jüdischen Gremien und die Feuilletons, in Israel, Amerika, Deutschland. Was die einen als Geschmacklosigkeit gegenüber den
Opfern empfanden, nannte der (sonst nicht um scharfe Worte verlegene) Berliner Publizist Henryk M. Broder „eines der größten
Kunstwerke zur Geschichte des Holocaust". Adolek Kohn selbst war völlig überrumpelt von der medialen Wirkung seines Auftritts.
Er, der nach der Befreiung der Lager zu Fuß von Auschwitz nach Lodz zurückgegangen war und auf diesem Marsch seine Frau
kennenlernte, die er drei Wochen später heiratete, war sein ganzes Leben lang ein begeisterter Tänzer. 1949 siedelte er mit seiner
Frau nach Melbourne um, wo er ein kleines Geschäft eröffnete und eine Familie gründete. Bis heute, mittlerweile 93, lebt er dort
mit seiner Frau. Zu allen Gelegenheiten wurden bei ihm zu Hause Maskenbälle veranstaltet, wurde ausgiebig getanzt, ein immer
neuer Ausdruck der Freude, am Leben zu sein. In einem Interview für das deutsche Fernsehmagazin ‚titel thesen temperamente‘
erklärte er das Tanzen in Auschwitz wie folgt: „Wenn mir damals im Lager jemand gesagt hätte, dass ich sechzig Jahre später
hierherkommen würde, um mit meinen Enkeln hier zu tanzen – ich hätte ihm gesagt, er gehört in eine Irrenanstalt. Jetzt schrieb
mir jemand in einem Brief, dass ich den Krieg gegen Hitler gewonnen hätte. Wir tanzen, weil wir eine neue Generation
hervorgebracht haben."
Adolek Kohns Enkel leben in Israel und in den USA. Die 26-jährige Yasmin zum Beispiel sagte im Gespräch: „Mir ging es darum,
diese Reise mit meinem Großvater zu machen. Wir waren noch nie zusammen in Auschwitz. Dabei redet er über nichts anderes
als den Krieg." Für ihre Generation, die dritte Generation, ist der Holocaust in eine weite, abstrakte Ferne gerückt. Bald wird man
darüber nur noch aus Bildern, Dokumenten und gefilmten Interviews erfahren, nicht mehr von den Zeitzeugen selbst. Dadurch
dass der Holocaust in die Ferne rückt, hat sich freilich auch das Verhältnis der Menschen untereinander verändert. In den zwei,
drei Jahrzehnten, in denen diese dritte Generation erwachsen wurde, hat sich nicht nur auf politischer Ebene eine andere
Beziehung zwischen Israel und Deutschland herausgebildet, auch der Blick der Israelis auf die Deutschen und umgekehrt hat sich
verändert.
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Während die zweite Generation oft noch einen beschwerten distanzierten Dialog führte, in dem es immer auch um die Wahrung
einer diplomatischen Etikette ging, ist unter den Zwanzig- bis Vierzigjährigen eine neue Selbstverständlichkeit im Umgang
eingekehrt, eine neue israelisch-deutsche Lässigkeit.
Das ist schon eine Revolution, wenn man bedenkt, wie schwer es war, nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt wieder
diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Es dauerte zwanzig Jahre, bis 1965, bis dieser Schritt am 12. Mai vor fünfzig Jahren
auf offizieller Ebene besiegelt wurde. Auch danach war Deutschland für Israelis als Reiseland alles andere als beliebt. Juden, die
in Deutschland lebten, mussten sich nicht selten von ihren Angehörigen in Israel oder anderswo die Frage stellen lassen, wie sie
im Land der Täter leben könnten. Deutsche Produkte zu verwenden war sogar noch vielen der heute Vierzigjährigen in der
Kindheit „verboten". Und ein deutsches Fußballnationaltrikot am Strand von Tel Aviv zu tragen – das war selbst für deutsche
Juden, die Israel besuchten, ein No-Go.
Und heute? Heute werden am Frishmann Beach die WM-Spiele der Deutschen auf Großleinwänden übertragen, schauen die Tel
Aviver zusammen mit deutschen Touristen die Spiele nicht selten mit Begeisterung. Heute gilt Berlin, Hitlers Reichshauptstadt und
Ausgangspunkt des Holocaust, als eine der beliebtesten Urlaubsdestinationen für jüdische Touristen, leben in Berlin
zwanzigtausend jüngere Israelis (sehr wahrscheinlich schon mehr), die nicht selten die in der Popkultur so beliebten deutschen
Turnschuhe mit den drei Streifen tragen, allerlei andere Aspekte der lokalen Kultur adaptieren und offen erklären, dass hier ihr
neues Zuhause ist, womit sie des Öfteren in den Medien Wellen schlagen.
Auch Yasmin Korman, die Enkelin von Adolek Kohn, war schon mehrfach in Berlin. Bei jungen Israelis ist diese Reise geradezu
Pflicht, aber nicht weil die Vergangenheit dabei die ausschlaggebende Rolle spielen würde. Es ist die kreative liberale Atmosphäre,
die die jungen Leute anzieht, die günstigen Mieten und das Partyleben, bei dem die Nächte genauso lang und heiß sind wie in Tel
Aviv. Sowenig es im Nightlife von Tel Aviv noch jemandem aufstößt, dass in der Menge der feierwütigen Partypeople junge
Deutsche sind, so oft hört man in Berlins Szenebezirken neben Spanisch oder Englisch Hebräisch. Man trinkt zusammen, man
feiert zusammen, man tanzt zusammen. Ein lebendigerer Ausdruck für eine grenzüberschreitende Veränderung der dritten
Generation, deren Familien die dunkle Geschichte wie ein tiefer schmerzlicher Graben trennte, lässt sich nicht finden.
Doch ist das die vielbeschworene Rückkehr zur „Normalität"? Wird heute, wo die meisten Opfer und Täter tot sind, ein
Schlussstrich gezogen und die Vergangenheit ausgeblendet? Oder finden Erinnerungskultur und Schuldbewusstsein auf einer
anderen, tieferen Ebene statt? Wie ist es wirklich bestellt um das Verhältnis der Israelis und Deutschen der dritten Generation?
Keine Frage, viele Tabus sind gefallen. Alle heute Zwanzig- bis Vierzigjährigen sind mit der globalen Pop- und Massenkultur
aufgewachsen, die eine verbindende Erfahrungsbasis darstellt, ja mehr als das: ein ganzes Baukastensystem der eigenen
Identität. Man hat die gleiche Popmusik zu den gleichen Lebensphasen gehört, man begeistert sich für dieselben amerikanischen
Fernsehserien, man kauft die gleichen internationalen Markenprodukte, benutzt dieselben Internetdienste. So wie unter Europäern
dieser Generation nur noch regionale kulturelle Unterschiede zu bestehen scheinen, scheint die kulturelle Ähnlichkeit auch
zwischen Deutschen und Israelis mittlerweile stärker als die einstige historische Kluft, die die geradezu metaphysische TäterOpfer-Dichotomie für immer und ewig zementiert zu haben schien.
Oder täuscht das? Sind nur die jüngeren Israelis so wild auf ein neues Verhältnis zum anderen Land? Ist das angespannte,
schuldbewusste Gefühl, das jede deutsche Israelreise einst zur Bußfahrt machte, in Deutschland einer neuen Gleichgültigkeit
gewichen, die durch den kritischen Blick auf den Nahostkonflikt kompensiert wird? Oder schwingt die Geschichte des Holocaust in
einer tieferen Parallelrealität mit, während man sich im Nachtleben, in der Kulturszene, am Strand vergnügt? Wie sehr belastet das
ungelöste Palästina-Problem mit den immer wieder aufflammenden Kriegen die Situation? Was denken israelische und deutsche
Schriftsteller der dritten Generation über all das?
Kein anderes Medium ist so geeignet, unter die Oberfläche des neuen Verhältnisses zu schauen wie die Literatur. Wo Feuilletons
und Fernsehsender den israelischen Run auf Berlin als Modephänomen beleuchten, können literarische Texte tiefer dringen,
können Moden hinterfragen und subtilere Erfahrungsmomente zur Sprache bringen. Was ist heute erzählbar (und wie), was vorher
nicht erzählbar war?
Genau diese Frage haben wir israelischen und deutschsprachigen Autoren gestellt und sie gebeten, Texte über ihren Blick auf das
andere Land zu schreiben. Jeder von uns wandte sich dabei in seinem Land an die Autoren, die ihm in der dritten Generation am
interessantesten erschienen, aufgrund unterschiedlicher Stile, ihres Talents für die kurze pointierte Form, ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichte des Dritten Reichs, ihrer Beziehung zum anderen Land. Es war den Autoren dabei freigestellt, welche
Form sie wählen wollten – Erzählungen, literarische Journale, Gedichte, Essayistisches. Das Ergebnis ist so facettenreich und
vielschichtig wie die verschiedenen Familiengeschichten, die auch hinter diesen Autoren stehen.
Alle Texte sind Originalbeiträge. Das Schreiben wurde erschwert durch den Umstand, dass in der entscheidenden Phase der
Arbeit der letzte Gaza-Krieg ausbrach und die Frage, wie sich über das andere Land erzählen lässt, noch verkompliziert hat. Die,
die nun in diesem Band versammelt sind, haben sich dieser komplexen Aufgabe gestellt und ihren Blick auf das Thema Israel–
Deutschland auf höchst persönliche Weise in Worte gefasst.
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Dabei steckt in jeder Geschichte, so persönlich sie auch sein mag, immer die blutige Vergangenheit, jenes schreckliche Loch, in
das man unvermeidlich hineinblicken, jedoch nicht unbedingt hineinfallen muss. Es finden sich viele Ähnlichkeiten bei den Autoren
beider Länder, doch wenn man nur die israelische Seite betrachtet, entdeckt man, dass die Auseinandersetzung mit der
ungeheuren Last der Vergangenheit fast immer über persönliche, intime Beziehungen läuft. Umgekehrt haben wir während
unserer Arbeit erfahren, dass die Israelis keine Verbindung zwischen ihrer gegenwärtigen Situation, dem Nahostkonflikt, und der
größeren Vergangenheit herstellen, wozu die Deutschen sehr wohl neigen. So reicht das Themenspektrum von Liebe und Sex bis
zu Selbsthinterfragung und von der Erinnerung des Holocaust bis zur Reflexion der heutigen politischen Situation.
Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede unmittelbarer zu zeigen, haben wir das Buch in drei Teile eingeteilt. Der erste Teil
versammelt Texte, die in fiktionaler, oft humorvoller Form von realen Annäherungen im Hier und Heute erzählen, von
Begegnungen mit Menschen, die nicht selten Liebhaber sind. Die Autoren, die im zweiten Teil vertreten sind, betrachten ihr
Verhältnis zum anderen Land dagegen aus autobiographischer Perspektive oder verwenden den Gestus des Autobiographischen,
um das Nachdenken eines Ich-Erzählers über Israel und Deutschland zu schildern. Die Geschichten im letzten Teil reizen die
literarischen Mittel schließlich am weitesten aus, hier werden Fiktionen entworfen, die die Realität überzeichnen oder poetisieren,
bis ins Utopische oder Groteske. Natürlich geht es auch in diesem Kapitel oft um den „Paarungstanz" zwischen Israelis
und Deutschen, um das Zusammenfinden und die Annäherung an den anderen, der irgendwie nah und fremd zugleich ist und
gerade deshalb lockt.
Manche dieser Geschichten haben dabei etwas von dem Brückenschlag, der ganz am Beginn dieses Buches stand, als sich die
beiden Herausgeber nämlich bei zwei Fußballspielen ihrer Autorennationalmannschaften kennenlernten. Damals, 2008, hatte die
DFB-Kulturstiftung die israelischen Schriftsteller zu einem Fußballmatch mit anschließendem Symposium nach Berlin eingeladen,
worauf die deutschen Autoren ein halbes Jahr später zum Rückspiel und einer Lesung nach Tel Aviv reisten (in Deutschland
gewannen übrigens die Deutschen und in Israel die Israelis). Beide Herausgeber standen dabei in der Startelf und lernten sich wie
viele ihrer anderen Mitspieler zuerst auf dem Platz und dann im realen Leben kennen.
Mit diesem Sammelband soll es ähnlich sein. Was Israelis und Deutsche in dem Buch über ihre Erfahrungen und Sichtweisen
erzählen, soll bei Lesungen und Diskussionen, die in beiden Ländern begleitend zu den Jubiläumsveranstaltungen zum 50.
Jahrestag der diplomatischen Beziehungen stattfinden, in die Öffentlichkeit getragen werden. Mit anschließender Party, versteht
sich. Von Anfang an war es die Idee, dass dieses Buch zeitgleich in einer deutschen und einer hebräischen Fassung erscheint, in
einem deutschen und einem israelischen Verlag, was die Voraussetzung für mehr als nur einen literarischen Dialog zwischen
beiden Ländern sein soll.
„Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen": Unter diesem Titel möchten wir Lust machen auf reale israelisch-deutsche Begegnungen
auf der Tanzfläche des Lebens.
Norbert Kron/Amichai Shalev
Berlin/Tel Aviv, im Dezember 2014
Viten der Autorinnen und Autoren
Yiftach Aloni wurde 1955 im Kibbuz Gvulot geboren und wuchs dort auf. Er ist Schriftsteller, Lyriker, Publizist, Architekt und
Unternehmer. Außerdem ist er der Begründer des „Block Magazins" und des „Maaboret Literaturmagazins" und produzierte die
TV-Serie „Geschichte aus dem Kino". Er erhielt den Israel Museum Preis und das Britische Konsularstipendium.
Yiftach Ashkenazy, geboren 1980 in Carmiel, lebt heute in Jerusalem. Er ist Schriftsteller und Literaturkritiker bei „Haaretz" und
arbeitet im Yad Vashem Institut. Er veröffentlichte den Roman „Die Geschichte vom Tod meiner Stadt", der 2007 auch auf
Deutsch erschien, und den Erzählungsband „Mein erster Krieg" (deutsch 2008). Er nahm am „Yangiero Projekt" teil und publiziert
immer wieder Kolumnen im deutschen Radio und in deutschen Zeitungen.
Yair Asulin, geboren 1986, ist Schriftsteller und Lyriker. Für seinen ersten Roman „Drive" erhielt er 2012 den Sapir-Preis für den
besten Debütroman sowie die Auszeichnung des Kulturministeriums. 2012 erschien sein Gedichtband „München (Du kannst es
Erinnerung nennen)" sowie sein zweiter Roman „Die Dinge an sich". Er schreibt regelmäßig für „Haaretz" und unterrichtet an
verschiedenen Orten Kreatives Schreiben.
Sarah Blau, geboren 1973, wuchs in einer orthodoxen religiösen Familie in Bnei Brak auf. Ihre Großeltern mütterlicherseits waren
im Konzentrationslager Auschwitz inhaftiert, ihr Großvater väterlicherseits wurde im Konzentrationslager Buchenwald ermordet.
Sie ist Schriftstellerin und veröffentlichte Romane und Theaterstücke. Ein wichtiger Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Rekonstruktion
von jüdischen Symbolen. Sie begründete die Alternativen Holocaustzeremonien in Israel und arbeitete als Lehrerin am Institut für
Holocauststudien.
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Galit Dahan Carlibach, geboren 1981 in Sderot, veröffentlichte die Romane „Ein verschlossener Garten ist meine Schwester,
meine Braut" und „Rand" und erhielt dafür den Prime Minister’s Award für Literatur und das Pardes-Stipendium der
Nationalbibliothek. Für die Jugendphantasie „Arpileya" erhielt sie den Acum- und den Dvora-Omer-Preis. Sie lebt in Jerusalem,
unterrichtet Kreatives Schreiben und arbeitet als Touristenführerin.
Anat Einhar, geboren 1970 in Petach Tikva, lebt als Schriftstellerin, Designerin und Comiczeichnerin in Tel Aviv. Für „Feinde des
Sommers" erhielt sie 2010 sowohl den Sapir-Preis wie auch den Vinner-Preis. Außerdem veröffentlichte sie das Kinderbuch „Der
Elefant reißt aus".
Liat Elkayam, geboren 1975 in Tel Aviv, arbeitet seit dem achtzehnten Lebensjahr als Journalistin. Sie schloss ein Kunststudium
in New York ab und erlangte einen B.A. in Film- und Rechtswissenschaft an der Universität Tel Aviv. Sie lebt in Tel Aviv als Autorin
und Redakteurin von „Haaretz" und unterrichtet außerdem am Sapir College. Sie veröffentlichte mehrere Kurzgeschichten in
Magazinen und Anthologien.
Idit Elnatan, geboren 1970 in Petach Tikva, lebt als Schriftstellerin, Redakteurin und Journalistin in Jaffa. Sie hat einen B.A. in
Englischer Linguistik und Hebräisch und einen M.A. in Kognitiver Sprachwissenschaft. Sie veröffentlichte den Roman „Gegen die
Gebrauchsanweisung " und arbeitet heute beim „National Geographic Magazin".
Assaf Gavron, geboren 1968 in der Nähe von Jerusalem, ist einer der erfolgreichsten jüngeren Autoren Israels und lebt als
Schriftsteller und Übersetzer in Tel Aviv. Er veröffentlichte fünf Romane, die in zehn Sprachen übersetzt wurden, davon ins
Deutsche u. a. „Ein schönes Attentat" (2008), „Auf fremdem Land" (2013). Neben zahlreichen Auszeichnungen, u. a. dem
Bernstein-Preis, dem Prime Minister’s Award sowie dem Prix Courrier International in Frankreich, erhielt er 2010 ein einjähriges
DAAD-Stipendium für Berlin. Derzeit hat er eine Gastprofessur in den USA.
Katharina Hacker, geboren 1967 in Frankfurt am Main, studierte ab 1986 Philosophie, Geschichte und Judaistik an der
Universität Freiburg. 1990 wechselte sie an die Hebräische Universität Jerusalem. Seit 1996 lebt sie als freie Autorin in Berlin.
1997 debütierte sie mit „Tel Aviv. Eine Stadterzählung". Für ihren Roman „Die Habenichtse" erhielt sie 2006 den Deutschen
Buchpreis. Zuletzt erschien von ihr „Eine Dorfgeschichte".
Norbert Kron, geboren 1965, lebt als Schriftsteller und ARD-Fernsehjournalist in Berlin und reist regelmäßig nach Israel. Viele
Veröffentlichungen, u. a. die Romane „Autopilot" (2002), „Der Begleiter" (2008). Seine TV-Beiträge, u. a. in „titel thesen
temperamente", behandeln oft Themen der deutschen Geschichte. Er erhielt zahlreiche Stipendien (u. a. in Lion Feuchtwangers
Villa Aurora, Los Angeles) sowie das Stipendium des Deutschen Literaturfonds für seinen in Arbeit befindlichen Israel-Roman.
Marko Martin, geboren 1970, lebt, sofern er sich nicht gerade in Tel Aviv aufhält, als freier Schriftsteller in Berlin. 2012 erschien
sein Band „Kosmos Tel Aviv" mit literarischen Porträts der Stadt, 2014 die Essays „Treffpunkt ’89. Von der Gegenwart einer
Epochenzäsur". Zuletzt erschienen in der Anderen Bibliothek die Erzählbände „Schlafende Hunde" und „Die Nacht von San
Salvador".
Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin beim österreichischen Nachrichtenmagazin „Profil". Als Redakteurin
der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" begleitete sie den Prozess um den Holocaustleugner David Irving in London. Nach
Aufenthalten in Prag und Wien lebt sie seit 2003 als Publizistin und Schriftstellerin in Berlin. Ihr Debütroman „Vienna" sowie ihr
Erzählungsband „Lässliche Todsünden" waren große Erfolge. Für ihren Roman „Quasikristalle " wurde sie mit dem Gerty-SpiesPreis und dem Heinrich-Böll-Preis ausgezeichnet. 2015 ist sie Stipendiatin der Villa Massimo in Rom.
Rainer Merkel, geboren 1964 in Köln, lebt in Berlin. Er veröffentlichte mehrere Romane und lebte u. a. in den USA, in Irland und
in Liberia, wo er ein Jahr als Psychologe für eine NGO arbeitete. Dies inspirierte seine literarischen Reportagen „Das Unglück der
Anderen" (2012) und seinen Roman „Bo" (2013). Nach einem Stipendium in Beirut besuchte er mehrfach den Libanon und
bereiste zuletzt Israel und das Westjordanland.
Albert Ostermaier, 1967 geboren, lebt in München. Seine Theaterstücke wurden von namhaften Regisseuren inszeniert. 2013
erschien sein jüngster Roman „Seine Zeit zu sterben", 2014 die Lyrikbände „Flügelwechsel – Fußballoden" und „Außer mir". Er
erhielt viele Auszeichnungen, u. a. den Kleist-Preis, den Bertolt-Brecht-Preis sowie den „Welt"-Literaturpreis für sein literarisches
Gesamtwerk. Seit 2010 ist er mit der Schriftstellerin Zeruya Shalev befreundet. Für die Nibelungenfestspiele 2015 in Worms
verpflichtete ihn Nico Hofmann als Autor.
Moritz Rinke, 1967 geboren, zählt zu den erfolgreichsten Dramatikern Deutschlands. Seine Stücke wurden mehrfach
ausgezeichnet und verfilmt (u. a. „Republik Vineta"). „September", seine erste Filmarbeit, bei der er auch als Schauspieler
debütierte, wurde 2003 zu den Filmfestspielen nach Cannes eingeladen. 2010 erschien sein erster Roman-Bestseller „Der Mann,
der durch das Jahrhundert fiel". Sein neuestes Stück „Wir lieben und wissen nichts" wird an über 40 Bühnen national und
international gespielt.
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Jochen Schmidt wurde 1970 in Ost-Berlin geboren, wo er immer noch lebt. Er studierte Romanistik in Berlin und Brest. 1999
gründete er die Leseshow „Chaussee der Enthusiasten", bei der er seitdem wöchentlich auftritt. Wichtige Veröffentlichungen
waren „Schmidt liest Proust", „Meine wichtigsten Körperfunktionen", „Gebrauchsanweisung für Rumänien", „Schneckenmühle".
2004 erhielt er den Förderpreis zum Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.
Amichai Shalev, geboren 1973 in Holon, lebt als Schriftsteller, Lektor, Herausgeber und Kritiker in Herzliya. Er veröffentlichte die
Romane „Tage des Pop", „Die Übergeschnappten", „Großes Mädchen" sowie den Essay „Über Subversion" und gab mehrere
Anthologien heraus. Er arbeitet als Verlagslektor beim Am Oved Verlag, unterrichtet Kreatives Schreiben an verschiedenen
Universitäten und erhielt 2012 den Prime Minister’s Award für Literatur.
Sarah Stricker, geboren 1980 in Speyer, studierte deutsche, französische und englische Literaturwissenschaften und besuchte
die Deutsche Journalistenschule in München. Nach Jahren als Redakteurin (u. a. für „Vanity Fair") verliebte sie sich 2009 während
eines Israel-Aufenthalts in das Land und lebt seither in Tel Aviv, wo sie für deutsche und israelische Medien schreibt. 2013
erschien ihr Roman „Fünf Kopeken", für den sie unter anderem den Mara-Cassens-Preis erhielt.
© S. Fischer Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten
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Lustiger, Gila: Die Schuld der anderen | Berlin Verlag | ET: 19. Januar 2015
ISBN: 978-3-8270-1227-2 | Gebunden | 496 Seiten | 22,99 | Auch als E-Book erhältlich
Ein Jahrhundertsommer in Frankreich, ein Mordfall, dessen Lösung viele Fragen offen lässt und ein hartnäckiger
Journalist, der den Zweifel zum Prinzip erhebt. Gila Lustiger entwirft ein Bild der Grande Nation, das Land und
Leute lebendig werden lässt und präsentiert einen der empörendsten Wirtschaftsskandale Frankreichs in einem
fesselnden Gesellschaftsroman. Mehr als zehn Zeilen wollte Marc Rappaport einem siebenundzwanzig Jahre
zurückliegenden Prostituiertenmord, der jetzt durch DNA-Abgleich gelöst sein soll, nicht widmen. Und doch will er
mehr über die Geschichte der jungen Frau erfahren, die mit 18 Jahren aus der Enge ihrer Industriekleinstadt nach
Paris floh, um zu studieren, und dort in die Prostitution schlitterte. Dabei stößt er bald auf einen Skandal von
schockierendem Ausmaß, der die unlösbaren Verstrickungen von Wirtschaft, Geld und Politik durchscheinen
lassen. Was als klassische Ermittlungsgeschichte beginnt, entpuppt sich bald als ein atmosphärisch dichter und
mit Leichtigkeit erzählter Gesellschaftsroman über ein ganzes Land und unsere Gegenwart.
Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Germanistik und Komparatistik an der
Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1987 lebt sie als freie Autorin in Paris. Ihr erster Roman, „Die
Bestandsaufnahme“, erschien 1995, zwei Jahre später „Aus einer schönen Welt“. Mit dem Familienroman über
die Geschichte der europäischen Juden „So sind wir“ stand sie auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.
Zuletzt erschien ihr Roman „Woran denkst Du jetzt“ (2011).
"Kam endlich eine Zeit, wo alles, was die Menschen bisher als unveräußerlich betrachtet hatten, Gegenstand des Austausches,
des Schachers, veräußert wurde. Es ist dies die Zeit, wo selbst Dinge, die bis dahin mitgeteilt wurden, aber nie ausgetauscht,
gegeben, aber nie verkauft, erworben, aber nie gekauft: Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen etc., wo mit einem Wort
alles Sache des Handels wurde." Karl Marx
1.
Es hatte ununterbrochen geregnet, doch schon in den frühen Morgenstunden war sämtliche Feuchtigkeit wieder verdunstet. Paris,
für Sonne geradezu erschaffen, strahlte unter einem makellos blauen Himmel. Das Licht tanzte auf dem Fluss, während ein Boot
voller träger, selbstvergessener Touristen vorbeizog und unter einer Brücke hindurchglitt. Die Ufermauern waren wie weiß
gewaschen. Überhaupt schien dieses Vormittagslicht alle Farben zu schlucken. Nur noch hell, dunkel, Weiß, Ocker, Blau. Und
dort, bei den akkurat gepflanzten Bäumen neben der Mauer des Seineufers, ein paar Flecken Grün.
Marc ließ den Blick zum Quai weiterschweifen. Autos, Lieferwagen, Busse, Motorradfahrer: Ungeduld, wie immer. Noch war der
Verkehr fast flüssig und dennoch war das Geräusch, das die Reifen auf dem Pflaster der Uferstraße machten, so ohrenbetäubend,
dass Pierre, der neben ihm schritt, sein Telefongespräch mit Simone mehrmals unterbrechen musste, um auf das Rot für die
Autofahrer zu warten. Er hörte, wie Pierre seine Sekretärin damit beauftragte, einen jungen Journalisten namens Stan zum Palais
Bourbon, dem Sitz der Assemblée nationale, zu schicken, weil dort Landwirte demonstrierten. Natürlich hätte Pierre den
zuständigen Redakteur auch direkt anrufen können, aber alles lief beharrlich über Simone, die, obwohl erst Ende zwanzig, eine Art
Mutterrolle für ihn übernommen hatte.
Ein roter Touristenbus füllte aus ihrer Perspektive die ganze Spannweite der Arkade des Louvre aus und rollte, als die Ampel auf
Grün umsprang, gemächlich an ihnen vorbei. Ein paar helle Gesichter mit überdimensionierten Sonnenbrillen wandten sich ihnen
vom offenen Oberdeck aus zu, musterten sie, als seien sie beide eine weitere Attraktion dieser an Attraktionen so grenzenlosen
Stadt. Ein Kind winkte, und er winkte zurück, während Pierre seiner Sekretärin auseinander-setzte, warum er den Landwirten, die
nun schon zum vierten Mal in diesem Jahr demonstrierten und gerade Obst und Kuhmist vor dem Parlament auszuschütten
gedachten, höchstens zehn Zeilen zukommen lassen wollte.
"In den Acht-Uhr-Nachrichten kriegen die so kurz vor den Sommerferien höchstens dreißig Sekunden", sagte Pierre, und er, Marc,
wusste, dass er sich nicht vor Simone, sondern wegen seines schlechten Gewissens zu rechtfertigen versuchte und dass die
geduldige, die freundliche Simone, schon das Nötige erwidern würde, damit Pierre, sein Chefredakteur, wohlgelaunt den
Nachmittag in Angriff nehmen konnte. Der Bus rumpelte über die Brücke und bog rechts ab zum Musée d’Orsay. Ein Inder oder
Pakistani, der im Schatten der Arkaden sein Geschäft aufgebaut hatte, bestehend aus einem mit Eiswürfeln und Getränken
gefüllten Kübel, streckte ihm eine Wasserflasche zu horrenden fünf Euro entgegen. Marc kannte ihn. Er war ihm schon mehrmals
begegnet. Im Herbst verkaufte er vor dem Louvre Regenschirme Made in China, und abends streifte er durch die umliegenden
Terrassen und versuchte, verliebt dreinblickenden Paaren Rosen aus Holland anzudrehen. Marc winkte ab, und der Mann mit den
großen Zähnen und dem pechschwarzen Haar legte seine Wasserflasche wieder in den Kübel und hielt nach Touristen Ausschau.
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Es war kurz vor halb eins. Ein jeder eilte seinem Ziel zu, nur er, Marc Rappaport, schlenderte über eine Brücke und nahm sich Zeit
zu schauen. Es war kurz vor halb eins, und ihm gehörten die Brücke, die Bäume, das Ufer und dieses Trottoir, auf dem die Sonne
jeden Schatten verdrängte und wo alles im gleißenden Mittagslicht miteinander verschmolz.
Eigentlich hatten sie wie jeden Dienstag bei Lipp essen wollen, aber die CRS hatten in Erwartung der Kuhmist-Demo den
gesamten Boulevard St. Germain abgesperrt. Marc hatte vierzehn Einsatzfahrzeuge gezählt. Aus den Augenwinkeln hatte er
verfolgt, wie die Polizisten vom Viertel Besitz nahmen, aus den Bussen stiegen, sich mit Helm, Polycarbonat-Schildern und
Schlagstöcken bewehrt aufbauten, so die Straße verriegelten und auf den Einsatzbefehl warteten, alle mit dieser unverkennbaren
Spannung im Gesicht. Beide hassten sie die Männer in Dunkelblau und hatten kurzweg beschlossen, in einen anderen Stadtteil
auszuweichen. Sie hassten die Art, wie sie sich aufstellten, sich Kommandos zuriefen, mit-einander redeten, dieses ganze
militärische, durchtrainierte Gehabe. Sie sahen sie, wie nur ehemalige Sympathisanten der autonomen Szene sie sehen konnten,
die sich in ihrer Jugend selbst kleine Scharmützel mit der Staatsgewalt geliefert hatten und die nun den Umstand, dass man sie
einfach so passieren ließ, ohne auch nur nach ihren Ausweisen zu fragen, als besonders schmerzliche Beleidigung empfanden.
Älter werden, das ließ sich nicht vermeiden, aber nun waren sie, gerade einmal knapp über vierzig, an einem Punkt angelangt, an
dem sie in ihren dunkelgrauen Designerklamotten mindestens so harmlos wirkten wie ihre Väter früher in ihren Anzügen.
"Schick auch jemanden hin, der ein paar Fotos macht, zur Sicherheit, falls das doch irgendwie ausartet", sagte Pierre zu Simone
und warf ihm einen kurzen Blick zu. „Wohin gehen wir eigentlich?"
"In die Rue Sainte-Anne", sagte Marc.
Noch vor ein paar Jahren hätte das bedeutet, einen der zahllosen Massagesalons aufsuchen zu wollen, die dort reihenweise ihre
Dienste angeboten hatten. Aber eine Stadt verändert sich, wie schon Baudelaire bemerkt hatte, schneller als ein Menschenherz.
Die Schwulenclubs hatten geschlossen, und aus irgendeinem unerklärbaren Grund hatten vor allem japanische Restaurants das
Quartier übernommen.
2.
Die Prostituierte hieß Emilie Thevenin, das zu erfahren hatte ihn eine gute halbe Stunde Telefonrecherche gekostet. Es war eine
von diesen Informationen, die er nicht unbedingt zu verwenden gedachte. Denn wen interessierte der wirkliche Name einer Hure,
die vor dreißig Jahren erdrosselt worden war? Und dennoch gehörten für ihn zu jeder seiner Geschichten auch Namen. Andere
hätten sich damit begnügt, Emilie „das Opfer" zu nennen, aber die anderen waren auch nicht so gut wie er.
Sie war nicht älter als neunzehn geworden. Und obwohl er eigentlich nur von ihr wusste, dass sie mit achtzehn aus einer
Kleinstadt nach Paris gekommen war, um Geschichte an der Sorbonne zu studieren, hätte er nun bis ins Detail genau beschreiben
können, wie das alles abgelaufen war. Wie sie sich neben dem Studium als Verkäuferin oder Kellnerin ihren Lebensunterhalt zu
verdienen versucht. Wie sie an irgendeinem Wochenende in irgendeiner Disco irgendeine alte Freundin wiedertrifft. Wie sie sich
beschwatzen lässt, es wenigstens ein Mal zu probieren. Sie solle doch keine große Sache daraus machen und das Thema einmal
nüchtern angehen. Ob sie sich denn wirklich von Montag bis Samstag herumkommandieren lassen wolle? Das sei doch völlig
unlogisch, sich für ein kümmerliches Gehalt derart abzuschinden. Was denn schon dabei sei, ein paar gutsituierten
Geschäftsmännern zum Orgasmus zu verhelfen und mit ihnen, sozusagen als Escort-Bonus, außerdem noch guten Wein und gute
Küche zu genießen? Ob sie sich etwa für den Einzigen aufsparen wolle? Na also. Wie sie sich am Ende selbst davon überzeugt,
sogar stolz darauf zu sein. Nein, sie ist nicht eine von diesen unglücklich hineingeschlitterten Frauen, die zur Prostitution
gezwungen werden. Sie nicht. Sie vögelt freiwillig, gegen eine finanzielle Zuwendung, die sich stattlich nennen kann. Denn sie ist
jung, gebildet (zweites Semester Geschichte), Französin, hübsch. Und wer da etwas zu beanstanden hat, ist sowieso nur ein
kleiner Spießer. Ein makelloser Frauenkörper, die unbestreitbare jugendliche Frische und Naivität, die ihr ein leicht verdientes Geld
verschaffen, dazu die völlig selbstbestimmte Zeiteinteilung, ja, daran kann sie sich schnell gewöhnen. Und es hätte noch ein, zwei
Jahre so weitergehen können, vielleicht sogar länger, hätte sie nicht an einem späten Nachmittag im Mai der Banklehrling Gilles
Neuhart erdrosselt. Geschlagen, gefesselt, missbraucht, stranguliert.
Getötet.
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Menasse, Eva: Lieber aufgeregt als abgeklärt | Verlag Kiepenheuer & Witsch | ET: 9. Februar 2015
ISBN: 978-3-462-04729-5 | Gebunden | 256 Seiten | 18,99 €
Eva Menasses Essays und Reden sind liebevoll-boshafte Langzeitbeobachtungen über Deutsche, Österreicher,
über engagierte politische Interventionen. Sie sind auch leidenschaftliche Bekenntnisse zu Lieblingsautoren wie
Richard Yates, Alice Munro und Ulrich Becher. Ihr besonderes Augenmerk gilt der öffentlichen Rolle des
Schriftstellers. Die Heinrich–Böll-Preisträgerin 2014 versucht zu ergründen, was der Preispatron heute denken,
schreiben, tun würde. Sie hadert mit Günter Grass und hält ihm doch eine Geburtstagsrede, sie preist das
literarisch-musikalische Genie Georg Kreislers und dankt Imre Kertész für die Mühe, die er sich und seinen
Lesern mit seiner unerbittlichen literarischen Genauigkeit macht. Eva Menasses pointierte und elegante Texte
werfen erfrischende Blicke auf die Gegenwart und beweisen die Relevanz von Literatur.
Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin beim österreichischen „Profil“. Als Redakteurin der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ begleitete den Prozess um den Holocaust-Leugner David Irving in London.
Nach einem Aufenthalt in Prag arbeitete sie als Kulturkorrespondentin in Wien. Sie lebt seit 2003 als Publizistin
und freie Schriftstellerin in Berlin. Ihr Debütroman „Vienna", ihr Erzählungsband „Lässliche Todsünden" und
zuletzt ihr Roman „Quasikristalle" waren ein großer Erfolg. Für „Quasikristalle" wurde sie u.a. mit dem GertySpies-Preis und dem Literaturpreis Alpha ausgezeichnet. 2015 ist sie Stipendiatin der Villa Massimo in Rom.
Jubeltag für Schriftsteller
Zum Literatur-Nobelpreis für Alice Munro
Hellmuth Karasek seien ihre Bucher oft empfohlen worden, doch habe er nie eins gelesen. Martin Walser, befragt, was ihm zur
neuen Literatur-Nobelpreisträgerin einfalle, antwortet: null. Das kann schnell nachgeholt werden und sagt gar nichts aus, auch
nicht über Bildungslücken, die schließlich jeder hat, der Bildung hat (je mehr Bildung übrigens, desto auffälliger die Lücken – ein
magisches Verhältnis).
Alice Munro als „große Unbekannte der nordamerikanischen Literatur „ zu bezeichnen, wie es nun gelegentlich geschieht, ist
dagegen schon höherer, eurozentrischer Unsinn. Ebenso hatten Nordamerikaner im Jahr 2004 Elfriede Jelinek als große Unbekannte der deutschsprachigen Literatur bezeichnen müssen. Vielleicht haben sie es ja, zum Gaudium der Hiesigen, getan.
Jedenfalls: Alice Munro ist seit Jahrzehnten eine der berühmtesten angloamerikanischen Autorinnen, ihre Erzählungen erscheinen
regelmäßig in den literarischen Zeitschriften bis hin zum „New Yorker“, sie hatte jahrelang geradezu ein Abo auf die höchsten
Literaturpreise ihrer Heimat Kanada, bekam den „International Man Booker Preis“ für ihr Lebenswerk. Über sie zu schreiben ist
aber deshalb verflixt schwer, weil es hierzulande zwei scharf getrennte Gruppen gibt: die einen, die, wie der große, herrliche
Martin Walser, „null“ wissen und kennen, und die anderen, die dann meistens alles oder sehr, sehr viel kennen. Dazwischen gibt
es nichts. Den Leser nämlich, der nur eine einzige ihrer 160 Erzählungen liest und mit einem Schulterzucken weglegt, den will ich
mir nicht einmal vorstellen. Der verdient den Ehrentitel „Leser „ gar nicht. Ein richtiger, anständiger Leser (in achtzig Prozent der
Fälle sowieso: eine Leserin) entwickelt meistens eine schwere Munro- Sucht, die erst ein halbes Jahr und mehrere Bande später
zu einem vorläufigen, erschöpft-glücklichen Zwischenhalt kommt. Ab dann lebt man mit ihr und an der Hand ihrer Geschichten
weiter, beschützt und kluger.
Trotzdem wollen wir hier auch zu den Walsers unter den Leserinnen und Lesern sprechen. Versuchen wir es so: Von vielem, was
nun über die Literatur der Alice Munro gesagt und geschrieben wird, stimmt ebenso das Gegenteil. Ja, ihre Geschichten handeln
von Frauen und spielen immer in Kanada, und nein, sie schreibt nicht „immer dieselben Geschichten“, wie ein ahnungsloser
Kritiker einmal sagte, dessen Name mir deshalb sofort entfallen ist. Sie schreibt mit den gleichen Gründen und mit dem gleichen
Recht über Kanada, mit denen Proust über Frankreich oder Tschechow über die russische Gesellschaft geschrieben haben: weil
sie Landschaft und Mentalität kennt, weil die Quelle ihrer Weltliteratur eben hier entspringt. Über Frauen (und Männer) wiederum
schreibt sie so, wie Männer seit jeher über Männer (und Frauen) geschrieben haben: als Menschen mit hässlichen oder
ergreifenden Eigenschaften, deren Geschlecht erst mal nicht mehr aussagt, als es das im Alltag tut.
Frauen bei Alice Munro haben keine ideologische Funktion über ihr individuelles Menschsein hinaus, auch wenn die Welt aus
weiblicher Sicht natürlich etwas anders aussieht. Ja, Alice Munros Geschichten sind extrem anschaulich, geradezu filmisch, und
kommen ganz leicht daher, als waren sie nichts. Dabei sind sie hochkomplex gebaut. Und, Himmel, sie sind keine „Frauenliteratur“! Wenn aber doch, dann mochte man gar keine andere mehr lesen und schreiben. Alice Munro hat die klassische Gabe,
mit ganz wenigen, scheinbar einfachen Sätzen eine Szene, eine Stimmung hinzutupfen: „Mein Vater kam übers Feld, in den
Armen den Körper des Jungen, der ertrunken war. Es war eine Gruppe von mehreren Männern, die von der Suchaktion
zurückkamen, aber er war es, der den Leichnam trug. Die Männer waren schlammbedeckt und erschöpft, und sie gingen mit
gesenkten Köpfen, als ob sie sich schämten.
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Selbst die Hunde waren entmutigt, triefnass von dem kalten Fluss.“ Und dennoch findet sich bei ihr keine Geschichte, von der man
sagen kann, sie hatte das, was sie erzählt, geklärt. So, wie der glückliche Munro- Leser noch tagelang über die Rätsel, Leerstellen
und Wendepunkte in ihren Büchern nachdenken kann (und welchen Sinn hatte das Lesen denn, wenn man das Buch nicht,
ausgelesen, noch weiter in Gedanken herumtragen und benagen konnte?!), ist es fast unmöglich, eine ihrer Geschichten
nachzuerzählen. Ja, da war diese Story mit der Tochter, der erst als Erwachsener, bei der Rückkehr ins Landarzt-Haus ihres
Vaters, aufgeht, dass die vornehmen Damen, die immer zu ungewöhnlichen Zeiten kamen, illegale Abtreibungen machen ließen.
Doch beim Wiederlesen scheint es, als ob es viel mehr um die peinvolle Vater- Tochter-Beziehung ginge. Oder um die unheimliche
Haushalterin? Oder doch um das Drama der privat gescheiterten Tochter, die gerade ihr Kind zur Adoption freigegeben hat?
Das ist ganz typisch: dass in allen Erzählungen mehrere Energiestrome laufen, die einander umspielen und nähren. Und noch so
ein Gegensatzpaar: Obwohl sie sich so süffig, so rund und organisch lesen, stellt sich bei genauer Textanalyse heraus, dass
Munro eher flächig schreibt als linear, mit schrägen Einstiegen und Schnitten, unauffällig wechselnden Perspektiven, heftigen
Zeitsprüngen und Abbrüchen. Dadurch weitet sie ihr Erzählen ins Malerische, Musikalische, den Leseeindruck ins Sinnliche aus.
Und ja, Alice Munro hat, bis auf einen frühen und weniger gelungenen Roman, ausschließlich Erzählungen geschrieben. Jede
davon, so redet man jetzt dem widerstrebenden, notorisch erzählungsphobischen deutschen Leser gut zu, sei „eigentlich ein
kleiner Roman. Falls das insinuieren soll, dass Romane per definitionem komplexer sind als Erzählungen (und nicht, wie oft, bloß
bleich aufgedunsene Erzählungen), rauft man sich als Schriftsteller sowieso die Haare im Weltschmerz. Richtiger ist wohl, dass
Munro die ihr gemäße Form einfach entwickelt hat, als sie sie im Sortiment nicht fand, Kurzromane, Langerzahlungen, meist
zwischen vierzig und sechzig Seiten. Einen biographischen Vorteil hatte die heute zweiundachtzig jährige Alice Munro, der ein
Nobelpreis ansonsten wahrlich nicht in die „bildungsferne“ Wiege gelegt war: dass sie, wie sie einmal sagte, eigentlich noch
„mitten im 19. Jahrhundert“ aufwuchs – so primitiv und bitterarm waren die Verhältnisse auf der Farm ihres Vaters –, dann aber all
die rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen, sexuelle Revolution, Emanzipierung der Frau, im bewussten Erwachsenenalter
erlebte.
So scheint sie mehrere Leben in einem gelebt und für ihre Literatur fruchtbar gemacht zu haben. Die Mutter litt an Parkinson, der
Vater war erfolglos, die Geschwister waren klein: Der einzige Ausweg aus der Haushalts- und Pflegefalle war Bildung. Mit den
besten Noten des ganzen Countys errang Alice Laidlaw ein Universitätsstipendium. Auf der Uni wurde sie von Jim Munro
errungen. Mit zwanzig war sie verheiratet, mit fünfundzwanzig Mutter von zwei Töchtern, und kaum ein Text über sie kommt ohne
Hinweis darauf aus, dass ihre Schreibmaschine damals in der Wäschekammer stand, zwischen Waschmaschine, Trockner und
Bügelbrett. Die Vancouver Sun titelte 1961: „Housewife finds time to write short stories”. Per Ehe also in die nächste Falle
gegangen? Munros Tochter Sheila wies darauf hin, dass sich bis heute „häusliches Leben gut mit Schreiben kombinieren lasst“,
worauf unsere Generation, fest durchemanzipiert (die Frau muss raus!), erst mal gar nicht gekommen wäre. Aber ja doch, gilt
genau wie für Männer (denen halt das Kochen und Putzen erspart blieb): Konzentration durch Gleichförmigkeit und vertraute
Umgebung, keine Extra- Aufregungen wie Mobbing oder Karrierestress.
Alice Munro berichtete, dass das Problem nicht die Kinder – die schlafen viel oder gehen in die Bildungsanstalten – waren,
sondern die tratschsüchtigen Nachbarinnen, die alle naslang hereinschneiten. Da zogen die Munros um. Und so wurde aus dem
Landmädchen, das den Schluss von Andersens „Kleiner Meerjungfrau“ so unerträglich traurig fand, dass es sich einen neuen
erfand, aus der halbverhungerten Studentin, deren Talent sofort erkannt wurde, aus der schreibenden (und das Familieneinkommen deutlich aufbessernden!) Hausfrau, die mit immenser Disziplin, gegen Wäscheberge und Verwandtenbesuche, ihre
Kunst immer weiter vervollkommnete, eine der grusartigsten Schriftstellerinnen unserer Zeit, handwerklich perfekt, psychologisch
brillant, liebevoll ironisch, höchst lesbar und immer wieder überraschend. Dass Alice 164 Munro den Literatur- Nobelpreis 2013
bekommt, ist eine Nachricht, die mehr Schriftsteller auf der ganzen Welt mit tiefer, ehrlicher Freude und Zustimmung erfüllt als in
den meisten Jahren zuvor. Jede Wette.
Mehr Herz als Verstand auf Papier
Die Briefe von Virginia Woolf
Es gibt kaum einen größeren Gegensatz: An Virginia Woolf zu denken, ruft Bilder pittoresker Düsternis auf – Depressionen,
Schlaflosigkeit, der schaurige letzte Gang in den märzkalten Fluss Ouse, die Taschen voller Steine. Doch die ungebügelten Briefe
der Virginia Woolf zu lesen, fegt diese Nachtschwarze nach wenigen Seiten hinweg. „Du mochtest etwas über Mrs. Clifford
wissen“, schreibt sie am 2. April 1920 an ihre Schwester Vanessa Bell,“ – die in der Tat alles war, was Du Dir je unter ihr
vorgestellt hast – mit einem wabbeligen Hals, wie ein orientalischer Truthahn ihn hat, und einem Mund, der sich öffnete wie eine
alte Ledertasche, oder die intimen Teile einer großen Kuh.“ Was für eine boshafte Klatschbase! Was für eine überschäumende
Schreib- und Spottlust!
Am 25. Januar 2007 jährt sich Virginia Woolfs Geburtstag zum 125. Mal. Zu diesem Anlass veröffentlicht der Fischer Verlag ihre
ausgewählten Briefe in zwei Banden, über tausend Seiten dick. Sie sind eine fast unheimliche Ergänzung zu ihrem Werk, etwas
Unerwartetes, Ungebärdiges, Blutvolles.
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Wenn Virginia Woolfs Romane kostbare höfische Gewänder sind, voll schimmernder Farben und filigranster Verzierungen, und
ihre Tagebücher die eigenbrötlerischen Alltagskutten dazu, dann sind ihre Briefe knallbunte Accessoires, gestreift, kariert, kokett,
zerfranst und manchmal bestürzend zärtlich: „Ich habe das Gefühl, gemütlich im Beutel von Mutter Wallaby, dem Känguruh,
eingekuschelt zu sein. Meine kleinen Pfoten schmie166 gen sich an meine pelzigen Wangen. Ist Mutter Wallaby sanft und zärtlich
zu ihrem Kleinen? Es wird kommen und ihr armes, mageres, räudiges Gesicht lecken", schreibt die fast Fünfundzwanzigjährige,
die als kleines Mädchen ihre Mutter verlor, an die viel altere Jugendfreundin Violet Dickinson. Briefe schrieb Virginia Woolf ohne
Fesseln. Sie schrieb sie eilig, ohne zu korrigieren, in gestohlenen Minuten zwischen der literarischen Arbeit am Vormittag und dem
Handwerk am Nachmittag in der Hogarth Press, dem ambitionierten Kleinverlag der Woolfs. Deshalb bilden sie Virginia Woolfs
typischen schöpferischen Prozess so genau ab, dieses „hinter der eigenen Stimme herstolpern", wie es in ihrem Tagebuch heißt.
Leonard Woolf hat es ihr plötzliches „Abheben „ genannt, wenn mitten im Gespräch die Inspiration Uber sie kam und sie
„irgendeine verrückte, faszinierende, ergötzliche, traumhafte, fast lyrische Beschreibung eines Ereignisses, eines Ortes oder einer
Person „ gab. In den Briefen ist nichts zu spüren von ihren Qualen beim Schreiben der Romane, die oft Reisen an die Grenzen
ihrer geistigen Gesundheit waren.
Nichts zu spüren auch von ihrer lebenslangen Schüchternheit, ihrer pathologischen Verletzlichkeit, ihrer panischen Angst vor Kritik,
die vor Erscheinen ihres ersten Romans zum Selbstmordversuch führte. Von den oft introspektiven Tagebüchern unterscheidet die
Briefe der explizite Wunsch, zu gefallen, zu amüsieren, zu unterhalten – besonders gerne mit Klatsch und Tratsch. Denn wem
schrieb Virginia Woolf? Sie pflegte keine Korrespondenzen im herkömmlichen Sinn, indem sie sich etwa mit Kollegen gelehrt
ausgetauscht hatte. Das eigene Schreiben spielt kaum eine Rolle. Nur Vita Sackville- West gegenüber äußert sie sich manchmal
als behutsam kritisierende Lehrmeisterin: „Wir geborenen Schriftsteller neigen dazu, zu früh mit unseren silbernen Löffeln
bereitzustehen: Ich meine, ich denke, dass es seltsamere, tiefere, kantigere Gedanken in Deinem Hirn gibt, als Du bislang hast
herauskommen lassen.“ Nein, mit wenigen Ausnahmen sind diese Briefe das Gegenteil intellektueller Diskurse, obwohl sie so klug
sind. Sie sind spontane Liebesbeweise, mehr Herz als Verstand auf Papier. Sie sind gerichtet an Familie und die besten Freunde,
und sie haben meist keine Ordnung außer der zufälligen Folge ihrer Einfälle. Sie hüpfen von Alltagskram wie den ständigen
Dienstbotenkriegen mit Lottie und Nelly zu Seitenhieben auf Dritte („schließlich schlief er ein; wie ein preisgekröntes Schwein, das
gut unterhalten wurde, schlafen durfte „) und enden bei einer toten Maus („wahrscheinlich verhungert“), die aus ihrem
Schmutzwäschekorb gefallen ist.
Um Antwort zu erhalten, worum sie in vielen Briefen bettelt, versorgte Virginia Woolf ihre Briefpartner mit den hinreißendsten
satirischen Miniaturen: „Das arme alte Ding wogte und lobte, bis man wirklich meinen konnte, man sprach mit einem Geflügel im
Delirium – ihr Hals wurde langer und langer, und Du weißt, wie sie sich immer an ‚wundervoll‘ hängt, als wäre es ein Seil, das in
ihrem Vakuum baumelt“, lästerte sie über Ottoline Morell, und über Jack Hutchinson, er trage „pflaumenfarbenen Samt, wie ein
Teewarmer“. Wenn sie, ernsthafter, von Leseerfahrungen berichtet, ist sie nicht weniger pointiert: „Ich lese Henry James … und
komme mir vor wie jemand, der in einem Block aus glattem Bernstein einbalsamiert ist.“ Ironisch schrieb sie zwar einmal, „denn
ich fürchte immer, Dir mit meiner losen Feder die Ohren aufzuschlitzen", doch die lose Feder stach auch die Schreiberin selbst.
168 Mehr als einmal bekam sie Arger, weil ihre Boshaftigkeiten ausgeplaudert wurden oder weil sie falsche Gerüchte verbreitete.
Ihre Bestürzung darüber klingt nie ganz ernst, und so fuhr sie fort, ihren Lieben von Skandalen zu berichten, in denen etwa die
Monatsbinden der Frau von John Maynard Keynes eine Rolle spielten. Doch das Briefeschreiben bedeutete für Virginia Woolf wohl
mehr als sprachliche und intellektuelle Lockerungsübung.
Es war ihr lebensnotwendiger Draht zur Außenwelt. Ihrer Nerven wegen lebte sie jahrelang in halbfreiwilliger Isolation, Leonard
Woolf hielt sie ängstlich-besorgt von Partys und Aufregungen fern, phasenweise sogar von London. Ihre briefliche Nabelschnur
jedoch pulsiert noch heute, da die Verfasserin seit über fünfundsechzig Jahren tot ist – beim Lesen ersteht ihre ganze Welt. „Briefe
scheinen die Vergangenheit mehr als alles andere zu bewahren", bemerkte sie selbst mit Mitte fünfzig beinahe schaudernd, als sie
von Violet Dickinson, der ehemaligen Känguruh-Mutter, unerwartet eine gebundene Abschrift der eigenen Jugendbriefe erhielt. In
ihren Briefen erscheint eine Person so eingebettet und vernetzt, so eigentümlich komplett in Raum und Zeit. Briefe verdichten,
betonen die bedeutsamen Abschnitte. So sind die Anfänge Bloomsburys hier aufbewahrt, dieses sich befreienden intellektuellen
Milieus Londons in den Zehnerjahren. Kultivierte junge Damen wie Virginia Stephen begannen plötzlich Uber Sexualität, ja Uber
„Arschficker“ zu reden und gründeten etwas, was man heute WG nennen wurde – horribile dictu mit jungen Herren! Für zwei ihrer
später engsten Weggefährten und Briefpartner, Lytton Strachey und Saxon Sydney- Turner, hatte die junge Virginia beim ersten
Kennenlernen nur Spott übriggehabt, „sie sitzen die ganze Zeit still da, absolut still; gelegentlich fluchten sie sich in eine Ecke und
kichern über einen lateinischen Witz. Ich glaube nicht, dass sie robust genug sind, um sehr viel zu empfinden.“
So luftig und leicht, so klug und lustig sind diese Briefe, dass sich ein Gedankenspiel aufdrangt: Waren sie das einzige
biographische Zeugnis Virginia Woolfs, wir hatten ein vollkommen anderes Bild von ihr. Daran zeigt sich aber, dass auch Briefe
nur einen Ausschnitt der Persönlichkeit abbilden, jenen nämlich, den sie anderen zu zeigen bereit ist. Wie das Schreiben ist auch
Virginia Woolfs Krankheit, außer in den Abschiedsbriefen, kein Thema. Höchstens teilt die fast Genesene mit, wie sehr die
Bettruhe und das ewige Milchtrinken sie langweilen – zu ihrer Zeit waren das die einzigen Rezepte für psychiatrische Patienten.
Doch wie ein krankes Kind nicht isst, so schreibt die kranke Virginia Woolf nicht, auch keine Briefe. Die stummen Lücken ihrer
Korrespondenz bezeichnen ihre wiederholten monatelangen Zusammenbrüche. Der Erste Weltkrieg fehlt fast ganz. Bald nach
ihrer Hochzeit 1912 und dem Abschluss ihres ersten Romans fluchtete sie sich, wohl aus Angst vor zweifacher Entblößung,
jahrelang in das Dunkel des Wahnsinns
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Der Zweite Weltkrieg als reale Bedrohung nimmt dagegen großen Raum ein. Virginia, die längst eine berühmte Schriftstellerin ist,
erlebt, dass sich nicht nur der eigene Kopf, sondern die ganze Welt verdüstern kann. Die engen Freunde Lytton Strachey und
Roger Fry sterben, der älteste Neffe Julian fällt im Spanischen Bürgerkrieg. Die Woolfs, die eine Invasion der Deutschen noch
mehr als andere fürchteten, da Leonard Jude war, besorgen sich Gift für einen Doppelselbstmord. Und Virginia sieht ihre zweite
große Liebe, die Stadt London, in Schutt und Asche fallen. Sie fluchtet sich in Bucher, „ich lese mich in einen Zustand der
Empfindungslosigkeit hinein“, schreibt sie unter dem Eindruck von Bomben und Kampfflugzeugen an Ethel Smyth, und an Vita
Sackville- West: „Ich habe keine Angst, ich meine, um meinen eigenen Körper. Aber er ist ein alter Körper. Und trotzdem hatte ich
gern noch zehn weitere Jahre." Sie hatte keine zwei Jahre mehr. Denn noch mehr als Hitler fürchtete sie ihre Krankheit, die
Anfang 1941, wie Leonard Woolf sich erinnerte, ohne die üblichen Vorzeichen kam, so schnell wie der Blitzkrieg. Und so werden
diese beiden Bande beendet vom letzten und berühmtesten Brief Virginias an Leonard Woolf: „Liebster, (…) wenn überhaupt
jemand mich hatte retten können, warst Du es gewesen. Alles ist von mir gegangen bis auf die Gewissheit Deiner Gute. Ich kann
Dein Leben nicht langer ruinieren. Ich glaube nicht, das zwei Menschen glücklicher hatten sein können als wir es waren. V.“
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Noll, Chaim: Der Schmuggel über die Zeitgrenze: Erinnerungen | Verbrecher Verlag | ET: März 2015
ISBN: 9783957320858 | Broschiert | 480 Seiten | 24,00 €
Chaim Noll wanderte vor zwanzig Jahren nach Israel aus und lebt heute in der Wüste Negev. In Ostberlin wuchs
er auf als Sohn des DDR-Schriftstellers Dieter Noll, der zur privilegierten Führungsschicht der DDR gehörte.
Vordergründig ist das Buch eine Auseinandersetzung mit dem politischen System im Osten Deutschlands, gegen
das Noll als junger Mann opponierte, bis er im Winter 1983 – nach Versuchen der Staatssicherheit, sich seiner
Manuskripte zu bemächtigen – sein erstes Buch von Diplomaten in den Westen schmuggeln ließ und selbst einen
Ausreiseantrag stellte. Noll erzählt vor allem die Geschichten von prominenten und unbekannten Menschen,
denen er im damaligen Berlin begegnete, und erinnert an die aufregende Geschichte seiner Geburtsstadt, die er
noch heute für ihren Überlebenswillen bewundert.
Chaim Noll, 1954 als Hans Noll in Ostberlin geboren, ist Sohn des Schriftsteller Dieter Noll. Er studierte Kunst
und Kunstgeschichte, reiste 1983 nach Westberlin aus. 1991 zog er mit seiner Familie nach Rom. Seit 1995 lebt
er in Israel, seit 1997 in der Wüste Negev. 1998 wurde er israelischer Staatsbürger. Neben seiner
schriftstellerischen Arbeit lehrt Noll an der Universität Beer Sheva. Er schrieb u. a.: „Die Wüste lächelt“, „Meine
Sprache wohnt woanders“ , „Der Kitharaspieler“, „Der goldene Löffel“ (2009), „Feuer“ (2010) sowie „Kolja“ (2012).
Am 22. Mai 1979 bauten wir im Museum für Deutsche Geschichte, dem alten Zeughaus Unter den Linden, eine Ausstellung auf.
Ich weiß nicht mehr, warum wir, Studenten des letzten Studienjahres, es taten, worum es überhaupt ging. Wahrscheinlich hatte die
Ausstellung mit dem dreißigsten Jahrestag der Gründung des Staates DDR zu tun, für den, obgleich erst im Herbst zu begehen,
bereits seit Jahresbeginn umfangreiche Vorbereitungen liefen. Aus solchen Anlässen wurde der Kulturbetrieb der DDR in
Bewegung gesetzt und mit gut bezahlten Aufträgen animiert, um Kunstwerke zu produzieren, die den beeindruckenden Hochstand
unseres Landes zeigen sollten. „Axelchen“ hatte im Auftrag der Regierung eine neue Gedenkmünze gestaltet, „Berlin – Hauptstadt
der DDR“, dargestellt war das Brandenburger Tor, obwohl dieses Tor im Niemandsland lag, zugemauert war und für DDR-Bürger
seit fast zwei Jahrzehnten unerreichbar. Klemke mokierte sich über die Münze, nannte die Schriftgestaltung „kleinlich, aber
ambitiös“, ließ bei einem Glas Sekt die Bemerkung fallen, „Axelchen“ versuche, durch Fleiß wettzumachen, was ihm an Begabung
fehle. Auch wir arbeiteten fleißig an diesem Morgen im Berliner Zeughaus, woran auch immer. Nur an das Wetter erinnere ich
mich genau: sonnig, warm, blauer Himmel über den klassizistischen Fassaden, dem frühlingshaft frischen Grün der Linden. Auf
dem Tisch, an dem wir gegen zehn eine Tasse Kaffee tranken und eine Zigarette rauchten, lag das Neue Deutschland. Ich
blätterte es lustlos durch und stieß auf Seite zwei auf eine groß gesetzte Überschrift: „Offener Brief von Dieter Noll an Erich
Honecker“.
Die Überschrift verhieß nichts Gutes. Ich kannte meinen Vater und war sicher, dass er einen solchen Brief nicht aus freien Stücken
schreiben würde. Er lebte seit Jahren abgeschieden draußen in seinem Haus am See und kümmerte sich in Wahrheit wenig um
das, was in der Stadt vor sich ging, im Schriftstellerverband, in den Kreisen seiner Kollegen. Wenn er, selten genug, in die Stadt
fuhr, kostete es ihn sichtlich Überwindung. Er war ein Einzelgänger, Egozentriker, und der Ansatz des Politischen ist Interesse am
Gemeinwohl. Trotz aller autosuggestiven Formeln vom Kommunismus („Der Kommunismus ist die Sache aller“) war er immer
geblieben, was ein Kommunist nicht sein soll: ein unverbesserlicher Individualist.
Ich hätte nicht sagen können, womit er sich gedanklich beschäftigte, was er schrieb, ob er überhaupt etwas schrieb – wir sahen
uns damals selten. Gelegentlich war ich mit Sabine und den Kindern ein paar Tage draußen bei ihm und Monika, vor allem den
Kindern zuliebe, die dort Boot fuhren und badeten. Monika war eine gute Gastgeberin, die es uns an nichts mangeln ließ, auch er
widmete sich den Gästen, durch lange, oft interessante Gespräche. Er las viel, dachte über alles Mögliche nach, offenbarte immer
ein paar überraschende Einblicke – und blieb dennoch undurchschaubar. Obwohl er viel sprach, beim Reden aus sich herausging,
auf den ersten Blick offen und extrovertiert wirkte, gab es ganze Bereiche seines Denkens, die er sorgsam verbarg. Unsere
Gespräche mit ihm hatten alle Unmittelbarkeit eingebüßt, wir konnten schon lange nicht mehr offen reden. Ich wusste damals
nicht, dass er selbst Berichte an die Staatssicherheit lieferte, doch wir waren überzeugt, dass in seinem Haus Zuträger ein- und
ausgingen. Wir rechneten immer und überall damit, dieses Misstrauen lag in der Atmosphäre des Landes wie ein unheimlicher,
vertrauter Geruch. Reglos am Tisch sitzend, las ich den „Offenen Brief“ von Anfang bis Ende. Ich erinnere mich, wie aus meiner
unguten Erwartung erst Beklommenheit wurde, dann etwas wie ein Schwindelgefühl, als ich diese Sätze las:
„Einige wenige kaputte Typen wie die Heym, Seyppel oder Schneider, die da so emsig mit dem Klassenfeind kooperieren, um sich
eine billige Geltung zu verschaffen, weil sie offenbar unfähig sind, auf konstruktive Weise Resonanz und Echo bei unseren
arbeitenden Menschen zu finden, repräsentieren gewiss nicht die Schriftsteller unserer Republik. Die Partei kann auch überzeugt
sein, dass die überall in den Betrieben arbeitenden Menschen unseres Landes die Maßnahmen unserer Regierung billigen und
kein Verständnis dafür aufbringen, wie da ein kleiner Klüngel von so genannten Literaten verzweifelt von sich reden machen will,
indem er sich vor den Karren des Westfernsehens spannen lässt oder die Partei mit unverschämten offenen Briefen traktiert.“
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Was mich an diesem Brief am meisten erstaunte, war die völlige Verkennung der Lage. Ein zurückgezogen lebender Schriftsteller
in seinem Haus am See hatte nicht mitbekommen, was im Land vor sich ging, und glaubte, für die „überall in den Betrieben
arbeitenden Menschen“ sprechen zu können. Das war peinlich, irgendwo auch naiv. Der Text war ohne Frage „angeregt“ worden,
doch es gab Anregungen, denen man besser nicht folgte. Je länger ich las, umso mehr wurde mir bewusst, dass der Brief für mich
folgenschwer war. Er ruinierte mit einem Schlag die Reputation meines Vaters, seinen Namen, der auch meiner war, begrub
meine Hoffnungen auf ein Leben ohne politische Konflikte. Jeder, der mich kannte, würde von mir eine Stellungnahme zu diesem
Brief erwarten, klar, eindeutig, dafür oder dagegen. Denn der Brief selbst war konfrontativ und fordernd, er ließ keinen Raum für
Unentschiedenheit.
Ich saß nicht allein am Tisch. Schon bei Lesen merkte ich, dass ich beobachtet wurde. Ein Student, mir gegenüber, der die
Zeitung offenbar schon durchblättert hatte, wandte den Blick nicht von meinem Gesicht. Ich legte die Zeitung auf den Tisch zurück,
die Seite mit dem Brief für alle sichtbar, und seufzte. Der Student sah mich an und sagte vorsichtig: „Tut mir leid.“
Noch andere trösteten mich an diesem Tag. Mein Freund Andreas, mit dem ich mich zum Mittagessen traf, behauptete, der Brief
sei „nicht weiter schlimm“. Was gut gemeint war, indes: Ich wusste es besser. Am späten Nachmittag saß ich mit Grischa Meyer
auf der Café-Terrasse des Linden-Corso Ecke Friedrichstraße und trank Kognak. Grischa, ein Nachkriegskind, Sohn der
Künstlerin Ingeborg Meyer-Rey und des sowjetischen Kulturoffiziers Grigorij Weiss, war ein gutherziger Mensch. Als einziges Kind
seiner Mutter verfügte er für DDR-Verhältnisse über viel Geld, sein komfortabler Lebensstil machte ihn tolerant und geneigt,
anderen zu helfen und Konflikte zu deeskalieren. Er zerstreute meine trüben Gedanken durch freundliches Geplauder, sah jedoch
voraus: „Du wirst dich irgendwann entscheiden müssen.“ Ich zuckte mit den Schultern und fragte: „Was gibt es da zu
entscheiden?“ Er begann, und auch das war wohl als Trost gemeint, ein Biermann-Lied zu singen: „Du, lass dich nicht verhärten in
dieser harten Zeit ...“ Als ich mein Gleichgewicht einigermaßen wiedergefunden hatte, lief ich zum Alex und fuhr nach Hause.
Meine Frau, die den Brief nicht kannte, überflog den Zeitungstext und fragte: „Was geht uns das an? Wir kümmern uns einfach
nicht darum.“
Wir sahen bald, dass Indifferenz hier nicht funktionierte. Wenn irgendetwas unser Weggehen aus der DDR beschleunigt hat, war
es dieser Brief. Er führte zu unserer gesellschaftlichen Isolation.
© Verbrecher Verlag, 2015. Alle Rechte vorbehalten
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Oz, Amos: Judas. Roman | Suhrkamp | ET: ca. 9. März 2015 | Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
ISBN: 978-3-58-42479-7 | Gebunden | 335 Seiten | ca. 22,95 €
Im Winter 1959/1960 beschließt Schmuel Asch, sein Studium in Jerusalem (Thema der geplanten Abschlussarbeit: Jesus in der Perspektive der Juden) abzubrechen. Zum selben Zeitpunkt verlässt ihn seine Freundin, um
einen früheren Freund zu heiraten. Hinzu kommt, dass seine Eltern sich finanziell ruiniert haben und ihn nicht
mehr unterstützen können. Daraufhin will Schmuel Israel verlassen. Er entscheidet sich anders, als er eine
Anzeige liest, die ihm ein Auskommen in Jerusalem erlaubt, die ihn aber auch verpflichtet, niemandem von
seinem Aufenthalt in Jerusalem zu berichten. Die Anzeige führt ihn ins Haus eines eigentümlichen alten Mannes
namens Gerschom Wald. Nachts liest er ihm vor und unterhält sich mit ihm: über die Ideale des Zionismus, über
die jüdisch-arabischen Konflikte, über Gott und die Welt. Und dort trifft er auf die geheimnisvolle Atalja Abrabanel,
deren verstorbener Vater einer der Anführer der zionistischen Bewegung war. Sogleich ist Schmuel gefesselt von
der Schönheit und Unnahbarkeit dieser Frau. Nach und nach gelingt es ihm, ihr Geheimnis zu enthüllen – und
damit die menschliche Tragödie vor und nach der Gründung Israels im Jahr 1948. Amos Oz hat einen
Liebesroman geschrieben und zugleich ein Buch über das geteilte Jerusalem vor dem Sechs-Tage-Krieg, eine
Geschichte seines Landes mit all seinen Konflikten, seinen Hoffnungen und seiner Verzweiflung.
Amos Oz, geboren 1939 in Jerusalem, ist einer der international bekanntesten israelischen Schriftsteller. Sein
Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1992), dem
Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main (2005) und dem Prinz-von-Asturien-Preis für Literatur (2007) und den
Siegfried-Lenz-Preis (2014). „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis” wurde in alle Weltsprachen übersetzt
und erreichte eine Auflage in Millionenhöhe. Zuletzt erschien von Amos Oz das Buch „Unter Freunden“ (2013).
1.
Dies ist die Geschichte der Wintertage Ende des Jahres 1959, Anfang 1960. In dieser Geschichte gibt es Irrtum und Lust, es gibt
enttäuschte Liebe, und es gibt so etwas wie die Frage nach Religiosität, die hier unbeantwortet bleibt. An manchen Häusern sind
die Zeichen des Kriegs noch zu erkennen, der die Stadt zehn Jahre zuvor geteilt hat. Gedämpfte ferne Akkordeonmelodien kann
man hören oder, gegen Abend, hinter einem heruntergelassenen Rollladen, die sehnsüchtigen Klänge einer Mundharmonika.
In vielen Häusern hängen van Goghs Sternennacht oder das Weizenfeld mit Zypressen an der Wohnzimmerwand, und in den
kleinen Zimmern bedecken noch immer Strohmatten den Boden, und Die Tage des Ziklag oder Doktor Schiwago liegen, aufgeklappt und umgedreht, am Rand der Schaumgummimatratze, die mit einem orientalisch gemusterten Tuch überzogen ist und auf
der sich bestickte Kissen stapeln. Den ganzen Abend über brennt im Petroleumofen die blaue Flamme. In der Zimmerecke steht
wie üblich eine Granatenhülse mit kunstvoll arrangierten getrockneten Disteln. Anfang Dezember brach Schmuel Asch sein
Studium an der Universität ab in der Absicht, Jerusalem zu verlassen wegen einer unglücklichen Liebe und einer Forschungsarbeit, mit der er nicht weiterkam, vor allem aber deshalb, weil Schmuel aufgrund der desaströsen finanziellen Lage seines Vaters
gezwungen war, sich eine Arbeit zu suchen. Er war ein kräftiger junger Mann, fünfundzwanzig Jahre alt, empfindsam, ein Sozialist
und Asthmatiker, schnell zu begeistern und leicht zu enttäuschen. Breite Schultern, kurzer, dicker Hals, genau wie seine Finger:
dick und kurz, als würde an jedem ein Glied fehlen. Aus allen Poren im Gesicht und am Hals schossen gekräuselte Barthaare, die
an Stahlwolle erinnerten. Dieser Bart breitete sich aus nach oben bis zu den wilden Locken und nach unten bis zu der wolligen
Brustbehaarung. Von weitem sah es immer, sommers wie winters, aus, als sei er schweißüberströmt. Aber aus der Nähe, als
angenehme Überraschung, merkte man, dass Schmuel Aschs Haut keinen säuerlichen Schweißgeruch verströmte, sondern den
zarten Duft nach Babypuder. Er konnte sich von einer Minute auf die andere für neue Einfälle begeistern, vorausgesetzt, sie
erschienen scharfsinnig und irgendwie revolutionär. Er neigte jedoch auch dazu, schnell zu ermüden, vielleicht wegen seines
vergrößerten Herzens oder wegen seiner Asthmaerkrankung. Tränen stiegen ihm in die Augen, und das verwirrte und beschämte
ihn: Jammerte in einer Winternacht am Fuß eines Zauns ein Katzenjunges, das vielleicht seine Mutter verloren hatte, warf ihm
einen herzzerreißenden Blick zu und rieb sich an seinem Bein, wurden Schmuels Augen sofort feucht. Oder wenn sich am Ende
eines mittelmäßigen Films über Einsamkeit und Verzweiflung im Edinson herausstellte, dass ausgerechnet die härteste Figur von
allen Großherzigkeit bewies, kamen ihm sofort die Tränen und schnürten ihm den Hals zu. Wenn er aus dem Krankenhaus
Sha’are Zedek trat und eine dünne Frau und ein Kind sah, beide ganz unbekannt, die sich schluchzend umarmten, stieg sofort das
Weinen in ihm auf.
Damals war es üblich, Weinen für eine Sache der Frauen zu halten. Ein tränenüberströmter Mann rief Widerwillen hervor und
sogar leichten Abscheu, ähnlich wie eine Frau, auf deren Kinn ein Bart spross. Schmuel schämte sich sehr wegen dieser
Schwäche und gab sich die größte Mühe, sich zu beherrschen, doch es gelang ihm nicht. Insgeheim stimmte er dem Spott zu, den
seine Empfindlichkeit auslöste, und er fand sich sogar damit ab, dass seine Männlichkeit einen Kratzer hatte und sein Leben
deshalb sehr wahrscheinlich nutzlos und ohne Ziel war.
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Aber was tust du, fragte er sich manchmal aus einer gewissen Selbstverachtung heraus, was tust du eigentlich, was machst du,
außer mitzuleiden? Hättest du diese Katze, zum Beispiel, nicht in deinen Mantel wickeln und mit nach Hause nehmen können?
Wer hat dich daran gehindert? Und zu der weinenden Frau mit dem Kind hättest du einfach hingehen und sie fragen sollen, womit
ihnen zu helfen wäre? Oder du hättest das Kind mit einem Buch und ein paar Keksen auf dem Balkon beschäftigt, während du
dich mit der Frau in deinem Zimmer aufs Bett gesetzt und flüsternd besprochen hättest, was ihr zugestoßen ist und was du
eventuell für sie tun könntest?
Einige Tage bevor sie ihn verließ, hatte Jardena gesagt: Du bist entweder wie ein begeisterter kleiner Hund, der kratzt und tobt,
und sogar wenn du auf einem Stuhl sitzt, drehst du dich die ganze Zeit um deinen eigenen Schwanz, oder du bist das Gegenteil –
liegst ganze Tage lang auf dem Bett wie eine ungelüftete Wolldecke.
Damit meinte Jardena einerseits Schmuels ewige Müdigkeit, andererseits etwas grundsätzlich Stürmisches an seinem Gang, der
immer ein geheimes Rennen verbarg: Beim Treppensteigen nahm er stets zwei Stufen auf einmal. Belebte Straßen überquerte er
diagonal, schnell, mit Todesverachtung, ohne nach rechts oder links zu schauen, als stürze er sich in ein Handgemenge, den Kopf
mit den Locken vorgestreckt, als freue er sich auf einen bevorstehenden Kampf, den Oberkörper nach vorn gebeugt, sodass der
Eindruck entstand, seine Beine würden panisch dem Körper und der Körper dem Kopf hinterherlaufen und als hätten die Beine
Angst, Schmuel könne um die Straßenecke verschwinden und sie allein zurücklassen. Er rannte den ganzen Tag, schwer atmend,
fieberhaft, nicht weil er Angst hatte, zur Vorlesung oder zu einem politischen Treffen zu spät zu kommen, sondern weil er jederzeit,
morgens und abends, alles erledigen wollte, was auf seinem Plan stand. Um endlich in die Ruhe seines Zimmers zurückzukehren.
Jeder Tag seines Lebens, so kam ihm vor, war wie ein zermürbendes Hindernisrennen im Kreis, vom Schlaf, aus dem er morgens
gerissen wurde, bis zurück unter die warme Winterzudecke. Jedem, der es hören wollte, hielt er gerne Vorträge, besonders seinen
Freunden vom Arbeitskreis zur sozialistischen Erneuerung: Er liebte es, zu erklären, zu begründen, zu widerlegen, zu
widersprechen, zu argumentieren. Er sprach lange, genüsslich, spitzfindig und überlegt. Aber wenn man ihm antwortete, wenn er
den Vorstellungen anderer zuhören sollte, wurde Schmuel sofort ungeduldig, unaufmerksam und abgelenkt, ihn überkam eine so
heftige Müdigkeit, dass ihm die Augen zufielen und der gelockte Kopf auf seine Brust sank.
Er genoss es auch, vor Jardena glühende Reden zu halten, Vorurteile zu zerstören und Ansichten ins Wanken zu bringen,
Schlussfolgerungen aus Vermutungen zu entwickeln und Vermutungen aus Schlussfolgerungen. Doch wenn sie etwas sagte,
sanken seine Lider fast immer nach zwei, drei Minuten. Sie warf ihm vor, dass er ihr überhaupt nicht zuhöre, er leugnete es, und
wenn sie ihn aufforderte, zu wiederholen, was sie gerade gesagt hatte, wechselte er das Thema und fing mit den Irrtümern Ben
Gurions an. Er war entgegenkommend, großzügig, voll guten Willens und weich wie ein Wollhandschuh, er tat alles, was er
konnte, um allen zu gefallen, war jedoch gleichzeitig verwirrt und ungeduldig: Er vergaß, wo er den zweiten Strumpf hingelegt
hatte, was der Hausbesitzer eigentlich von ihm gewollt und wem er das Heft mit seinen Vorlesungsnotizen geliehen hatte.
Hingegen irrte er sich nie, wenn er mit Nachdruck anführte, was Kropotkin nach dem ersten Zusammentreffen über Netschajew
gesagt hatte und was er zwei Jahre später von ihm hielt. Und wer von den Jüngern Jesu weniger sprach als die anderen.
Obwohl sie seine Sprunghaftigkeit liebte, seine Hilflosigkeit und das, was sie als die Eigenschaft eines zutraulichen Hundes
betrachtete, der im Überschwang außer sich geriet, eines großen Hundes, der sich ständig an einen drückt und einem die Knie mit
seinem Geifer benetzt, beschloss Jardena, sich von ihm zu trennen und den Heiratsantrag ihres früheren Freundes anzunehmen,
eines fleißigen und schweigsamen Hydrologen namens Nescher Scharschawski, eines Fachmanns zum Sammeln von
Regenwasser, der fast immer im Voraus wusste, was sie wollte. Nescher Scharschawski kaufte ihr zum Geburtstag am Datum
nach dem allgemeinen Kalender ein schönes Halstuch, und dann kaufte er ihr noch ein grünes orientalisches Kleid zum
Geburtstag nach dem jüdischen Kalender, der zwei Tage später stattfand. Er erinnerte sich sogar an die Geburtstage ihrer Eltern.
Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.
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Oz-Salzberger, Fania: Israelis in Berlin | Suhrkamp | 2001 | Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
ISBN: 978-3-633-54171-3 | Gebunden | 238 Seiten | 20,80 €
Viele jüngere Israelis zieht es nach Berlin. Um diese Faszination zu verstehen, muss man sich ins Zentrum der
vielfältig verflochtenen und gebrochenen jüdischen und deutschen Geschichte begeben. Weder das Berlin der
Weimarer Republik noch die Hauptstadt des „Dritten Reichs“ ist von der historisch-imaginären Landkarte Israels
wegzudenken. Tausende gebürtige Berliner wurden Israelis, prägende hebräische Schriftsteller wie Lea Goldberg
und S. J. Agnon verbrachten wichtige Jahre in Berlin. Israel hat auch eine Berliner, eine europäische Vergangenheit. Oz-Salzberger lebte ein Jahr in Berlin und befragte Israelis und Deutsche zu diesem gleichermaßen realen
und imaginären Ort. Gleich Erich Kästners Emil, einem Helden ihrer Kindheit, entdeckt sie bei ihrer Reise durch
Berlin vieles, was ihr die eigene Welt neu erschließt und ihre Wahrnehmung für bestimmende Momente des
israelischen, kulturellen Codes schärft. Sie erzählt von Begegnungen in und mit Berlin, von den Erfahrungen und
Familienerinnerungen einzelner. So lässt sie eine Welt wiederauferstehen, die es nicht mehr gibt und die doch
fortwirkt – ein Erbe, das Israelis und Deutsche heute zugleich verbindet und trennt.
Fania Oz-Salzberger, 1960 als älteste Tochter von Amos und Nily Oz in Israel geboren, lehrt als Professorin für
Geschichte an der Universität in Haifa und bis vor kurzem auch an der Monash University in Australien. Sie hatte
zahlreiche Gastprofessuren inne und war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
Er: Es kommt noch ein Abend im besiegten Berlin,
da laufen wir zwei Unter den Linden, du wirst dann sicher sehr aufgewühlt sein
Und sagen:
Sie: Annon, schau, gut, daß wir hergekommen sind
und wirklich mit eigenen Augen den Fall unserer Feine sehen.
Doch jetzt aus irgendeinem Grund, ich weiß nicht wieso –
Ich sehen mich heim,
Nach den Stimmen der Kinder, den Glocken der Herden,
dem Duft der Zitrushaine –
Er: Nach einem Glas Orangensaft, nach einer Banane –
Sie: Ja, schön ist die Donau,
Und groß der Rhein.
Doch der Jordan, der Jarkon und der Kischon
Sind mir tausendmal lieber, Annon (…)
„Alle Wege führen nach Rom“, Text: Yitzhak Yitzhak (1943/44. Melodie Zivi Ben-Yosef, gesungen von Hanna Marron und Yossi
Yadin 1945 und dem Ensemble ‚The Palestinians‘ im Rahmen des Truppenbetreuungsprogramms der Britischen Armee.
Was du ererbt von Deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.
Goethe, Faust
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Vorwort
Dies ist ein Reisebuch, geschrieben während eines Jahres in Deutschland, in Berlin. Es basiert auf persönlichen Eindrücken,
schriftlichen Quellen, Gesprächen mit Israelis und vielen anderen. Bekannte und weniger bekannte Israelis kommen zu Wort;
Israelis, die seit vielen Jahren in Berlin leben, wie auch solche, die sich nur für kurze Zeit hier aufhalten. Es geht um die Frage:
Wie lebt es sich als Israeli in Berlin? Diese Frage führte in ein Labyrinth voller Rätsel und Unwägbarkeiten. Jedes richtige
Reisebuch enthält Rätsel.
Niemand weiß genau zu sagen, wie viele Israelis tatsächlich in Berlin leben. Der Sprecher der Israelischen Botschaft erklärte mir
schlicht und einfach, er habe keine Ahnung. Den Daten des Statistischen Landesamtes Berlin zufolge waren im Juni 1993 rund
1900 Einwohner Berlin im Besitz eines israelischen Passes. Ein Vertreter der jüdischen Gemeinde meinte, es handele sich
höchstens um ein paar hundert Israelis, von denen auch nur ein Teil als Gemeindemitglieder registriert seien. Aber das hebräische
Informationsblatt für israelische Neuankömmlinge in Berlin, verfaßt von Ilan Weiss, erlebte kürzlich eine neue Aufgabe, nachdem
die ersten tausend Exemplare vergriffen waren. Und einer meiner Gesprächspartner, ein wißbegieriger Mensch mit vielen
Verbindungen, erklärte mir: Echte Israelis? Vielleicht drei- oder vierhundert, mehr nicht.
Noch komplizierter wird die Zählung, wenn man bedenkt, daß die Toten nicht weniger interessant sind als die Lebenden und Ideen
nicht weniger spannend als Lebensgeschichten. So enthält dieses Buch wenig Statistisches und dafür vieles, was sich der Zählung
entzieht. Zum Beispiel Geister. Zum Beispiel offene fragen, etwa die Frage, was überhaupt echte Israelis sind.
Jeder Text ist ein Gewebe. Und jedes Gewebe besteht nicht nur aus Fäden, sondern auch aus Löchern. Viele faszinierende
Menschen und Schriften, die wesentlich mit Berlin und Israel zu tun haben, finden hier keine Erwähnung, weil sie unzugänglich
sind oder unbekannt blieben. Dem Leichten, dem Anekdotischen und dem Dubiosen, das einfließen wollte, wurde jedoch der
Zugang nicht verwehrt.
Ich danke meinen Gesprächspartnern Michel Assli, Nirit Ben-Josef, Dorit Brandwein-Stürmer, Guy Braunstein, Tsafiri Coen, Ernst
Cramer, Orly Doron, Nechama Ehrenberg, Yitzchak Ehrenberg, Amos Elon, Dani Friedlander, Jürgen Habermas, Ute Habermas,
Renate Herman, Jürgen Kocka, Claus Leggewie, Wolf Leppenies, Guy Sachar, Friede Springer, Adina Stern, Oliver Sturm,
Michael Stürmer, Eran Tiefenbrunn, Amit Toubi, Margrit Wreschner, Moshe Zukermann und anderen, die aus Gründen, die später
erklärlich werden, nur mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen genannt werden. Ich habe inhaltlich getreu aufgeschrieben, was
meine Gesprächspartner mir sagten, aber die Verantwortung für Deutungen, Schlußfolgerungen, Assoziationen sowie für
Mißverständnisse aller Art liegen bei mir. Jürgen Habermas warnte mich, beim Verfassen eines solchen Buches könnten mir
meine Naivität und Unkenntnis zum Fallstrick werden. Mit seiner Befürchtung, es könne den falschen Leuten, jenen Deutschen,
die auf ‚Normalisierung‘ aus sind, in die Händespielen, setze ich mich im vorletzten Kapitel auseinander. Das Buch wurde auch
eingedenk dieser ernste Warnungen geschrieben. Trotzdem meine ich, jedes Reisebuch entsteht aus einem einmaligen
Zusammentreffen von Naivität, Unkenntnis, Vorurteilen und schrittweise gewonnenen Erfahrungen aus dem momentanen,
zufälligen, beweglichen Blickwinkel des Reisenden. Und Reisende sehen bekanntlich mehr als die Seßhaften, viel mehr, aber auch
weniger, viel weniger. Das sind die uralten Gesetze der Reiseliteratur.
Ich schulde vielen Menschen Dank. Das Wissenschaftskolleg zu Berlin gewährte mir vollkommen akademische Gastfreundschaft.
Ich danke den Mitarbeitern des Kollegs (und insbesondere der Bibliothek) für ihre Unterstützung. Adina, Eran und Julia für ihre
Freundschaft. Gilad Carmel für all die Hilfe., die er uns in Berlin leistete. Leonard Rein schickte aus der wunderbaren Haifaer
Universitätsbibliothek schnell und zuverlässig umfangreiches Material. Für bibliografische Hilfe danke ich auch Dani Friedlander,
Gabi Guarino, Marek Glasermann, Ute Habermas, Shulamit Almog, Elke Blumenthal und Dieter Sadowski. Hanna Marron und
Yossi Yadin halfen mir beim Wiederauffinden der fast vergessenen Zeilen über die hebräischen Soldaten im besiegten Berlin.
Dieses Buch verdankt viel dem Internet, dem nichts Menschliches fremd ist und das, wie ich hoffe, keinerlei Reglementierung
erfährt und weiterhin dem demokratischen Code seiner Begründer verpflichtet bleiben wird. Mein Dank geht an Zvika Mair und
Rivka Fähndrich vom Keter Verlag – und insbesondere an Gideon Samet, der den Grundgedanken dieses Buches akzeptierte und
dazu beitrug, ihm Tiefenschärfe zu verleihen. Ich danke Niva Elkin-Korten, Galia Oz, Daniel Oz, Avi Rabinerson, Gaby Salzberger
Na‘ama Sheffi, Aner Shalev, Adina Stern und Eran Tiefenbrunn, die das Manuskript gelesen und wichtige Anmerkungen dazu
gemacht haben. Besonders möchte ich Avi Shavit danken, der mich vieles über die Wechselbeziehung zwischen Vernunft,
Strenge, Zurückhaltung und Gefühl gelehrt hat. Meine Mutter und mein Vater halfen mir mit Büchern, Ratschlägen und
aufmerksamem Lesen. Ihr Zuspruch und ihre Kritik haben das Buch bereichert. Alle verbliebenen Unzulänglichkeiten des Textes
sind jedoch allein mir anzulasten.
Eli Salzberger hat dieses Buch von Beginn an begleitet, war sein gründlichster Leser und hat viele seiner Gedanken mit
durchdacht. Das Buch ist Eli, dem Andenken seiner Mutter Lotte und ihren Enkeln, unseren Söhnen Nadav und Dean gewidmet.
Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.
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Preiwuß, Kerstin: Restwärme | Berlin Verlag | 2014
Gebunden | 224 Seiten | ISBN: 978-3-8270-1231-9 | 18,99 €
Mariannes Vater ist gestorben. Aus ihrer eigenen, erwachsenen Existenz kehrt die junge Geologin dahin zurück,
wo Mutter und Bruder noch leben, in ein altes Haus am See, tief in der mecklenburgischen Provinz. Nur ein paar
Tage will sie bleiben, bis nach der Beerdigung. Doch was sie glaubte, lange hinter sich gelassen zu haben, holt
sie wieder ein. Eine Familiengeschichte voller stummer Tragödien. Ihr Vater war ein gebrochener Tyrann, ihre
Mutter duldete und schwieg. Schicht um Schicht trägt Marianne ab und zeigt, wie Verletzungen durch Krieg und
Unfreiheit persönliche Schicksale prägen. Preiwuß lässt dabei der Bitterkeit nicht das letzte Wort. Mit großem
Verständnis für das menschliche Drama erzählt sie von Verletzungen, die Generationen überdauern.
Kerstin Preiwuß, Lübz geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Psychologie in Leipzig und Aix-enProvence, promovierte über deutsch-polnische Städtenamen und ist Absolventin des Deutschen Literaturinstituts
Leipzig, wo sie auch lehrte. 2006 debütierte sie mit dem Gedichtband „Nachricht von neuen Sternen“. 2008 erhielt
sie das Hermann-Lenz-Stipendium. Von 2010 bis 2012 war sie Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift „Edit“.
2012 erschien ihr zweiter Gedichtband „Rede“. Zuletzt erhielt sie den Mondseer Lyrikpreis. Preiwuß lebt mit ihrer
Familie in Leipzig
Der Flug war ohne Zwischenfälle verlaufen. Sie hatte Lufthansa gebucht, obwohl die teurer waren, weil noch nie eine Maschine
der Lufthansa abgestürzt war. Neben ihr saß ein Elternpaar mit Baby, und kein Flugzeug, in dem ein Baby mitflog, würde
abstürzen, so etwas passierte einfach nicht. Das Kleine wurde abwechselnd von Vater und Mutter auf den Arm genommen, je
nachdem, zu wem es sich drehte. Dabei brabbelte es vor sich hin. Es hatte die ganze Startphase über geschrien, bis seine
wenigen Haare nass am Kopf klebten, sich durchgebogen und immer wieder zurückgeworfen, sodass seine Eltern es kaum halten
konnten. Die Ohren, sagte seine Mutter entschuldigend zu ihr, es tut ihm in den Ohren weh.
Sie konnte das Baby verstehen, denn obwohl es während des Flugs keine Turbulenzen gegeben hatte, war sie nassgeschwitzt.
Der Schweiß war ihr ausgebrochen, nachdem die Flugbegleiterin zwei junge Männer in der Reihe hinter ihr gebeten hatte, sich
leiser zu unterhalten, sie würden die anderen Passagiere stören. Die beiden warteten, bis die Frau weitergegangen war, dann
fuhren sie lautstark mit ihrer Unterhaltung über Filme fort, in denen Flugzeuge abstürzten. Sie drehte sich um und starrte die
Männer an, aber es änderte nichts, die beiden animierten sich gegenseitig mit Begeisterungslauten zu immer neuen Details.
Lautlos wünschte sie ihnen Impotenz wegen zu hoher Strahlenbelastung und drehte sich wieder zurück. Mit der Wut kam der
Schweiß, er nässte bereits unter ihren Achseln, es juckte, als würden kleine Nadeln von innen durch die Haut stoßen. Um sich
vom Kratzen abzuhalten, presste sie die Hände gegen die Oberschenkel. Es kam vor, dass sie allergisch auf ihren eigenen
Schweiß reagierte, selten zwar, aber es war schon passiert, in jedem Fall machte es ihr das Leben nicht einfacher, bei
Vorstellungsgesprächen etwa oder bei Verabredungen. Sie hatte darum alle erdenklichen Entspannungsübungen gelernt und war
mit Bachblüten, Yoga und autogenem Training vertraut. Die Kombination von Bachblütentropfen und autogenem Training half
normalerweise gut, nur beim Fliegen versagte jedes Mittel.
Sie befahl sich, an etwas anderes zu denken. Mutter hatte sie noch am späten Abend angerufen. In ihrer Stimme hatte ein
Unterton gelegen, der sie, obwohl sie schon im Bett lag, schlagartig munter machte. Mutter rief sonst nie an. Sie hatte die
Bettdecke beiseitegeschoben, war mit dem Telefon ins Bad gegangen und hatte sich auf die Toilette gesetzt. Dort war es am
kühlsten. Das Gespräch war kurz. Sie sagte, sie werde kommen, und legte auf, ohne die Antwort abzuwarten. Danach blieb sie
sitzen, das Telefon in der Hand. Obwohl sie kaum etwas gesagt hatte, war sie erschöpft. Der Schweiß sammelte sich zwischen
ihren Brüsten, aber das konnte auch an der hohen Luftfeuchtigkeit liegen, selbst in den Nächten kühlte die Luft hier nicht ab. Ihre
Knappheit am Telefon war eine Flucht nach vorn gewesen, in ihrer Vorstellung behielt auch Mutter den Hörer in der Hand.
Die beiden Männer gingen noch bis kurz vor dem Landeanflug sämtliche ihnen bekannten Katastrophenfilme durch, erst dann
wurden sie ruhiger. Sofort nachdem das Flugzeug still stand, brach in der Kabine eine geschäftige Hast aus, alle griffen nach ihren
Taschen und drängten aus der Maschine. Sie stand auf, um die Familie mit dem Baby durchzulassen. Die Hose klebte ihr an den
Beinen, und dort, wo sie gesessen hatte, glänzte das Leder. Unauffällig löste sie den Stoff von der Haut, nahm ihre Reisetasche
und ging zum Ausstieg.
Die Wohnung machte einen vernünftigen Eindruck. Ein paar Teller mit angetrockneten Resten standen in der Küche neben
benutzten Gläsern und einer halben Pizza, die eingesunken in ihrem Pappkarton lag, aber das war in Ordnung. Normalerweise
räumte Marie alles weg, bevor sie wiederkam. Sie ging weiter bis zum Zimmer ihrer Tochter und öffnete die Tür. An den Wänden
hingen Poster einer Boy-band. Ganz oben auf dem Regal stand eine Lavalampe, in der träge Blasen schwebten. Das Bett war
nicht gemacht, und auf dem Boden lagen die Sachen, die sie gestern getragen haben musste. Das weiße Trägerhemd war viel zu
kurz, um die Nieren zu bedecken. Bei dem Wetter würde sie sich erkälten.
Sie riss ein Blatt aus einem der Collegeblöcke auf Maries Schreibtisch und zog die Tür wieder hinter sich zu. Marie mochte es
nicht, wenn sie heimlich in ihr Zimmer ging. Sie wiederum hatte etwas dagegen, dass ihre Tochter sich zu dünn anzog. In gewisser
Hinsicht waren sie also quitt.
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Mit dem Blatt setzte sie sich in die Küche und schrieb einen kurzen Brief, in dem sie erklärte, dass sie zwar früher zurückgekehrt,
aber schon wieder unterwegs war. Bereits beim zweiten Satz geriet sie ins Stocken. Sie setzte an, strich durch, setzte erneut an,
bis die Wörter schwarz übermalt waren. Dann zerknüllte sie das Blatt und warf es in den Müll, nur um es gleich wieder
herauszuholen und in ihre Hosentasche zu stecken. Es war besser, Marie erfuhr nichts davon. Sie hatten abgemacht, dass sie
zum Schlafen zu einer Freundin ging. Marie war es gewohnt, häufiger dort zu übernachten, während sie für die Arbeitstreffen in
Neapel war. Das war eine stille Übereinkunft zwischen ihnen und es funktionierte gut. Sie ging in den Flur zurück, schulterte ihre
Tasche, ohne noch einmal hineinzuschauen, und verließ die Wohnung.
Die Fahrt dauerte drei Stunden auf einer Strecke, für die man eigentlich die Hälfte der Zeit brauchte, aber der Zug hielt alle zehn
Minuten. Manchmal waren es nur Behelfsbahnhöfe. Sie war gleich nach oben gegangen und hatte sich einen freien Vierersitz
gesucht, sie konnte nur in Fahrtrichtung sitzen, andernfalls wurde ihr schlecht. In Fahrtrichtung zu sitzen war die einzige
Sicherheit, die ihr das Fliegen bot. Ansonsten gab es nur Nachteile, vor allem konnte man sich nicht aussuchen, wo und neben
wem man saß, oder den Platz wechseln, wenn einem der Sitznachbar nicht passte.
Nach dem nächsten Halt ging ein Mann an ihr vorbei, sah auf die Tasche, die sie auf den gegenüberliegenden Sitz geworfen hatte,
und fragte, ob der Platz noch frei sei. Sie zuckte zusammen, als wäre er zu nah an sie herangetreten, und war zugleich von sich
selbst peinlich berührt. Die meisten Doppelsitze waren belegt, es war also nur eine Frage der Zeit, bis sich jemand zu ihr setzen
würde. Sie zog die Tasche weg. Der Mann nahm den Platz schräg gegenüber, seine Knie stießen dabei fast an ihre Beine, sodass
sie die Füße einzog, um nicht unhöflich zu wirken. Sie musterte sein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Er war schon alt. Auf dem
Kopf trug er eine jeansfarbene Schirmmütze, an der rechts über dem Ohr mit einer Sicherheitsnadel drei Federn eines
Eichelhähers befestigt waren. Es waren die Schmuckfedern, die es nur an den Flügeln gab.
Sie lehnte den Kopf gegen die Scheibe. Der Wind zog durch die Ritzen und ließ sie frösteln, obwohl es Juni war. Berlin hatte sie
mit empfindlicher Kühle und Regen begrüßt. Ihre Hose hatte vom Saum her die Nässe aufgesogen und lag wie ein feuchter
Lappen um die Knöchel. Ihre Füße waren nackt und steckten in Sandalen. Seit der Landung waren sie kalt. Langsam dünnten die
Vorstädte aus. Man konnte in die Gärten hinter den Häusern schauen. Planschbecken lagen neben umgekippten Dreirädern
schlaff im Gras. Stühle lehnten an Plastiktischen, ein paar Obstbäume, ansonsten Gemüsebeete und Rasen. Nur die
Zucchinipflanzen waren neu, sie ersetzten nach und nach die Kürbisse auf den Komposthaufen.
In den Mülleimer unter dem Fenster hatte jemand ein Hakenkreuz geritzt. Dahinter zog die Landschaft vorüber. Ein paar Rehe
standen am Waldrand wie eine Momentaufnahme. Die Hügel der Endmoräne hatten bereits die Kiefernwälder und ihren sandigen
Untergrund abgelöst, sie kam ihrem Ziel also näher. Ab und an war ein See zu sehen, sonst Felder, manche schon am Blühen, die
meisten jedoch noch grün. Kuhherden standen ergeben auf durchtränkten Wiesen. Durch den Regen, der jetzt über das Fenster
schlierte, waren sie jedoch nur schemenhaft zu erkennen. Das Prasseln war trotz der Zuggeräusche deutlich zu hören, mal
stärker, mal schwächer, aber immer da.
Mit dem Zug nach Hause kommen, das hieß, langsamer als langsam sein, einspurig. Warten auf den Gegenzug, kein IC E , nur
Regionalbahn und ab und zu ein InterCity. Dafür Rehe, Kraniche, Füchse vielleicht und Natur, ja Natur: sehr schön hier, vierzig
Kilometer Nacht waren kein Problem, nur Davonkommen war schwer, man hing so am Land, dass es an einem zog, wenn man es
verließ, eine Art Herzschmerz, aber das war nur ein Bild, denn im Bauch saßen wesentlich mehr Nerven. Man musste wohl einen
Ort finden für all die widersprüchlichen Gefühle, und da hatte das Herz gewonnen, denn hier ging das arme Blut rein und kam
reich wieder raus, während der Magen bloß verschob, was am Ende den Körper verließ, vielleicht war die ganze Heimatsehnsucht
nur so etwas wie eine Herzmetapher für den Bauch.
Es war unversehens über sie gekommen. Das Wort Zuhause hatte sich in ihr gebildet, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte.
Es passte nicht mehr. Es passte immer noch. Es hing an ihr und ließ nicht los. Eine Umklammerung, die nach außen wie eine
Umarmung wirkte, der man den Würgegriff aber nur nicht gleich ansah.
Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken. Das Treffen war gut verlaufen, sie hatte vorgearbeitet und konnte bereits einige
Auswertungen präsentieren, die den Kollegen in Neapel helfen würden. Sie war stolz auf sich und ihre Arbeit, es bedeutete etwas,
Teil einer internationalen Forschungsgruppe zu sein. Es war nicht einfach gewesen in der letzten Zeit, wie so vieles wurde auch ihr
Institut wenn nicht abgewickelt, so doch zumindest verschlankt, und sie hatte ihre Chance genutzt. Schon während des Studiums
hatte sie sich auf Tektonik spezialisiert und ihre Praktika im Observatorium in Collm absolviert. Dort war es ihre Aufgabe gewesen,
sämtliche Erdbeben weltweit zu erfassen und auszuwerten. Es gab flache und tiefe Beben, Nah-und Fernbeben, die von
Störungen und Atombombenexplosionen zu unterscheiden waren. An manchen Tagen gab es bis zu eintausendfünfhundert
Beben. Das waren Schwarmbeben. Sie traten in zehnminütigen Abständen auf und unterschieden sich von den Fernbeben
hinsichtlich ihrer Wellenstruktur. Ein Schwarmbeben hatte erst eine kleine Amplitude, bevor es zur großen kam, ein Fernbeben
dagegen war niedrig auf den Oberflächenwellen, sein Seismogramm aber wurde mit zunehmender Entfernung immer länger.
Fernbeben sandten Wellen, die bis durch den Erdmantel zum Erdkern vordrangen, dort reflektiert wurden und an anderer Stelle
wieder an die Oberfläche kamen, bevor sie sich erneut auf den Weg durch die Erde machten. Je stärker das Beben gewesen war,
desto mehr Wellen sandte es aus.
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Man müsse, sagte der Leiter der Station, sich das wie einen Weihnachtsstern vorstellen, der durch einen dreidimensionalen Raum
bricht. Nicht jede der Zacken stoße direkt vor ihrer Haustür durch die Erde. Weil die Erde jedoch aus unterschiedlichen Strukturen
bestehe, würden am Ende alle Zacken so weit abgebogen, dass sie ihnen stets zu Füßen fielen. Aber der Vesuv, hatten ihre
italienischen Kollegen gesagt, ist unberechenbar. Ist wie eine schwangere Frau, die gerade ihr Kind überträgt. Wir können nur
messen und immer wieder messen, vorhersagen lässt sich nicht, wann der Ausbruch kommt.
Sie dachte daran, gleich nach ihrer Ankunft Marie anzurufen, entschied sich aber dagegen. Solange sie sich nicht meldete, war
alles in Ordnung. Das zu wissen reichte. Sie griff zu dem Buch, das sie für die Reise mitgenommen hatte. Jemand kehrt nach
Hause zurück, obwohl niemand es von ihm erwartet hatte. Dennoch begrüßten ihn alle. Eine Melodie und eine automatische
Stimme kündigten den nächsten Halt an. Sie horchte auf. Das Lied hatte sie zuletzt als Kind gehört. Als die Stimme verebbte,
erhob sich der Mann, verabschiedete sich knapp und ging zum Ausstieg.
Der Zaun hatte seine Farbe behalten: ein splittriges Grün, unter dessen Abblätterungen das Holz hervorlugte. Er stand schief da
mit seinen nach oben zugespitzten Pfählen, als bildete er Palisaden um eine längst verlassene Burg. Beim Öffnen stemmte sich
das Tor in den Sandboden, weil das Holz über die Jahre nicht aufgehört hatte zu arbeiten. Holz kam nie zur Ruhe.
Sie beeilte sich. Der Himmel hatte längst seine Struktur verloren, keine Wolke war mehr von einer anderen zu unterscheiden, und
es schüttete wie aus Eimern. Der Garten war in ein fahles Zwielicht getaucht, das alle Pflanzen gleich aussehen ließ, ein wildes,
fleischiges Wachstum, das sich unbändig in alle Richtungen wand. In den Ritzen des Plattenwegs, der zum Haus hinunterführte,
hatte sich Löwenzahn eingenistet, an dessen Blättern braune und schwarze Schnecken klebten.
Das Haus sah aus wie ein Bunker. Bis auf das Dach mit seinen moosbewachsenen roten Schindeln unterschied es sich nicht vom
Himmel. Irgendwann würde es in sich zusammenfallen. Das Dach würde erst undicht werden, dann einsacken. Der Wind würde
hineinfahren in die durchgelegenen Betten, die Treppe runterrasen und durch das Haus fegen und die Geweihe von der
Wohnzimmerwand hebeln, und dann würde der Regen alles durchnässen. Nach ihm würde der Schimmel langsam die Wände
entlangwachsen und sich allmählich mit der Luft verbinden, bis aus dem Haus ein feuchter Schwamm geworden war. Selbst wenn
man sie dafür aus dem Tiefschlaf holte, könnte sie den Grundriss zeichnen. Eine Zeitschrift suchte immer mal wieder Fotos vom
Ende der Welt. Hier bot sich gerade ein gutes Motiv an.
Der Schlüssel lag wie früher in dem verlassenen Vogelhaus. Sie griff aus alter Gewohnheit hinein, nicht weil sie ihn brauchte. Ein
Windspiel hing schwer von der Markise, es gab keinen Ton mehr von sich, weil der Bambus sich unter dem Regen so vollgesogen
hatte, dass die Luft zwischen den einzelnen Hölzern keinen Spielraum mehr fand. Nur die Tür passte nicht ins Bild, sie war das
Neueste am ganzen Haus, eine Konstruktion aus Plastik und Glas mit einem Quer-schlitz als Schlüsselloch. Wenn man sie
öffnete, stand man inmitten bunter Bänder, die vom Rahmen herabhingen.
Mutter stand in der Küche, wie immer, den Unterleib an den Herd gepresst, im bunten Kittel, der die Arme frei ließ, und briet etwas
in der Pfanne. Sie hatte sie noch nicht bemerkt, also sah sie ihr vom Flur aus zu. Ihre Hände waren so braun, dass die
Altersflecken kaum auffielen. Über den Handrücken war die Haut gespannt wie bei einem prall gefüllten Getreidesack. Sie war
klein geworden. Ihr Gesicht war von Falten zerfurcht, es sah aus wie eine von den Walnüssen, die sie im Herbst immer
aufgesammelt hatte. Die Haare lagen ihr in dünnen, kurzen Strähnen um den Kopf und ließen sie aussehen wie ein Mann. Als
Kind hatte sie oft dabei zugesehen, wie sie sich Locken eindrehte, während ihre Füße im Heizschuh steckten.
Ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Natürlich komme ich. Dann ist ja gut. Wie lange bleibst du? Bis alles vorbei ist. Ach, ich
bin ja immer allein. Und Hans? Der ist unten am See. Kannst ihn holen. Abendbrot ist fertig.
Draußen kroch ihr sofort die Nässe unter die dünne Jacke. Sie ging in den Flur zurück und zog sich den Troyer über, der an der
Garderobe hing. Er war zu weit, wärmte aber besser als der Trenchcoat. Eine Wespe kam angeflogen und umkreiste ihren Kopf.
Sie war ungewöhnlich groß, vielleicht eine späte Königin auf der Suche nach einem Ort für das Nest. Wenn man sie nicht tötete,
würden ihr Tausende folgen. Sie reagierte allergisch auf Stiche, das hatte sie von Mutter, also machte sie drei schnelle Schritte zur
Seite und lief, als die Wespe nicht von ihr ablassen wollte, bis in den Hinterhof, um dem Tier zu entkommen.
Unter der Walnuss stand der alte Schuppen, auf den er so stolz gewesen war: selbst gebaut. Das hieß, Ziegel rüde
aufeinandergepackt, bis der Mörtel aus den Ritzen quoll. Dann mit Beton verputzt. Die Tür hing wie ein Fremdkörper an der
Vorderseite, sie schloss nicht mehr richtig, sodass der Schuppen offen blieb. Unterm Dach steckten verrostete Äxte und Beile und
an der Wand waren Pinsel aufgereiht, alle mit verklebten Borsten. Hinten stand eine Werkbank mit einer Schleifmaschine, vorn
steckten Kneifzangen, auf der Arbeitsplatte herrschte heillose Unordnung. In einer Ecke lehnten Fahrräder, deren verrostete
Ketten schlaff von den Zahnkränzen hingen. Der Boden war uneben, eine Buckelpiste, die er immer mit der Landschaft verglichen
hatte. Eine Sense hing locker an der Wand. Als sie beim Heraustreten die Tür schließen wollte, war es, als käme das Blatt ihr ein
Stück entgegen.
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Gegenüber lag der Hühnerstall. Früher schliefen hier nachts die Hühner auf den Stangen, nachdem sie den ganzen Tag den
Boden aufgescharrt hatten. Immer wenn sie den Hof betrat, um Eier zu holen, hatte sie sich vor dem Hahn in Acht nehmen
müssen, der ihr zwischen die Beine fuhr und nach den Adern pickte. Er war schon zu zäh, um ihn noch zu essen, aber sie zählte
darauf, dass ihm der Kopf eines Tages wie ein Holzscheit vom Rumpf getrennt würde, was nützte es da, dass der Körper danach
noch den Helden spielte und wie wild durch den Hof lief, was nützte ihm da sein Hahnenkamm? Der Kopf wurde vergraben, wie
überhaupt alles, was nicht zu verwerten war: Hühnerköpfe, Entenköpfe, alles unterm Apfelbaum: Sommerscheibe, grasgrün mit
weißem Fruchtfleisch, der früheste Apfel im Jahr.
Vor dem Hühnerstall stand eine Wäschespinne. In ihrem Netz hingen ein paar Unterhosen aus Baumwolle wie erschlaffte Segel im
Regen. Sie trat ein. Anstelle der Tiere waren die Geräte eingezogen. Aufgereiht an der Wand hingen Besen, Harke und Forke. Es
roch noch nach Huhn. In der Ecke lehnte das Luftgewehr, mit dem er immer auf Krähen zielte, abdrückte und traf, wenn er
nüchtern war. Wenn er besoffen war, erwischte er manchmal ein Huhn, das war, wenn die Diabolos durch den Hinterhof pfiffen.
Dieser verdammte Jähzorn, der in der Familie lag. Auf dem Weg zum Zauntor geriet sie ins Stolpern. Sie suchte die Stelle nach
einem Hindernis ab. Aber da war nichts. Kein Ast oder Stein. Nur glatt getretener Boden. Sie stockte, trat dann einen Schritt nach
vorn und blieb stehen. Ein kurzer Schwindel, die Welt geriet ins Schwanken, aber sie gab dem Gefühl nicht nach und ging weiter
bis zum alten Hundezwinger. Dort hausten jetzt die Kaninchen in aufeinandergestapelten Buchten, die aus ehemaligen Holzkisten
zusammengezimmert waren. Sie öffnete das oberste Gatter, nahm etwas Heu von der Schubkarre und hielt es hinein. Die Alte
hatte wieder geworfen. Die Jungen flüchteten erst in den hinteren Teil der Buchte, kamen aber langsam wieder hervor und ließen
sich schließlich streicheln. Sie strich ihnen vom Kopf aus über den Körper, dabei duckten sie sich und verharrten regungslos,
sodass sie spürte, wie ihre Körper zitterten.
Wenn sie zum See wollte, musste sie unter der Teppichstange durch. Es war, als würden ihre Füße den Weg kennen. Bis auf die
Pforte stand vom Zaun nichts mehr. Man konnte auch rechts und links daran vorbeigehen, denn der Draht hing lose zwischen den
Pfählen. Mal ragte er ins Grundstück hinein, mal lehnte er sich hinaus, nie aber bildete er eine Grenze zum Schutz. Einige Enden
hatten sich gelockert und standen ab. Nicht ungefährlich, wenn man hier hängen blieb. Unwillkürlich zählte sie die Jahre, die seit
der letzten Tetanusimpfung vergangen waren. Auf der Wiese, die sich zwischen Böschung und Ufer erstreckte, scheuchte sie eine
Ringelnatter auf. Kurz konnte sie dabei zusehen, wie das Tier sich fußlos über die Wiese schob, dann wurde es vom Schilf
verschluckt. Zwischen den Grasbüscheln ragten schon die ersten Blätter der Pestwurz hervor. In ein paar Wochen würden sie ein
Dickicht ergeben, durch das man eine Schneise schlagen musste, um zum Bootshaus zu gelangen. Im Schilf trieb ein Fisch mit
dem Bauch nach oben, er war bereits aufgedunsen und seine Schuppen hatten sich ins Weiße verfärbt. Am Ende des Stegs stand
jemand. Auf ihr Rufen kam er ihr entgegen.
Wenn du weiter so laut bist, vertreibst du die Fische.
Hallo.
Hallo.
Die Bohlen unter den Füßen verstärkten den Klang ihrer Schritte. Auf dem Holz klebte Schwalbenmist und in den Fenstern des
Bootsschuppens hingen statt der Gardinen geometrisch gewobene Netze, in deren Mitte Spinnen reglos verharrten. Erst als eine
Fliege sich in einem der Netze verfing, tat sich was, blitzschnell bewegte die Spinne sich entlang der Fäden auf die Fliege zu und
wickelte sie in einen Kokon.
Ich möchte keine Fliege sein.
Nein, du bist der, der die Fliege ins Netz wirft.
Früher warst du nicht so zimperlich.
Schon was gefangen?
Du bist immer noch zu laut.
Vorn treibt ein toter Fisch im Schilf.
Das kommt von den Motorbooten. Die heizen mit hundert PS über den See, obwohl nur fünfzig erlaubt sind. Alles Leute aus
Berlin. Man sieht überhaupt keine anderen mehr. Im Frühling kommen sie über die Autobahn und bringen ihre Boote her. Dann
weißt du, die Saison hat begonnen. Aber die Fische?
Erstens ist es zu laut und zweitens wird der See durch die vielen Boote immer Schmutziger. Wenn früher ein Fisch tot im Wasser
trieb, war der Sommer so heiß, dass die Algen den ganzen Sauerstoff verbraucht haben. Heute ist es heiß und blüht und schmutzt
und was weiß ich. Hab letzte Woche einen Hecht mit der Forke erwischt.
Was hast du?
Der stand da unterm Steg, und ich dachte mir, wenn du den jetzt richtig angeln willst, mit Köder und so, ist er schneller weg, als du
denken kannst. Also hab ich die Mistforke geholt.
Du hast ihn aufgespießt?
Aufgespießt, geschuppt und ausgenommen. Er war krank, das sah man an den Schuppen. Von allein steht der nicht einfach so
am Ufer.
Ist das erlaubt?
Mir doch egal. Hab ihn schließlich nicht geangelt.
Braucht man dafür nicht einen Schein?
Was willst du eigentlich? Kommst hierher und bist nur da, weil du musst.
Was machst du jetzt?
© Berlin Verlag. Alle Rechte vorbehalten
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Pressler, Mirjam: Nathan und seine Kinder | Beltz | 2013 | Ab 14 Jahre
Taschenbuch | 264 Seiten | ISBN:978-3-407-74233-9 | 8,95 €
Jerusalem, Zeit der Kreuzzüge um 1192: Ein junger Tempelritter rettet Recha, die Tochter des jüdischen Kaufmanns Nathan, aus dem Feuer. Daraufhin richtet Sultan Saladin an Nathan die schwierigste aller Fragen: Welche
Religion ist die einzig wahre? Nathan antwortet mit dem berühmten Gleichnis von den drei Ringen und ahnt nicht,
dass ihm inzwischen der christliche Patriarch von Jerusalem sowie ein moslemischer Hauptmann nach dem
Leben trachten... Pressler erzählt den klassischen Stoff neu und provozierend zeitgemäß, aber nicht ohne Hoffnung für ein friedliches Nebeneinander der Religionen. „Ein lebensnahes Plädoyer für einen anderen Weg aus
der Jahrtausendtragödie der Weltreligionen als den, von dem wir tagtäglich in den Nachrichten hören.“ Die Zeit.
„In Presslers Roman werden Ideen verkörpernde Figuren zu lebendigen Wesen. Erfrischend anders!“ Die Welt
Mirjam Pressler veröffentlichte zahlreiche Kinder- und Jugendbücher, darunter die Romane „Wenn das Glück
kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen" (Deutscher Jugendliteraturpreis) „Malka Mai" (Dt. Bücherpreis),
„Die Zeit der schlafenden Hunde", „Wundertütentage", „Golem stiller Bruder" und zuletzt „Nathan und seine
Kinder". Mit „Ich sehne mich so. Die Lebensgeschichte der Anne Frank" schrieb sie ein Biographie von Anne
Frank, deren Tagebuch sie neu übersetzt hat. Mirjam Pressler wurde vielfach ausgezeichnet. Für ihre „Verdienste
an der deutschen Sprache" wurde sie 2001 mit der Carl-Zuckmayer-Medaille geehrt, für ihr Gesamtwerk als
Autorin und Übersetzerin mit dem Deutschen Bücherpreis, für ihr Gesamtwerk als Übersetzerin mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises. Sie lebt in Landshut und feiert im Juni 2015 ihren 75. Geburtstag!
Personen
Sultan Saladin
Sittah, dessen Schwester
Abu Hassan, ein Hauptmann Saladins
Nathan, jüdischer Kaufmann in Jerusalem
Recha, dessen Tochter
Daja, eine Christin, Rechas Gesellschafterin
Geschem, ein Junge im Haus Nathans
Elijahu, Verwalter Nathans
Jakob, Gehilfe Nathans
Zipora, Köchin im Haus Nathans
Curd von Stauffen, später Leu von Filnek, ein junger Tempelritter
Al-Hafi, ein Derwisch im Dienst Saladins
Der Patriarch von Jerusalem
Geschem
Ich muss unter dem Maulbeerbaum eingeschlafen sein, wo ich mich am späten Nachmittag, als die Hitze unerträglich wurde, zum
Ausruhen hingelegt hatte, denn ich wurde von Schreien geweckt. Es waren hohe, schrille Schreie, und ich hob unwillkürlich die
Hände, um meine Ohren zu schützen. Erst verstand ich nicht, dass es ein Mensch war, der da schrie. Doch dann sah ich sie,
Daja, die Herrin, wie sie sich drehte und wand und versuchte, sich aus dem Griff der Köchin zu befreien, ich sah ihr verzerrtes
Gesicht und den aufgerissenen Mund. „Recha!", schrie sie. „Recha! Recha!" Doch Zipora und eine Magd hielten sie fest und
lockerten den Griff auch nicht, als Daja wie wild um sich schlug und schrie: „Lasst mich los, ich muss zu Recha! Nathan ist nicht
da! Gott steh uns bei, wenn Recha etwas passiert." Ihre Schreie übertönten das Prasseln der Flammen. Ich wollte aufspringen, ich
wollte mich in die Flammen stürzen, ich wollte der tapfere Held sein, der die Tochter des Herrn rettet, ich, ich, ich! Das war die
Gelegenheit, die Gott mir bot, Gott oder Allah, um meinen Mut zu beweisen. Alle sollten es erfahren, vor allem er, Nathan, der
Herr, dass ich mehr war als nur ein armseliger Krüppel. Aber die Hitze des Feuers drang bis zu meinem Platz unter dem
Maulbeerbaum, und in meinem Körper brach der altbekannte Schmerz auf, ein stechender Schmerz, der mir von der linken Seite
durch den ganzen Körper fuhr. Ein Schmerz, den ich eigentlich nicht fühlen durfte, denn längst vernarbte Wunden schmerzen nicht
mehr, warum taten es meine dennoch?
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Ich kauerte unter dem Maulbeerbaum und hatte nur einen Gedanken: Ich muss die Herrin herausholen, ihr Vater ist nicht da, es ist
meine Pflicht, sie zu retten. Aber als ich aufspringen wollte, gehorchte mir mein Körper nicht, die Narben brannten, mein linker Arm
und mein linkes Bein krümmten sich, wie sich verkohlende Äste im Feuer krümmen, sie wurden steif und unbeweglich. Das
Hundezahngras zerkratzte meine Haut, als ich anfing zu kriechen, Rauch drang mir in Nase und Mund, meine Augen brannten und
ein schrecklicher Husten schüttelte meinen Körper. Mir wurde schwarz vor den Augen. Doch bevor es mir gelang, in die ersehnte
Bewusstlosigkeit zu versinken, tauchte plötzlich eine hohe Gestalt vor dem Feuer auf. Scharf hob sich ein breiter, weißer Rücken
gegen die Flammen ab, die Arme bewegten sich aufwärts, die Ärmel fielen auseinander, schwangen wie die Flügel eines riesigen
weißen Vogels auf und ab.Der Fremde zögerte nur kurz, aber lange genug, dass ich das große, rote Kreuz auf seinem Gewand
erkennen konnte, dann machte er einen Satz, hinein in das Feuer, und wurde von den Flammen verschluckt.
Schlaf senkte sich auf mich, ein hässlicher, bedrohlicher Schlaf mit einem hässlichen, bedrohlichen Traum. Das Erste, was ich
sah, war der Rauch, immer sieht man zuerst nur den Rauch. Er drang aus der Tür, kletterte als dünner Faden an der Hauswand
nach oben, kräuselte sich, verdichtete sich zu Schwaden, stieg in den Himmel, sammelte sich zu einer drohenden Wolke. Ich
brauchte nicht zu überlegen, was der Rauch bedeutete, ich wusste es, und noch bevor ich mich gegen den Schmerz wappnen
konnte, züngelten bereits die ersten Flämmchen unter dem Rauch hervor und wurden schnell zu lodernden Flammen, die sich mit
dem Rot der untergehenden Sonne mischten, sodass es aussah, als brenne der Himmel. Und dann kam sie endlich, die
Bewusstlosigkeit. Als ich das nächste Mal aufwachte, stand der Mond hoch über der Zitadelle. Erst war ich ganz verwirrt, wusste
nicht, wo ich war, ich spürte nur, dass ich nicht auf meinem üblichen Fell in der Küche lag, unter dem Tisch, auf dem Zipora
Hühner und anderes Fleisch koscher* macht, schneidet und zum Kochen herrichtet. Der Boden unter mir war uneben, ich spürte
Steine, die mich in den Rücken drückten, und meine Finger ertasteten raues Hundezahngras. Erschrocken riss ich die Augen auf
und sah die Krone des Maulbeerbaums über mir. Durch das Blätterdach blitzten Sterne, und der Mond, der fast voll war, schien
hell genug, dass ich drüben, vor dem Haus, eine Gruppe Menschen zusammensitzen sah, Menschen, deren Stimmen mich
geweckt hatten. Die Stimmen wurden lauter, über mir im Baum schrie ein Nachtvogel, in den Olivenhainen hinter der Stadtmauer
heulten Schakale, Ameisen krabbelten über meine Hand. Der bittere Geruch von verbranntem Holz stieg mir in die Nase. Aber ich
brauchte diesen Beweis nicht, um zu wissen, dass ich nicht geträumt hatte. Ein Schauer lief mir über den Rücken, die Haut in
meinem Nacken zog sich zusammen, eine Erkenntnis stieg in meiner Kehle auf und erfüllte meinen Mund mit Bitterkeit: Es war
wirklich passiert. Und mit dieser Erkenntnis packten mich die Scham und die Reue darüber, dass ich meine Herrin nicht gerettet
hatte, dass ich versagt hatte. Ich war ein Nichts, nur ein armseliger Schwächling, ein Krüppel, zu nichts zu gebrauchen. Unfähig,
eine große Tat zu vollbringen, sogar unfähig, Dankbarkeit zu beweisen. Nicht wert, das Brot zu essen, das ihm gewährt wurde.
Recha war tot, die Tochter des Herrn, sie war ein Opfer der Flammen geworden, während ich untätig und nutzlos unter dem Baum
gelegen hatte. Und wie ein Blitz traf es mich, dass dies nur eines bedeuten konnte: Ich musste das Haus Nathans verlassen, das
mir seit über zwei Jahren zur Heimat geworden war. Und dann erst drang es mir langsam ins Bewusstsein, dass die Stimmen, die
ich von dort drüben hörte, zwar laut und erregt waren, aber niemand schrie, niemand weinte und klagte, niemand zerriss sich die
Kleider und rief Gott zum Zeugen seines Leides an. Hoffnung stieg in mir auf, eine zaghafte Hoffnung, dass der Todesengel an
unserem Haus vorbeigeflogen sein könnte. Außerdem fiel mir auf, dass ich Männerstimmen hörte, und vorhin, bevor mir die Sinne
schwanden, waren nur Frauen da gewesen, Daja, Zipora, die Mägde. Der einzige Mann war der Fremde gewesen…
Vorsichtig hob ich den Kopf. Drüben, vor dem Haus, hatte man offenbar ein Lager aufgeschlagen, Öllichter brannten, Fackeln, und
in ihrem Schein konnte ich erkennen, dass ein Diener etwas aus einem Krug in einen Becher goss und ihn einem Mann reichte.
Mein Herz begann wie wild zu klopfen. Ich kroch über die trockene Erde ein Stück näher, bis zum Rand des gepflasterten
Vorplatzes, spürte die vom vergangenen Tag noch warmen Steine unter meinen Händen und Knien und konnte den Blick nicht von
dem Mann wenden, der den Becher an den Mund hob und trank. Er war es wirklich, Nathan, der Herr. Er musste nach Hause
zurückgekehrt sein, während meine Seele sich vor Angst in einem Mauseloch verkrochen hatte. Nathan saß auf einer
purpurfarbenen Decke und hielt Recha im Arm, Recha, seine Tochter, die ich tot geglaubt hatte. Ihr Gesicht konnte ich nicht
sehen, sie hatte den Kopf an der Schulter ihres Vaters vergraben, aber ihre hellen Haare flimmerten im flackernden Licht der
Lampe wie das rötliche Gold der Brokatdecke, in die sie gehüllt war. Nathan hatte den einen Arm um sie gelegt, mit der anderen
Hand streichelte er immer wieder ihren Kopf. Ihnen gegenüber saßen Daja und al-Hafi, der Derwisch, Nathans Freund. Ich
wunderte mich nicht darüber, ihn zu sehen, er taucht immer auf, wenn unser Herr von einer Reise zurückkommt. Er scheint die
baldige Ankunft der Kamele schon zu spüren, wenn diese beim Anblick der Stadtmauern ihre Tritte beschleunigen. Er saß da, mit
überkreuzten Beinen, die offenen Hände auf den Knien. Mir fiel auf, dass er ein neues Gewand und einen neuen Turban trug,
prächtiger, als der alte gewesen war, eigentlich viel zu prächtig für einen Derwisch, und als er den Kopf zu Daja drehte, sah ich,
dass sich seine vollen Lippen zu einem Lächeln verzogen. Inzwischen war ich auch nahe genug, um zu verstehen, was sie
sprachen.
„Beruhige dich, Daja", sagte Nathan. „Was bedeuten schon diese kleinen Unbequemlichkeiten, was bedeuten schon die paar
verbrannten Möbel? Das Wichtigste ist doch, dass meiner geliebten Recha nichts passiert ist. Bald haben die Diener so weit
Ordnung geschaffen, dass wir schlafen gehen können. Beruhige dich, Daja, keiner darf heute weinen, wir müssen Gott danken,
dass er Recha gerettet hat. Sie lebt. Was macht es schon, dass ihre Haare angesengt sind, Haare wachsen nach. Was macht es
schon, dass ihr Kleid zerrissen und voller Brandlöcher ist, ich kaufe ihr neue Kleider, schönere und kostbarere als dieses da. Auch
die Wunde an ihrem Arm wird mit Gottes Hilfe heilen, jung und gesund, wie sie ist. Mich bedrückt etwas ganz anderes. Hast du
den Mann wirklich nicht erkannt, der sie aus dem Feuer gerettet hat?"
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Recha hob den Kopf. „Es war ein Engel, Vater", sagte sie mit einer zittrigen Stimme, der die Todesangst noch anzuhören war. „Es
war kein Mensch, es war ein Engel des Herrn." Nathan strich ihr beruhigend über die Haare und zog die Brokatdecke höher über
ihre Schultern. Daja beugte sich vor. „Das Mädchen ist nicht bei Sinnen", rief sie. „Das Feuer hat ihren Verstand verwirrt. Höre,
Nathan, ich habe dir doch gesagt, es war ein Tempelritter."
Nathan nahm einen Schluck aus dem Becher, der vor ihm auf der Decke stand, stellte ihn wieder ab und wischte sich mit dem
Handrücken über den Mund, bevor er nachdenklich sagte: „Es gibt keine Tempelritter mehr in Jerusalem. Der Sultan hat sie alle
töten lassen, manche sagen sogar, er habe sie eigenhändig umgebracht." Jetzt mischte sich al-Hafi ein. „Du irrst dich, Nathan,
mein Freund. Er hat sie umbringen lassen, das stimmt, aber nicht alle. Einen nicht. Ich weiß es, ich war dabei, und ich habe
gesehen, wie er diesen einen angestarrt hat und ganz blass wurde. Diesen einen hat er am Leben gelassen." Nathan hob den
Kopf. „Wirklich?", fragte er ungläubig. „Er hat einem Tempelritter das Leben geschenkt? Warum? "Al-Hafi zuckte mit den
Schultern. „Woher soll ich das wissen? Muss der allmächtige Herrscher der Gläubigen jemandem Rechenschaft über das ablegen,
was er beschließt?"
„Es war ein Tempelritter", sagte Daja laut. Dann brach das Gespräch ab, denn nun wurden die Kamele herbeigeführt. Vor den
Eingängen zu den unterirdischen Lagerräumen entstand Gedränge, die Treiber schnalzten mit den Zungen und stießen Befehle
aus, die Vorderbeine der Kamele knickten ein, ihre Knie berührten den Boden, und bis sie endlich auf dem Bauch lagen,
schwankte die Ladung auf ihrem Rücken gefährlich hin und her. Elijahu und Jakob, die Gehilfen des Herrn, die ihn auf seiner
Reise begleitet hatten, lösten die Riemen und Schnüre und machten sich daran, die Ballen und Packen abzuladen. Stück für Stück
schleppten sie ihre Last hinunter in die Keller. Die Kameltreiber, in schwarze Gewänder gehüllt und mit glänzenden
Krummschwertern bewaffnet, standen bewegungslos und schweigend daneben. Erst wenn alles abgeladen war, würden sie, nach
einer kurzen Verneigung vor dem Herrn, ihre Tiere zu den Zelten vor der Stadt führen. „Was hast du mitgebracht, Nathan?", fragte
al-Hafi. „War deine Reise erfolgreich?"
„Gott hat es gewollt, dass mir jeder Handel zum Nutzen geriet", sagte Nathan. „Mit seiner Hilfe bin ich reicher denn je zuvor. Mit
Olivenöl und duftenden Essenzen aus Jericho bin ich nach Damaskus gezogen, mit Damast, Brokat und Gold komme ich zurück."
„Gott ist groß in seiner Güte", sagte al-Hafi, „und dem Gerechten gelingt alles zum Segen." Dem Gerechten, dachte ich, ja, ihm
schon. Der Gott der Juden liebt den Gerechten. Auch Allah, der Gott der Muslime, liebt ihn. Dann fiel mir der Tempelritter ein, und
ich dachte, bestimmt liebt auch der Gott der Christen den Gerechten. Es kann gar nicht anders sein. Jeder Gott muss ihn lieben,
Nathan, den Herrn, der für seine Gerechtigkeit bekannt ist.
Zwei Diener trugen einen halb verkohlten Sessel aus dem Haus und stellten ihn auf einen Haufen Gerümpel, den sie in
gebührender Entfernung aufgeschichtet hatten, dann holten sie weitere vom Feuer zerstörte Möbelstücke. Als sie die vom Rauch
schwarze, an einer Ecke angebrannte Tischplatte herausschleppten, war ihr Keuchen bis zu mir zu hören. Die Platte fiel krachend
zu Boden, das Splittern zerberstenden Holzes zerriss die nächtliche Stille. Recha hob die Hände und legte sie schützend auf ihre
Ohren. Die beiden Männer richteten sich auf, dehnten ihre Körper und schauten zu, wie andere immer wieder Krüge anschleppten
und Wasser über die rauchenden Gegenstände kippten, um vielleicht noch vorhandene verborgene Funken zu löschen und ein
erneutes Ausbrechen des Feuers zu verhindern. Zipora fegte mit einem groben Besen Asche und Ruß vor die Tür und über den
Vorplatz bis hin zu dem Stück Brachland mit dem Maulbeerbaum. Ich lag noch immer am Rand des Vorplatzes, unschlüssig, was
besser wäre, hinüberzugehen und zu bestätigen, dass der Fremde wirklich ein Tempelritter gewesen war, oder mich unauffällig
den Helfern anzuschließen.
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Primor, Avi: Nichts ist jemals vollendet. Die Autobiografie | Quadriga | ET: 12. Februar 2015
ISBN: 978-3-86995-077-8 | Hardcover | 431 Seiten | Auch als E-Book
Der ehemalige israelische Botschafter Avi Primor ist in Deutschland vor allem bekannt für sein Engagement für
die Aussöhnung zwischen Deutschen und Israelis. Dabei ist sein Einsatz nicht selbstverständlich: Nur zufällig
entging Primors Mutter als Einzige in ihrer Familie dem Holocaust. Daneben liegt Primor die Aussöhnung auch
zwischen Israelis und Palästinensern am Herzen – selbst wenn er sich mit seiner Art, Missstände im Umgang mit
den Palästinensern offen anzusprechen, in seiner Heimat Israel nicht nur Freunde machte. 2013 wurde er für
dieses Engagement, gemeinsam mit dem Palästinenser Abdallah Frangi, mit dem Friedenspreis der Stadt
Osnabrück ausgezeichnet. In seiner Autobiografie erzählt Avi Primor aus seinem Leben, von seiner Arbeit als
Botschafter und davon, wie er zu dem Brückenbauer wurde, den die Menschen lieben.
Avi Primor, Jahrgang 1935, war von 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in Deutschland. Er ist Sohn eines
niederländischen Emigranten; seine Mutter floh 1932 von Frankfurt nach Tel Aviv, ihre gesamte Familie wurde
während des Holocausts ermordet. Avi Primor leitet heute einen trilateralen Studiengang für israelische,
palästinensische und jordanische Studenten an dem von ihm gegründeten Zentrum für europäische Studien, dem
„Interdisciplinary Center Herzliya“.
Ein paar Worte vorweg
Memoiren zu schreiben sollte eigentlich nicht kompliziert sein. Nicht nur kennt man seine eigene Geschichte, sondern es geht
doch hier um die Vergangenheit, und die ist eher etwas, womit man vertraut ist. Was Angst macht, ist die Zukunft. Die Zukunft ist
uns unbekannt, unverständlich oder bedrohlich. Aber mit der Vergangenheit ist man vertraut. Selbst wenn es Unannehmlichkeiten
in der Vergangenheit gab, hat man längst gelernt, wie man sich damit abfindet, und findet die Vergangenheit beschaulich. Diese
Vergangenheit kann man auch immer neu gestalten.
Ich glaube aber nicht, dass es wirklich so einfach ist. Und wenn ich an die Vergangenheit denke, so denke ich auch an die Zukunft,
in der Überzeugung, dass nichts jemals vollendet ist.
Ich beginne das Schreiben meiner Memoiren in Tel Aviv, im Juni 2014, in einer Atmosphäre der Spannung im Lande. Schon
wieder. Seit der Entstehung Israels leben wir in dieser erhöhten Spannung und gewöhnen uns trotzdem nicht daran. Diesmal geht
es um die Entführung von drei israelischen Jugendlichen in einem Siedlungsgebiet im Westjordanland. Vermisste Israelis sorgen
immer für eine große Aufregung im Land und für einen Aufruf der Bevölkerung an die Regierung, alles Mögliche zu tun, um die
Verschollenen zu finden.
Was heißt alles? „Alles" heißt eine Sperrung des Westjordanlandes, die wiederholte Sperrung von Dörfern, Stadtteilen oder
ganzen Städten und die Durchsuchung von Tausenden von Wohnungen. Die Filme und Bilder von diesen Durchsuchungen sind
schwer zu verdauen. Die Grausamkeit des Einbruchs der Soldaten in der Mitte der Nacht in die Wohnungen der meistens
unschuldigen Bürger, der Angriff der Hunde, der Schrecken der Kinder sind Dinge, die seit Beginn der Besatzung vor 47 Jahren
nicht neu sind. Und dennoch …
Während ich dies schreibe, berichten die Zeitungen vom Tod eines ehemaligen Chefs des israelischen Geheimdienstes, Avraham
Shalom, der im Alter von 86 Jahren gestorben ist. Der Mann war nicht nur einer der bekanntesten Geheimdienstchefs, sondern
wahrscheinlich auch als einer der grausamsten bekannt. Das geht natürlich auf seine Behandlung der Palästinenser in den
besetzten Gebieten zurück. Dennoch stand Avraham Shalom in dem berühmten Film über den israelischen Innengeheimdienst
Schabak, The Gatekeepers, für ein Interview zur Verfügung. Er kritisiert die israelische Politik in den Gebieten und vor allem die
Besatzung. Unter anderem sagt er ganz klar: „Was wir in den Gebieten betreiben, ist genau das, was die Deutschen im Zweiten
Weltkrieg, abgesehen vom Holocaust und den Konzentrationslagern, in ihren besetzten Gebieten getrieben haben."
Mich trifft das hautnah. Mein ältestes Enkelkind ist seit zwei Jahren im Militärdienst. Es dient in der Elitekampfeinheit, die die
Hunde für diese Arbeit ausbildet und mit ihnen palästinensische Häuser durchsucht. Der Vater dieses Enkelkinds, mein ältester
Sohn Adar, erzählte mir, er habe seinen Sohn gefragt, was genau er in diesen besetzten Gebieten mache. Der Junge, Noam, an
sich ein sehr sanfter und liebenswürdiger Junge, antwortete seinem Vater: „Lass das, Papa. Du bist ein Liberaler, es ist besser für
dich, wenn du es nicht weißt.„
Mir dreht sich der Magen um. Seit meiner Kindheit und meiner Leidenschaft für einen friedlichen jüdischen Staat sind schon fast
achtzig Jahre vergangen, und ich kann nur sagen: Nichts ist jemals vollendet.
1965 bis 2015. Deutschland - Israel
Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor
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Eine Autobiografie, eine Geschichte, die man über sich selbst erzählt, wird oft mit ein wenig Argwohn betrachtet. Man denkt,
jedem Menschen, der über sich selbst schreibt, wird vor allem daran gelegen sein, sich in einem guten Licht darzustellen. Friedrich
Nietzsche schrieb: „›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹, sagt mein Stolz und bleibt
unerbittlich. Endlich
gibt das Gedächtnis nach.“
Noch schlimmer ist, dass Erinnerungen oft verschwommen sind. Oft ist man ehrlich der Meinung, dass man etwas genau in
Erinnerung hat, und ist sich nicht bewusst, dass man die Geschehnisse im Kopf falsch abgespeichert hat.
Zwei solcher Geschichten habe ich persönlich erlebt.
1970 starb der 80-jährige General de Gaulle. Obwohl er schon nicht mehr Staatspräsident war, stand ihm ein Staatsbegräbnis zu,
und in Frankreich und weltweit herrschte das Gefühl, einem historischen Ereignis beizuwohnen. De Gaulle wollte kein
Staatsbegräbnis, sondern hatte sich eine intime Beerdigung im Kreise seiner Familie in seinem Dorf Colombey-les-Deux-Églises
gewünscht. In Paris wurde dennoch ein Staatsakt in Notre-Dame ausgerichtet. Zu diesem Staatsakt kamen Staatsoberhäupter und
Prominente aus aller Welt.
Obwohl die Beziehungen zwischen Frankreich und Israel zu diesem Zeitpunkt regelrecht schlecht waren und obwohl, zumindest
vom israelischen Blickwinkel aus gesehen, de Gaulle daran schuld war, entsandte Israel seinen Staatspräsidenten Zalman Shazar
sowie den pensionierten ehemaligen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion. Niemand in Frankreich wusste, wer Shazar war, aber
Ben-Gurion sorgte für Aufsehen. Nicht nur, weil er der legendäre israelische Staatsgründer und langjährige Ministerpräsident war,
sondern auch und besonders weil bekannt war, dass er mit de Gaulle auch korrespondiert hatte, als die Beziehungen zwischen
den beiden Staaten merklich abgekühlt waren. Von allen Seiten wandten sich Journalisten an mich, der ich damals Sprecher der
Botschaft war, und bewarben sich um ein Interview mit Ben-Gurion. 1970 war Ben-Gurion schon gesundheitlich angeschlagen und
sehr geschwächt. Es wurde daher entschieden, dass er nur einen einzigen Journalisten empfangen würde, und ich wurde
gebeten, diesen Journalisten auszusuchen. Ich entschied mich für den Leiter des Außenressorts der Tageszeitung Le Figaro,
Yves Cuau, der ein großer Kenner der Weltpolitik und unter anderem Korrespondent seiner Zeitung in Deutschland und Kairo war
und Israel mehrfach besucht hatte. Er hatte zugegebenermaßen auch einen Vorteil, weil er mein persönlicher Freund war …
Das Treffen fand in der Suite Ben-Gurions statt. Im dortigen Wohnzimmer befand sich ein kleiner runder Tisch mit drei Stühlen, an
den sich Ben-Gurion, Yves Cuau und ich als Dolmetscher setzten. Neben uns stand ein Sofa, auf dem sich der israelische
Botschafter in Paris und ehemalige Mitarbeiter von Ben-Gurion, Asher Ben-Natan (der erste israelische Botschafter in
Deutschland), niederließ, um dem Gespräch zuzuhören. Ben-Gurion beantwortete gerne alle Fragen Cuaus und erzählte viel von
seinen Gesprächen und von seiner Korrespondenz mit de Gaulle. Unter anderem berichtete er detailliert über ein Gespräch mit de
Gaulle, das er geführt hatte, als die beiden in Bad Honnef bei der Beerdigung von Konrad Adenauer hinter dem Sarg hergingen.
De Gaulle, so Ben-Gurion, erzählte dabei von Gesprächen, die er mit Adenauer über Israel und den Nahen Osten geführt habe.
Adenauer habe sich über das Verhältnis zu den arabischen Staaten Sorgen gemacht, die aufgrund der deutschen Beziehungen zu
Israel auf ihn zukommen könnten. De Gaulle habe erzählt, er habe dem Kanzler einen Ratschlag gegeben: „Tun Sie, was ich in
diesem Bereich tue. Meine Politik mit dem Nahen Osten ist eine Politik der Parallellinien. Ich unterhalte die besten Beziehungen zu
Israel, ohne den arabischen Staaten zu erlauben, sich in diese Angelegenheit einzumischen. Parallel versuche ich, die
Beziehungen zur arabischen Welt zu entwickeln, ohne den Israelis das Recht zu geben, mir ihre Meinung dazu kundzutun. So
etwas können auch Sie sich erlauben.“
Dieser Geschichte folgten noch weitere Geschichten, bis nach eineinhalb Stunden der Adjutant Ben-Gurions kam, um mich darauf
aufmerksam zu machen, dass das Gespräch vorüber sei. Cuau bemerkte dies selbst, stand auf, und ich geleitete ihn hinaus. Ich
begleitete ihn zum Hotelausgang, und er sagte mir, wie begeistert er von diesem Gespräch gewesen sei. Anschließend ging ich
wieder hoch zu Ben-Gurions Suite, und als ich ankam, öffnete sich die Tür und Botschafter Ben-Natan trat heraus. Er sagte:
„Komm, Ben-Gurion muss sich jetzt ausruhen. Lass uns kurz weggehen und später zurückkommen.“
Im Treppenhaus fragte er mich, wie ich das Gespräch empfunden habe. Ich sagte, es sei faszinierend gewesen und ich hätte viel
daraus gelernt.
„Und was war für dich am interessantesten?“, fragte er weiter.
„Das Gespräch zwischen de Gaulle und Ben-Gurion bei Adenauers Beerdigung“, sagte ich.
„Du weißt doch, dass ich Botschafter in Deutschland war, als Bundeskanzler Adenauer starb“, sagte Ben-Natan. „Ben-Gurion war
gar nicht da! Er ist zwar mit der Absicht nach Deutschland gekommen, zur Beerdigung zu gehen, dann aber im Hotel erkrankt und
konnte der Beerdigung doch nicht beiwohnen. De Gaulle war da, ich auch, aber mit mir hat de Gaulle kein Gespräch geführt.“
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Eine zweite Geschichte:
1977 war ich Leiter der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes in Jerusalem und Sprecher des Außenministers Yigal Allon. Zu
dieser Zeit beschäftigten wir uns immer noch hauptsächlich mit der Durchbrechung der diplomatischen Barrikade Israels. Nicht nur
waren wir aus der gesamten arabischen und islamischen Welt (mit Ausnahme der Türkei) ausgeschlossen, sondern auch aus der
kommunistischen Welt und aus der Mehrheit der Entwicklungsländer in Afrika und Asien; selbst in Westeuropa gab es noch
Länder, die Israel nicht anerkannt und mit ihm keine diplomatischen Beziehungen aufgenommen hatten.
Zu dieser Zeit befand sich Portugal, ein Land, in dem wir ein Konsulat hatten, mit dem wir aber keine diplomatischen Beziehungen
führten und mit dem es keine gegenseitige Anerkennung gab, in einer neuen Phase. Drei Jahre zuvor hatte eine Revolution die
alte Diktatur António de Oliveira Salazars beseitigt. Salazar war wie sein Nachbar Francisco Franco ein Faschist gewesen, der mit
Mussolinis Italien und vor allem Hitlers Deutschland verbunden gewesen war. Mit einem Regime wie dem Estado Novo sprach
man nicht über die Frage der gegenseitigen Anerkennung oder die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Das neue Regime war
zunächst eine Militärregierung, die die Revolutionäre der Nelkenrevolution initiiert hatten, und war für Gespräche zwischen Israel
und Portugal auch noch nicht bereit. 1976 aber war eine neu gewählte sozialistische Regierung unter Ministerpräsident Mário
Soares an die Macht gekommen. Die Beziehungen zwischen der Sozialistischen Partei Portugals und der in Israel herrschenden
Arbeitspartei waren seit geraumer Zeit gut entwickelt, aber die diplomatischen Ergebnisse ließen auf sich warten. Im Frühling 1977
fand nun ein Treffen der Sozialistischen Internationale in Amsterdam statt. Der Präsident der Arbeitspartei, Ministerpräsident
Yitzhak Rabin, war verhindert und bat seinen Stellvertreter und Außenminister Yigal Allon, ihn dort zu vertreten. Allon nahm mich
mit.
Ephraim Eldar, unser Konsul in Lissabon, der zwar keinen diplomatischen Status hatte, aber ein schlauer Beobachter war, schrieb
mir im Voraus, dass zwar ein Treffen zwischen Soares und Allon in Amsterdam stattfinden würde, wir jedoch keine zu großen
Erwartungen haben sollten: Soares würde die diplomatischen Beziehungen vorerst nicht aufnehmen. Der Konsul erzählte mir
auch, dass es zur Vorbereitung auf die Gespräche in Amsterdam eine gemeinsame Sitzung der portugiesischen Regierung mit der
Spitze der Sozialistischen Partei gegeben habe, in der unter anderem entschieden worden war, die diplomatischen Beziehungen
mit Israel wegen des Drucks aus der arabischen Welt nicht aufzunehmen. Natürlich unterrichtete ich meinen Minister ausführlich
über dieses Thema.
Allon schien nicht besonders beunruhigt zu sein. Er kommentierte meine Erläuterungen nicht, sondern versank stattdessen in
seinen Gedanken.
Die Mitglieder der Delegationen zur Sozialistischen Internationale wurden alle im selben Hotel untergebracht. Das Hotel war daher
voll von Staatsoberhäuptern, Ministerpräsidenten wie auch von ehemaligen (und zukünftigen) Staatsoberhäuptern und
Ministerpräsidenten sowie allen Vorsitzenden der verschiedenen sozialistischen Parteien. Nur die wenigsten von ihnen ergatterten
eine Suite im Hotel, da es für die vielen hochrangigen Gäste schlicht nicht genug gab. Yigal Allon bekam daher ein ganz normales
kleines Zimmer, nicht größer als meins. Am Rande der Plenarsitzung gab es zahlreiche bilaterale Treffen, für die ebenfalls meist
keine Sitzungssäle zur Verfügung standen. So wurden die meisten diplomatischen Besprechungen in normale Hotelzimmer
verlegt.
Das Treffen mit den portugiesischen Regierungschefs fand aus diesem Grunde in Allons Zimmer statt. Soares kam in Begleitung
seines Außenministers und des Generalsekretärs seiner Partei. In dem Zimmer befanden sich nur drei Stühle, die den Gästen
angeboten wurden, während mein Außenminister und ich auf dem Bett saßen. Das Gespräch wurde auf Französisch geführt, in
einer Sprache, die Allon nicht beherrschte, sodass ich als Dolmetscher einspringen musste.
Mário Soares eröffnete das Gespräch. Wie in der Sozialistischen Internationale üblich duzte er Allon und nannte ihn beim
Vornamen. „Mein lieber Yigal“, sagte er, „ich komme mit guten Nachrichten. Unsere Regierung und unsere Partei sind
entschieden, Israel anzuerkennen und mit ihm diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Das ist eine historisch gerechtfertigte
und schon längst überfällige Entscheidung. Wir haben dennoch ein Problem wegen unserer Interessen in den arabischen Staaten
und in der islamischen Welt, die für uns kritisch sind, und deshalb werden wir die Umsetzung dieses Beschlusses noch eine Weile
verschieben müssen. Aber prinzipiell sind wir entschieden.“
Ich übersetzte, und Yigal Allon erwiderte, ohne lange nachzudenken, auf Hebräisch: „Lieber Mário, du kannst dir nicht vorstellen,
was für eine Freude du mir soeben bereitet hast. Ich freue mich so sehr, dass wir endlich den Weg zu unserer gegenseitigen
Anerkennung gefunden haben. Dass du, lieber Mário, Probleme hast, die für dein Land kritisch sind und deshalb vorerst keine
Botschaft in Israel eröffnen kannst, dafür habe ich vollstes Verständnis. An deiner Stelle hätte ich wahrscheinlich auch noch ein
wenig warten wollen. Ich hingegen habe solche Probleme nicht. Ich könnte also meine Botschaft in Lissabon eröffnen und du
deine in Israel erst später. Ich habe ja ein Konsulat in Lissabon, das ich unmittelbar in eine Botschaft umwandeln kann, und du
wartest ab, bis du so weit bist, eine Botschaft in Israel zu eröffnen.“
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Eine zweite Geschichte:
1977 war ich Leiter der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes in Jerusalem und Sprecher des Außenministers Yigal Allon. Zu
dieser Zeit beschäftigten wir uns immer noch hauptsächlich mit der Durchbrechung der diplomatischen Barrikade Israels. Nicht nur
waren wir aus der gesamten arabischen und islamischen Welt (mit Ausnahme der Türkei) ausgeschlossen, sondern auch aus der
kommunistischen Welt und aus der Mehrheit der Entwicklungsländer in Afrika und Asien; selbst in Westeuropa gab es noch
Länder, die Israel nicht anerkannt und mit ihm keine diplomatischen Beziehungen aufgenommen hatten.
Zu dieser Zeit befand sich Portugal, ein Land, in dem wir ein Konsulat hatten, mit dem wir aber keine diplomatischen Beziehungen
führten und mit dem es keine gegenseitige Anerkennung gab, in einer neuen Phase. Drei Jahre zuvor hatte eine Revolution die
alte Diktatur António de Oliveira Salazars beseitigt. Salazar war wie sein Nachbar Francisco Franco ein Faschist gewesen, der mit
Mussolinis Italien und vor allem Hitlers Deutschland verbunden gewesen war. Mit einem Regime wie dem Estado Novo sprach
man nicht über die Frage der gegenseitigen Anerkennung oder die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Das neue Regime war
zunächst eine Militärregierung, die die Revolutionäre der Nelkenrevolution initiiert hatten, und war für Gespräche zwischen Israel
und Portugal auch noch nicht bereit. 1976 aber war eine neu gewählte sozialistische Regierung unter Ministerpräsident Mário
Soares an die Macht gekommen. Die Beziehungen zwischen der Sozialistischen Partei Portugals und der in Israel herrschenden
Arbeitspartei waren seit geraumer Zeit gut entwickelt, aber die diplomatischen Ergebnisse ließen auf sich warten. Im Frühling 1977
fand nun ein Treffen der Sozialistischen Internationale in Amsterdam statt. Der Präsident der Arbeitspartei, Ministerpräsident
Yitzhak Rabin, war verhindert und bat seinen Stellvertreter und Außenminister Yigal Allon, ihn dort zu vertreten. Allon nahm mich
mit.
Ephraim Eldar, unser Konsul in Lissabon, der zwar keinen diplomatischen Status hatte, aber ein schlauer Beobachter war, schrieb
mir im Voraus, dass zwar ein Treffen zwischen Soares und Allon in Amsterdam stattfinden würde, wir jedoch keine zu großen
Erwartungen haben sollten: Soares würde die diplomatischen Beziehungen vorerst nicht aufnehmen. Der Konsul erzählte mir
auch, dass es zur Vorbereitung auf die Gespräche in Amsterdam eine gemeinsame Sitzung der portugiesischen Regierung mit der
Spitze der Sozialistischen Partei gegeben habe, in der unter anderem entschieden worden war, die diplomatischen Beziehungen
mit Israel wegen des Drucks aus der arabischen Welt nicht aufzunehmen. Natürlich unterrichtete ich meinen Minister ausführlich
über dieses Thema.
Allon schien nicht besonders beunruhigt zu sein. Er kommentierte meine Erläuterungen nicht, sondern versank stattdessen in
seinen Gedanken.
Die Mitglieder der Delegationen zur Sozialistischen Internationale wurden alle im selben Hotel untergebracht. Das Hotel war daher
voll von Staatsoberhäuptern, Ministerpräsidenten wie auch von ehemaligen (und zukünftigen) Staatsoberhäuptern und
Ministerpräsidenten sowie allen Vorsitzenden der verschiedenen sozialistischen Parteien. Nur die wenigsten von ihnen ergatterten
eine Suite im Hotel, da es für die vielen hochrangigen Gäste schlicht nicht genug gab. Yigal Allon bekam daher ein ganz normales
kleines Zimmer, nicht größer als meins. Am Rande der Plenarsitzung gab es zahlreiche bilaterale Treffen, für die ebenfalls meist
keine Sitzungssäle zur Verfügung standen. So wurden die meisten diplomatischen Besprechungen in normale Hotelzimmer
verlegt.
Das Treffen mit den portugiesischen Regierungschefs fand aus diesem Grunde in Allons Zimmer statt. Soares kam in Begleitung
seines Außenministers und des Generalsekretärs seiner Partei. In dem Zimmer befanden sich nur drei Stühle, die den Gästen
angeboten wurden, während mein Außenminister und ich auf dem Bett saßen. Das Gespräch wurde auf Französisch geführt, in
einer Sprache, die Allon nicht beherrschte, sodass ich als Dolmetscher einspringen musste.
Mário Soares eröffnete das Gespräch. Wie in der Sozialistischen Internationale üblich duzte er Allon und nannte ihn beim
Vornamen. „Mein lieber Yigal“, sagte er, „ich komme mit guten Nachrichten. Unsere Regierung und unsere Partei sind
entschieden, Israel anzuerkennen und mit ihm diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Das ist eine historisch gerechtfertigte
und schon längst überfällige Entscheidung. Wir haben dennoch ein Problem wegen unserer Interessen in den arabischen Staaten
und in der islamischen Welt, die für uns kritisch sind, und deshalb werden wir die Umsetzung dieses Beschlusses noch eine Weile
verschieben müssen. Aber prinzipiell sind wir entschieden.“
Ich übersetzte, und Yigal Allon erwiderte, ohne lange nachzudenken, auf Hebräisch: „Lieber Mário, du kannst dir nicht vorstellen,
was für eine Freude du mir soeben bereitet hast. Ich freue mich so sehr, dass wir endlich den Weg zu unserer gegenseitigen
Anerkennung gefunden haben. Dass du, lieber Mário, Probleme hast, die für dein Land kritisch sind und deshalb vorerst keine
Botschaft in Israel eröffnen kannst, dafür habe ich vollstes Verständnis. An deiner Stelle hätte ich wahrscheinlich auch noch ein
wenig warten wollen. Ich hingegen habe solche Probleme nicht. Ich könnte also meine Botschaft in Lissabon eröffnen und du
deine in Israel erst später. Ich habe ja ein Konsulat in Lissabon, das ich unmittelbar in eine Botschaft umwandeln kann, und du
wartest ab, bis du so weit bist, eine Botschaft in Israel zu eröffnen.“
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Das war natürlich ein Schwindel. Wenn ein Land in einem anderen eine Botschaft eröffnet, dann bedeutet das die volle
gegenseitige Anerkennung und die Aufnahme offizieller gegenseitiger diplomatischer Beziehungen, auch wenn das andere Land
vorerst keine eigene Botschaft eröffnet. Es ist nicht so selten, dass diplomatische Beziehungen bestehen, es aber nicht in beiden
Ländern eine Botschaft gibt. Für ärmere Länder ist es häufig eine finanzielle Frage, ob sie eine ständige Botschaft im Partnerland
eröffnen können. In solchen Fällen nimmt das eine Land mit dem anderen dadurch diplomatische Beziehungen auf, dass es dort
eine Botschaft eröffnet, und das andere bestätigt die diplomatischen Beziehungen, indem es die Botschaft des ersten akzeptiert.
Yigal Allons Trick war also völlig durchsichtig. Schon während ich übersetzte, bemerkte ich die wütenden Blicke des
portugiesischen Außenministers und des Generalsekretärs der sozialistischen Partei. Soares aber schien in Verlegenheit geraten
zu sein. Er suchte sichtlich nach Worten, warf seine Arme in die Luft und sagte schließlich: „Ja, vielleicht … äh … vielleicht.“ Eine
sehr zögerliche Zusage.
Daraufhin befahl mir Allon auf Hebräisch, sofort das Zimmer zu verlassen, runter in die Hotellobby zu laufen und dort offiziell zu
erklären, dass wir – Portugal und Israel – soeben diplomatische Beziehungen aufgenommen hätten und dass wir, Israel,
unmittelbar eine Botschaft in Lissabon eröffnen würden. „Mach das so schnell wie möglich, und komm umgehend zurück, denn wir
können ja nicht miteinander sprechen, solange du als unser Dolmetscher nicht hier bist.“
Ich tat, was er mir aufgetragen hatte, und rannte danach die Treppen so schnell wie möglich wieder hinauf und atemlos in Allons
Schlafzimmer hinein. Kaum war ich dort, ergriff Allon das Wort: „Lieber Mário, nachdem wir das jetzt erledigt haben, möchte ich
mit dir die äußerst dringenden und wichtigen Angelegenheiten erörtern, die auf der Tagesordnung der Sozialistischen
Internationalen stehen.“ Er begann mit einer langen Rede, in großer Geschwindigkeit vorgebracht, über die Themen, die im
Plenarsaal unter dem Vorsitz von Willy Brandt diskutiert worden waren und die in Wirklichkeit keinen interessierte. Er jedoch tat so,
als seien diese Themen für ihn die allerwichtigsten, die man sich nur vorstellen kann. Ich hatte die größte Mühe, diesen
Wortschwall zu übersetzen, und dem portugiesischen Ministerpräsidenten blieb nichts anderes übrig, als seine Kommentare zu
diesen Themen abzugeben, bis die Zeit des Treffens abgelaufen war. So blieb keine Zeit, die portugiesisch-israelischen
Beziehungen noch einmal anzusprechen.
Als die portugiesischen Gäste sich verabschiedet hatten, befahl Allon mir, zwei Dinge zu tun. Es war Sabbat, daher sollte ich den
Generalsekretär des Auswärtigen Amtes, Professor Shlomo Avineri, bei sich zu Hause anrufen. Handys gab es damals noch nicht,
und es sollte sie auch noch lange nicht geben. Ich sollte ihn bitten, sofort die Ernennungskommission des Auswärtigen Amtes
einzubestellen, die nötig war, um unseren Konsul in Lissabon zum Botschafter in Portugal zu ernennen. Das musste schnell
geschehen, damit Allon der Regierung schon in der wöchentlichen Sonntagssitzung des Kabinetts am nächsten Morgen den
Beschluss der Ernennungskommission zur Bestätigung vorlegen könne. Zweitens bat er mich, den Konsul in Lissabon anzurufen
und ihn damit zu beauftragen, sich für seine Ernennung am nächsten Morgen vorzubereiten und alles Nötige für die Verwandlung
des Konsulats in eine Botschaft in Bewegung zu setzen.
Als ich Konsul Eldar anrief, begann er einen langen Monolog, um mir sein Schreiben, das er mir im Vorfeld geschickt hatte, noch
einmal zu erklären. Er wusste nicht, dass unser Gespräch mit Soares schon stattgefunden hatte, und wollte mich davon
überzeugen, dass die Portugiesen trotz ihrer negativen Entscheidung diplomatischen Beziehungen wohlwollend
gegenüberstünden und unter echten Zwängen stünden und dass wir Verständnis und Geduld haben müssten.
Ich habe ihn nicht unterbrochen. Am Ende sagte ich ihm nur: „Ephraim, du bist Botschafter. Ab morgen bist du der israelische
Botschafter in Portugal.“
Die Telefonleitung blieb ein paar Sekunden stumm, und danach hörte ich ein Seufzen, und der Konsul sagte: „Avi, wie lange
kennen wir uns schon? Wir waren doch immer gute Freunde. Zwischen uns gab es im Grunde nie Verstimmungen. Warum musst
du mit mir solche Scherze machen, du weißt doch, dass ich herzkrank bin.“
Mit viel Mühe habe ich dem armen Eldar von dem Gespräch zwischen Allon und Soares berichtet. Ich erzählte ihm auch von den
Vorbereitungen des Generalsekretärs des Auswärtigen Amtes in Jerusalem, die im Auftrag von Allon bereits aufgenommen
worden waren. Eldar war völlig verblüfft und brauchte lange, um die Überraschung zu verarbeiten.
Zehn Jahre später war ich neuer israelischer Botschafter in Brüssel. Akkreditiert war ich sowohl beim belgischen König als auch
beim Großherzog von Luxemburg und bei der Europäischen Gemeinschaft. Kaum war ich in Brüssel angekommen, musste ich
mich mit einer außergewöhnlichen Veranstaltung beschäftigen. Die hoch angesehene Freie Universität Brüssel hatte sich
entschieden, meinem Außenminister Shimon Peres einen Ehrendoktortitel zu verleihen. Diesen Ehrentitel sollte er gemeinsam mit
drei anderen Politikern entgegennehmen: mit dem italienischen Präsidenten Sandro Pertini, dem senegalesischen
Staatspräsidenten Abdou Diouf und dem neuen portugiesischen Staatspräsidenten Mário Soares. Die Zeremonie fand am
Nachmittag in der Universität statt, abends sollte es ein feierliches Abendessen im Schloss geben. Shimon Peres teilte den
Gastgebern mit, dass er am Abend nicht in Brüssel bleiben könne und leider weiterfliegen müsse.
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Ich habe niemandem verraten, was der Grund für diese Absage war: Shimon Peres, der immer von allerlei Stars fasziniert
gewesen war, hatte eine Einladung bekommen, den Abend gemeinsam mit Liza Minnelli im Kabarett Folies Bergères in Paris zu
verbringen, und das war ihm lieber als Universität, Staatsoberhäupter und sogar ein König. Mir gab er den Auftrag, ihn an diesem
Abend zu vertreten. So begleitete ich ihn zum Flughafen, zog meinen Gehrock an und machte mich auf den Weg zum Schloss. Als
ich meinen Platz einnahm, kamen die anderen Ehrengäste gerade erst nach und nach an. Mir fiel auf, dass mir gegenüber der
Platz des portugiesischen Präsidenten war. Als er hereinkam, sah er sich um, erblickte mich, zögerte eine Minute, zeigte mit
seinem Zeigefinger auf mich und sagte dann auf Französisch: „Sie kommen mir bekannt vor, ich kenne Sie irgendwoher.“
„Ja, Herr Präsident“, antwortete ich, „Sie haben mich tatsächlich schon einmal gesehen. Ich war bei der Sozialistischen
Internationale in Amsterdam bei Ihrem Gespräch mit dem israelischen Außenminister Yigal Allon Ihr Dolmetscher, als wir
gemeinsam die diplomatischen Beziehungen aufgenommen haben.“
Er zögerte eine Minute und brach dann in Gelächter aus. „Ja“, sagte er, „das war eine ganz merkwürdige Geschichte, da bin ich in
eine Falle getappt.“ Er lachte noch mehr und wandte sich an unsere Sitznachbarn: „Diese Geschichte muss ich euch erzählen.“
Er erzählte die Geschichte genauso wie ich, in allen Details, bis auf eines: Er bestand darauf, dass sein Gesprächspartner nicht
Außenminister Yigal Allon, sondern Premierminister Yitzhak Rabin gewesen sei.
Nachdem der Name schon mehrmals gefallen war, bemühte ich mich, ihn flüsternd daran zu erinnern, dass er das Gespräch nicht
mit Premierminister Rabin habe führen können, weil Rabin gar nicht nach Amsterdam gereist war, und dass er stattdessen mit
Allon gesprochen hatte.
Laut erwiderte er: „Nein, nein! Was für Dummheiten erzählen Sie da? Ich war doch dabei. Ich war derjenige, der mit Yitzhak Rabin
gesprochen hat, Sie waren doch nur der Dolmetscher.“
Ich schwieg.
Ein paar Jahre später eröffnete auch Portugal endlich eine Botschaft in Israel, und der portugiesische Botschafter suchte mich
sofort auf, weil er die Geschichte von 1977 gehört hatte. Er lud mich zu einem Mittagessen ein, um von mir als damaligem
Dolmetscher zu hören, wie es damals gelaufen sei. Natürlich bestand auch er darauf, dass Soares’ Gesprächspartner in
Amsterdam Yitzhak Rabin gewesen sei.
Haben David Ben-Gurion und Mário Soares gelogen? Natürlich nicht. Die beiden hatten auch keinen Grund, zu lügen oder ihre
Geschichten zu fälschen. Was de Gaulle bei der Beerdigung Adenauers gesagt haben soll, leuchtete ein, weil es seiner Politik
vollkommen entsprach. Ben-Gurion, der damals schon nicht immer klar im Kopf war, hat wahrscheinlich verschiedene
Geschichten, die er mit de Gaulle erlebt hat, verwechselt. Vielleicht hatte er das Erzählte auch tatsächlich gehört, nur eben in
einem anderen Gespräch. Mário Soares hat die Geschichte, die für ihn eigentlich peinlich war, zehn Jahre danach ganz genau so
wiederholt, wie sie sich ereignet hatte, und nur die Person verwechselt, mit der er gesprochen hat. Vielleicht lag das daran, dass
ursprünglich Rabin nach Amsterdam fliegen sollte, um seine Partei zu vertreten, und Soares auf ein Gespräch mit ihm vorbereitet
gewesen war.
Hätte ich Yves Cuau gesagt, dass das Gespräch bei der Beerdigung Adenauers nie stattgefunden hat, hätte er mich für einen
Idioten gehalten, hatte er die Geschichte doch von Ben-Gurion persönlich gehört. Hätte ich den Zuhörern Soares’ in Brüssel
gesagt, dass Soares in Amsterdam nicht Rabin, sondern Allon getroffen hat, würden sie mich sogar für einen frechen Idioten
halten, hatten sie es doch von Soares persönlich.
Das Fazit der Geschichte: Das Gedächtnis des Menschen, auch wenn man versucht, vollkommen ehrlich und wohlwollend zu sein,
hat seine Lücken.
Damit muss man rechnen, auch bei mir.
Die Franzosen sagen: „Un homme averti en vaut deux.“ – Ein vorgewarnter Mensch ist so viel wert wie zwei.
Das sind Sie jetzt, liebe Leser.
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Reichert, Johannes: Mit dem Rad durch Israel: 1230 Kilometer mit dem Fahrrad durch das Heilige Land |
Wiesenburg | 2014 | Broschiert | 316 Seiten | ISBN: 978-3956321948 | 14,90
Seit vielen Jahren geht Johannes Reichert für zwei Wochen im Jahr allein mit dem Fahrrad auf Tour. Nach einem
Herzinfarkt 2007 halfen ihm diese Reisen bei der Überwindung der Krankheit. Von Haifa aus radelt der Autor zum
Rosh Hanikra an der libanesischen Grenze und durch die waldreichen Berge im Norden Galiläas weiter zu den
biblischen Orten am See Genezareth. Über Nazareth, den Berg Tabor und das Karmelgebirge geht die Reise
dann nach Tel Aviv/Jaffa, dem Ziel der ersten Etappe 2013. Von dort wird die Tour 2014 über Aschkelon, Be‘er
Sheva, Dimona, Arad und Massada nach Jerusalem fortgesetzt. Vier Tage bleibt Johannes Reichert in der
Heiligen Stadt und besucht dort einige der vielen Sehenswürdigkeiten. Danach radelt er durch die dichten Wälder
der Jerusalemer Berge nach Tel Aviv/Jaffa zurück. Dieses Reisetagebuch nimmt den Leser mit auf eine
besondere Radtour und zeigt die Herausforderungen, die Alleinreisende zu meistern haben. Hilfsbereite Menschen, wunderbare Landschaften und historische Orte machen Lust auf diese Reise.
Reisevorbereitung
Nach meinen beiden Radtouren, die mich nach Santiago de Compostela und Rom führten, ist nun Israel mit Jerusalem mein
nächstes Ziel. Diese neue Reise sollte ursprünglich von Rom aus weiter durch Italien bis zu einem Seehafen gehen. Von dort aus
wollte ich dann mit einem Handelsschiff weiter nach Haifa. Diesen Plan verwerfe ich aber schon bald wieder, denn die Fahrt mit
einem Schiff wäre nicht wirklich günstig, ein einfacher Rückflug sehr teuer und von Israel selbst würde ich nicht viel sehen. Also
plane ich um, finde einen Flug für 484 Euro mit der israelischen Fluggesellschaft El Al von Frankfurt nach Tel Aviv und zurück. Das
Fahrrad wird pro Flug mit 54 Euro extra berechnet. Das ist ein guter Preis und ich werde viel mehr Zeit in Israel verbringen
können. 2013 will ich durch den Norden des Landes radeln und anschließend 2014 den Süden bereisen, mit Jerusalem als
Endziel.
Im November 2012 wird es dann ernst. Ich buche den Flug nach Tel Aviv. Wenn schon Israel, dann von Anfang an. Also fiel meine
Wahl auf El Al, die israelische Fluggesellschaft mit dem Slogan: „It’s not just an Airline, it’s Israel“. Freunden und Verwandten
verriet ich das Ziel meiner neuen Radtour erst einmal nicht. Viele verbinden mit Israel noch immer Gefahr, Anschläge, Terror und
Krieg. Ich konnte ein gewisses Erstaunen in den Gesichtern sehen, als ich kurz vor Beginn der Reise Freunde und Bekannte in
meine Pläne einweihte. „Ist das nicht gefährlich? Wieso gerade Israel? Dahin würde ich nicht fahren, mit dem Rad schon gar
nicht“, waren nur einige der Reaktionen. Aber damit war zu rechnen. Ich jedenfalls habe keine Angst und freue mich sogar auf
dieses neue große Abenteuer.
Sonntag, 28. April 2013
Anreise, Flug nach Tel Aviv, Zug nach Haifa Jetzt geht es los. Das Rad wurde technisch überprüft, nur das Nötigste gepackt, ich
bin startklar. Um 10 Uhr verlasse ich mein Zuhause in Schweinfurt und radle zum Bahnhof. Ein Zug bringt mich über Würzburg
nach Frankfurt zum Flughafen. Dort habe ich reichlich Zeit, um das Rad für die Flugreise sicher zu verpacken, einzuchecken und
ohne Stress auf den Abflug zu warten. Beim FGS (Frankfurter Gepäck Service) erstehe ich für 30 Euro einen Fahrradkarton und
beginne ohne Eile mein Rad zu zerlegen, das heißt, ich lasse die Luft aus den Reifen, baue das Vorderrad aus und befestige es
am Rahmen, schraube die Pedale ab und stelle den Lenker quer. So passt mein Gefährt in den Karton, den ich zusammen mit der
Satteltasche auf einen Gepäckwagen lade und zum El Al Schalter in Halle C des Frankfurter Flughafens schiebe.
Dort beginnt nun die erste Sicherheitsbefragung durch israelisches Personal. Über diesen Vorgang konnte ich mich im Internet
bereits eingehend informieren, bin also auf alle möglichen Fragen vorbereitet. Ob ich schon einmal in Israel gewesen sei, mein
Gepäck selbst gepackt hätte und was ich in Israel machen wolle, möchte eine freundliche Dame wissen. „Ich plane eine Radtour
von zwei Wochen durch den Norden des Landes“, erwidere ich. Sie notiert meine Antwort, sieht mich erstaunt an und fragt: „Eine
Radtour durch Israel? Wieso das denn? Es gibt doch sicher schönere Länder für Radtouren“. Ich hätte einige Bücher über Israel
gelesen und freute mich auf dieses Land und seine Menschen, antworte ich und stelle nun meinerseits eine Frage: „Warum denn
keine Radtour in Israel?“ Das scheint die richtige Antwort gewesen zu sein, denn die Befragung ist zu Ende.
Ich darf jetzt meine Satteltasche am Gepäckschalter aufgeben, der Karton mit dem Rad wird abgeholt und den Rucksack nehme
ich als Handgepäck mit ins Flugzeug. Das war’s! Schlimm war diese erste Sicherheitsbefragung nun wirklich nicht.
Bei der Ankunft morgen früh in Tel Aviv werde ich bestimmt eingehender befragt, denke ich mir und mache mich langsam auf den
Weg zum Abflugschalter. Um 19.35 Uhr deutscher Zeit sitze ich im Flieger, blicke aus dem Fenster und sehe das gepanzerte
Fahrzeug der Bundespolizei, das die El Al Maschinen auf dem Frankfurter Flughafen bis zur Startbahn begleiten wird. Das soll vor
allem die Passagiere in Sicherheit wiegen, einen terroristischen Anschlag könnte dieses Fahrzeug sicher nicht wirklich verhindern.
Aber es ist trotzdem ein beruhigendes Gefühl, zu wissen, dass hier in Frankfurt alles zum Schutz einer israelischen Maschine
getan wird.
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Kurz vor 20 Uhr heben wir ab und starten in den Abendhimmel, Israel entgegen. Noch ist es hell und schon bald tauchen die
ersten Berge der Alpen unter uns auf. Dann wird das Abendessen serviert und ich koste zum ersten Mal „Hummus“
(Kichererbsenbrei). Dazu gibt es Fladenbrot, Salat, Reis, Gemüse, Hähnchenfleisch und zum Nachtisch „Mousse au Chocolat“.
Gerne hätte auch ich mir ein Glas Rotwein genehmigt, doch ich darf heute Nacht nicht allzu müde sein, muss ich doch später in
Tel Aviv noch den Zug nach Haifa finden. Also trinke ich keine alkoholischen Getränke, versuche etwas zu schlafen (zumindest zu
ruhen), denn das wird sicher eine lange und aufregende Nacht für mich. Eine Stunde vor der Landung komme ich mit meiner
Sitznachbarin ins Gespräch. Sie ist Belgierin, lebt mit ihrem Mann in Luxemburg und unternimmt eine Pilgerreise ins Heilige Land.
Ihre Reisegruppe wird mit dem Bus durch den Norden bis hinunter nach Eilat fahren. Ich erzähle ihr von meinem Plan, den Norden
mit dem Fahrrad zu durchqueren, und sie ist sichtlich angetan von dieser Idee. Dann tauchen die ersten Lichter Israels unter uns
auf. Es ist kurz nach Mitternacht Ortszeit, das bedeutet, eine Stunde weiter als in Deutschland. Bis wir landen, unsere Parkposition
erreichen und das Flugzeug verlassen dürfen, ist es bereits kurz vor 1 Uhr. Ich laufe den langen Gang zur Passkontrolle hinunter.
Dort warten bereits viele Menschen, wieder einmal ist Geduld gefragt. Nun werde ich bestimmt eine längere Sicherheitsbefragung
erleben. Nach ungefähr einer halben Stunde komme dann auch ich an die Reihe. Die Beamtin in der kleinen Kabine nimmt meinen
Reisepass, scannt ihn, sieht mich an, legt das drei Monate gültige Touristenvisum in Form eines kleinen Zettels in meinen Pass,
gibt mir diesen zurück, fragt nichts und ich bin durch. War das nun alles? Ja, das war’s! Ich laufe zur Gepäckausgabe, erhalte
meine Satteltasche und der Karton mit dem Rad wartet bereits an der Sondergepäckausgabe. Die Verpackung ist leicht
beschädigt, aber das Rad im Inneren völlig in Ordnung. Ich lasse mir Zeit, packe das Rad aus und setze es mit Hilfe meines
Werkzeugs wieder zusammen. Nach einer guten halben Stunde bin ich startklar. Die anderen Passagiere haben bereits die
Gepäckhalle verlassen, außer mir rührt sich nicht mehr viel. Zwei Männer erscheinen und fragen, ob sie den Karton entsorgen
können. Eigentlich wollte ich diesen hier irgendwo abgeben, um ihn für die Rückreise erneut verwenden zu können. Das gehe aber
nicht, sagt einer der Männer, der Karton müsse entsorgt werden. Schade, er wäre noch gut zu gebrauchen gewesen. Aber
Vorschrift scheint auch hier in Israel Vorschrift zu sein, also nimmt er ihn mit und entsorgt ihn ordnungsgemäß.
In der Ankunftshalle versuche ich mich zu orientieren. Wo geht es hier zum Bahnhof? Zum Glück erscheinen die Hinweise nicht
nur in hebräischer und arabischer, sondern auch in lateinischer Schrift. So lässt sich der Weg zum Bahnhof recht schnell finden.
Dieser liegt wie in Frankfurt unterhalb des Flughafens. Ein Automat spuckt meine Fahrkarte vom Ben Gurion Flughafen nach Haifa
aus und kostet 39 NIS (Neue Israelische Schekel), das sind rund 10 Euro. Eine Rolltreppe führt nach unten zu den Bahnsteigen.
Ich kommuniziere jetzt nur noch in Englisch und frage einige der wenigen Passanten, die sich zu dieser frühen Morgenstunde hier
unten aufhalten, auf welchem Gleis der Zug nach Haifa einfahren werde. Abfahrt 2.50 Uhr, wo, das kann ich leider nur vage
herausbekommen. Einer meint hier, ein Anderer dort. Erst ein Bediensteter der Bahn bringt Klarheit. Der Zug kommt pünktlich an,
ich steige ein, stelle das Rad an den dafür vorgesehenen Platz und mache es mir in dem fast leeren Abteil bequem. Wenige
Minuten später fährt der Zug an, wir verlassen den Flughafen und rollen in die Nacht. Jetzt werde ich erst einmal für 1,5 Stunden
meine Ruhe haben, so lange braucht der Zug nach Haifa. Die Ansagen im Zug sind auf Hebräisch und Englisch, sodass ich immer
weiß, wo ich mich gerade befinde. Gegen 4.15 Uhr erreichen wir den Zentralbahnhof von Haifa. Ich steige aus und fühle sofort
eine angenehme Wärme, obwohl es noch stockdunkel ist. Für mich, der aus der Kälte kommt, eine Überraschung. Ich setze mich
auf eine Bank innerhalb des Bahnhofsgeländes und fühle mich sicher. Still ist es hier, viele Menschen sind nicht anwesend, nur
wenige Züge kommen an und fahren wieder ab. Hafenkräne recken ihre Hälse in den dunklen Himmel, der Hafen muss also ganz
nahe sein. Dann graut der Morgen im Osten. Mehr Menschen betreten nun den Bahnhof, setzen sich wie ich auf Bänke und
warten auf ihre Züge, die sie zur Arbeit bringen werden.
Haifa existiert bereits seit der Antike, ist mit rund 270 000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Israels und der größte Seehafen des
Landes. Die terrassenförmig angelegten „Hängenden Gärten“ der Bahai am Berg Karmel (Persische Gärten) wurden in ihrer
heutigen Form im Jahr 2001 eröffnet und gehören zu den meistbesuchten touristischen Attraktionen Israels. Der Schrein des Bab
ist eines der Wahrzeichen dieser Stadt. Das Bahaitum ist eine weltweit verbreitete Religion mit etwa fünf bis acht Millionen
Anhängern, die sich auf die Lehren des Religionsstifters Baha'ullah berufen und nach ihm als Bahai bezeichnet werden.
Gedanken des Tages:
Ich bin müde, glücklich und sehr gespannt auf dieses biblische Land Bisher verliefen die Sicherheitsbefragungen problemlos.
Angenehm warm ist es hier, was für ein Unterschied zu gestern.
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Salentin, Rebecca Maria: Schuld war Elvis | C. Bertelsmann | ET: 9. März 2015
ISBN: 978-3-570-10212-1 | Deutsche Originalausgabe | Gebunden | 512 Seiten | ca. 19,99 € | Auch als E-Book
Inmitten einer Großfamilie, deren Mitglieder so stur wie lebenslustig sind, wird in den 70er Jahren das Mädchen
Hebron geboren. Den eigenwilligen Namen verdankt sie ihrem Vater, der sich nach der Zeugung in seine Heimat
Israel abgesetzt hat. Überhaupt hatte ihre Mutter Meggy Pech mit den Männern: Vom örtlichen Friseur bekommt
sie Zwillinge. Der hätte sie gern geheiratet – wäre er nicht bei einem Autorennen ums Leben gekommen. Der
Vater ihres Sohnes Francis ist ein katholischer Mönch, und Ben Omars Erzeuger Hadschi ist ein Rastafari mit
Hundehaufenfrisur, dem seine Haschplantage wichtiger ist als die Kindererziehung, während Meggy die Familie
ernährt. Die bunte Schar bewohnt ein windschiefes Fachwerkhaus in einem biederen Eifeldorf. Da Hadschi
verschwunden ist, muss Hebron sich um die kleinen Geschwister kümmern. Als sie daran fast zerbricht, reist sie
nach Israel, um ihren Vater zu finden…
Rebecca Maria Salentin, geboren 1979 in Eschweiler, aufgewachsen in der Eifel, lebt in Leipzig. Sie hat selbst
jüdische und katholische Wurzeln und stammt aus einer Großfamilie. Die Autorin las beim Open Mike und nahm
am Klagenfurter Literaturkurs teil. Ihr erster Roman „Hintergrundwissen eines Klavierstimmers" erregte große
Aufmerksamkeit. In Leipzig betreibt sie in einem alten Zirkuswagen das Sommercafé ZierlichManierlich.
Erster Teil: Zwejbechle oder wie alles mit zwei Schüssen begann
Und Hebron schrie. Der Griff der Hebamme um die gekrümmten Beine des Säuglings war fest und grob, sie wollte die Geburt nun
endlich abhaken, die werdende Mutter hatte nach ihrem Geschmack zu viel und zu laut geschrien, und Kinder, die sich derart Zeit
ließen, konnte sie grundsätzlich nicht leiden. Sie maß das Kind, indem sie es kopfüber baumeln ließ, wog es und legte ihm ein
Meterband um den Kopf, bevor sie das schreiende Mädchen badete, dann in ein Moltontuch schlug und der verschwitzten Mutter
in den Arm legte. Diese war froh über das Geschrei, nahm sie doch folgerichtig an, es zeuge von einer guten Gesundheit des
Neugeborenen. Liebevoll betrachtete sie das hochrote Köpfchen, das weit aufgerissene Mäulchen, die dunkel verklebten Härchen.
Der Anblick ihres Frischgeborenen löste eine Welle von Glücksgefühlen in ihr aus, die mit einer Intensität über ihr
zusammenschlug wie nie zuvor etwas in ihrem Leben. „Hebron", flüsterte sie dem schreienden Bündel zu, „wie habe ich mich nach
dir gesehnt, meine Hebron." Die Freude über das von guter Gesundheit zeugende Geschrei verging ihr jedoch bald, denn Hebron
schrie in ihren ersten Lebens-monaten konsequent und durchgehend, ein unerträgliches Gewimmer, durchbrochen nur durch
kurze Ruhephasen, in denen das Kind schlief oder trank.
Hebron schrie tagsüber, wenn sie im Kinderwagen lag, den ihre Mutter mit dem Rest der geblümten Wohnzimmertapete ausgeschlagen hatte. Es interessierte sie nicht im Geringsten, ob sie in diesem Wagen durch die Fußgängerzone des kleinen
Städtchens mit seinen hässlichen Fünfzigerjahre Klinkerfassaden oder unter den wogenden Baumspitzen des Hürtgenwalds
entlanggeschoben wurde. Hebron schrie auch im Tragetuch, das die alternative Hebamme, die immer einen einzelnen
Federohrring trug und von einer leichten Räucherstäbchenduftwolke umgeben war, Hebrons Mutter Meggy in der Stillgruppe ans
Herz gelegt hatte. Hebron schrie im Garten, wo Meggy den Stubenwagen unter dem blütenbedeckten Sauerkirschbaum abstellte;
und an diesem Geschrei war nicht einmal die Nachbarskatze schuld, die es sich so gerne auf Hebron bequem machte, im
Gegenteil, die fette Katze sorgte regelmäßig dafür, dass Hebron endlich einmal ruhig war, woran Meggy merkte, dass etwas nicht
stimmte und rufend und Hände klatschend in den Garten rannte, um das faule Tier zu verjagen, worauf Hebron, mit knallrotem,
einige Male auch schon leicht blauem Gesicht noch lauter in die Welt schrie. Hebron schrie auch nachts, und dabei war es ihr
gleichgültig, ob Meggy sie in ihren Armen oder in der Wiege schaukelte, sie schrie, bis Meggy ihr Nachthemd aufknöpfte und
Hebron an die geschundene Brust legte. Wollte Meggy ihre Brüste wenigstens eine Stunde schonen, dann schrie Hebron, bis sie
vor Erschöpfung in einen kurzen Schlummer fiel, aber selbst dieser war durchbrochen von Schluchzern, deren kläglicher Ton
Meggy im Herzen wehtat; das arme Würmchen tat ihr leid, wenn sie auch des Geschreis müde war.
Aber was immer sie auch versuchte, kein Tee, keine Bauchmassage und keine Wärmflasche verschafften Hebron Entspannung
und Meggy Ruhe. Da Meggy das Kind also nur mithilfe ihrer Brust ruhigzustellen vermochte, wurde Hebron dick und rund, Fett
bildete sich an Armen und Beinen, und Meggy hatte Mühe, die kleinen Fältchen zwischen den Speckrollen an Hals und
Gliedmaßen zu säubern. Als Hebron neun Monate alt war, hörte sie endlich mit dem Geschrei auf und entdeckte das Essen in
festerer Form für sich. Hebrons Leben stand von Anfang an unter einem Stern, den man nicht unbedingt schlecht nennen konnte,
aber ihn als gut zu bezeichnen, würde ihren folgenden Lebensjahren nicht gerecht werden. Bloß wie genau man diesen Stern über
Hebrons Geburtsstunde oder vielleicht auch den über der Millisekunde ihrer Zeugung bezeichnen konnte, in der das hasserfüllte
jüdische Spermium auf das durch eine erzkatholische Erziehung geprägte Ei traf, das würde Hebron ihr Leben lang nicht zu
benennen wissen. Als sie die ersten Lichter von Tel Aviv durch das Fenster des Flugzeugs unter sich aufblitzen sah und der Druck
auf den Ohren während des Landeanflugs immer stärker wurde, wobei sich ihr Herzschlag vor Aufregung derart beschleunigte,
dass sie fürchtete, mit ihren siebzehn Jahren einen Infarkt zu erleiden, und das, ohne ihren Vater auch nur einmal gesehen zu
haben, war sie sich über eins jedoch absolut im Klaren: Ihr Leben war von Anfang an seltsam gewesen, seltsam und anders als
das Leben der Menschen in ihrer Umgebung, die sie zum Vergleich nahm.
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"Es gibt keine zwei vergleichbaren Leben! Niemals! Jeder Mensch ist anders!", wird natürlich jetzt jeder aufschreien, ebenso
empört wie überzeugt. Und ja, er hat recht, und nein, hat er nicht. Es gibt eine Andersartigkeit, die selbst unter anderen anders ist.
Und unter dieser Andersartigkeit hatte Hebron von Anfang an zu leiden. Da war allein schon der Name: Hebron Maria Magdalena
Hunger. Ein Tribut der Mutter an ihre eigene Identität und die Herkunft des Vaters. Als Meggy mit der schreienden Hebron auf
dem Plastikstuhl in dem trostlosen Raum des Standesamts Platz nahm und den bereits ausgefüllten Namensschein über die graue
Tischplatte schob, war es ihr Glück, dass der Standesbeamte am Morgen ein Stelldichein mit seiner Frau gehabt hatte, etwas, das
in seiner fünfunddreißigjährigen Ehe zu dieser Tageszeit noch niemals vorgekommen war, und nur diesem Umstand war es zu
verdanken, dass er, selig lächelnd und an seinem schalen Kaffee nippend, den Namen Hebron absegnete, ohne festzustellen,
dass Hebron in seinem dicken, grau eingebundenen und schon ziemlich abgewetzten Namensregister unter dem Buchstaben H
keinesfalls zu finden war, dass Hebron kein Vorname war und sich auch eher nach einem Jungen- als nach einem
Mädchennamen anhörte. Skandalöser als den Namen empfand man jedoch die Tatsache, dass Meggy es wagte, im Lokalblatt des
Städtchens namens Düren eine Geburtsanzeige zu schalten, in der sie sich, neben der Abbildung eines Maiglöckchens, offen und
ausdrücklich allein über die Ankunft ihres Mädchens freute. Ein Affront für die braven Bürger der kleinen Stadt, die, obwohl Hebron
in den späten Siebzigern des zwanzigsten Jahrhunderts geboren wurde, mit unehelichen Kindern und deren Müttern nichts zu tun
haben wollten. Geschah einer Frau ein solches Unglück, hatte sie sich voller Demut und Scham zurückzuhalten, dann hatte sie die
Chance, doch noch in die Ehe mit einem guten Mann einzuschiffen, aber ihr Unglück der Öffentlichkeit auch noch als Freude zu
offenbaren, ging eindeutig zu weit. Und so trafen dann auch nur sieben Glückwunschkarten in Meggys Briefkasten ein, die meisten
davon aus Aachen, wo Meggy vor der Geburt ihrer Tochter im Klinikum gearbeitet hatte und wo man ein wenig fortschrittlicher
dachte als in Meggys Heimatstadt. Diesen Fortschritt wussten sich ebendiese braven Bürger Dürens durchaus zunutze zu
machen, die am lautesten über Hebrons Geburts-anzeige gewettert hatten, vornehmlich dann, wenn sie samstags nach dem
Besuch des Aachener Doms eine kleine feine Stunde des Glücks bei den leicht bekleideten Damen in der Antoniusstraße
verbrachten. Nicht umsonst gibt es in der Gegend einen gern zitierten Spruch, der, ins Hochdeutsche übertragen, in etwa heißen
würde: „Gehen wir zuerst in den Puff oder gehen wir zuerst in den Dom?" – „Gehen wir zuerst in den Dom, dann müssen wir uns
nachher nicht schämen."
Hebrons Vater, dem sie ihren ersten Vornamen, wenn auch nur indirekt, verdankte, hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als sich,
nachdem Meggy ihm den positiven Schwangerschaftstest unter die Nase gehalten hatte, für eine Abtreibung auszusprechen sowie
die Todesstrafe für Samenraub, jawohl Samenraub!, zu fordern, denn nichts anderes schien ihm der wachsende Klumpen in
Meggys Bauch zu sein. Kinder bekam man seiner Meinung nach nur, wenn man wollte. Genauer gesagt: Wenn beide wollten.
Hebrons Vater wusste, dass er nie wollen würde, aber so schon mal gar nicht, nicht von der Krankenschwester Meggy Hunger, die
ihm auf der Station zu Gehorsam und im Nachtdienst zum Vergnügen zu sein hatte. Und wenn etwas geschah, was man nicht
wollte, trieb man den Zellklumpen einfach ab: kleine Rasur, kleine Betäubung, kleiner Eingriff, nichts Besonderes, immerhin ein
Teil der täglichen Arbeit von Hebrons Vater, dessen Name im Übrigen Samuel Apelstejn war. Als der Anästhesist Samuel
Apelstejn feststellte, dass die Krankenschwester Meggy Hunger ihm zum ersten Mal den Gehorsam verweigerte – sah man einmal
ganz von der Tatsache ab, dass sie ihn, was die Einnahme der Pille anging, schamlos belogen hatte – und keine kleine Rasur,
keine kleine Betäubung und keinen kleinen Eingriff über sich ergehen lassen wollte, nein, sich mit ihren bäurischen Armen und
Beinen dagegenstemmte, ihm ihren Eifeler Sturkopf mit der gesamten Kraft entgegensetzte und er zudem mit der Forderung nach
der Todesstrafe für Samenraub auf verlorenem Posten stand, packte er seine Koffer, gab seinen Wohnungs-schlüssel an eine
fünfköpfige türkische Gastarbeiterfamilie ab und flog nach Israel, in sein heiß verhasstes, kalt geliebtes Heimatland.
Zurück ließ er den Zellklumpen Hebron und eine fassungslose Meggy Hunger, die eigentlich von einem Happy End mit jüdischkatholischer Hochzeit ausgegangen war, denn sie war sich so sicher gewesen, dass sich jeder Mann nichts sehnlicher wünschte,
als sich zu vermehren, auch wenn er das Gegenteil behauptete. Da musste eben mit den Waffen einer Frau gekämpft werden,
und so ein kleines Pillchen konnte schließlich schon mal schnell vergessen werden. Die Monate bis zu Hebrons Geburt verbrachte
sie damit, ihre Schallplatten unangebracht laut durch das kleine Eifeldörfchen namens Ochsenhügel am Rande des Hürtgenwalds
schallen zu lassen, sauer eingelegte Peperonischoten gläserweise zu essen und sich von ihren sechs Schwestern, deren Namen
ebenso wie ihrer prosaisch kurz und ausgefallen waren, als verlassene Schwangere bemitleiden zu lassen. Und so verbrachten
Fanny, Penny, Peggy, Meggy, Sally, Betty und Daisy schöne Nachmittage, während ihre Brüder, die Zwillinge Fred und Franz,
eine Wiege für das vaterlose Kind schreinerten. Eins darf man ihr allerdings nicht unterstellen: dass sie sich nicht auf das Kind
freute. Nein, Meggy Hunger, die fast dreißig Jahre alt, gutverdienend und rotwangig war und über eine eigene Wohnung verfügte,
freute sich auf das Kind, denn ein Kind hatte sie sich schon lange gewünscht, und es war die Zeit, in der Frauen ihre Kinder
plötzlich ohne Männer großzogen, und das nicht, weil sie Kriegswitwen oder arme betrogene Dorfmädchen mit langen Zöpfen
waren, sondern weil sie es so und nicht anders wollten. Ja, sie wollten sogar so sehr darüber bestimmen, wann und wie sie ihre
Kinder bekamen, dass sie dafür mit lila Latzhosen oder Batikgewändern, aber ohne BH und Bäuchen, die nur ihnen gehörten, auf
die Straße gingen. Und so wollte auch Meggy sein, die vom Dorf kam: modern, frei und selbstbestimmt. Außerdem war sie nicht
die einzige Schwangere in der Familie, denn nachdem ihre älteste Schwester Fanny schon drei Söhne in die Welt gesetzt hatte,
zogen nun neben Meggy auch Peggy und Betty nach. Wobei es für Betty allerdings schon die zweite Schwangerschaft war, denn
sie hatte bereits eine Tochter. Die drei schwangeren Schwestern sollten alle Töchter bekommen, und diese drei nahezu gleich
alten Mädchen namens Hebron, Melody und Virginia würden ein unzertrennliches Trio bilden.
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Sarid, Yishai: Alles andere als ein Kinderspiel | Kein & Aber | 2014 | Aus dem Hebräischen von Helene Seidler
| Hardcover | 368 Seiten | ISBN: 978-3-0369-5703-6 | 19,90 €
Seit Naomi vor fünfundzwanzig Jahren den Kibbuz und ihren Mann verlassen hat, leitet sie mit Herzblut einen
Kindergarten im Norden Tel Avivs. Als der Eigentümer des Grundstücks stirbt, wittert ein bekannter Architekt
seine Chance, Naomi und den Kindergarten vom begehrten Anwesen zu vertreiben. Um dem ruchlosen Architekten die Stirn zu bieten, leiht Naomi von zwielichtigen Gestalten Geld. Ihre Affäre mit dem Vater eines der Kinder
trägt ebenfalls nicht gerade zur Entspannung ihrer Lage bei. Doch plötzlich steht auch noch ihr „verlorener“ Sohn
vor der Tür. Naomi weiß, dass das ihre letzte Chance ist, ihr Leben wieder in Ordnung zu bringen.
Yishai Sarid, 1965 in Tel Aviv geboren, studierte in Jerusalem Jura und arbeitete später als Staatsanwalt. Heute
ist er als Rechtsanwalt tätig und publiziert in verschiedenen Zeitungen. 2010 erschien sein Roman „Limassol“.
In diesem Jahr entzog sich der Kindergarten aus unerfindlichen Gründen meiner Kontrolle. Das lärmende Durcheinander der
ersten Wochen sind wir gewohnt. Die neuen Kinder brauchen in jedem Jahr wieder Zeit, um sich einzuleben, und die
schuldbewussten Eltern stehen uns dauernd im Weg. Bis Ende September aber, nach dem jüdischen Neujahrsfest, hat sich
meistens alles eingespielt. Das ist wie ein Naturgesetz. Die Eltern bringen die Kinder am Morgen, tun so, als würden sie sich für
das Treiben im Kindergarten interessieren, helfen ihrem Kind, ein Tier aus Knetgummi zu formen, oder malen ein wenig mit
Wasserfarben, doch im Grunde haben sie es eilig, zur Arbeit zu kommen. Ihre erleichterten Seufzer beim Hinausgehen sind ganz
deutlich zu hören. Dann weint das eine oder andere Kind, aber irgendwann kehrt Ruhe ein. Wir können unseren Schützlingen das
Frühstück bringen, und danach setzen wir sie in einen Kreis und erzählen ihnen eine Geschichte, reden mit ihnen über Gott und
die Welt oder gehen mit ihnen zum Spielen in den Hof. Später bekommen sie ihr Mittagessen, und anschließend schlafen sie auf
kleinen Matratzen. Wenn sie aufwachen, gibt es einen kleinen Imbiss, und bald darauf erscheinen die Eltern, um ihre Kinder
abzuholen. Sind alle gegangen, räumen wir auf und machen sauber. Ein weiterer Arbeitstag liegt hinter uns. So sieht für mich
schon seit fünfundzwanzig Jahren die alltägliche Routine aus. Tausende von Tagen, unzählige Gesprächsstunden, Hunderte von
frei erzählten Kindergeschichten, Unmengen von Mahlzeiten, Küssen, Umarmungen, Abschieden, morgendlichen Tränen. Ein
unüberschaubarer Haufen gewechselter Windeln, die viele der neuen Kinder anfangs noch brauchen.
In diesem Jahr aber nahm der Tumult kein Ende und klang sogar nach dem Laubhüttenfest im Oktober nicht ab. Kinder verfielen
in Weinkrämpfe, ließen sich nicht beruhigen und schrien nach Mama und Papa. Hysterische Eltern vermochten sich nicht
loszureißen. Allerhand merkwürdige technische Pannen traten auf, und anstatt um die Kinder kümmerte ich mich um Reparaturen.
Kränkliche Mitarbeiterinnen konnten sich wegen fiebriger Infekte nicht aus dem Bett erheben oder wurden im sechsten Monat von
vorzeitigen Wehen gepackt. Es schien, als triebe das Schicksal seinen Schabernack mit uns. Oder lag es daran, dass die Kinder
immer empfindlicher und die Eltern immer ängstlicher wurden? Ich weiß es nicht. Möglicherweise bin ich selbst das Problem. Habe
ich meine Gabe, im Kindergarten Ruhe und Frieden zu verbreiten, eingebüßt? Gedanken dieser Art führen zu nichts, sie nagen
nur an meinem Selbstvertrauen. Ich muss mich an das Naheliegende, Konkrete halten. Meine Aufmerksamkeit auf die einfachen
Tätigkeiten richten und darauf achten, dass alles gemacht wird, wie es sich gehört. Nach einem Vierteljahrhundert in diesem Beruf
bereite ich mich noch immer jeden Morgen sorgfältig auf die Begegnung mit den Kindern, den Eltern und den von mir
beschäftigten Kindergärtnerinnen vor. Mein Lächeln ist zwar sanft, aber ich trete bestimmt auf und bestehe auf der Einhaltung
meiner Anweisungen. Nur so bringe ich Ordnung in den mich umgebenden Trubel.
Doch in diesem Jahr läuft nichts, wie es sollte. An manchen Morgen möchte ich bereits um neun Uhr nach oben in meine
Wohnung gehen und mich bis zum Abend im Bett vergraben. So müde habe ich mich früher nicht gefühlt. Zwei Wochen nach den
Herbstferien fiel während einer drückenden Hitzewelle ein Junge namens Jaheli von der Rutsche. Er heulte vor Schreck und
Schmerz, sein Kopf war im Sand neben dem Käfig der Nagetiere aufgeschlagen. Ich rannte hinaus auf den Spielplatz. Jaheli lag
auf dem Bauch, um seinen Mund hatte sich eine kleine Blutlache gebildet. Erschrocken drehte ich ihn um. Gott sei Dank, er lebte,
er atmete. Ein Grüppchen bestürzter Kinder folgte mir, als ich Jaheli hineintrug, in der Küche auf einen Stuhl setzte und Sima bat,
einige Eiswürfel in ein kleines Handtuch zu wickeln. Ich drückte den kühlenden Beutel sanft gegen den blutenden Kiefer und sagte
mir: Du musst die Eltern anrufen. Das wird eine Szene geben! Die Wunde im Mund sah wirklich nicht schön aus. „Kinder, es ist
alles in Ordnung“, beruhigte ich die Kleinen, „es sind ja nur Milchzähne. “Aber ich wusste natürlich, dass es nicht in Ordnung war.
Die Eltern würden sich aufregen, und das zu Recht. Jaheli gehörte zu den neuen Kindern, und ich hatte noch nicht einmal die
Namen der Eltern im Kopf.
„Was ist mit dem Mittagsessen?“, fragte Sima, meine treue Mitstreiterin, die immer noch Miniröcke im Stil der Siebziger
bevorzugte, obwohl sie längst eine andere Kleidergröße hatte. „Soll ich sie reinholen? Es ist schon Viertel nach zwölf. “Auch wenn
die große Bombe auf Tel Aviv fällt, wird Sima das Mittagessen pünktlich servieren. „Warte noch einen Augenblick“, sagte ich und
nahm Jaheli fest in den Arm. Er schluchzte leise. Das wird mich Geld kosten, dachte ich, und dabei ist mein Konto schon tief in
den Miesen. Jedes Jahr widerstand ich der Versuchung, meine pädagogischen Grundsätze über Bord zu werfen und mehr als
zwanzig Kinder aufzunehmen. Mit zwanzig Kindern blieb nicht viel Geld übrig. Eine einzige unvorhergesehene Ausgabe, und ich
konnte die ganze beschissene Bilanz vergessen. Hat eine Kindergärtnerin sich einer pädagogischen Vision verschrieben,
verzichtet sie von vornherein auf Wohlstand. Diese beiden Dinge sind unvereinbar.
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Die Kinder stürmten herein und setzten sich an ihre kleinen Resopaltische. Auf den farbigen Tellern vor ihnen lagen ein
Hühnerschnitzel, ein Klacks Püree und von Sima zubereitetes Gemüse. Ich setzte mich auf meinen Platz, den verletzten Jaheli auf
dem Schoß. „Gu-ten Ap-pe-tit“, wünschte ich der Runde betont munter, und die Kinder wiederholten die beiden Wörter im Chor.
Als der letzte Laut verklungen war, machten sie sich ans Essen. Über die gebeugten Köpfe hinweg traf mich Simas besorgter
Blick. Ihre Augen waren dramatisch mit blauem Lidschatten geschminkt, ihr gefärbtes Haar glänzte hellbraun, fast schon orange.
„Soll ich ihn einen Augenblick halten, damit du essen kannst?“, fragte sie. Ich musste unbedingt die Eltern anrufen. Ungeschickt
erhob ich mich von dem niedrigen Stuhl und spürte einen stechenden Schmerz im Rücken. Hoffentlich nicht wieder ein
Hexenschuss, betete ich stumm, das hatte mir gerade noch gefehlt. „Bitte erschrecken Sie nicht“, sagte ich der Mutter am Telefon,
sie arbeitete irgendwo als Grafikerin, „es sind ja nur die Milchzähne.“ Aber ihre Stimme klang sehr erschrocken, als sie erklärte, sie
würde sofort kommen. Mir war der Appetit vergangen. Das alles war nur passiert, weil ich Julia ein paar Tage freigegeben hatte.
Sie wollte mit ihrem Freund Janiv mitten im Schuljahr eine dreitätige Kreuzfahrt machen. Dieser Janiv war ein dubioser Charakter
– er befasste sich mit allen möglichen Dingen, die mit Autos und Krediten zu tun hatten – , trotzdem wollte ich keine missgünstige
Alte sein und Julia die Freude nicht verderben, deswegen hatte ich zugestimmt.
Ein Fehler, denn das Personal war ohnehin knapp. Bei einer der Kindergärtnerinnen hatten die Wehen bereits gegen Ende des
sechsten Monats eingesetzt, eine andere war zu einer besser bezahlten Stelle gewechselt. Deswegen war Jaheli draußen zwei,
drei Minuten unbeaufsichtigt gewesen, und schon hatte er sich ein paar Zähne ausgeschlagen. Die Kinder legten ihre schmutzigen
Teller in große Plastikschüsseln. Wir wischten die Tische ab und fegten die zu Boden gefallenen Essensreste zusammen. Ich
breitete die Matratzen für die Mittagsruhe auf dem Boden aus, schaltete das Tonband mit der einschläfernden klassischen Musik
ein und zog die Vorhänge zu, um den Raum zu verdunkeln. Wie verzaubert legten die Kleinen sich auf ihre Stammplätze und
kuschelten sich in die dünnen Sommerdecken, die wir noch nicht gegen die wärmeren Herbstdecken ausgetauscht hatten. Mit der
Melodie im Ohr glitten meine Schützlinge sanft in den Schlaf. Auch Jaheli. Ich hatte ihm zuvor behutsam das blutbefleckte T-Shirt
gewechselt und ein Schmerzmittel gegeben.
Die Stunde, in der sie friedlich schlummern und mir ein wenig Ruhe gönnen, ist wie ein Geschenk des Himmels. Sima hatte den
Abwasch beendet und setzte sich draußen zu mir auf die Holzbank. Die Tür zum Kindergarten blieb oben, damit ich hören konnte,
wenn jemand aufwachte. Sima trank schwarzen Kaffee aus einer Glastasse und sagte: „Mach dich auf was gefasst.“ „Ja“,
pflichtete ich ihr bei, „das hätte nicht passieren dürfen. Jemand hätte draußen aufpassen müssen.“ „Hoffentlich kommt Julia im
Bett auf ihre Kosten, für uns beide mit. “Die Absätze von Jahelis Mutter klapperten auf den Stufen, die von der Straße hinab zum
Eingang des Kindergartens führten. „Wo ist er?“, fragte sie aufgeregt. „Es ist gar nicht so schlimm“, versuchte ich sie zu beruhigen.
„Er ist eingeschlafen. Wir sollten ihn nicht wecken. Schlaf ist immer noch die beste Medizin gegen Schmerzen.“
Meine medizinische Weisheit vermochte die Mutter allerdings nicht zu überzeugen. Sie stöckelte aufgebracht zur Matratzenreihe
mit den schlafenden Kindern. Ich befürchtete, sie würde alle wecken. „Warten Sie einen Augenblick“, flüsterte ich, „ich hole ihn.“
„Wie kann so etwas überhaupt passieren?“, schimpfte sie vor sich hin. Ich hob den tief schlafenden Jaheli von seiner Matratze
hoch. Bei seinem Anblick schien die Mutter sich zu beruhigen, doch als sie ihm den Mund öffnete und den Kiefer abtastete, stieß
sie ein wütendes Schnaufen aus. Zwei Zähne fehlten, die Haut am Kinn war aufgeschürft. Sie riss den Jungen an sich. „Sie haben
Glück, dass ich gekommen bin und nicht mein Mann!“ In ihren Augen loderte die blanke Wut. „Mein Süßer“, stöhnte sie dem
inzwischen aufgewachten Jungen ins Ohr. Jaheli erschrak über das dramatische Gehabe und fing wieder an zu weinen. „Hab
keine Angst, mein Süßer, jetzt kümmern wir uns um dich.“ Sima drückte ihre Mittagszigarette aus und ging ins Haus. „Sind Sie
etwa nur zu zweit?“, fragte die Mutter. „Ja, Julia ist krank“, log ich. „Sie ist heute zu Hause geblieben.“ „Dann ist es ja kein Wunder,
dass die Kinder sich verletzen!“
Die Mutter hatte ihre Stimme erhoben. Ihr Atem roch unangenehm. Ob das von der Wut kam? „Pssst!“, wollte ich sie zum
Schweigen bringen. „Die anderen Kinder schlafen doch noch.“ „Ich lasse mir von Ihnen nicht den Mund verbieten!“ Sie ist viel zu
mager, dachte ich, ohne jeden Anflug von Weichheit. „So etwas kommt vor“, mischte Sima sich von hinten ein. „Das macht ihn zu
einem richtigen Mann. “Kein besonders kluges Timing für eine solche Bemerkung. „Gehts noch?“, empörte sich die Mutter. „Was
soll das heißen, ein richtiger Mann? Der Junge ist keine drei Jahre alt. Wo leben Sie eigentlich? Es war ein Fehler, Jaheli hier
anzumelden. Schade, dass ich ihn nicht in den städtischen Kindergarten geschickt habe. Man hatte mich gewarnt, aber ich habe
das in den Wind geschlagen. Nicht einmal das Wort ‚Entschuldigung‘ habe ich von Ihnen gehört!“ „Entschuldigung.“
Plötzlich war ich unendlich erschöpft. „Ich bitte Sie von ganzem Herzen um Entschuldigung.“ „Hier bleibt mein Sohn nicht, so viel
ist sicher“, schäumte die Mutter. „Sie werden noch von uns hören. “Damit schritt sie durch die Pforte, den schluchzenden Jungen
auf dem Arm. Fast war ich versucht, mich einem Zusammenbruch hinzugeben, aber dafür blieb keine Zeit, denn von der lauten
Unterhaltung waren die Kinder aufgewacht und forderten meine Aufmerksamkeit. Auf der Matratze von Amit entdeckte ich einen
großen feuchten Fleck. Ich nahm den Kleinen mit zur Dusche, streifte ihm die nasse Hose ab und wusch ihm Po, Genitalien und
Beine. Dann zog ich ihm saubere Sachen an, und er stürmte hinaus zu seinen Freunden. Sima wechselte einem der neuen
Mädchen die Windel. Dieses eigenwillige Geschöpf hatte sich noch nicht einmal versuchsweise aufs Töpfchen gesetzt.
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„Hör mal zu“, fing Sima an, nachdem wir den Kindergarten sauber gemacht und den Spielplatz in Ordnung gebracht hatten, „bei
uns in der Straße wohnt ein sehr netter Rabbiner…“ Ich wusste schon, wie es weitergehen würde. Seit geraumer Zeit bat sie mich
inständig, die noch aus den Zeiten meiner Vorgängerin Raya stammende alte Mesusa am Eingang überprüfen zu lassen, doch ich
hatte mich bisher beharrlich geweigert. „Wir haben zu viel Pech in letzter Zeit“, meinte Sima, „vielleicht ist die Mesusa defekt. Kann
doch nicht schaden, wenn der Rabbiner mal nachsieht.“ „Ich werde darüber nachdenken“, sagte ich. Irgendwie waren mir alle
Gewissheiten abhandengekommen.
Wie angedroht, nahm Jahelis Mutter ein wenig später ihren Sohn aus dem Kindergarten und stornierte die hinterlegten Schecks.
Die anderen Kinder blieben vorerst bei uns, obwohl die niederträchtige Person die Geschichte genüsslich unter allen Eltern
verbreitete. Das machte mich rasend. Mein Kindergarten erfreute sich eines guten Rufs, dafür hatte ich hart gearbeitet, und nun
telefonierte diese Frau in der Stadt herum und versuchte, mich zu zerstören. Ich teilte Sima und Julia mit, dass vorerst aller Urlaub
gestrichen sei, auch ich selbst würde sechs Tage in der Woche arbeiten, und sie sollten nur ja viele Vitamine zu sich nehmen,
denn keine von uns dürfe krank werden. Sie zeigten Verständnis, und ich sah mich nach einer weiteren Kindergärtnerin um.
Gebärdeten sich die Kleinen in diesem Jahr so wild, weil wir zu nachsichtig mit ihnen waren? Sollten wir etwas strenger sein, auf
mehr Disziplin achten? Beschäftigten mich die möglichen Reaktionen der Eltern zu sehr? Ich verfügte nicht mehr über die gleiche
Geduld wie früher, ich regte mich zu schnell auf. Manchmal stand ich hilflos vor einem tobenden Jungen, atmete tief durch, um
mich zu beruhigen, und rief mir in Erinnerung, dass ein Kind von zwei, drei Jahren seine Wünsche bereits sehr gut zum Ausdruck
bringen konnte, man musste es nur richtig beobachten. Wenn es tobte, dann war das ein Zeichen für mangelnde Aufmerksamkeit.
Niemals, aber wirklich niemals, hatte ich hier im Kindergarten ein Kind geschlagen, geschüttelt, gekniffen oder am Arm gerissen. In
ein paar Jahren würden sie wahrscheinlich vergessen haben, wie ich aussah und wie ich hieß, aber meine Stimme und die
Berührung meiner Hand würden ihnen immer in Erinnerung bleiben. Ich erlaubte es mir nie, mit einem der Kinder zu schimpfen
oder ihm zu zeigen, dass es mich nervte oder dass ich es nicht so liebte, wie ich es lieben sollte.
In diesem Jahr bereitete es mir mehr Mühe als früher. Trotz des Durcheinanders versuchte ich, in dem kreischenden Haufen ein
jedes Kind für sich zu sehen und seine Besonderheit zu erkennen. Zum Beispiel Zohar, eines der neuen Kinder. Aus seinen
ungewöhnlich großen Augen kullerten in den meisten Stunden des Tages Kummertränen. Morgens brachte ihn in der Regel seine
Mutter, und er klammerte sich an ihre Knie, um sie am Fortgehen zu hindern. Die Mutter war sehr dünn, immer schwarz gekleidet
und nahm ihre Sonnenbrille auch im Kindergarten nicht ab. Obwohl wir manchmal versuchten, ihr ein paar Worte zu entlocken,
sprach sie kaum. Seit ein paar Monaten war sie angeblich von Zohars Vater geschieden. Zwar hatte sie mein Mitgefühl, doch der
Junge litt ganz offensichtlich, und er interessierte mich mehr als sie. Nie wollte er sie gehen lassen, und wenn sie dann wirklich
nicht länger bleiben konnte, weil sie zur Arbeit musste, war es meine Aufgabe, den lauthals schreienden Jungen aus ihren Armen
zu winden. Sobald ich ihn absetzte, zog er sich in eine Ecke zurück, um dort traurig und apathisch herumzuhocken. Ich ging dann
in die Hocke und versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, oder schickte ihm einen der größeren Jungen zum Spielen, aber
die verloren rasch das Interesse an ihm. Auch vor der Mittagsruhe heulte Zohar pausenlos „Mama, Mama“.
Es war unübersehbar, dass er den Kindergarten hasste. Einmal in der Woche wurde Zohar von seinem Vater Avram gebracht,
dann war der Junge viel ruhiger. Avram schenkte Sima und mir ein gewinnendes Lächeln, ließ sich in aller Ruhe neben seinem
Sohn auf dem Boden nieder und spielte mit ihm und den Plüschtieren, was dazu führte, dass Zohar zu weinen vergaß. Avram war
Anfang der Achtziger ein recht bekannter Musiker gewesen. Im Kibbuz, wo ich zu jener Zeit gelebt hatte, hatte ich sogar seine
erste Schallplatte besessen. Ein wirklich begabter Musiker. Die Jugend von heute kannte ihn schon nicht mehr, und auch in
meiner Generation war er fast vergessen. Dennoch schien er, wenn er seinen Sohn morgens brachte, zufrieden mit seinem
Schicksal zu sein, und nahm sich stets Zeit für ein Gespräch mit mir. Er schreibe jetzt Filmmusik, erzählte er mir, und sei
außerdem dabei, eine neue Band zu gründen. Sie wollten authentische orientalische Lieder spielen, so wie er sie noch von seiner
Mutter, einer türkischen Jüdin, gehört hatte, und sie planten bereits Auftritte im Ausland. Sima war ganz hingerissen von ihm, und
auch auf mich blieb sein Charme nicht ohne Wirkung.
„Warum bringen Sie keine neue CD heraus?“, fragte Sima ihn eines Tages unverblümt. Sie kannte wirklich keine Scham. Er habe
eine schwere Zeit der Schreibblockaden hinter sich, erklärte er, und habe viel für andere gespielt, aber jetzt finge der Brunnen
wieder an zu sprudeln, das spüre er genau, und bald würde er wohl wieder mit eigenem Material auftreten können. Er war höflich
und interessiert und erkundigte sich oft nach dem Verhalten seines Sohns. Ich sagte ihm die Wahrheit: Das Kind fühlte sich im
Kindergarten noch nicht wohl. „Das ist unsere Schuld, wir haben uns benommen wie Idioten“, meinte er bei unserem letzten
Gespräch und sah aus, als hätte ich ihm den Tag verdorben. Ich versuchte, mir Avram und Zohars Mutter als Paar vorzustellen,
und es wollte mir nicht gelingen. Sie musste fast dreißig Jahre jünger sein als er. Er sprühte vor Lebenslust, sie war mager, kalt
und verschlossen. Wie konnten sie auch nur einen einzigen friedlichen Augenblick miteinander verbringen? An so etwas
verschwendest du mitten am Tag deine Gedanken, schalt ich mich, und dabei fordert die unmittelbare Umgebung deine ungeteilte
Aufmerksamkeit.
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Sohn nicht eingeladen, und ich wusste nicht, wo ich Noam hätte unterbringen sollen. Herschi ließ mich im Wohnzimmer seiner
Suite vor einem riesigen Fenster Platz nehmen. Vor mir lag das Meer – ein atemberaubender Blick. Seine knochige Hand strich
liebevoll über meinen Oberschenkel. Er war der einzige Mensch, dem zu Ehren ich ein Kleid anzog; ich wusste, dass ihm das
gefiel. Herschi erzählte von seinem einzigen Sohn, der als Trainer einer Baseballmannschaft an einem Ort lebte, von dem ich noch
nie gehört hatte. Dann sprach er über seine Liebe zum Land Israel und wie leid es ihm tue, dass er sein Leben nicht hier verbracht
hatte. Seine inzwischen verstorbene Frau hatte davon nichts wissen wollen. Die Hitze war ihr unerträglich gewesen, und sie hatte
sich vor den nicht enden wollenden Kriegen gefürchtet.
Während er sprach, verschleierten sich Herschis Augen. Er blickte in die Ferne und schien durchsichtig zu werden, wie ein
Mensch, der nicht mehr lange unter uns weilen würde. Ich nahm seine Hand fest in meine und sagte ihm, wie sehr ich ihn schätzte
und wie wichtig er mir sei. An das hübsch verpackte Geschenk hatte ich noch viele bunte, von den Kindern bemalte Grußkarten
gehängt. Als ich es Herschi gab, öffnete er es mit zitternden Händen. Beim Anblick des exquisiten Silberbehälters hob er den
faltigen Kopf und suchte mein Gesicht, um es zu küssen.
Wir warteten, bis die Sonne im Meer versunken war, dann erhob Herschi sich mühsam und verkündete feierlich, dass wir jetzt mit
dem Fahrstuhl runter in den Grillroom fahren würden, wo er einen Tisch für uns reserviert hatte. Ich freute mich immer wieder auf
unser jährliches Dinner im Grillroom und hatte mich schon den ganzen Tag bemüht, möglichst wenig zu essen. Im Fahrstuhl hellte
sich Herschis Laune wieder auf, und er erzählte mir von einem Geschäft mit dem Oberbefehlshaber der venezolanischen Armee.
Die Atmosphäre im Grillroom enttäuschte uns auch dieses Mal nicht. Schimmernde Damastdecken, Kerzen auf den Tischen,
zuvorkommende Kellnerinnen. Herschi bat mich, eine teure Flasche Wein zu bestellen. Diesen Wunsch erfüllte ich ihm gerne und
wählte den Merlot Jahrgang einer kleinen Kellerei von den Golanhöhen, der in einem Zeitungsartikel empfohlen worden war.
Herschi erinnerte sich an einen Besuch auf den Golanhöhen gleich nach dem Jom-Kippur-Krieg, zu dem die Regierung eine Reihe
von ausländischen Philanthropen eingeladen hatte. An einer Erinnerungsstätte war eine Begegnung mit dem kleinwüchsigen
jemenitischen Soldaten arrangiert worden, der mit seinem Panzer die ganze syrische Armee aufgehalten hatte.
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Segal, Ron: Jeder Tag wie heute. Roman | Wallstein | 2014 | Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
ISBN: 978-3-8353-1557-0 | Gebunden | 140 Seiten | 17,90 €
Der Held dieses Debütromans ist ein 90jähriger israelischer Schriftsteller und Holocaust-Überlebender. Vor den
Nazis geflüchtet, reist er zum ersten Mal zurück nach Deutschland, um für ein Literaturmagazin seine Erinnerungen aufzuschreiben. Ihm bleibt nicht viel Zeit, das Versprechen an seine verstorbene Frau einzulösen. Sie
hatte ihn gebeten, ihrer beider Lebensgeschichten aufzuschreiben, bevor diese vergessen werden. Segal erzählt
die Fieberträume des Überlebenden, in denen die Fakten und Fiktionen einander überlagern, er ruft die
Geschichten der Gebrüder Grimms auf, die Mythen, Legenden und versucht ein Amalgam zu finden, das ein
literarisches Sprechen über den Holocaust für jemanden „zwei Generationen danach“ möglich macht.
Ron Segal, geb. 1980 in Israel, hat an der „Sam Spiegel Film and Television School Jerusalem“ studiert. Seit
2009 lebt er mit Unterbrechungen in Berlin, derzeit als Stipendiat der Akademie der Künste, um einen
Animationsfilm zu „Jeder Tag wie heute“ fertigzustellen.
„Ich will sterben, sagte ich.
Du bist schon tot, erwiderte der SS-Offizier.
Warum dann dieses unablässige Wollen?“ Adam Schumacher
Prolog
Ich begegnete Bella zum ersten Mal, als ich vierzehn und sie elf Jahre alt war. Bevor wir auch nur die ersten Blicke tauschten,
hatten wir uns ineinander verliebt. Ich dachte: Wenn ich mal siebzig bin, ist Bella siebenundsechzig. Aber die Jahre vergingen, und
das Versprechen wurde nicht eingelöst.
Bella war eine Harfenspielerin von Weltrang. Allerdings war sie auch jüdisch, wie ich, und so musste ihre Begabung ein paar
Schritte zurücktreten zugunsten eines Geschichtsabschnitts. Trotzdem nahm sie ihr erstes Konzert schon mit knapp neun Jahren
auf; bei Kriegsende wurde im Krematorium von Dachau ein weiteres aufgezeichnet, das eine überraschend gute Akustik abgab,
und unzählige Konzerte folgten nach unserer Einwanderung in Israel.
So verwandelte sich Bella vom Wunderkind, dessen Talent sich wegen der künstlichen Unterbrechung durch den Krieg nicht voll
hatte entfalten können, in eine erwachsene Musikerin, die praktisch immer noch ein Wunderkind war.
Bella hat wohl kaum geahnt, dass ihre letzte Tonaufnahme von einer Probe stammen würde, an deren Ende man sie lachen hörte.
Es mag ein Klischee sein, aber in meinem Alter darf ich sagen, dass das die schönsten Klänge der ganzen Aufnahme waren.
Ich weiß nicht, wie ich die Niederschrift meiner letzten Geschichte angegangen wäre, wenn ich gewusst hätte, dass es wirklich
meine letzte sein würde, aber ich erinnere ich an einen Satz meines guten Freundes Max: Wenn dir die Erinnerungen an Bella
verblassen, kannst du wieder leben, wagte er mir zu sagen. Ich wusste: Wenn die Erinnerungen an Bella endeten, würde ich
meine letzte Geschichte schreiben.
Die Ereignisse, die ich hier schildern werde, sind wirklich geschehen. Doch selbst wenn es jemandem gelingen sollte, mit der
Kamera einen Märchendrachen einzufangen, der in seiner ganzen Pracht vor ihm erscheint, wird das Foto stets unscharf sein, und
manche sagen dann, man könne nicht wissen, was auf dem Bild zu sehen sei, denn es sei ja kaum zu erkennen und vielleicht
habe der Fotograf selbst es beim Aufnehmen nur unscharf gesehen.
Auch in meinem Fall sagten so einige, man könne nicht wissen, was mir geschehen sei, denn die Zeugenaussagen seien nicht
weniger „unscharf" als Hunderttausende Bilder von Göttern und Ungeheuern, und sehr wahrscheinlich hätte ich eine imaginäre
Wirklichkeit erlebt, während sonst alle eine andere, offenbar einheitliche Wirklichkeit erlebten – was mich immer belustigt –, und in
dieser Wirklichkeit seien mir Dinge vor Augen getreten, die nach dem gesunden Menschenverstand in unserer Wirklichkeit gar
nicht existierten. Aber hier muss ich innehalten, um anzumerken, dass der gesunde Menschenverstand vielleicht tatsächlich einer
geraden, aber auch unendlichen Linie gleicht, und wer ihr folgt, wird neue Dinge entdecken, die letzten Endes in die Kategorie
„gesunder Menschenverstand" gehören.
Wer je behauptet, unmögliche Dinge könne man nicht glauben, tut das aus Mangel an Erfahrung. Würde er nur täglich eine halbe
Stunde trainieren, könnte er bald noch vor dem Frühstück sogar sechs unmögliche Dinge glauben.
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Nun möchte ich aber auch nicht empfehlen, beim nächsten Mal überstürzt alles Unmögliche zu glauben, denn im Bemühen, alles
zu glauben, werdet ihr schließlich eure Gehirnzellen überanstrengen, und dann seid ihr zu schwach, noch die einfachsten
Wahrheiten glauben zu können.
So kommt hier später beispielsweise, wenn auch aus einem anderen Buch, eine Geschichte über meine Bella, die in ihrem großen
Bemühen, ein unmögliches Ereignis zu glauben, gar nicht merkte, wie leicht sie selbst gerade ein solches auslöste, etwas, das sie
dann bis ans Lebensende verfolgte. Ich werde die Ereignisse so schildern, wie sie mir geschehen sind, wie ich sie früher bereits
erzählt habe, und eines wird den Beweis für meine Glaubwürdigkeit erbringen, falls mein über die Jahre erworbener guter Ruf
nicht schon allein dafür bürgen sollte: Meine Geschichte ist konsequent. So wie sie hier erzählt wird, wurde sie früher erzählt, und
der einzige Unterschied liegt in den Satzzeichen.
1
Ich werde, wie man es von mir erwartet, nicht mit dem Anfang beginnen. Vor zwei Wochen und einem Tag nahm ich wie immer
den Bus von meinem Haus im Jerusalemer Viertel Nachlaot nach Yad Vashem und bemerkte gleich beim Einsteigen einen Mann
im hinteren Teil: Er war jung, hielt eine Zeitung, und eigentlich gab es keinen Grund, ihn unter den wenigen Fahrgästen an diesem
Tag herauszupicken. Aber ich, dessen Sinne durch all die Erlebnisse in den zwei Monaten vor diesem Tag geschärft waren, hatte
einen Grund. Ich ging geradewegs auf ihn zu in der Absicht,
ihn ohne Zögern anzusprechen, aber da entdeckte ich den grünen Sauerstoffballon, der zu seinen Füßen auf dem Boden lag, an
einen kleinen Einkaufswagen gebunden.
Ich änderte meinen Plan und setzte mich ihm gegenüber. Es war ein Moment der Unsicherheit, aufgrund all der Jahre vor diesen
zwei Monaten, als dächte ich mir plötzlich: Was denn, jeder Mensch irrt sich mal, jeder kann etwas sagen und dann entdecken,
dass er damit einem Wissen vorausgreift, das seine Aussage praktisch widerlegt. Aber dann sah ich die Überschrift des Artikels,
den er las – „Ein Arzt, der Sterbehilfe für den Verein Natural Resort geleistet hatte, beging Selbstmord, als er entdeckte, dass die
betreffende Patientin gar nicht todkrank gewesen war" –, und fing mich wieder.
Sagen Sie, wissen Sie eigentlich, dass Sie die Zeitung von vorgestern lesen?, sprach ich ihn an, ohne daran zu zweifeln, dass er
es wusste, und wartete auf die Antwort, die auch prompt kam: Vor zwei Tagen ist die Welt für mich eingestürzt, und deshalb wollte
ich zurückgehen und dort weitermachen, wo ich aufgehört hatte.
Ich dachte mir, wenn ich die Zeitung von vor zwei Monaten aufgehoben hätte, könnte ich in der Zeit zurückgehen und es auch so
machen wie er. Und er, der erkannte, dass mir dasselbe wie ihm passiert war, wunderte sich nicht, dass ich nun nachdachte, statt
ihm zu antworten, und eine recht lange Schweigepause zwischen uns entstehen ließ.
Von der Seite beobachtete uns ein kleiner Junge – wie Kinder halt gucken: ohne sich zu schämen. Denkst du denn, Kind, ich
wüsste nicht, wie ich aussehe: alt und über dem einen Auge eine selbstgebastelte Klappe, die nicht mal für mein Alter gut
aussieht? Aber der Unterschied zwischen uns, Junge, besteht darin, dass du dir nicht vorstellen kannst, was mir durch den Kopf
geht, dass ich aber genau weiß, was in deinem Kopf abläuft.
Ich erwiderte seinen Blick, bemüht, eine Mutter auszumachen, die ihm sagen würde, man dürfe nicht so glotzen, das sei
ungehörig, aber es war keine Mutter in Sicht. Vor zwei Monaten war ich ins Münchner Verlagsbüro des Magazins Schwarz mit
Farbe gerufen worden; ein blöder Name, zugegeben, aber tatsächlich geht es um ein angesehenes Magazin, das im
internationalen Literaturbetrieb höchste Reputation genießt und auch noch gut verdient. Ich betrat das Büro des Chefredakteurs
Max Vérité, den ich seit Jahren kenne, eine Art Glaskasten, bestehend aus vier durchsichtigen Wänden und einer Decke, die das
Sonnenlicht auf ganz spezielle Weise filtert, und schloss die Tür hinter mir. Damit verstummte der Lärm der großen Redaktion
einer Zeitschrift mit ihrem Termindruck, und so glaubte ich auch, dass die Unterhaltung zwischen Max und mir für die übrigen
Mitarbeiter unhörbar sei.
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Shalev, Meir: Zwei Bärinnen | Diogenes | 2014
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama | ISBN978-3-257-06911-2 | Leinen, 464 Seiten | 22.90 €
Auge um Auge, Zahn um Zahn. Leidenschaft und Untreue, über Verlust, Rache und deren Sühne. Die Familie
Tavori betreibt im Norden Israels in der dritten Generation eine Gärtnerei. Es sind Menschen, die ihren Instinkten
und Emotionen folgen: ihrer Liebe ebenso wie ihrem Hass. Eine erschütternde Familiensaga und ein unkonventioneller literarischer Thriller von archaischer Wucht. In einem Dorf im Norden Israels begehen im Jahr 1930 drei
Bauern Selbstmord. So steht es in den Akten, aber alle im Dorf wissen, dass nur zwei der angeblichen Selbstmörder Hand an sich gelegt haben. Der dritte wurde ermordet. Siebzig Jahre sind seither vergangen. Ruta Tavori,
Lehrerin am örtlichen Gymnasium, weiß, wer diesen Mord begangen hat, und will nun davon erzählen. Davon
und von den Männern ihrer Familie: ihrem Großvater, ihrem Mann, ihrem Bruder und ihrem Sohn – Männer, die
sie liebt, denen sie zürnt, nach denen sie sich sehnt und denen sie zu verzeihen versucht. Eine Geschichte über
Männerfreundschaften und die Liebe einer Frau, über Leidenschaft und Untreue, über Verlust, Rache und Sühne.
Meir Shalev, geboren 1948 in Nahalal in der Jesreel-Ebene, studierte Psychologie und arbeitete viele Jahre als
Journalist, Radio- und Fernsehmoderator. Inzwischen ist er einer der bekanntesten und beliebtesten israelischen
Romanciers. 2006 erhielt er für sein Gesamtwerk den Brenner Prize, die höchste literarische Auszeichnung in
Israel. Meir Shalev schreibt regelmäßig Kolumnen für die Tageszeitung „Yedioth Ahronoth“. Er lebt in Jerusalem
und in Nord-Israel.
1
Das Telefongespräch
Das Handy klingelte. Der große, kräftige Mann warf einen Blick darauf und sagte zu der Frau, mit der er zu Abend aß: „Ich muss
rangehen. Bin gleich wieder da." Er trat auf die Straße, bemüht, seinen kleinen Bauch einzuziehen. An den hatte er sich noch nicht
gewöhnt, er überraschte ihn immer aufs Neue: vor dem Spiegel, unterm Gürtel, in den Blicken seiner Partnerin, wenn er auf ihr
ruckelte.
„Hallo?"
Die vertraute Stimme antwortete: „Neun Klingelzeichenhabe ich gezählt. Du hast mich warten lassen."
„Entschuldige. Ich bin im Restaurant und kurz rausgegangen."
„Wir haben ein Problem."
„Ich höre."
„Ich werde es dir mit Verstand und Vorsicht erklären, und versuche mir bitte genauso zu antworten."
„Okay."
„Erinnerst du dich an unseren Ausflug in die Natur?"
„Heute Morgen?"
„Was hatte ich gerade gesagt? Mit Verstand und Vorsicht. Ohne Zeitangaben, ohne Tage, ohne Stunden."
„Verzeihung."
„Es war ein schöner Ausflug."
Schweigen.
„Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Es war ein schöner Ausflug."
„Hab’s gehört."
„Du hast mir keine Antwort gegeben."
„Du hast Verstand und Vorsicht von mir verlangt. Was soll ich denn da drauf wohl antworten?"
„Was heißt 'was soll ich denn da drauf'? Wie redest du mit mir? Sag: Was hätte ich darauf antworten sollen."
„In Ordnung."
„In Ordnung reicht nicht. Sag: Was hätte ich darauf antworten sollen.“ Der Mann zog den Bauch noch weiter ein, ließ aber gleich
wieder locker: „Was hätte ich darauf antworten sollen.“
„Du hättest sagen sollen, ob du meinen Worten zustimmst oder nicht."
„Worüber?"
„Über unseren Ausflug in die Natur."
„Ich stimme zu. Es war ein sehr schöner Ausflug in die Natur."
„Du hättest gleich antworten müssen. Zwei Mal hast du mich warten lassen. Erst beim Klingeln und jetzt beim Antworten."
„Verzeihung."
„Lass mich niemals warten."
„In Ordnung."
„Erinnerst du dich an das Versteck, in dem wir am Ende des Ausflugs gesessen haben?"
„Sicher. Im Wadi, unter dem großen Johannisbrotbaum."
„Was hatte ich gesagt? Mit Verstand und Vorsicht. Ohne Zeit- und Ortsangaben, ohne Namen."
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„Ich habe keine Namen genannt."
„Du hast doch Johannisbrotbaum gesagt, oder nicht?"
Der Mann ballte behutsam die rechte Hand und betrachtete sie. Sie hatte einen weißen Verband, aus dem nur die Fingerspitzen
hervorlugten. Seine Augen, klein und engstehend, schlossen sich einen Moment und öffneten sich wieder, wie bei einem Schmerz,
der auflebt, wenn man an seine Ursache denkt. Ich stelle ihn mir im Geist vor. Wie er vor dem Lokal steht, auf seine Stiefel starrt,
den linken Unterschenkel
etwas anhebt, die blanke, kantige Stiefelspitze am rechten Hosenbein reibt.
Und ich höre seinen Gesprächspartner weiterreden:
„Hättest du einfach nur Johannisbrotbaum gesagt – na gut. Einfach nur groß – halb so schlimm. Aber der große Johannisbrotbaum, Substantiv und Adjektiv und dazu noch der bestimmte Artikel – das ist wie auf dem Präsentierteller. Guten Appetit,
greift bitte zu. Nicht einfach nur Baum: Johannisbrotbaum. Nicht einfach nur Johannisbrotbaum: großer Johannisbrotbaum. Und
nicht einfach nur irgendein Johannisbrotbaum: der große Johannisbrotbaum im Wadi. Das ist eine Bezeichnung, die kaum
Auswahlmöglichkeiten lässt. Genau dafür wurde die Sprache erfunden, um die Dinge klarzustellen, aber für uns ist Klarheit sehr
schlecht, verstehst du?"
„Ja, Entschuldigung."
„Genug der Entschuldigungen. Pass einfach auf."
„In Ordnung."
„Gut. Jetzt zur Sache. Es geht darum, dass wir dort etwas vergessen haben."
„Den Gasbrenner, auf dem du uns Tee gemacht hast?"
„Was Wichtigeres."
„Den Zuckerlöffel?"
„Würden wir so ein Gespräch über Teelöffel führen? Denk gut nach, dann wird es dir wieder einfallen. Streng dein Gehirn einmal
ordentlich an. Auch ein kleines Gehirn taugt etwas, wenn man es richtig in Gang setzt. Und falls es dir einfällt, sag nicht, was es
ist. Sag nur: Ich weiß, wovon du sprichst."
"Ich denke nach.“ Schweigen.
„Wieder lässt du mich warten.„ Schweigen.
„Jetzt fällt’s mir ein. Ich weiß, wovon du sprichst."
„Dann fahr hin, such, bis du es gefunden hast, und bring es mir."
„Wie dringend ist es?"
„Wenn jemand es vor uns findet, wäre das sehr schlecht."
„Eine halbe Minute, und ich geh los. Ich such mit der Taschenlampe."
„Ein hoffnungsloser Fall, das bist du. Ein hoffnungsloser Fall. Erst ‚was soll ich denn da drauf' und jetzt ‚ich geh los‚ und ‚ich such'?
Sag: Ich werde losgehen, und ich werde suchen. Man muss das Futur benutzen. Ich will dich endlich mal richtig reden hören."
„Ich werde losgehen, und ich werde suchen."
„Und ärgere mich nicht mehr."
„Entschuldigung."
„Und mach dich jetzt nicht mit der Taschenlampe auf den Weg. Jetzt ist es dunkel. Jemand könnte das Licht von weitem sehen.
Steh morgen früh auf."
„Gleich morgens."
„Bei Sonnenaufgang. Und parke nicht an der üblichen Stelle. Such dir einen anderen Platz, geh ein Stück weiter zu Fuß, komm
beim ersten Tageslicht an, und nimm die Suche auf."
„In Ordnung."
„Was macht die Hand?"
„Okay."
„Tut sie weh?"
„Bisschen weniger."
„Hast du sie verbunden?"
„I wo."
„Dass du uns nicht noch Tollwut bekommst."
„Nein."
„Und entspann endlich den Bauch. Ich spüre es ja bis hierher, sogar ohne dich zu sehen. Los, schick deine Freundin nach Hause
und geh schlafen. Du musst morgen früh aufstehen. Sie braucht nicht zu wissen, um welche Uhrzeit du abgefahren bist."
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2
Vorbereitungen
1
Wie hart würde die Rache sein, und wie schlicht und leicht waren die Vorbereitungen. Der Frau des Rächers, die hinter ihm stand,
jede Einzelheit sah und begriff, erschienen sie wie die Vorbereitungen zu einem Ausflug, wie seine Vorbereitungen zu den
Ausflügen, die sie vor Jahren gemein-sam unternommen hatten: das kräftige Ausschütteln des Rucksacks, der sich freute, mal
wieder aus dem Abstellraum herauszukommen. Der prüfende Zug an den Schnürsenkeln der Wanderschuhe, die beinah schon
alle Hoffnung aufgegeben hatten. Der Anwesenheitsappell
der Knöpfe am Arbeitshemd.
Und auch die Unterschiede sah sie: Anstelle der Delikatessen, die er auf die damaligen, die gemeinsamen Ausflüge mitgenommen
hatte, um ihr Herz zu erfreuen, packte er jetzt wenige, einfache Lebensmittel ein: ein paar Scheiben Brot, harte Eier, ungeschälte
kleine Gurken, einen Becher
saure Sahne. Das Wort „asketisch" fiel ihr unwillkürlich ein.
Und weitere Dinge bemerkte sie: Die Eier pellte er hier in der Küche, damit keine Schalenkrümel im Gelände zurückblieben und
die Anwesenheit eines Menschen verrieten. Die Salami, eine ständige Begleiterin bei den gemein samen Ausflügen von einst,
signalisierte ihm, dass sie gern mitkommen würde, wurde jedoch übergangen. Ihr Geruch konnte Hunde anlocken, und dem Hund
folgte womöglich sein Herrchen. Den schwarzen Kaffee, registrierte sie, kochte er noch hier im Haus und goss ihn in die alte
Thermoskanne. Ein Lagerfeuer, einen Gasbrenner, frischgekochten Kaffee sieht und hört man, und ihr Geruch trägt weit. Und sie
erinnerte sich: Früher, bei den gemeinsamen Ausflügen, hatte er den Kaffee auf seinen kleinen, perfekt geschichteten Feuerchen
gekocht. Hatte ihn aufwallen lassen, umgerührt, eingeschenkt, ihn ihr wie ein ausnehmend galanter Kellner serviert. Sie hatten
damals einen kleinen Stieltopf, der auf jeden Ausflug mitkam. Aber auch der – wo ist er?, fragte sie sich unvermittelt, schon zwölf
Jahre hatte sie ihn nicht mehr gesehen – kam jetzt nicht in den Rucksack.
Sie wusste: Etwas Großes und Schlimmes stand bevor. Vergeltung würde geübt, Blut gerächt werden, es würde jemand sterben,
vielleicht mehr als einer. Und doch trat ein Lächeln auf ihr Gesicht, als empfände sie Mitleid mit dem Stieltopf: „Dich Schüchternen
und Verrußten nimmt er nicht mit? Macht nichts. Auch mich lässt er zurück" – wie einst David die zweihundert Mann zurückließ,
die beim Tross blieben, als er mit gezücktem Schwert zu Nabal zog, Rachegedanken im Herzen. Sie trat näher an ihn heran.
Spürte er sie? Besaß er noch jene erschreckende und anziehende Fähigkeit zu spüren, was hinter seinem Rücken vorging? Ob ja
oder nein, er drehte sich nicht um, schenkte ihr keinen Blick. Sie trat noch näher, fühlte angenehm deutlich die zwei Zentimeter
Größenunterschied zwischen ihnen und lächelte im Stillen: In der ganzen Moschawa gab es keinen Mann, der kleiner als seine
Frau war, und erst recht keinen, dem das auch noch gut gefiel. Früher, vor dem Unglück, als sie noch gemeinsam auf der Straße
gingen – was für ein schönes Paar, sagten damals alle –, legte er ihr sogar den Kopf auf die Schulter, ein Rollentausch, der
Beobachter irritierte, ihr selbst aber großes Vergnügen bereitete. „Das ist sehr wichtig, seine Liebste zum Lachen zu bringen",
sagte er damals oft. In ihren privaten zehn Geboten, die er verfasst und im Schlafzimmer an die Wand gehängt hatte, lauteten das
dritte, das vierte und das neunte Gebot einhellig: „Du sollst deine Frau zum Lachen bringen."
„Wo hat er bloß die biblischen Wendungen her?", hatte sie damals gestaunt, als sie die Worte erblickte, und staunte sie nun, als
sie ihr wieder einfielen. An einem besonders schlimmen Morgen, vor ein paar Jahren, hatte sie diese zehn Gebote von der Wand
gerissen, zerfetzt und in den Mülleimer geworfen. Neue hatte er ihr nicht geschrieben, aber die alten waren unvergessen – sie
hingen noch an den Wänden ihres Herzens.
„Sein Rücken ist so viel breiter geworden", sagte sie sich jetzt.
Bei den einstigen, gemeinsamen Ausflügen waren sie immer nebeneinander gegangen, aber wenn der Weg schmal wurde, hatte
sie das Tempo verlangsamt, um ihn vorzulassen. Dann hatte sie seinen knabenhaft schmalen Rücken angeschaut, und er hatte
sich ab und zu umgewandt und gesagt: „Warum gehst du hinter mir? Übernimm du die Führung. „Ich weiß nicht, wohin."
„Folge dem Weg, er bringt dich schon ans Ziel."
„Er ist nicht markiert."
„Er ist markiert, aber nicht mit Farbe, sondern mit Spuren, mit zertretenem Gras, mit verschobenen Steinen, mit blanken Stellen
am Fels. Man muss nur hinschauen und sehen. Und er hat auch seine eigene Logik, das ist das wichtigste Zeichen. Wege haben
ihre Logik. Wenn man die erkennt, findet man sich leicht zurecht."
„Ich habe heute frei. Ich hab keine Energie für neue Erkenntnisse und keinen Sinn für Logik. Versteh du den Weg, und ich genieße
die Landschaft."
„Wieso? Ich geh hinter dir her und guck auf deinen Po. Das ist viel schöner, und ich darf auch mal genießen.“ Gleich morgen früh
würde ich in der Universität anrufen, dort mitteilen, dass ich das Studium abbreche, und dann gleich auf Arbeitssuche gehen.
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Obwohl er ihr Ehemann ist, betrachtet sie ihn so, wie Mütter ihre heranwachsenden Söhne ansehen: mit Verständnislosigkeit,
Hoffnung, Angst, Belustigung und Neugier. Sie hat nie einen heranwachsenden Sohn gehabt, und seit dem Unglück weiß sie, dass
sie auch nie einen haben wird, aber sie unterrichtet schon viele Jahre lang an der Oberschule der Moschawa und kennt daher
diesen Blick, den Mütter auf ihre Söhne werfen und mit dem sie nun ihren Ehemann bedenkt. Ich spüre das Flattern in meinem
Innern: „Habe ich etwa im Leib noch Söhne? Habe ich noch Hoffnung?"
Diese schönen biblischen Worte pulsieren zwischen Gebärmutter und Herz: „Ja, wenn ich noch diese Nacht einem Mann gehörte
und gar Söhne bekäme?" – Einem Mann?
Meinem Mann? Dir? Sie hatten oft Ausflüge gemacht. Anfangs zu zweit, dann mit ihrem Sohn. Zuerst hatte er in ihrem Bauch
geschaukelt und geschwommen, dann in einem Tragetuch vor ihrer Brust geschlummert, danach in einer Trage gesessen, die sein
Vater ihm in der Rucksacknäherei seiner Reserveeinheit genäht hatte. In diesem selbstgefertigten Beutel hatte er ihn auf dem
Rücken getragen, eben diesem Rücken, den er ihr jetzt zuwendet.
Ihre immer rasch tränenden Augen werden nun überschwemmt von Bildern: der Sohn als kleiner Reiter auf den Schultern seines
Vaters. Der Vater trabt, wiehert wie ein Pferd, die Mutter läuft hinterher: „Pass auf! Ich bitte dich. Er ist ganz verängstigt. Er fällt
gleich runter. Pass auf!"
Aber ihre Prophezeiung bewahrheitete sich nicht. Das Kind war zwar verängstigt, genoss es aber, nach Kinderart. Der Kleine
lachte. Wuchs. Konnte stehen. Tat seine ersten Schritte. Purzelte um wie ein Baby und stand wieder auf wie ein Baby. Schon
damals ließ er die Leichtfüßigkeit seiner Eltern erkennen – in seinem Gang, seinem Straucheln, seinem Lächeln, seinem
Aufrappeln.
© Diogenes Verlag, Zürich, 2015. Alle Rechte vorbehalten
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Sikseck, Ayman: Reise nach Jerusalem | Arche | 2012
ISBN: 978-3716026878 | Gebunden | 92 Seiten | 18,00 €
„Wir neigen dazu, aggressiv und aufgeregt über den israelisch-arabischen Konflikt zu diskutieren. Ayman Sikseck
gewährt uns ganz unaufgeregt tiefe Einblicke in die Komplexität der Situation." Yudit Shahar, Haaretz. Ayman
Sikseck erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der als Palästinenser in Jaffa geboren wurde und nach
Jerusalem geht, um dort an der Universität Literatur zu studieren. In Jerusalem fremd, verläuft er sich auch in
Jaffa zwischen den zahlreichen Neubauten für betuchte Juden, die dort wie Pilze aus dem Boden schießen. Auch
die Liebe fühlt sich für ihn wie ein Labyrinth an: Seine arabische Freundin darf er nur heimlich treffen, solange er
nicht bei ihrem Vater um ihre Hand anhält – seine jüdische Freundin, eine Soldatin, muss ihn erst abfüllen, um ihn
anschließend abzuschleppen.
Ayman Sikseck, 1984 in Jaffa geboren, ist Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft. Er hat an der
Jerusalemer Hebrew University Vergleichende Literaturwissenschaften studiert und Aufsätze und Essays
veröffentlicht. Zudem verfasste Sikseck über mehrere Jahre hinweg die Kolumne „Jaffa – Tel Aviv“, die im
Feuilleton der renommierten Tageszeitung „Haaretz“ erschien. „Reise nach Jerusalem“ ist sein erster Roman.
.
Ich schreibe in der hebräischen Sprache,
die nicht meine Muttersprache ist,
um auf der Welt verloren zu gehen.
Wer nicht verloren geht,
wird das Ganze nicht finden.
Denn jeder hat die gleichen Zehen an den Füßen,
die er behutsam einen vor den anderen setzt.
Aus „Ich schreibe Hebräisch"
von Salman Masalha
Seit ich von meiner Mutter weiß, dass Samaher ihre Bedenken aufgegeben hat und endlich der Heirat zustimmt, kann ich ihr kaum
noch in die Augen sehen. Der Gedanke, dass meine Schwester wegen dieser arrangierten Ehe alle anderen Zukunftspläne über
den Haufen wirft, macht mir eine Gänsehaut und irgendwie auch ein heftiges Schuldgefühl, vor allem jetzt, da ich überlege, nach
Jaffa zurückzukehren. Samaher weiß, ich habe nichts damit zu tun, dass sie mit einem Mann verheiratet wird, den sie anfangs
nicht akzeptieren wollte und den ich noch nicht einmal kennengelernt habe. Das Recht, in derlei Dingen zu entscheiden, hat Mutter
ihren beiden Brüdern übertragen, die natürlich nichts auf die Meinung ihres jüngsten Neffen geben. Und wenn ich mutig genug
gewesen wäre, den beiden die Stirn zu bieten und ihre Beschlüsse in Zweifel zu ziehen oder sie auf ihren Fehlgriff hinzuweisen,
hätte ich Mutter damit so viel Kummer und Sorge bereitet, dass sie mir vor meiner Rückfahrt nach Jerusalem wohl nicht mehr
verziehen hätte.
Trotzdem wurde ich dieses dumpfe Schuldgefühl nicht los. Seit ich mit dem Studium begonnen habe, bin ich überzeugt davon, für
meine Familie, und vor allem für meine Mutter, eine Enttäuschung zu sein, weil ich nicht den Platz eingenommen habe, der mir
nach Vaters Unfall zugekommen wäre. Wenn ich damals nicht so in meine Bücher vertieft gewesen wäre, hätte Mutter die
Almosen ihrer Brüder vielleicht nicht annehmen müssen. Aber Samaher und ich haben nicht auf sie gehört: Gleich nach dem
Abitur schrieb Samaher sich fürs Pädagogikstudium ein und betätigte sich ehrenamtlich im jüdisch-arabischen Gemeindezentrum.
Sie war auf die regelmäßige finanzielle Unterstützung unserer Onkel angewiesen, die man ihr zähneknirschend und mit saurer
Miene gewährte. Ich wiederum zog mir Mutters Ärger zu, weil ich unbedingt in Jerusalem studieren wollte. Jetzt musste ich
kleinlaut eingestehen, dass sie vielleicht recht gehabt hatte. So hatten Samaher und ich uns die Zukunft nicht ausgemalt, als wir
Schulter an Schulter auf unserem geteerten Flachdach lagen und einander erzählten, was für große Ambitionen wir hegten.
Samaher hatte beteuert, dass sie nicht vor ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag heiraten würde, und auch dann nur, wenn sie
bis dahin ihren Master in der Tasche hätte. In den letzten Tagen, als ich noch öfter als sonst an sie dachte, sah ich sie vor mir, wie
sie mit geballten Fäusten beteuerte, dass sie Vater noch einmal Reue lehren würde, wenn er erst ihren Erfolg zu sehen bekäme.
Ihr zuliebe hatte ich sie so aufmerksam angesehen, als würde ich kein einziges Wort verpassen wollen. Als ich heute
niedergeschlagen im Bus zurück nach Jaffa saß, hoffte ich, sie nicht zu Hause anzutreffen, wenn ich gegen Abend ankam. Am
liebsten wäre mir sogar, wenn ich sie bis zur Verlobungsfeier am Samstag gar nicht sehen würde. In Gedanken versunken, beugte
ich mich über meinen Rucksack und zog das alte Notizbuch heraus. Seine Ecken sind abgenutzt, die Seiten vergilbt und
zerfleddert, aber ich mag es lieber als das neue, das Samaher mir geschenkt hat, als ich aus Jaffa wegzog. Die Seiten sind fast
alle vollgeschrieben, sodass ich neue Notizen auf die Innendeckel, die Seitenränder oder in winziger Schrift zwischen die
bestehenden Zeilen kritzeln muss. Aber wann immer ich etwas notieren möchte, scheint mir das alte Notizbuch eine weitere
Schreibfläche einzuräumen. Ehe ich jedoch diesmal etwas schreiben konnte, rief der Fahrer Tel Aviv aus und stellte den Motor ab.
Ich steckte das Notizbuch zurück in den Rucksack und stieg aus.
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In der Gasse vor dem Busbahnhof trat ein junger Mann mit Kippa auf mich zu. Er trug einen ganz ähnlichen Rucksack wie ich über
der Schulter und hielt mir ein Büchlein hin, das beiderseits in Kartondeckel gebunden und mit ungeübter Hand bepinselt war. „Der
Psalter, Kamerad", erklärte er und deutete mit der freien Hand auf ein improvisiertes Schild, das er an einen Strommast gelehnt
hatte. „Fünf Schekel, um die Synagoge zu retten. Na, was sagst du? Eine Mizwa."
Ich sah zerstreut auf das Schild und erkannte die Synagoge, um die es ging. Ich steckte die Hand in die Hosentasche und holte in
paar Münzen für ihn heraus. „Danke, Kamerad, vielen Dank", sagte er. Er heiße Jigal, stellte er sich vor, drückte mir die Hand und
übergab mir das Büchlein. Ich setzte den Rucksack ab, um es einzustecken, aber meine Finger verhedderten sich und rutschten
immer wieder vom Reißverschluss ab. „Lass mich mal!" Jigal beugte sich hinunter und öffnete mit einem schnellen Ratsch das
große Fach. „Der ist genau wie meiner." Sein rascher Griff nach meiner Tasche machte mir Angst, es fühlte sich an, als hätte er
einfach so eine Tür aufgerissen, die ich sonst sorgfältig geschlossen hielt. Ohne sein Lächeln zu erwidern, nahm ich meinen
Rucksack und ging davon. Ich kam später als erwartet nach Hause. In unserem Viertel begrüßten mich die Straßen-laternen und
warfen ihr Licht auf die Begonien, die noch einmal blühten. Ich vergewisserte mich, dass Samahers Wagen nicht da war, und ging
ins Haus. Als die Tür ins Schloss fiel, hörte ich, wie meine Mutter zu jemandem in der Küche sagte: „Da ist er." Sie kam mir
entgegen und flüsterte mir auf dem Gang zur Küche ins Ohr: „Dein Onkel ist da." Unnötig zu sagen, welcher, denn nur der eine
besucht uns hin und wieder. Ich setzte mich an den Tisch, möglichst weit von unserem Gast entfernt, und klemmte den Rucksack
zwischen meine Beine. In diesem Moment freute mich der Gedanke an all die Abende, die ich an diesem Tisch verbringen würde,
sobald ich Mutter mein Versagen eingestanden hatte und nach Jaffa zurückgekehrt war
„Was gibt es denn zu lächeln?", fragte mein Onkel verwundert und zündete sich eine Zigarette an. Die Frage überraschte mich.
„Nichts", quetschte ich hervor und suchte Mutters Blick. „Noch dazu so ein breites Lächeln", fuhr er fort.
„Aber du hast ja auch guten Grund dazu, nicht wahr? Die Geschäfte florieren gegenwärtig, und wir können dir problemlos dein
Studium finanzieren." Er fixierte mich und betonte die Worte „dein Studium", als würde er mir damit meinen Egoismus vor Augen
halten wollen. Ich reagierte trotzdem nicht und ließ ihn weiterreden:
„Aber vor allem musst du dich bei Samaher bedanken, nicht wahr?" Mutter sah ihn an.
„Habe ich etwa nicht recht?", sagte er und blies Rauch in die Luft. „Er hat doch immer gewusst, dass wir die Studiengebühren für
beide auf einmal nicht aufbringen können."
Der Rucksack lastete jetzt schwer auf meinen Füßen. Ich kickte ihn zur Seite und streckte mich verlegen. „Sie hätte ohnehin
geheiratet", wandte Mutter ein und suchte mit ihrer Hand nach meinem Nacken. In diesem Moment, im weichen Abenddunkel der
Küche, war ich nahe daran, ihr um den Hals zu fallen, ihr zu sagen, dass sie recht gehabt hatte, dass ich nie hätte ausziehen
dürfen und dass ich jetzt zurückkommen wollte, nach Jaffa, zu ihr, ein für alle Mal. Ich hatte das völlig unsinnige Gefühl, gleich
würde mir eine Ader platzen und mein ganzes Gesicht überfluten. Aber unser Gast ließ kein Auge von mir, und seine Anwesenheit
verlieh dem Gedanken etwas Lächerliches. Ich musste an den selbst gebastelten Psalter denken und überlegte, ob der Fußtritt
das Buch so kurz nach dem Kauf womöglich in fliegende Blätter verwandelt hatte.
Am Samstagabend erschien Samaher in einem blauen Kleid, das ihr Bräutigam ihr gekauft hatte. Ich wusste, dass sie diese Farbe
noch nie ausstehen konnte, wunderte mich aber trotzdem nicht bei ihrem Anblick. Als ich an den Ecktisch im Wohnzimmer trat, um
mir ein Glas Wasser einzuschenken, hörte ich einen der Anwesenden sagen, man könne denen von der anderen Seite des Trennzauns einfach nicht klarmachen, was guter Geschmack sei. Das Haus wimmelte von Gästen, und alle suchten aufgeregt die
Hauptperson der Feier, meine Mutter, um dem Ehebündnis Glück zu wünschen. Der zukünftige Bräutigam sagte gar nichts. Er saß
kerzengerade und in sich gekehrt neben Samaher und zerbröselte einen Keks zwischen seinen Fingern. Nur sein angespannter
Blick schweifte durch den Raum und zog überall Aufmerksamkeit auf sich. Immer mehr Gäste trafen ein und brachten hübsch
verpackte Geschenke und Blumensträuße. Die meisten waren wohl Verwandte des Bräutigams und sprachen ein militantes,
krachendes Arabisch, von dem mir nur ein paar Splitter vertraut vorkamen.
Angestrengt lauschte ich ihren Gesprächen. Sie reihten sich um die Braut und darum, wie gut die beiden Familien doch zusammen
passten. Jemand erwähnte die alte Synagoge am Rand des Viertels und den seit Jahren andauernden Kampf um die Rückgabe
des Gebäudes an die Familie, die 1948 daraus geflüchtet war. Ich musste an Jigal denken, stopfte mir einen Keks in den Mund
und hastete in mein Zimmer. Dort blieb ich am Fenster stehen und betrachtete die Gebäude gegenüber. Sie wirkten näher als
sonst und starrten mit erleuchteten Fenstern auf den wachsenden Trubel in unserem Wohnzimmer. Mir wurde heiß, trotzdem
machte ich die Fensterläden zu und beschloss, einige Zeit hierzubleiben und das Geschehen von meinem Zimmer aus zu
verfolgen. Der schmale Türspalt gab zwar nicht viel preis, aber ich konnte meine Mutter und einige der Fremden beobachten.
Samaher und ihren Verlobten sah ich allerdings nicht mehr. Die lachenden und fröhlichen Stimmen der Gäste ärgerten mich, ich
grollte ihnen allein dafür, dass sie im Haus waren. Ich musste mir immer wieder sagen, dass am nächsten Tag keiner mehr da
sein würde, nur noch Mutter und ich, und dass das ganze Haus, das früher Vater und mir gehört hatte, fortan nur noch meins sein
würde. Gleich morgen früh würde ich in der Universität anrufen, dort mitteilen, dass ich das Studium abbreche, und dann gleich
auf Arbeitssuche gehen. Ich werde nach Jaffa zurückkehren. Der Gedanke an Mutters Reaktion munterte mich auf. Ich legte mich
aufs Bett, schloss die Augen und wäre vermutlich eingeschlafen, wenn sich nicht die Zimmertür geöffnet hätte. „Samaher…",
flüsterte ich.
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Bis vor Kurzem war das unser gemeinsames Zimmer gewesen. Samahers Bett hatte hinter einer Zwischenwand aus Gips
gestanden, die in der Mitte des Raums eingezogen worden war. Morgens hatte ich das matte Ächzen ihrer Schubladen hinter der
Wand gehört und gewusst, dass es Zeit zum Aufstehen wurde. Dort, wo die Wand gestanden hat, ist ein heller Streifen
zurückgeblieben, eine Art Mahnung, dass hier die Grenzen zu Samahers Reich gelegen haben. „Möchtest du dich setzen?" Ich
spürte, dass meine Wangen glühten. Samaher gab keine Antwort. „Setz dich. Ich räume meine Klamotten vom Bett …" Sie kam
näher und ließ den Blick umherschweifen, als wolle sie sich über ihre Position in dem neuen Raum klar werden. Dieses Zimmer
war ein weiterer Bereich, aus dem ich sie unweigerlich verdrängt hatte. Ihr Blick blieb an dem alten Schaukelstuhl unseres Vaters
hängen und wurde starr. Auf dem Stuhl lag lässig hingeworfen mein Rucksack. Der Psalter, den ich gekauft hatte, lugte daraus
hervor. „Der ist fürs Studium …", log ich. „Du weißt, wie das ist. Ich muss ihn lesen und eine Arbeit darüber schreiben, nichts
Besonderes."
Sie schwieg hartnäckig. „Weißt du", sagte ich, „vielleicht komm ich zurück. Das heißt, hierher, nach Hause. Ich weiß nicht …"
Meine Worte verhallten ungehört. Samaher fasste mechanisch ihr Haar zusammen und kam auf mich zu. Das Schweigen lastete
im Raum, eine schwüle, bedrückende Stille, die den Trubel draußen fast erstickte. Ich war so angespannt, dass ich bereute, aus
dem Bett gestiegen zu sein. Samaher stand vor mir, ich spürte ihren Atem im Gesicht. Unvermittelt holte sie aus und versetzte mir
mit aller Kraft eine Ohrfeige, einen einzigen wütenden Schlag ins Gesicht. Ich ließ den Kopf einige Sekunden hängen, dann blickte
ich zögernd zu ihr auf. Sie wandte sich um und ging, ließ die Tür sperrangelweit offen und tauchte in dem Schwarm von Menschen
unter, die ich nicht kannte. Ich stand da wie angewurzelt, bis sie ganz verschwunden war, strich mir lindernd mit der Hand über die
brennende Wange und ging dann an den Schrank, um die Kleider wieder herauszuholen, die ich hastig vom Bett dort
hineingestopft hatte. Ich legte sie neu zusammen und verstaute sie in einem ordentlichen Stapel in meinem Rucksack. Ich musste
morgen zurück nach Jerusalem, wie geplant. Ende des Monats begann das neue Studienjahr.
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Strenger, Carlo: Israel. Einführung in ein schwieriges Land | Suhrkamp | 2011
ISBN: 978-3-633-54255-0 | Broschur | 173 Seiten | 16,90 €
Obwohl Israel über eine ultramoderne Gesellschaft mit einer lebensfreudigen, liberalen Kultur verfügt, geht das
Land geht durch eine der schwersten Krisen seit seiner Gründung. Der Friedensprozess liegt auf Eis, das Land
ist isoliert, im Alltag leben Juden und Araber mit wechselseitiger Verachtung nebeneinander, und der eskalierende Kampf zwischen religiösen und säkularen Juden bedroht die Grundfesten der israelischen Gesellschaft.
Strenger eröffnet Einsichten in Alltag und Mentalität Israels – ohne Idealisierung und Dämonisierung. Er zeigt
Israel als zerrissene Gesellschaft, die grundlegende Probleme der Identität nicht löst konnte. Er versucht
Antworten auf drängende Fragen des jungen Staates zu geben: Wie soll das Verhältnis von Staat und Religion,
zwischen westlicher Weltoffenheit und nahöstlicher Tradition gestaltet werden? Wie können Spannungen
zwischen Einwanderungsgruppen aus verschiedenen Kulturen gelöst werden? Seine Betrachtungen eröffnen
einen umfassenden Blick auf die Widersprüchlichkeit Israels – aber auch auf die Möglichkeit einer Wahrnehmung
des Landes jenseits von Schuld, Gegenschuld und dem Kampf der Monotheismen.
Carlo Strenger, in der Schweiz geboren und aufgewachsen, ist Professor der Psychologie an der Universität Tel
Aviv. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und schreibt regelmäßig für den britischen „Guardian“ und Israels
führende liberale Zeitung Haaretz.
Einleitung
Zu Beginn des neuen Jahrzehnts geht Israel durch eine der schwersten Krisen seit der Staatsgründung. Der Friedensprozeß liegt
auf Eis, das Land ist außenpolitisch isoliert. Der überwiegende Teil der Staatengemeinschaft ist zu der Überzeugung gelangt, daß
Israel zum Friedenschluß mit den Palästinensern schlicht nicht willens oder nicht fähig ist. Bereits der israelische Ministerpräsident
Ariel Scharon war für die internationale Öffentlichkeit ein willkommenes Haßobjekt doch erst sein Nachfolger Benjamin „Bibi"
Netanjahu hat in den letzten Jahren auf internationaler Ebene alles Porzellan zerschlagen, das es zu zerschlagen gab. Flankiert
wird er dabei von Außenminister Avigdor Lieberman, der durch seinen glühenden Haß auf die Araber selbst bei guten Freunden
Israels nur noch Kopfschütteln hervorruft und der außerhalb des Landes längst mit Slobodan Miloševic´ verglichen wird. Selbst
langjährige Bündnispartner wenden sich mit Grausen ab: Sechsundzwanzig führende EU-Politiker, darunter auch Richard von
Weizsäcker und Helmut Schmidt, riefen Ende 2010 in einem offenen Brief dazu auf, Israel durch Sanktionen unter Druck zu
setzen. Nicht zu reden von den jüngsten Boykottaufrufen aus Großbritannien gegen israelische Wissenschaftler, die allerdings
eher vom altbekannten antisemitischen Ressentiment getrieben zu sein scheinen.
Nicht nur in islamischen Ländern, sondern auch in Europa weckt Israel hochintensive Gefühle. Viele Menschen, die dem Land
gegenüber prinzipiell positiv eingestellt waren, sind in den letzten Jahren von der israelischen Siedlungspolitik und von Israels
aggressiver Rhetorik zutiefst enttäuscht worden. Es vergeht kaum ein Tag, an dem dieses kleine Land am Mittelmeer mit seinen
kaum acht Millionen Einwohnern nicht in den Schlagzeilen der Weltpresse auftaucht. Jüdisch-liberale Intellektuelle wie BernardHenri Lévy und Alain Finkielkraut versuchen, zwischen dem Staat Israel und seiner Politik zu unterscheiden, sie geben ihrer
Loyalität für Israel immer wieder Ausdruck, kritisieren aber seine Regierung. Andere sind pessimistischer. Der vor kurzem
verstorbene britisch-amerikanisch-jüdische Historiker Tony Judt kam zu dem Schluß, daß das zionistische Experiment ein Fehler
gewesen sei.
Aber nicht nur außerhalb Israels tun sich viele mit der Entwicklung schwer, die das Land durchläuft. Liberal orientierte Juden wie
ich, die jahrzehntelang für ein weltoffeneres Israel gekämpft haben, sind seit Beginn der zweiten palästinensischen Intifada im Jahr
2000 politisch marginalisiert. Noch 1992, als Jitzchak Rabin zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, waren knapp die Hälfte der
120 Knessetmitglieder liberal eingestellt. In den Wahlen von 2009 waren es nur noch sechzehn – eine wahrhaft katastrophale
Entwicklung. Wenn man von diesen sechzehn noch die dreizehn der Arbeitspartei abzieht, die für zwei Jahre Teil von Netanjahus
Regierungskoalition war, verbleiben nur noch die drei Mandate der sozialdemokratischen Partei Meretz, die für eine dezidiert
gemäßigte Position in der Knesset steht.
Aufgrund der Schlagzeilen in der Presse halten viele Menschen Israel für einen düsteren Polizeistaat, wenn nicht für etwas
Schlimmeres. Wenn Europäer erstmals Israel besuchen, sind sie meist überrascht. Sie treffen auf kommunikationsfreudige, weltoffene junge Menschen, eine Vielfalt kultureller Angebote, eine schwulenfreundliche Einstellung, ein lebendiges Nachtleben. Die
Musikszene könnte kosmopolitischer kaum sein, man denke etwa an Idan Raichel, den so erfolgreichen und innovativen
„Weltmusiker" mit seinen internationalen Kooperationen.
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Ebenso heben sich die Intellektuellen des Landes deutlich vom etablierten Bild des Landes ab. Schriftsteller wie Amos Oz, David
Grossman und Etgar Keret werden in Dutzende Sprachen übersetzt und in hohen Auflagen gelesen. Sie vermitteln dem Leser ein
ganz anderes Bild des Staates am Mittelmeer, moralisch und emotional differenziert, bedrückt von der Verrohung der israelischen
Politik. Womöglich ist es, so könnte man fortfahren, nicht nur die Kunst- und Kulturelite des Landes, die dem negativen Bild Israels
nicht entspricht. Die meisten Israelis sprechen sehr gut Englisch, viele haben die Welt bereist und kennen andere Kulturen. Auch
in der israelischen Wirtschaft geht es liberal und fortschrittlich zu. Die das Land prägenden jungen Unternehmer im
Hochtechnologiebereich (übrigens die neue Version des bisherigen Traums der jüdischen Mutter, vom Sohn als Anwalt oder Arzt1)
sorgen nicht nur für gut ausgebuchte Flugzeuge zwischen Tel Aviv und Silicon Valley und dem großen Interesse an israelischen
Startup-Unternehmen, sondern auch für viele neue kulturelle Impulse sowie intellektuellen und politischen Austausch.
Wie aber, so möchte man fragen, ist die Offenheit der Kultur und des intellektuellen Lebens und die damit verbundene Sehnsucht
nach dem guten Leben mit der brutalen, machthungrigen Politik Israels und mit seiner apokalyptischen Rhetorik zu vereinbaren?
Wie ist es möglich, daß ein Land, das in vielerlei Hinsicht den westlichen Staaten sehr stark ähnelt, in seinem politischen Verhalten
so borniert und unbelehrbar ist?
Ich stelle diese Frage dem europäischen Leser nicht nur rhetorisch. Obgleich ich fast mein ganzes erwachsenes Leben in Israel
verbracht habe, ist meine europäische Identität für mich zentral geblieben. Dem Europäer in mir fällt es oft schwer, Israel zu
verstehen, doch muß man für dieses schmerzhafte Erstaunen nicht europäischer Herkunft sein. Die meisten meiner israelischen
Freunde, ob in Israel, Casablanca oder New York geboren, teilen eine universalistisch kosmopolitische Ethik, und auch sie stellen
sich die Frage, warum Israel nicht der westliche Staat ist, der es zu sein behauptet und gemäß der Vision seiner Gründer von
jeher hat sein wollen? In gewisser Hinsicht, so könnte man einwenden, ist Theodor Herzls Idee, man könne im Nahen Osten ein
wärmeres Wien entwickeln, grundsätzlich unrealistisch gewesen. Israel ist von Staaten umringt, die allesamt problematische
Regimestrukturen aufweisen, auch wenn diese in den unerwarteten Revolutionen und Unruhen seit dem Frühjahr 2011 ins
Wanken geraten sind. Noch lassen sich keine schlüssigen Prognosen abgeben, ob dies zur Demokratisierung des arabischen
Raumes oder zu einer Islamisierung und damit grundlegenden Destabilisierung führen wird.
Auf den folgenden Seiten wird das europäische Unverständnis gegenüber Israel immer wieder zur Sprache kommen, ebenso das
Staunen und manchmal die Verzweiflung des Autors, der seit vielen Jahren Teil des israelischen Friedenslagers ist und sich
aufgrund der Entwicklung des letzten Jahrzehnts oft deprimiert fühlt. Dieses Unverständnis kommt nicht von ungefähr. Es
repräsentiert vielmehr die jüngste Phase der langen und oftmals leidvollen Geschichte Europas und seiner Juden, die auf beiden
Seiten nachwirkt, in der kollektiven israelischen Psyche wie in der europäischen. Das Verhältnis zwischen Europa und Israel kann
nicht außerhalb des historischen Rahmens des jüdischen Schicksals in Europa verstanden werden, und das heißt nicht ohne die
Betrachtung des Judenhasses, der eine Konstante der europäischen Geschichte des zweiten Jahrtausends unserer Zeitrechnung
war. Angefangen bei den Pogromen zur Zeit der Kreuzzüge über die spanische Inquisition bis zu den Pogromen im 17. und 19.
Jahrhundert zeugt die europäische Geschichte von der Schwierigkeit und oftmals der Unfähigkeit, mit dem anderen menschlich
umzugehen. Zu dieser Geschichte gehört ebenso, daß sich der traditionelle Antijudaismus seit dem 19. Jahrhundert zum
rassistischen Antisemitismus wandelte und unter der Führung der Deutschen mit der Ermordung der europäischen Juden im
Nationalsozialismus seinen Höhepunkt fand. Diese komplexe und tragische Verflechtung der jüdischen und der europäischen
Geschichte kann und soll nicht verschwiegen werden. Aber sie darf auch nicht zum politischen Druckmittel gemacht werden. Israel
hat sich oft viel zu lautstark als Vertreter des jüdischen Schicksals nach der Shoah geäußert, und die Wahrnehmung der
europäischen Öffentlichkeit, daß die israelischen Regierungen das europäische Schuldgefühl für ihre Sache instrumentalisierten,
hatte ihre Berechtigung.
Auf der anderen Seite gibt es jenen Teil der europäischen Öffentlichkeit, der Israel mit Blick auf die Palästinenser nur allzugern
vorhält, es hätte im Gegensatz zu den einstigen Tätern die Lehren aus der Geschichte nicht gezogen. Man kann sich des
Eindrucks nicht erwehren, daß Israels katastrophale Siedlungspolitik und politische Inkompetenz für viele Europäer fast eine
Erleichterung darstellt, weil sie sich dadurch endlich nicht mehr mit Europas komplexer und oft schrecklicher (jüdischer)
Geschichte auseinandersetzen müssen. Aus diesem Grund wird dieser Essay Israel auch im Kontext der jüdischen Geschichte in
Europa zu verstehen versuchen. Auch mit einer psychologischen Perspektive hoffe ich die gesellschaftlich-politischen Prozesse
erhellen zu können, auch weil ich denke, daß Israels Politik nicht nur von der Geschichte des Judenhasses her begriffen werden
kann.
Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.
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Talshir, Anat: Über uns die Nacht. Roman | Diana | 2014 | Aus dem Hebräischen von Stefanie Fahrner
ISBN: 978-3-453-35777-8 | Deutsche Erstausgabe | Taschenbuch | 528 Seiten | 9,99 €
Staatsgründung in Jerusalem. Es ist der Beginn einer tiefen Liebe, die geheim bleiben muss. Als Krieg ausbricht,
wird die Stadt durch eine Mauer geteilt, die die beiden fortan unüberwindbar voneinander trennt. Neunzehn Jahre
wird es dauern, bis es wieder Hoffnung für Lila und Elias gibt. Doch kann ihre Liebe den Hass der beiden
verfeindeten Kulturen, die Jahre der Trennung und der Sehnsucht überstehen?
Anat Talshir wurde in Jerusalem geboren und wuchs dort auf. Sie ist eine angesehene Investigativ-Journalistin
in Israel und wurde für ihre Arbeit u.a. mit dem renommierten Sokolov-Preis ausgezeichnet. Neben ihrer
journalistischen Tätigkeit ist sie als Moderatorin tätig und unterrichtet Creative Writing. Sie lebt in Tel Aviv.
Elias steckte dem Schaffner einen Geldschein in die Tasche. Der Mann verstand genau, was von ihm erwartet wurde: Er sollte sie
in ihrem Abteil in Ruhe lassen, ab und zu einen Kellner vorbeischicken und für Madame ein Kissen und eine Decke bringen. Zuerst
saß sie ihm gegenüber und sah ihm in die Augen, später setzte sie sich neben ihn und legte den Kopf auf seine Schulter. Sie
schlief keine Sekunde, während der Zug durch die Dunkelheit raste und sich immer weiter von den Dörfern und Städten entfernte,
in denen sie Zuflucht gefunden hatten. Elias’ Augen waren geschlossen, aber sie wusste, dass auch er nicht schlief.
Elias war hellwach und dachte dankbar an die vergangenen Tage, denn die Fahrt hätte auch in einem Misserfolg enden können.
Dann wären sie als Fremde wieder nach Hause zurückgekehrt, ohne dass zwischen ihnen etwas passiert war. Das Leben wäre so
nichtssagend weitergegangen wie vor seiner Begegnung mit Lila. Alles, was vor ihr gewesen war, schien ihm jetzt keine echte
Liebe, sondern konfus und falsch gewesen zu sein.
Ich habe mich in sie verliebt, sagte er leise zu sich selbst und staunte über jene Worte, die er nie ausgesprochen, über die er nie
nachgedacht hatte. Sie kamen ihm über die Lippen wie etwas ganz Fremdes, und alles, was in seinem Innern verborgen gewesen
war, alles, von dem er nichts gewusst hatte, all sein Begehren und Verlangen, überflutete ihn jetzt mit einem Schlag. Jedes Mal,
wenn er sich diese neue Entdeckung in den Sinn rief – dass er sich in sie verliebt hatte –, lief eine Hitzewelle durch seinen ganzen
Körper.
Wann genau war es geschehen? War es im Restaurant bei Kerzenlicht gewesen, als er ihr ein Haus aus Streichholzschachteln
gebaut hatte? War es in der schlaflosen Nacht gewesen, als sie erschöpft und befriedigt miteinander geredet hatten, bis die Sonne
aufging? Oder war es vielleicht bei ihrem ersten gemeinsamen Tanz gewesen, als sie sich stundenlang drehten, als wären sie die
einzigen Menschen im Saal?
Sie sprachen nicht über das, was sie trennte. Beiden war klar, dass die Barriere zwischen ihnen von künstlicher Art war. Sie war
ihnen von ihrer Umgebung, von der jeweiligen Kultur aufgezwungen worden. Was machte es in Wirklichkeit schon aus, dass sie in
zwei verschiedene Völker hineingeboren worden waren? Sie stand ihm näher als jede Araberin, die er jemals kennengelernt hatte.
In ihren Adern floss dasselbe Blut, auf ihrer Haut perlte derselbe Schweiß. Sie hatten denselben Geschmack, dasselbe Verlangen,
dieselben Wünsche. Sogar die Farbe ihrer Haut war fast gleich. Wenn er alle Länder rund um das Mittelmeer absuchte, fände er
doch keine Frau, deren Haut seiner so ähnlich war und die so duftete wie die von Lila.
Lila öffnete die Augen genau in dem Moment, in dem er sich wünschte, in ihnen zu versinken. Sie musste jetzt Kraft schöpfen, um
den Veränderungen in ihrem Leben zu begegnen. Bis vor wenigen Wochen war Elias ein Fremder für sie gewesen, und jetzt
waren sie eins. Während der Heimreise im dunklen Zug begriff sie, dass sich nun alles von Grund auf ändern würde, obwohl sie ja
eigentlich dasselbe Leben mit denselben Gewohnheiten weiterführen würde. Es würde ihr schwerfallen, sich von ihm zu
verabschieden. Aber die Gegebenheiten erlaubten ihnen nicht, den Traum weiterzuträumen, der in den Kaçkar-Bergen Gestalt
angenommen hatte. Sie hatten sich ohne Rücksicht über seinen uralten arabischen Clan und ihre konservative, jüdische
Lebensweise hinweggesetzt, und dafür würden sie bezahlen müssen, denn die Realität forderte ihren Tribut. Der Zug brauste
durch die dunkle Landschaft und ruckte manchmal so heftig, als fände der Lokführer den Weg nicht. Sie schliefen mit offenen
Augen, waren wach mit geschlossenen Augen. Elias wünschte sich, die Morgendämmerung würde niemals anbrechen, denn der
erste Lichtstrahl bedeutete, dass die Reise beendet war. Und was wartete dort am Ende der Reise wohl auf sie?
Was, wenn sämtliche streng bewachten Traditionen plötzlich in sich zusammenfielen? Was, wenn sie einen Weg fänden, trotzdem
zusammenzuleben, ohne dass sie ihren Glauben und er seine Identität aufgeben musste? Er würde sich nicht nur gegen seine
Familie durchsetzen müssen, sondern auch gegen die ganze Straße, das ganze Wohnviertel, gegen den Osten von Jerusalem,
die Araber – gegen all jene, die ihn in ihrem Hass davon abhalten wollten, mit Lila zusammenzuleben.
Seine Mutter hatte ihm einmal gesagt, es gebe kein Problem, das ein vernünftiger Geist nicht lösen konnte, und keine Grenze
dessen, was ein starker Wille zu leisten vermochte. Aber was, wenn er es nicht schaffte, die Ketten zu sprengen? Er stellte sich
Lila und sich selbst als flüchtige Gefangene vor, mit dicken Eisenkugeln am Bein. Wie weit konnten sie rennen, wenn sie auf diese
Art gefesselt waren?
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Er stand auf, streckte seine steifen Glieder und ging los, um ihr eine Tasse Kaffee zu holen. „Zucker?", fragte der Kellner im
Speisewagen. „Ja, bitte", sagte Elias, der Lila schon jetzt vermisste. Als er mit zwei dampfenden, köstlich duftenden Bechern
zurück ins Abteil kam, sah Lila ihn überrascht an. „Ich sehe, du hast mich vermisst", sagte er. „Sehr", erwiderte sie. Er wartete, bis
sie einen Schluck genommen hatte, ehe er selbst trank. „Elias", sagte sie zögernd, „vielleicht geht es ja doch." Sie schaute ihm
direkt in die Augen, um seine erste Reaktion zu beobachten.
Er stellte seine Tasse auf den Tisch, und sie ruckelte im Rhythmus der Schienen. „Vielleicht", entgegnete er nachdenklich.
Am 29. November 1947 war Lila allein zu Hause. Auch Elias saß zu Hause, zusammen mit seinen Eltern und Munir. Ein einziges
Mal im Leben, dachte er, hat man die Chance, die Geburt einer Nation zu erleben. Und wohl auch nur ein einziges Mal im Leben
hat man die Chance, die Geburt einer Nation zu erleben, die nicht die eigene ist, obwohl die eigenen Vorväter auf dem Gebiet
jener Nation geboren und in ihrer Erde begraben worden waren.
Nicht einmal ein Hund ließ sich auf der Straße blicken. Von Norden her blies ein starker Wind, und aus den Fenstern des
Wohnhauses fiel schwaches Licht auf den winterlichen Boden und den Gehweg. Jeder Mensch in jedem Haus, das sich zwischen
Elias und Lila befand, saß in diesem Moment vor dem Radio. Die Stimmung war zum Zerreißen gespannt.
Die Entscheidung war gefallen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hatte die Teilung Palästinas in einen jüdischen
und einen arabischen Staat beschlossen. Lila stieß einen Schrei aus, der von den Wänden ihrer Wohnung widerhallte, und begann
zu weinen. Sie musste an ihren Vater denken, der sein ganzes Leben lang auf diesen Moment gewartet, ihn aber nicht mehr erlebt
hatte.
Sie zog sich einen Pullover und eine Hose über und ging hinunter zu ihren Nachbarn, die sich alle um ein Radio versammelt
hatten. Sie wollten dem Sprecher zuhören, aber Lila war außer sich. Sie dachte an die Länder, die immer gegen die Gründung des
Staates Israel gewesen waren: alle arabischen Nationen natürlich, aber auch die Türkei, Indien und Griechenland. „Nehmen Sie es
sich nicht so zu Herzen", sagte ihr Nachbar Albert und wedelte mit einem Blatt Papier, auf dem das Ergebnis der Abstimmung
stand: 33 zu 13. „Ist doch egal, wer wofür gestimmt hat."
Alberts Frau servierte Tee und Kekse, aber niemand griff zu. Selbst die Teegläser blieben unberührt und wurden – als sie kalt
geworden waren – wieder abgeräumt. Lila fragte sich, mit wem Elias jetzt wohl zusammensaß, mit wem er seinen Ärger teilte.
Was würde diese Entscheidung für Menschen wie sie, die sich mit der Unsicherheit arrangiert hatten, wohl bedeuten? Und was
könnte sie zu ihm sagen, an einem Abend, an dem die Freude ihres Volkes der Kummer seines Volkes, der Sieg ihres Volkes der
Ruin des seinen war? Jerusalem war zu internationalem Territorium erklärt worden, und jedem Menschen war sonnenklar, dass
nichts und niemand einen Krieg noch abwenden konnte. Sie hatte keine Möglichkeit, ihn zu erreichen und zu erfahren, wie es ihm
ging: kein Telefon, kein Telegramm, keinen Boten, keine Brieftaube. In jenem Moment waren ihre Seelen eins – und gleichzeitig so
getrennt wie noch nie zuvor. Der Weg zwischen ihren Wohnorten war eigentlich innerhalb von Minuten zu bewältigen, aber heute
Abend schienen sie an verschiedenen Ufern eines Flusses zu leben, zwischen denen die Brücke zerstört worden war.
Die Menschen im Wohnzimmer der Rianis saßen da wie betäubt, eingehüllt von einer Rauchwolke aus Georges Pfeife. „Auf dem
Friedhof geht es fröhlicher zu als hier in diesem Haus", klagte Elias’ Mutter, als sie ein Tablett mit selbst gebackenem
Dattelkuchen auf den Tisch stellte. Niemand nahm auch nur die geringste Notiz von dem Kuchen, und auch Nadira versank in
erstarrtes Schweigen wie alle anderen. George schaute auf die Uhr und sagte: „Jetzt dauert es nur noch Stunden, bis sie
anfangen zu schießen."
Nadira suchte nach etwas Positivem, an das sie sich klammern konnte: Wenigstens waren ihre Töchter, Elias’ ältere Schwestern,
schon verheiratet und weilten sicher in ihren hübschen Häusern im fernen Riad. Dieser Krieg, über den hier alle sprachen, würde
sie nicht tangieren. Der Ofen ging langsam aus, aber niemand erhob sich, um ihn wieder anzufeuern. Munir, der normalerweise
ständig in Bewegung war und die Flammen nicht aus den Augen ließ, starrte abwesend ins Nichts und zupfte sich kleine
Wollkügelchen von der Weste.
Elias ging im Zimmer auf und ab und blickte nach draußen in die Dunkelheit. Mit dem Herzen war er bei Lila im Westen der Stadt,
von wo ein schwacher Lichtschein zu sehen war. Er verzehrte sich so sehr nach ihr, dass es wehtat, und fühlte sich schrecklich
hilflos. Es war ihm ganz egal, wer schoss und wer erschossen wurde, wer zuerst feuerte und wer seine Waffe im Halfter stecken
ließ, solange die Kugeln nur über sie hinwegpfiffen. Er fragte sich, ob sie gerade allein war und ob sie tatsächlich so beschwingt
war, wie er vermutete. Bestimmt hatte sie das Bedürfnis, ihre Gefühle in diesem weltbewegenden Moment mit anderen zu teilen.
Was bedeutete es diesen Menschen, dass sich ihr Land so sehr veränderte? Er dachte nicht an sein Teegeschäft oder an die
fatalen Auswirkungen, die diese Ereignisse auf die Welt des Handels haben würden, sondern nur an Lila, an sie beide. Die Dinge
würden nicht besser werden; da war es ratsam, sich auf Schlimmeres vorzubereiten.
Seit sie aus der Türkei zurückgekehrt waren, hatten sie sich relativ oft treffen können. Es war ein verrückter, brennend heißer
Herbst, der von den Geschehnissen noch zusätzlich angeheizt wurde: von der Bombe, die nicht weit entfernt von Lilas Wohnung
auf der Jaffa Street explodiert war, von den ständigen Gefahren, die den Einwohnern der Stadt drohten. Manchmal verbrachten
sie die Morgenstunden zusammen. Elias kam um sechs, brachte frisches Brot, Käse und eine Flasche Milch mit und bereitete das
Frühstück vor. Dann gingen sie miteinander ins Bett, und hinterher brach Elias in sein Büro am Damaskustor auf, Lila in ihren
Salon.
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An manchen Abenden gelang es Elias, sich aus den Klauen seiner Familie zu befreien. Dann ging er mit Lila auf die Jaffa Street,
um Schallplatten zu erstehen. Er kaufte ihr einen Plattenspieler, das größte Geschenk, das sie je im Leben bekommen hatte.
Eines Vollmondabends erwartete er sie nach der Arbeit an der Ecke, und die Stunde, die sie dann zusammen verbrachten, war so
schön wie eine ganze gemeinsame Woche. In seinem Auto aßen sie eine warme Mahlzeit mit Pitabrot. Bei anderen Gelegenheiten
fuhren sie nach Augusta Victoria, zu einem Aussichtspunkt in Abu Tor, auf einen Hügel in Jemin Mosche oder an einen anderen
versteckten Ort, und überall fühlte er sich wie der Sieger einer Schlacht, weil sie es schafften, ihre Liebe trotz des Flächenbrands,
der um sie herum wütete, am Leben zu halten. Am Abend wirkte Jerusalem noch mysteriöser, voller Geheimnisse und Fanatiker.
Hinter jeder Ecke schien jemand zu lauern, der die Leute ansprach und von den Zielen seiner Organisation zu überzeugen
versuchte.
Er fühlte sich in der Lage, alle Schwierigkeiten im Leben zu meistern – auch, als er ihr das Autofahren beibrachte. Obwohl sie
Angst davor gehabt hatte, saß sie bald neben ihm auf dem Fahrersitz, quiekte vor Vergnügen und gab das Steuer nicht mehr aus
der Hand. Im Café Savoy hatten sie ihren eigenen Tisch, der ein wenig versteckt stand, und im Regent entkamen sie auf
wundersame Weise, als plötzlich einige Geschäftsleute, die ihn kannten, hereinkamen. Lila bemerkte, dass Elias auf einmal
nervös wurde, schnappte sich ihre Handtasche und das Glas mit dem Lippenstiftrand darauf und rannte auf die Damentoilette. Als
sie wieder herauskam, ging sie unauffällig an seinem Tisch vorbei und machte sich allein auf den Heimweg. Einige Zeit später
holte er sie mit dem Auto ein. Ihn wurmte jede einzelne Minute, die er sie vor der Welt verstecken musste.
Dieser Abend endete in einer Katastrophe. Bevor sie sich trennten, war sie untröstlich. Er nannte solche Ereignisse
„Realitätseinbrüche“. An jenem Tag aber, an dem über einen zukünftigen jüdischen Staat abgestimmt wurde, musste Elias
begreifen, dass nicht nur ein Realitätseinbruch bevorstand, sondern eine Revolution. Innerhalb eines einzigen Augenblicks hatte
sich das Leben drastisch verändert, und nichts würde mehr sein wie zuvor. In den vergangenen Monaten hatte ihre unglaubliche
Liebesgeschichte auf einem Fundament der Gewissheiten geruht: Sie wussten, dass unter ihnen die Erde und über ihnen der
Himmel war – und alles andere in ihrer Hand lag. Solange sie sich ihren Überlebensinstinkt und ihre Flexibilität bewahrten, waren
sie sicher. Elias war überzeugt gewesen, dass sie es schaffen konnten. Er hatte die Welt in Gute und Schlechte aufgeteilt: Die
Guten waren jene, die ihnen ermöglichten, zusammen zu sein, die Schlechten die, die ihnen im Weg standen.
Jetzt allerdings war der Boden unter ihnen weggebrochen, und am Himmel zog ein schwerer Sturm auf.
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Teege, Jennifer: Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen | Rowohlt | 2013
Hardcover | 272 Seiten | ISBN 978-3-498-06493-8 | 19,95 €
Es ist ein Schock, der ihr ganzes Selbstverständnis erschüttert: Mit 38 Jahren erfährt Jennifer Teege zufällig, wer
sie ist. In einer Bibliothek findet sie ein Buch über ihre Mutter und ihren Großvater Amon Göth. Millionen
Menschen kennen Göths Geschichte. In Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ ist der brutale KZKommandant der Saufkumpan und Gegenspieler des Judenretters Oskar Schindler. Göth war verantwortlich für
den Tod tausender Menschen und wurde 1946 gehängt. Seine Lebensgefährtin Ruth Irene, Jennifer Teeges
geliebte Großmutter, begeht 1983 Selbstmord. Jennifer Teege ist die Tochter einer Deutschen und eines
Nigerianers. Sie wurde bei Adoptiveltern groß und studierte in Israel. Jetzt ist sie mit einem Familiengeheimnis
konfrontiert, das sie nicht mehr ruhen lässt. Wie kann sie ihren jüdischen Freunden noch unter die Augen treten?
Und was soll sie ihren eigenen Kindern erzählen? Jennifer Teege beschäftigt sich intensiv mit der Vergangenheit.
Sie trifft ihre Mutter wieder, die sie viele Jahre nicht gesehen hat. Gemeinsam mit der Journalistin Nikola Sellmair
recherchiert sie ihre Familiengeschichte, sucht die Orte der Vergangenheit noch einmal auf, reist nach Israel und
nach Polen. Schritt für Schritt wird aus dem Schock über die Abgründe der eigenen Familie die Geschichte einer
Befreiung
Jennifer Teege, Jahrgang 1970, ist die Tochter einer Deutschen und eines Nigerianers. Mit vier Wochen wurde
sie ins Kinderheim gebracht, mit sieben Jahren zur Adoption freigegeben. Sie hat vier Jahre in Israel gelebt und
dort studiert. Seit 1999 Texterin und Konzeptionerin in der Werbebranche. Sie lebt in Hamburg.
PROLOG
Die Entdeckung
Es ist der Blick der Frau, der mir bekannt vorkommt. Ich stehe in der Hamburger Zentralbücherei und halte ein Buch mit rotem
Einband in der Hand, das ich eben aus dem Regal gezogen habe. Vorne ist das Schwarz-Weiß-Porträt einer Frau mittleren Alters
aufgedruckt. Ihr Blick ist nachdenklich, er hat etwas Angestrengtes, Freudloses. Ihre Mundwinkel zeigen nach unten. Sie sieht
unglücklich aus. Ich überfliege den Untertitel: „Die Lebensgeschichte von Monika Göth, Tochter des KZ-Kommandanten aus
"Schindlers Liste„“. Monika Göth! Ich kenne diesen Namen. So heißt meine Mutter. Meine Mutter, die mich einst ins Kinderheim
gab und die ich seit vielen Jahren nicht gesehen habe.
Auch ich hieß einmal „Göth“, ich wurde geboren mit diesem Namen, schrieb „Jennifer Göth“ auf meine ersten Schulhefte – bis
mich meine Mutter zur Adoption freigab und ich den Nachnamen meiner Adoptiveltern annahm. Damals war ich sieben Jahre alt.
Was soll der Name meiner Mutter auf diesem Buch? Ich starre auf den Einband. Im Hintergrund, nur als Schatten hinter dem
Schwarz-Weiß-Foto der Frau erkennbar, ist ein Mann mit geöffnetem Mund und einem Gewehr in der Hand zu sehen. Das muss
der KZ-Kommandant sein. Hastig schlage ich das Buch auf und beginne zu blättern, zuerst langsam, dann immer schneller. Es
enthält nicht nur Text, sondern auch viele Fotos. Die Menschen auf den Bildern – habe ich die nicht schon mal gesehen? Eines
zeigt eine junge große Frau mit dunklem Haar, sie erinnert mich an meine Mutter. Auf einem anderen sitzt eine ältere Frau im
Englischen Garten in München, sie trägt ein geblümtes Sommerkleid. Ich habe nur wenige Bilder von meiner Großmutter, ich
kenne jedes genau: Auf einem davon trägt sie genau dieses Kleid. Unter dem Foto im Buch steht „Ruth Irene Göth“. So hieß
meine Großmutter. Ist das meine Familie? Sind das Fotos meiner Mutter und meiner Großmutter? Aber nein, das ist absurd: Es
kann nicht sein, dass es ein Buch über meine Familie gibt – und ich weiß nichts davon! Schnell blättere ich weiter. Ganz hinten,
auf der letzten Seite des Buches, finde ich eine Biographie, sie beginnt so: Monika Göth, geboren 1945 in Bad Tölz. Ich kenne
diese Daten. Aus meinen Adoptionsunterlagen. Hier stehen sie, schwarz auf weiß. Es ist wirklich meine Mutter. Hier geht es um
meine Familie.
Ich klappe das Buch zu. Es ist still. Irgendwo im Lesesaal hustet jemand. Ich will hier raus, schnell, will allein sein mit diesem
Buch. Ich umklammere es wie einen wertvollen Schatz, schaffe es die Treppen hinunter und durch die Ausleihe. Das Gesicht der
Bibliothekarin, der ich das Buch hinschiebe, nehme ich gar nicht wahr. Ich gehe auf den weiten Platz vor der Bibliothek. Meine
Knie geben nach. Ich lege mich auf eine Bank, schließe die Augen. Hinter mir rauscht der Verkehr. Mein Auto steht gleich
gegenüber, aber ich kann jetzt nicht fahren. Ein paarmal richte ich mich auf und überlege, ob ich weiterlesen soll. Mir graut davor.
Ich möchte das Buch zu Hause lesen, in Ruhe, von Anfang bis Ende. Es ist ein warmer Augusttag, aber meine Hände sind eiskalt.
Ich wähle die Nummer meines Mannes: „Du musst kommen und mich abholen, ich habe ein Buch gefunden. Über meine Mutter
und meine Familie.“ Warum hat meine Mutter mir nie etwas gesagt? Bin ich ihr so wenig wert, immer noch? Wer ist dieser Amon
Göth? Was genau hat er gemacht? Warum weiß ich nichts von ihm? Wie war das noch mal mit „Schindlers Liste“, mit den
Schindler-Juden? Es ist lange her, seit ich den Film gesehen habe. Ich erinnere mich noch, dass es Mitte der neunziger Jahre war,
während meiner Studienzeit in Israel. Alle sprachen über Steven Spielbergs Holocaust-Drama.
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Ich sah es erst später im israelischen Fernsehen, allein in meinem WG-Zimmer in der Rehov Engel, der Engel-Straße in Tel Aviv.
Ich weiß noch, dass ich den Film berührend fand; gegen Ende dann ein bisschen kitschig, zu sehr Hollywood. „Schindlers Liste“
war für mich nur ein Film, er hatte nichts mit mir zu tun. Warum hat mir keiner die Wahrheit gesagt? Haben mich alle all die Jahre
belogen?
KAPITEL 1
Ich, Enkelin eines Massenmörders
In Deutschland ist der Holocaust Familiengeschichte. (Raul Hilberg)
Geboren wurde ich am 29. Juni 1970, als Tochter von Monika Göth und eines nigerianischen Vaters. Ich war vier Wochen alt, da
brachte mich meine Mutter in ein katholisches Kinderheim. In der Obhut von Nonnen wuchs ich auf.
Mit drei Jahren kam ich zu einer Pflegefamilie, die mich im Alter von sieben Jahren adoptierte. Meine Haut ist schwarz, die meiner
Adoptiveltern und meiner beiden Adoptivbrüder weiß. Jeder sah, dass ich nicht das leibliche Kind sein konnte. Aber meine
Adoptiveltern beteuerten stets, sie würden mich genauso lieben wie ihre eigenen Kinder. Sie spielten, bastelten und turnten in
Eltern-Kind-Gruppen mit mir und meinen Brüdern. Mit meiner leiblichen Mutter und meiner Großmutter hatte ich als Kind noch
Kontakt, der dann später abriss. Das letzte Mal traf ich meine Mutter, da war ich einundzwanzig. Jetzt, mit achtunddreißig Jahren,
finde ich dieses Buch. Warum bloß habe ich es unter Hunderttausenden von Büchern herausgezogen? Gibt es so etwas wie
Schicksal?
Der Tag hatte normal begonnen. Mein Mann war ins Büro gegangen, ich hatte meine Söhne in den Kindergarten gebracht und war
weiter in die Stadt gefahren. Ich wollte noch kurz in die Bücherei. Ich bin oft hier. Ich mag die konzentrierte Stille, die leisen
Schritte, das Rascheln der Buchseiten, die gebeugten Rücken der lesenden Besucher. In der Psychologieabteilung hatte ich nach
Informationen über Depressionen gesucht. Auf Hüfthöhe, zwischen Erich Fromms „Die Kunst des Liebens“ und einem Buch mit
dem Allerweltstitel „In der Krise liegt die Kraft“, stand das Buch mit dem roten Einband. Auf dem Buchrücken las ich: „Matthias
Kessler: Ich muß doch meinen Vater lieben, oder?“ Der Name des Autors sagte mir nichts, aber der Titel klang interessant. Also
zog ich das Buch heraus.
Mein Mann Götz findet mich auf der Bank vor der Bibliothek liegend. Er setzt sich neben mich, betrachtet das Buch, blättert es
kurz durch. Ich nehme es ihm schnell weg. Ich will nicht, dass er zuerst darin liest. Das Buch ist meins, der Schlüssel zu meiner
Familiengeschichte. Der Schlüssel zu meinem Leben, nach dem ich all die Jahre gesucht hatte.
Mein ganzes Leben hatte ich das Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmt: Meine Traurigkeit, die Depressionen. Aber ich fand
einfach nicht heraus, was so grundlegend falsch war. Götz nimmt meine Hand, wir gehen zu seinem Wagen. Auf der Fahrt nach
Hause spreche ich kaum. Mein Mann nimmt sich den Rest des Tages frei und kümmert sich um unsere beiden Söhne.
Ich lasse mich aufs Bett fallen, lese und lese, bis zur letzten Seite. Es ist schon dunkel, als ich den Band zuklappe. Ich setze mich
an den Computer und recherchiere die ganze Nacht, lese alles über Amon Göth, was ich finden kann. Es ist, als würde ich in ein
Gruselkabinett eintreten. Ich lese über seine Ghettoräumungen in Polen, seine sadistischen Morde, seine auf Menschen
abgerichteten Hunde. Erst jetzt wird mir das Ausmaß der Verbrechen bewusst, die Amon Göth begangen hat. Himmler, Goebbels,
Göring – diese Figuren sind mir sofort präsent. Was Amon Göth genau getan hat, wusste ich nicht. Nach und nach wird mir klar,
dass die Filmfigur in „Schindlers Liste“ keine fiktive Figur war, sondern ein reales Vorbild aus Fleisch und Blut hatte. Meinen
Großvater. Einen Mann, der reihenweise tötete und dem das auch noch Freude bereitete. Ich bin die Enkelin eines
Massenmörders.
Jennifer Teege hat eine warme dunkle Stimme mit Münchner Einschlag, einem leicht rollenden „R“. Ihr Gesicht ist klar und
ungeschminkt, die eigentlich krausen Haare sind zu langen schwarzen Locken geglättet, die schmalen langen Beine stecken in
engen Hosen. Wenn sie einen Raum betritt, drehen sich die Köpfe, die Männer schauen ihr nach. Sie geht sehr gerade, ihr Schritt
ist fest und entschieden. Ihre Freunde beschreiben Jennifer Teege als selbstbewusste Frau, voller Neugier und Abenteuerlust.
Eine Studienfreundin sagt über sie: „Wenn sie von einem spannenden Land hörte, rief sie: Das kenne ich noch nicht, da fahr ich
hin! Und sie zog los, nach Ägypten, Laos, Vietnam und Mosambik.“ Doch wenn sie über ihre Familiengeschichte spricht, zittern
immer wieder ihre Hände, und sie weint. Der Fund des Buches mit der Bibliothekssignatur Mcm O GOET#KESS ist der Moment,
der Jennifer Teeges Leben zerschneidet, der es teilt in ein Davor und ein Danach: Davor, ohne das Wissen um ihre Herkunft.
Danach, mit dem Wissen um die Geschichte ihrer Familie.
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Die Geschichte ihres Großvaters kennt die ganze Welt: In Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ ist der grausame KZKommandant Amon Göth Saufkumpan und Gegenspieler des gleichaltrigen Oskar Schindler: Judenmörder gegen Judenretter.
Eine Filmszene hat sich ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt: Amon Göth, wie er vom Balkon seiner Villa aus Häftlinge erschießt,
seine Form von Morgengymnastik. Amon Göth war als Kommandant des Konzentrationslagers Płaszów in Krakau verantwortlich
für den Tod Tausender Menschen. 1946 wurde er in Krakau gehängt, seine Asche in die Weichsel gestreut. Amon Göths
Lebensgefährtin Ruth Irene, Jennifer Teeges geliebte Großmutter, leugnete später seine Verbrechen. 1983 brachte sie sich mit
Schlaftabletten um. Jennifer Teeges deutsche Geschichte: der Opa ein Nazitäter, die Oma eine Mitläuferin. Die Mutter
aufgewachsen mit dem bleiernen Schweigen der Nachkriegszeit. Das also ist ihre Familie. Das sind ihre Wurzeln, die sie, das
Adoptivkind, immer gesucht hat. Und sie, wer ist dann sie?
Alles, was mein Leben bis dahin ausgemacht hat, stelle ich nun in Frage: die enge Beziehung zu meinen beiden Adoptivbrüdern,
meine Freundschaften in Israel, meine Ehe, Ein Original der Schindler-Liste, gefunden 1999 auf dem Dachboden eines Hauses in
Hildesheim, vor einem Foto Oskar Schindlers (Mitte) meine zwei Söhne. War mein ganzes Leben eine Lüge? Ich komme mir vor,
als sei ich unter falschem Namen unterwegs gewesen, als hätte ich alle betrogen. Dabei bin ich diejenige, die betrogen wurde: um
meine Geschichte. Um meine Kindheit. Um meine Identität. Ich weiß nicht mehr, zu wem ich gehöre. Zu meiner Adoptivfamilie
oder zur Familie Göth? Ich kann es mir nicht aussuchen: Ich bin eine Göth. Als ich mit sieben Jahren, nach der Adoption, den
Namen Göth ablegte, schien das leicht. Ein Dokument wurde aufgesetzt. Meine Adoptiveltern fragten, ob der Namenswechsel für
mich in Ordnung sei. Ich sagte ja. Nach meiner leiblichen Mutter wagte ich danach nicht mehr zu fragen. Ich wollte endlich eine
normale Familie.
Bei meinen Recherchen zu Amon Göth stoße ich im Internet auch auf einen Bericht über eine Sendung im Kulturkanal „arte“: Ein
amerikanischer Filmemacher hat die Begegnung meiner Mutter mit Helen Rosenzweig, ehemals KZ-Häftling und Dienstmädchen
in der Villa meines Großvaters, dokumentiert. Zufällig wird der Film schon am folgenden Abend in deutscher Erstausstrahlung im
Fernsehen zu sehen sein. Erst das Buch, dann dieser Film – es ist alles zu viel, es kommt alles zu schnell. Mit meinem Mann sitze
ich abends vor dem Fernseher. Gleich zu Beginn tritt meine Mutter auf. Ich beuge mich vor, ich will genau sehen: Wie sieht sie
aus, wie bewegt sie sich, wie spricht sie? Bin ich ihr ähnlich? Ihre Haare hat sie jetzt kupferblond getönt, sie sieht verhärmt aus.
Ich mag ihre Art, sich auszudrücken. Als Kind war sie für mich nur meine Mutter. Kinder registrieren nicht, ob jemand eher einfach
oder gebildet ist. Erst jetzt merke ich: Meine Mutter ist eine kluge Frau, sie sagt interessante Dinge.
Im Dokumentarfilm wird auch eine Schlüsselszene aus „Schindlers Liste“ gezeigt, in der die jüdische Bauleiterin dem frisch
ernannten Kommandanten Amon Göth erklärt, dass die Lagerbaracken nicht richtig geplant seien – da lässt Amon Göth, gespielt
von Ralph Fiennes, die Frau einfach erschießen. Sie sagt noch: „Herr Kommandant, ich bemühe mich doch nur, meine Arbeit gut
zu machen.“ Da antwortet Fiennes als Göth: „Ich mich auch.“ Ich erinnere mich jetzt wieder besser an den Film. Die Szene hat
mich erschüttert, denn sie zeigt so klar, was man sich kaum vorzustellen vermag: Es gibt keine Grenzen und keine
Hemmschwellen im Lager, Vernunft und Menschlichkeit sind abgeschafft.
Was soll ich, mit meiner dunklen Haut, mit Freunden in der ganzen Welt, bloß mit diesem Großvater? War er es, der meine
Familie zerstörte? Fiel sein Schatten erst auf meine Mutter, schließlich auf mich? Kann es sein, dass ein Toter immer noch Macht
hat über die Lebenden? Haben die Depressionen, die mich seit langem quälen, auch mit meiner Herkunft zu tun? Dass ich fünf
Jahre in Israel gelebt und studiert habe – war das Zufall oder Bestimmung? Muss ich jetzt anders mit meinen jüdischen Freunden
reden, jetzt, da ich weiß: Mein Großvater hat eure Verwandten umgebracht?
Ich träume: Ich schwimme in einem dunklen See, das Wasser zäh wie Teer. Plötzlich tauchen neben mir Leichen auf. Spindeldürre
Gestalten, Skelette fast, denen alles Menschliche genommen wurde. Weshalb hatte meine Mutter es nicht für nötig befunden,
mich über meine Herkunft aufzuklären? Wieso erzählt sie anderen Dinge, die auch ich hätte unbedingt wissen müssen? Sie hat
mir nie die Wahrheit gesagt. Aber ich brauche die Wahrheit. Ich muss an Theodor W. Adornos berühmten Satz denken: Es gibt
kein richtiges Leben im falschen. Er war damals anders gemeint, aber jetzt scheint er mir perfekt auf mein Leben zu passen.
Unsere Beziehung war schwierig, unsere Treffen waren sporadisch – aber sie ist trotz allem meine Mutter.
Im Buch über Monika Göth wird auch das Jahr 1970 erwähnt, mein Geburtsjahr. Für mich hat meine Mutter kein einziges Wort.
Sie schweigt mich tot. Immer wieder betrachte ich das Foto im Buch, auf dem sie so aussieht, wie ich sie aus Kindertagen in
Erinnerung habe. Tief in mir öffnet sich eine Schublade nach der anderen: Meine ganze Kindheit kommt hoch, die Gefühle aus der
Zeit im Heim – Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit. Ich fühle mich wieder hilflos wie ein kleines enttäuschtes Kind und bin nicht
mehr fähig, mein Leben zu regeln. Ich will schlafen, nur schlafen, oft bleibe ich bis mittags im Bett. Mir ist alles zu viel: aufstehen
zu müssen, sprechen zu müssen. Sogar das Zähneputzen ist eine Last. Der Anrufbeantworter ist eingeschaltet, ich schaffe es
nicht, jemanden zurückzurufen. Ich treffe mich nicht mehr mit Freunden, sage Einladungen ab. Was könnte ich.
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von Treuenfeld, Andrea: Zurück in das Land, das uns töten wollte | Gütersloher Verlagshaus
ET: 26. Januar 2015 | ISBN: 978-3-579-07087-2Gebunden mit zahlreichen Abbildungen | 272 Seiten | € 24,99
Andrea von Treuenfeld lässt in diesem Buch 16 jüdische Frauen, die aus Deutschland flohen und wieder
zurückkehrten, ihre persönliche Geschichte erzählen. Wie war es möglich, gerade in dem Land wieder Heimat zu
suchen, in dem sie verfolgt wurden und umgebracht werden sollten? Ausgerechnet in dem Land, in dem sie ihre
Familie verloren hatten? Was erlebten diese Frauen auf ihrer Flucht und auf ihrem Weg zurück? Und allem voran:
Wie fühlt es sich überhaupt an, nach Auschwitz Jüdin in Deutschland zu sein? Diese erschütternden wie
beeindruckenden Berichte von letzten Zeitzeugen verdienen es, gehört und bewahrt zu werden. Mit einem
Vorwort von Christian Berkel
Andrea von Treuenfeld, geboren 1957, hat in Münster Publizistik und Germanistik studiert und nach einem
Volontariat bei einer überregionalen Tageszeitung lange als Kolumnistin, Korrespondentin und Leitende
Redakteurin für namhafte Printmedien, darunter Welt am Sonntag und Wirtschaftswoche, gearbeitet. Heute lebt
sie in Berlin und schreibt als freie Journalistin Porträts und Biografien. Im Gütersloher Verlagshaus erschien
bereits ihr Buch „In Deutschland eine Jüdin, eine Jeckete in Israel“.
Vorwort von Christian Berkel
Christian Berkel, geboren 1957, ist Schauspieler und Sohn einer jüdischen Mutter, die 1938 aus Berlin nach Paris floh, dort 1940
verhaftet und in das Internierungslager Gurs verschleppt wurde, freikam und sich bis zum Ende des Krieges in Leipzig versteckte.
Sie emigrierte 1947 nach Argentinien und kehrte 1955 nach Berlin zurück.
Was wäre, wenn ...?
Mit dieser Frage beginnt jede Geschichte, sie steht am Anfang jedes Lebens. Es sind zunächst die Träume von Eltern, die sich ein
Leben für ihr Kind wünschen, das meist aus ihren eigenen Sehnsüchten gezimmert ist. So sind wir nun mal. Irgendwann erreicht
dieses Kind ein Alter, in dem es selber diese Frage stellt, in dem es beginnt, sich seine Identität durch Interpretation der
Umstände, in die es hineingeboren wurde, zu erschaffen, oder, etwas sachlicher, zu konstruieren.
Jede Lebenskrise verlangt von uns eine Neuinterpretation, eine Wiederherstellung unserer durch Verlust und Schmerz
angeschlagenen Identität. Verletzungen treiben vorübergehend in die Einsamkeit, weil diese Erfahrungen selten teilbar sind, weil
es unsere ganze Kraft braucht, um sie durch den Vorgang der Trauer anzunehmen und in unser neues Leben zu integrieren. Auch
wenn wir es auf dem Höhepunkt einer Krise anders empfinden mögen, ist es meist nur ein Bereich unserer Identität, der betroffen
ist, ein Raum des Hauses, das uns Schutz bietet. Aber was geschieht, wenn die tragenden Wände eingerissen werden, wenn man
uns unsere Heimat und unsere Sprache nimmt, unsere Familien, die Menschen, die wir lieben, wenn wir mit einem Mal alles
verlieren, was uns Halt gibt, wenn man uns das Recht auf eine freie, selbstbestimmte Existenz verweigert, wenn man droht, uns
zu vernichten, uns zu ermorden?
Was geschieht, wenn etwas vollkommen Unvorhergesehenes und Unvorhersehbares eintritt, etwas, das einen Bruch mit den
Grundlagen der menschlichen Zivilisation markiert, etwas noch nie Dagewesenes, etwas, wovor alle erlernten Interpretationshilfen
versagen müssen, ein systematischer, klug und umsichtig organisierter, ein industriell durchgeführter Völkermord mit den
modernsten technischen Mitteln, menschenverachtend, ohne einen Moment der Empathie?
Wie würde das unser Leben verändern, sofern wir zu den Überlebenden gehören würden, zu den Menschen, die fliehend die
Bürde dieses Glücks in andere Länder, andere Kontinente tragen müssten? Und was würde es bedeuten, in dieses Land
zurückzukehren?
Andrea von Treuenfeld gibt mit ihrem Buch einige der komplexesten Antworten auf diese Fragen, indem sie auf historische
Interpretation verzichtet und das Wort dem Leben gibt, den Frauen, die vor diese Fragen gestellt wurden, deren Lebensläufe sie
einfühlsam aufgezeichnet hat. Beim Lesen fragte ich mich jedes Mal, bei jedem Leben, welche verletzende Mühe es diese Frauen
gekostet haben muss, in ihre Vergangenheit, eine Vergangenheit, die sie nicht mehr loslassen konnten, weil sie sie nie mehr
losgelassen hat, emotional zurückzukehren, die Reise rückwärtsgehend nochmal zu durchleiden?
Und ich habe mich gefragt, warum sie es getan haben?
Die eingangs erwähnte Einsamkeit durch Verlust tritt dem Leser in jeder Zeile und zwischen den Zeilen entgegen. Sie ist ein
trauriges Geschenk, ein Angebot, ein Versuch, das Unverständliche zu sagen, sich uns mitzuteilen. Ich kann mir nach der Lektüre
dieser Lebensgeschichten nichts Großzügigeres vorstellen als die Bereitschaft zum Erzählen, auch da, wo es nicht versöhnlich ist.
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Einführung
„Und dann gingen meine Eltern auf die Suche nach Verwandten, Bekannten, nach irgendjemandem, der überlebt hatte", sagt Bela
Cukierman über die ersten Tage in ihrer Geburtsstadt Berlin. Sie war zehn Jahre alt und eine der wenigen, die mit Familie
zurückkam. Die überhaupt noch Familie hatte.
Gerda Rosenthal wusste während des Krieges nichts von ihrer, auch Ruth Hacohen hoffte vergeblich auf Nachricht. Erst Jahre
später in Palästina hörten sie, dass ihre Eltern deportiert und ermordet worden waren. Dennoch wohnen sie beide heute in
Frankfurt. Anita Lippert überlebte Theresienstadt, Ruth Galinski in einem Versteck in der Tatra. Und auch sie gingen wieder nach
Deutschland. Wie hält man das aus, zurückzukehren in dieses Land? In das Land, das Verwandte und Freunde umgebracht und
Unbeschwertheit, Vertrauen und Zukunft zerstört hat. Das Land, das auch die 16 Frauen töten wollte, die ich – auf der Suche nach
einer Antwort – gebeten habe, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Ihre Kindheit haben sie in Berlin oder Stettin verbracht, in
Framersheim oder Frankfurt. Fröhlich und behütet und in dem Glauben, dass sich das niemals ändert. Bis sie als Jüdin – was
ihnen bis zu diesem Moment nicht einmal bewusst war, und wenn doch, dann sicher nicht als Makel – ausgegrenzt wurden.
Anfangs noch schleichend, dann immer brutaler. Erst war es die Freundin, die sich wortlos abwandte. Dann die Schule, die für sie
verschlossen blieb. Schließlich der Absturz in die Armut, weil der Vater seine Arbeit verlor. Und dann die allgegenwärtige
Bedrohung, die Angst vor der Verhaftung. Zum Schluss blieb nur noch die Furcht vor dem Ungewissen, als sie abgeschoben
wurden, untertauchen mussten oder gerade noch rechtzeitig auswandern konnten.
Sie emigrierten nach Shanghai und Uruguay, nach Brasilien und natürlich nach Palästina. Sie flohen jahrelang von einem
besetzten Gebiet in das nächste oder durften das kommunistische Rumänien jahrzehntelang nicht mehr verlassen. Sie wurden
getaufte Katholikinnen oder überzeugte Israelinnen. Sie haben Familien gegründet und sich eingerichtet in ihrem neuen Leben. Sie
haben keinen deutschen Pass und mehr Angst vor Antisemitismus als damals. Und doch gehören auch sie zu jenen Juden, die
sich nach 1945 für eine Wiederkehr entschieden – oftmals gegen großen Widerstand. Sie wurden angegriffen von Überlebenden,
die eine Remigration in das Land der Täter verurteilten und abgelehnt von einem Teil der deutschen Bevölkerung, der sich, in dem
Bestreben, die eigene Vergangenheit und die damit verbundenen Gräueltaten der Nationalsozialisten zu verdrängen, plötzlich
wieder mit dieser konfrontiert sah.
Warum also dieser schwere Rück-Schritt an einen Ort, der nach dem Holocaust niemals wieder Heimat sein konnte? Die eine,
alles erklärende Antwort habe ich nicht gefunden in den Gesprächen mit diesen Frauen. Die Gründe für ihre Remigration sind
ebenso vielfältig wie ihre Biografien und auch nur aus diesen zu verstehen. Gefunden aber habe ich in ihren Erzählungen das
Unvorstellbare. Das Grauen, das in den kleinen, fast nebenbei berichteten Episoden für einen kurzen Augenblick wieder präsent
ist. Die daraus resultierenden Traumata, lange verborgen und doch nie vergessen. Offen sprachen sie über viel zu früh
geschlossene Ehen, die zum Ersatz für das verlorene Zuhause wurden. Und über bittere Entscheidungen, wie die, aus Armut die
Schule abzubrechen und somit den Traum vom Studium ebenso vergessen zu müssen wie all die anderen Brüche, die das Leben
dieser Jüdinnen prägten. Geblieben ist ihnen das Gefühl der Zerrissenheit, die Suche nach Zugehörigkeit. Denn obwohl sie sich
vor Jahrzehnten wieder hier niedergelassen haben, ist dieses Land nicht mehr ihr Land.
Aus diesem Grund, und auch um ihre Authentizität zu wahren, sind Satzstellung und Wortwahl dieser Zeitzeuginnen, denen ich
dankbar bin, dass sie mich an ihren Erinnerungen teilhaben ließen, weitgehend beibehalten worden.
Bela Cukierman,
geboren als Bela Wolff am 11. Juni 1940
Berlin - Shanghai (China) - Hadera, Jerusalem (Israel) – Berlin
Die deutschen Juden gibt es eigentlich nicht mehr. Deutsche Juden, die die Möglichkeit hatten, nach England, nach Amerika
auszuwandern, die sind nicht zurückgekommen. Zurückgekommen sind Leute wie meine Eltern, die nicht zurechtkamen in
Palästina.
Im September 1940 sind wir weg. Erst durch Polen, weiter mit der Transsibirischen Eisenbahn, dann über den Landweg nach
Harbin, von da zur Küste und mit dem Schiff nach Shanghai. Um Weihnachten herum sind wir angekommen, aber wir sind nicht
ununterbrochen gefahren, es gab auch Stopps. Vom Baikalsee hat meine Mutter gesprochen und auch von der unendlichen Ödnis
in der Eisenbahn. In Polen und in Russland gab es jüdische Gruppen, die zum Bahnhof kamen und uns mitgenommen haben zu
sich nach Hause. Dann durfte sie mich baden oder sie konnte mal schlafen.
Zum Glück konnte sie mich stillen. Sie hat immer gesagt, wenn ihr die Milch ausgegangen wäre, wäre ich verhungert. Darum gibt
es auch wenige in meinem Alter. Als ich später wieder nach Berlin kam, da waren die meisten in der Jugendgruppe in den
Zwanzigerjahren oder Anfang der Dreißiger geboren. Und dann gab es die ab 1947 Geborenen. Meine Altersgruppe von 1939/40,
das sind nur ein paar. Man bekam schon Kinder, aber die starben wegen Entkräftung oder wurden umgebracht..
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Ich bin noch im Jüdischen Krankenhaus Berlin zur Welt gekommen. Meine Eltern hatten 1938 in Berlin geheiratet und wohnten in
der Kantstraße. Mein Vater kam, was ja sehr üblich war, aus einer Viehhändlerfamilie. Und er war Viehhändler sein ganzes Leben
lang. Meine Mutter ist in Weißensee groß geworden und war vor dem Krieg gelernte Verkäuferin. Man sagt, sie war sehr hübsch.
Ihre Familie und auch die meines Vaters stammten aus Westpreußen, und 1919/20 mussten die Leute dort optieren, ob sie
Deutsche oder Polen sein wollten. Sie sprachen kein Polnisch, entschieden sich für Deutschland und kamen so nach Berlin.
Von dort sind meine Eltern nicht früher weggegangen, weil mein Vater dachte, das kann ja nicht so dämlich sein, das deutsche
Volk, Hitler wird sich nicht halten. Aber als die Sache hier immer enger wurde, schrieb meine Mutter an die Schwester meines
Vaters, die mit Mann und Sohn schon nach Shanghai ausgewandert war, dass sie uns auch Papiere schicken sollten. Als ihre
Papiere kamen, war ich in der Zwischenzeit geboren. Die Eltern meines Vaters haben dann alles verkauft, was sie hatten, um so
noch die Papiere für mich zu bezahlen. Sie waren auch schon in Shanghai. Das war eine freie Stadt, deshalb konnte man dorthin.
Es war anfangs nicht das Problem, aus Deutschland heraus zu kommen. Es war das Problem, wo man rein konnte.
Nach Shanghai waren die Juden ursprünglich um 1870 gegangen, nach den Opiumkriegen. Die Stadt war als Konzession an die
Engländer gegeben worden, und dank des Hafens wurde dort Handel getrieben. Somit kamen nicht nur Soldaten, sondern auch
Handelstreibende. Und dabei waren auch die Familien Sassoon, Kadoorie und Mizrahi, ehemals irakische Juden, die eine sehr
vermögende Gemeinde bildeten. Eine weitere Gruppe war die der russischen Juden, die bei der Revolution geflohen waren. Schon
1941, nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, mussten die deutschen Juden ins Ghetto. Die Japaner waren die Alliierten
der Deutschen, und als eine SS-Delegation geschickt wurde, erklärte die den Japanern, wie sie mit den Juden umzugehen hatten.
Die Japaner wollten sich nun nicht mit allen Europäern anlegen und haben als Kompromisslösung die Engländer interniert und nur
die Staatenlosen ins Ghetto geschickt. Da die deutschen Juden, die mit dem „J-Pass", bei ihrer Auswanderung die deutsche
Staatszugehörigkeit abgeben mussten, waren sie staatenlos. Die etablierten Juden waren nicht betroffen und finanzierten das
Ghetto in Hongkou. Tragischerweise haben sie irgendwann gesagt:
„Wir können nicht mehr als 20.000 Menschen unterstützen."
Und das war der Stopp. Parallel dazu verlief die Entwicklung des Krieges. Die Emigration durch Russland, die wir gemacht haben,
ging ja nur so lange, bis der Russland-Feldzug der Nazis begann. Ab dann war dieser Schlupfwinkel unerreichbar.
Das Ghetto in Hongkou, das war der alte Hafen von Shanghai. Die dort lebenden Kulis und Arbeiter wurden von den Japanern
rausgesetzt und uns haben sie reingesetzt. Die Japaner waren sehr brutal mit den Chinesen. Ich weiß noch, dass ich mit meinem
Vater auf der Garden Bridge war, die über den Yangtse führt, und plötzlich mussten sich neben uns Chinesen knien und Japaner
haben sie erschossen. Oder sie haben angeordnet, dass alle gegen Typhus geimpft werden. Es wurde eine Straße gesperrt und
dann wumm, wumm, wumm – jeder, der vorbeikam, wurde geimpft. Im Ghetto war es heiß, primitiv und es herrschte eine
unvorstellbare Armut. Die Chinesen haben deshalb ihre Kinder zum Betteln verstümmelt. Es war schmutzig und es stank, es gab
keine Toiletten. Morgens kamen die Lastenträger, um die Kübel abzuholen, die sie mit Stangen auf den Schultern trugen. Man
wurde krank in diesen unhygienischen Verhältnissen. Die Menschen starben an Tbc, die Toten lagen in Tücher gewickelt auf den
Straßen. Ich bekam das sogenannte Shanghai-Fieber, habe meine Eltern gar nicht mehr erkannt. Aber ich hatte Glück, die
Amerikaner waren schon da und die hatten Penicillin. Es waren nur ein paar Straßen, aber es war eine Welt für sich. Es gab
japanische Polizei, die eine jüdische Ghetto-Polizei ernannt hatte. Es gab Schulen, aber ich wurde mit drei, vier anderen Kindern
von einer Familie unterrichtet. Dafür hat mein Vater ihnen Fleisch gebracht, man war ja zurückgefallen auf die Tauschebene.
Später ging ich dann in die Kadoorie-Schule. Es gab Ärzte. Es gab Cafés, das „Little Vienna" zum Beispiel, wo perfekte
Mozartkugeln gemacht wurden. Das waren Wiener, die die Zutaten handelten mit den Chinesen. Es waren alles deutschsprachige
Juden, auch die Kinder auf der Straße sprachen Deutsch und in der Schule Englisch. Zu Hause haben wir auch nur Deutsch
gesprochen. Und Oma hat erzählt von den „Nesthäkchen"-Kinderbüchern und von deutschen Schauspielerinnen. Was mich heute
wundert: Wenn ich jetzt, mehr als 80 Jahre nach der Machtergreifung, diese Filme im Fernsehen sehe und diese Musik höre, dann
kenne ich die ganzen Texte. Wir lebten ja quasi in einer deutschen Welt in Shanghai. Wir hatten dort die fünfte Kolonne und deren
Musik wurde auch gespielt. Wenn man die als Kind hört, erinnert man sich vielleicht daran.
Viele Menschen lebten vom Geld der reichen jüdischen Familien. Aber wir waren nicht auf Sozialhilfe angewiesen, meine Eltern
arbeiteten. Mein Vater hat alles gemacht. Es gab dieses Hotel am Bund, der Prachtstraße, „Peace Hotel" heißt es heute, und da
hat er Koffer getragen. Er war sehr kräftig, vor dem Krieg war er Amateurboxer gewesen. Dann hat die ganze Familie angefangen
mit dem Fleischhandel. Alles, was es so gab, Hühnchen oder eine Ziege. Sie hatten einen Stand auf dem Markt in Hongkou und
da haben der Großvater und mein Vater und sein Bruder Vieh an die Chinesen verkauft. Meine Mutter hat mitgeholfen am
Nachmittag. Am Abend hat sie als Kellnerin gearbeitet oder für Geschäfte, wo man alte Pullover auftrennte und aus der Wolle
neue strickte. Heimarbeit sozusagen. Man verkaufte, was man besaß. Meine Großmutter hatte wunderschöne Tischdecken
gestickt, als mein Opa im Ersten Weltkrieg war, und die haben sie verkauft. Sie haben ihre Bettwäsche verkauft. Alles, was sie
mitgebracht hatten. Sie durften keinen Ehering mitnehmen, kein Gold. Und als wir gingen, durfte man pro Kopf nur noch ein
Gepäck-stück haben. Meins war der Kinderwagen. Wir waren eine große Gruppe. Da waren meine Großmutter und mein
Großvater väterlicherseits und sein Bruder und dessen Frau. Die kamen mit Sohn und Schwiegertochter. Außerdem der Bruder
meines Vaters und dessen Frau, die dort 1947 einen Sohn bekamen, und die Schwester meines Vaters mit Mann und Sohn. Wir
waren also sehr stark als Familie, wohnten zusammen, und meine Oma kochte für alle. Wir waren eine Einheit, und dadurch war
die Belastung nicht so groß.
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In Europa war der Krieg im Mai 1945 zu Ende. In Shanghai nicht. Die Leute hörten heimlich BBC, was natürlich verboten war, und
erfuhren so vom Kriegsende. Sie sind raus auf die Straße und haben gejubelt. Dann kamen die Japaner, haben Menschen
verhaftet. Wer ihnen in die Finger kam, den haben sie schon sehr brutal behandelt. Oft auch gefoltert und zu Tode gequält. Wir
gingen also wieder nach Hause und die Japaner haben weitergekämpft und erst nach Hiroshima im August 1945 kapituliert. Und
dann kamen die Schiffe der Pazifikflotte, die amerikanische Navy! Da waren auch jüdische Soldaten dabei, die gar nicht wussten,
dass es uns dort gibt. Sie brachten uns Hershey-Schokolade, und wir waren alle verliebt in diese amerikanischen Soldaten. Dann
kam auch der Joint – und das war ganz toll: Die hatten aus Amerika gespendete Sachen dabei. Da durfte man hingehen und sich
etwas aussuchen. Ich hab dann ein dunkelrotes Samtkleid bekommen, stand vor dem Spiegel und war hin und weg. Meine Mutter
war immer sehr praktisch, ich war Papas Girl. Und als mein Bruder geboren wurde, Mutti war noch im Krankenhaus, hat er mir
rote Lackschuhe gekauft. Das war so irre! Uns ging es dann auch gut, relativ. Mein Vater hatte diesen Fleischstand, die ganze
Familie hat da gearbeitet. Wir sind umgezogen in das French-Concession-Gebiet. Neben unserer Wohnung lag ein Café, und ich
hab auf unserer Terrasse gesessen und zugeguckt, wie die Chinesen Tango tanzten. Das war total westlich. Inzwischen gab es
auch Kinos und amerikanische Filme. Und als am 1. August 1948 mein Bruder zur Welt kam, nannten meine Eltern ihn Gary. Nach
Gary Cooper, den fand meine Mutter ganz toll. Alle wollten nach Amerika, das war nach dem Krieg das Gelobte Land, aber der
größte Teil kam nicht hin. Es gab Quoten, die nach Geburtsjahren gingen, und meine Eltern fielen beide unter die polnische Quote.
Obwohl mein Vater aus der Provinz Posen kam und meine Mutter aus Thorn. Aber die polnische Quote war schon ziemlich
ausgeschöpft und außerdem brauchte man zwei Bürgen in Amerika. Hatten wir nicht. Wir hatten nirgendwohin einen Bezugspunkt.
Nach Deutschland wollte meine Mutter nicht zurück. Logisch. Ihre Mutter starb vor dem Krieg. Ihr Vater und ihre Geschwister, die
wurden alle deportiert und umgebracht. Sie hatte zwei Schwestern und zwei Brüder, sie waren verheiratet, hatten auch schon
Kinder. Ihr jüngerer Bruder wurde deportiert aus einem Hachschara-Lager, die anderen Geschwister waren in Berlin
Zwangsarbeiter und wurden von ihren Arbeitsstellen abgeholt. Nach dem Krieg kamen noch Briefe aus den Lagern, die hat das
Rote Kreuz nach Shanghai gebracht. Und dann gab es Listen, da standen die Leute davor und suchten nach den Namen ihrer
Familien. Meine Mutter bekam dann Dokumente, auf denen – Deutschland ist ja korrekt – Todesgründe angegeben waren, „Auf
der Flucht erschossen" oder so. Aber damit lebten wir ja kein Solitär-Leben. Alle in unserem Kreis lebten so. Ich, als Kind, kannte
es nicht anders. Wohin also sollten wir gehen? Israel, meinte der Joint. Es war gerade im Mai gegründet worden. Wir waren keine
religiöse Familie, mein Vater konnte nicht sehr gut Hebräisch. Aber es war das Land der Hoffnung. Ein Land, das dich aufnimmt.
Wenn Israel existiert hätte 1938 und wenn die Engländer in Palästina nicht die Leute, die ankamen, zurückgeschickt hätten, dann
wären alle gerettet worden. Der Joint heuerte italienische Frachtschiffe an, die in Shanghai gestrandet waren. Und je mehr Leute
die Italiener mitnahmen, desto mehr wurde bezahlt. Also wurden die Schiffe vollgestopft. Es gab keine Kabinen, nur große
Laderäume. Da wurden Etagenbetten rein gebaut. Wir durften in keinen Hafen, weil wir „displaced persons" waren. Staatenlose,
die immer außerhalb der Drei-Meilen-Zone bleiben mussten. Als wir vor Kapstadt lagen, haben sich die jüdischen Emigranten, die
dort lebten, Boote gemietet und sind zu uns gekommen und haben uns Sachen herauf geworfen. Dabei waren auch Leute, die
mein Vater noch aus Berlin kannte. Auf dem Schiff hatten wir zwei, drei Beerdigungen. Da gab es eine kleine Zeremonie und dann
wurde der Tote ins Meer geworfen. Wir hatten auch Studenten an Bord, die haben die Kinder unterrichtet. Aber da hab ich nicht
teilgenommen, ich war nur seekrank, weil es mörderisch schaukelte. In Neapel erwarteten uns die Carabinieri mit
Maschinengewehren und aufgepflanzten Bajonetten. Wir wurden von dem italienischen Schiff auf das israelische gebracht, das
war noch kleiner. Unsere Kisten wurden einfach rein gestopft und alles ging kaputt.
Als wir im Hafen von Haifa ankamen war Shabbat. Deshalb wurden wir nicht ausgeladen und mussten den Tag über an Bord
bleiben. Und dann haben die Musiker auf unserem Schiff die Hatikva gespielt, die Nationalhymne. Das hab ich noch ganz stark in
Erinnerung. Und auch die Frauen, die da standen und Sandwiches verteilten, als wir abends vom Schiff durften. Das war die
WIZO. Das hat mich so beeindruckt, dass ich später in Berlin in den Vorstand der WIZO gegangen bin. Wir wurden mit den
Großeltern auf LKW verladen und kamen in die Beth Olim, die Flüchtlings-lager, in Hadera. Ist heute ein hübsches Städtchen, war
damals nur Sand. Da stand so eine Art Hangar, riesengroß und darin Bett an Bett, Feld-betten. Männer, Frauen, dicht an dicht,
und die Koffer schob man unter die Betten. Es gab Kantinen, wo man anstand zum Essen. Und Unterricht unterm Baum. Da bin
ich aber auch nicht hingegangen, weil ich das schon kannte. Ich hab immer wieder das Einmaleins bis Fünf gelernt. Immer, wenn
ich wieder in eine Schule kam, waren die bei demselben Stoff. Auch Moses Auszug aus Ägypten hatte ich ein paar Mal. Wir
blieben einige Monate, und es waren schlimmere Zustände als in Shanghai. Das ist kein Vorwurf gegen Israel. Es war gleich nach
dem Krieg mit den Arabern, das Land war überfordert. Auch mit den Einwanderern. Sie kamen aus aller Welt und manche hatten
eine ganz andere Kultur. Wir verzichteten deshalb sehr schnell auf die Toiletten, gingen halt ins Wäldchen, und nachts heulten da
die Schakale.
Mit uns war auch der Bruder meines Vaters und dessen Frau und ihr Sohn aus Shanghai gekommen. Diese Tante hat einen
Verwandten in Jerusalem ausfindig gemacht, der in der Histadrut war, der Arbeiter-Gewerkschaft. Der hat meinem Vater und
meinem Onkel Jobs auf dem Bau verschafft. Das war unser Absprung aus den Beth Olim. Wir sind mit einem Lastwagen von
Hadera nach Jerusalem gefahren. Damals war diese Straße gerade freigekämpft worden, heute sind noch die Panzer als
Erinnerung an die Schlachten von Latrun zu sehen.
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Meine Mutter durfte mit meinem Bruder, weil er das kleinste Baby war, in der Fahrerkabine sitzen und der Rest der Familie, auch
die Großeltern, da waren die um die 70, saß oben auf unseren Kisten. In dem Viertel Katamon fanden wir ein Haus ohne Fenster,
ohne Türen, ohne Fußböden – und wohnten wieder alle zusammen. Nachts zogen mein Onkel und mein Vater los und hängten
Türen in alten, leer stehenden Häusern aus und bei uns ein. Wasser kam aus dem Brunnen, eine Wasserleitung gab es nicht.
Aber Kaninchen und Hühner, und Oma hat immer gewartet, dass die Hühner Eier legen, damit sie uns ein paar Nudeln machen
konnte. Essen gab es nur auf Marken, es war die Zena-Zeit. Und dann kam ich in die Schule. Das war eine von der Familie
Mizrahi gesponserte religiöse Mädchenschule. Ich war aber in dem Viertel das einzige Emigrantenkind. Und das einzige, das kein
Ivrit konnte. Die hielten mich für geistig zurückgeblieben. Ich hab Nachhilfeunterricht gehabt, aber ich kam nicht in Tritt mit denen.
Jeder hat versucht, Geld zu verdienen. Mein Großvater fand einen Job als Nachtwächter. Abends wurde er zu einer Baustelle
gebracht, auf einen Stuhl gesetzt und morgens wieder abgeholt. Er hatte Grauen Star und war schon auf einem Auge erblindet.
Mein Vater und mein Onkel fingen auf dem Bau an. Mein Onkel lernte noch Eisenbieger und mein Vater stand in den Gruben und
musste immer den Eimer mit dem feuchten Beton auffangen. Papa war 1904 geboren, hatte Shanghai hinter sich und hat
irgendwann gesagt, er kann das nicht mehr. Meine Mutter ist dann zu ihrer Cousine in Haifa gefahren, die als Untermieter Offiziere
der israelischen Marine aufgenommen hatte. Es ging alles nur mit Protektion, und so bekam sie Arbeit für meinen Vater. Er, der
nicht kochen konnte, wurde Koch auf den Schiffen, die nach Tripolis fuhren und Flüchtlinge holten. Er war immer seekrank. Und
wenn er in Haifa einlief, dann fuhr meine Mutter, manchmal mit uns Kindern, von Jerusalem aus dort hin. Mein Vater hatte drei,
vier Stunden Landaufenthalt und ging dann zurück aufs Schiff. Das war kein Leben, und er konnte kaum die Familie ernähren.
Schließlich hat er zu meiner Mutter gesagt, er macht das nicht mehr mit. Er kann diese Sprache nicht, er kommt nicht zurecht.
Und er will zurück nach Deutschland. Meine Mutter wollte nicht. Und er hat gesagt, dann geht er alleine. Geht, wenn er mal in
Neapel ist, von Bord und zurück nach Deutschland. Was sollte meine Mutter machen? So sind wir zurück nach Deutschland.
Wir fuhren mit dem Schiff nach Neapel, von da mit dem Zug nach Frankfurt. Berlin war russisch besetzt. An den Grenzen standen
Sowjetsoldaten. Wir hatten diesen Nansen-Pass, waren ja ausgebürgerte Deutsche, Staatenlose. Es war 1950 und wieder
September – exakt zehn Jahre, die wir weg gewesen waren. Dieses Mal waren wir allein. Papa, Mama, mein Bruder und ich. Mein
Großvater, der saß in Jerusalem abends auf der Terrasse und träumte von Deutschland. Ich glaube, dass er zurückgehen wollte.
Aber er ist gestorben, hat es nicht mehr geschafft. Es ist diffizil zu sagen, was er an Deutschland liebte. Er war in dieser Kultur
aufgewachsen. Er war Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen. Er und meine Großmutter waren Deutsche, und Israel war Orient. Ja,
es war jüdisch, aber es war fremd. Wir waren in Frankfurt und mein Vater wollte zurück nach Berlin. Aber wir wussten nicht, dass
wir für Berlin eine Art Visum brauchten. Wir kamen an die Zonengrenze, und da haben die russischen Soldaten die Papiere
kontrolliert und gesagt: „Ne, Freunde!“
Sie haben uns aus dem Zug geholt und in einen Wachraum gebracht. Da haben wir die ganze Nacht gesessen. Am nächsten Tag
haben sie uns zurückgeschickt nach Frankfurt. Wir hatten kein Geld. Es war September, Sukkot, und meine Eltern gingen in die
Synagoge. Meine Mutter saß da mit einem zweijährigen und einem zehnjährigen Kind und weinte. Und dann wurden wir
untergebracht im Jüdischen Altersheim, oben auf dem Dachboden. Meine Mutter hatte gerade noch ein paar Mark. Mein Bruder
wollte dies und ich wollte das. Und Mama sagte: „Nein, wir müssen uns gut überlegen, wofür wir das Geld ausgeben." Sie wollte
was zu essen kaufen und dann hat sie diese zwei, drei Mark verloren. Das ist mir tief in Erinnerung geblieben.
Mein Vater hat schließlich Leute getroffen, die er aus Shanghai kannte, und hat sich von denen Geld geliehen. Davon sind wir
nach Westberlin geflogen, nach Tempelhof. Da mussten wir ja nicht durch die DDR. Nach Frankfurt waren meine Eltern schon
klüger. Wir sind gleich zum Jüdischen Altersheim in die Iranische Straße gefahren und haben gesagt: „Hier sind wir, helft uns.“ Sie
haben uns ein Zimmer gegeben. Und dann gingen meine Eltern auf die Suche nach Verwandten, Bekannten, nach
irgendjemanden, der überlebt hatte. Und fanden Tante Mariechen in Ostberlin. Sie war mit einem christlichen Mann verheiratet,
und die beiden haben uns aufgenommen. Mein Vater erkundigte sich nach den Schlachthöfen und kannte plötzlich wieder Leute.
Waren ja dieselben Händler wie früher. Er fuhr auch wieder auf die Viehmärkte in Westdeutschland und kaufte Kühe, die wurden
dann in Zügen nach Berlin gebracht, in Spandau geschlachtet und an Einzelhändler verkauft.
Wir wurden wieder eingebürgert, bekamen deutsche Pässe. Die erste Wohnung, die wir hatten, war in Moabit, Pritzwalcker
Straße. Zum ersten Mal wohnte meine Familie allein. Ich kam in die Grundschule und hatte den besten Lehrer aller Zeiten. Ich hab
ihn geliebt, heiß und innig. Deutsch konnte ich, aber kein Wort schreiben und sprechen auch nicht so wie die anderen. Deshalb hat
meine Mutter zu ihm gesagt: „Sie ist jetzt zehn, aber sie kann ja nichts. Schicken Sie sie in die erste Klasse."
„Das geht doch nicht! Vierte Klasse!", sagte er. Er würde das schon machen, hätte Vertrauen zu mir. Und als wir am ersten Tag
ein Diktat schrieben, hat er mir erlaubt, abzuschreiben. Ich hatte, glaube ich, auf einer halben Seite 90 Fehler. Aber er hat mich
durchgezogen, ich bin nicht sitzen geblieben. Nie. Allerdings war ich natürlich sehr gut in Religion, weil ich immer wieder dasselbe
gelernt hatte, das Alte Testament. In den Stunden hätte ich auf den Hof gehen dürfen. Aber mir hat es Spaß gemacht, weil ich das
besser konnte als die anderen.
1952 ist mein Opa in Jerusalem gestorben. Ein Jahr danach hat mein Vater seine Mutter und seinen Bruder mit Familie,
inzwischen hatten sie noch eine Tochter, aus Israel nachkommen lassen. Die haben dann unsere Wohnung in Moabit
übernommen, und wir sind mit der Oma nach Charlottenburg gezogen, in die Giesebrechtstraße.
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Ich kam in der Leibnizstraße in die Mädchenschule. Ich hatte immer sehr gern gezeichnet und im Lette-Verein hab ich ModeIllustration gelernt. Die Ausbildung dauerte drei Jahre und ich hab sie geliebt: Kunstgeschichte, Kostümkunde, Zeichnen.
Anschließend hab ich in der Konfektion gearbeitet, Couture in der Meineckestraße. Nach einem Jahr hab ich gekündigt, weil meine
Eltern mir ermöglicht haben, ein Jahr durch Amerika zu reisen. Das war revolutionär damals, es war 1960. In Amerika bin ich 20
geworden. Es war für mein Leben unerhört prägend, es war eine ganz andere Welt und ich musste mich anpassen. Ich habe bei
Bloomingdale’s vorgesprochen, und die hätten mich genommen als Modezeichnerin. Aber ich ging zurück nach Hause und lernte
meinen Mann kennen. In der jüdischen Jugendgruppe in der Joachimsthaler Straße in Berlin traf ich Renée Brauner, als sie 1954
mit ihrer Familie zurückkam nach Berlin. Sie hat auch einen jüngeren Bruder, der 1947 geboren ist – und wir waren wie
Schwestern. Auch als sie schon verheiratet war, sind wir ausgegangen in der Clique, und es kam mal der mit und mal der. Und
auch mein späterer Mann. Er war 15 Jahre älter als ich, Mitte 30. Er rief immer wieder an, und dann bin ich mit ihm ausgegangen,
das war im Sommer. Und im November haben wir uns verlobt. Im Juni 1962 haben wir geheiratet. Und 1963 hab ich dann meinen
ersten Sohn bekommen, 1966 und 1974 die beiden anderen.
Mein Mann kam aus Polen, aus einer Kleinstadt bei Lodz. Seine Familie musste in das Ghetto. Seine Eltern wurden umgebracht.
Er war in Mauthausen, einer seiner Brüder in Auschwitz. Ein Bruder mit Frau und Kind wurden noch in Lodz erschossen. Die
anderen vier Geschwister haben überlebt. Nach dem Krieg gingen sie alle zurück nach Lodz und fanden sich da wieder. Seine
älteste Schwester war 18 Jahre älter und wie eine Mutter für ihn und später wie eine Schwiegermutter für mich.
Er hätte dann zum polnischen Militär gemusst und das wollte er natürlich überhaupt nicht. Polen war auch nach dem Krieg noch
sehr antisemitisch, deshalb gingen viele Juden nach Amerika oder Palästina – über Stettin und Berlin. Dort gab es ein
Auffanglager am Schlachtensee. Da war auch er mit seinem älteren Bruder, der dann nach München ging mit seiner Frau. Deren
Tochter hat Auschwitz überlebt, weil sie sehr niedlich war und eine Kapo-Dame sie wohl als Spielzeug betrachtet hat. Ihr Sohn ist
umgekommen. Und der Sohn von der Schwester meines Mannes ist umgekommen, als die Russen vorrückten und die Nazis das
Lager verlegten. Die Gefangenen wurden weiter transportiert in Waggons. Die Tür wurde zugemacht, sein Arm war dazwischen.
Er ist gestorben, noch 1945.
© Gütersloher Verlagshaus, 2015. Alle Rechte vorbehalten
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Uhly, Steven: Königreich der Dämmerung. Roman | Secession Verlag für Literatur | 2014
ISBN 978-3-905951-41-7 | Gebunden | 661 Seiten | 29.95 €
Herbst 1944, eine regenreiche Nacht. Der Laut eines Schusses jagt durch die Gassen einer kleinen Stadt in
Polen. Eine Jüdin hat ihn auf einen 37-jährigen SS-Sturmbannführer abgefeuert. Tags darauf werden 37
Menschen öffentlich hingerichtet. Willkür und Widerstand sind Teil der gewaltigen Anfangsszenen des Romans,
der einen Erzählbogen von den letzten Kriegsmonaten bis in die jüngste Vergangenheit spannt. Uhly berichtet
vom Leben einer jüdischen Flüchtlingsgruppe und von einer umgesiedelten Bauernfamilie aus der Bukowina, von
den Lebensumständen der Entwurzelten in „Displaced-Persons-Camps. Er verwebt Weltpolitik und den Lebenswillen der häufig im Untergrund agierenden Menschen zu einer erzählten Wirklichkeit der Jahre nach 1945. Uhly
bettet das Schicksal seiner Protagonisten in die historischen Ereignisse ein. Ihre Wahrheitssuche, in der sich die
Frage nach Schuld und Erbe spiegelt, führt aus dem Grauen der Vernichtung in den zupackenden Mut einer
neuen Generation. Mit seiner präzisen und poetisch facettenreichen Sprache ist Uhly nah bei den Menschen, er
zieht seinen Leser in den Bann und lässt ihn eigene, verborgene Wahrheiten erfahren.
Steven Uhly, 1964 in Köln geboren, ist deutsch-bengalischer Abstammung. Er studierte Literatur, leitete ein
Institut in Brasilien, übersetzt Lyrik und Prosa aus dem Spanischen, Portugiesischen und Englischen. Sein
Debütroman „Mein Leben in Aspik“ erschien 2010. Es folgten die Romane „Adams Fuge“ (dem Tukan-Preis
ausgezeichnet) und „Glückskind“, einem Bestseller, der 2014 von Michael Verhoeven verfilmt wurde.
Hundertzwölf
Das neue Haus lag in der Altstadt von Tel Aviv, so nannte Peretz den Hafen Jaffa und die umliegenden Hänge, auf denen dicht an
dicht Häuser standen, die so betagt wirkten, als könnten sie von längst vergangenen Zeiten erzählen.
„Wer hat hier gewohnt ?", fragte Anna, als sie langsam durch die Räume ging, die wirkten, als wären die Bewohner einkaufen
gegangen, über den schönen Innenhof, der mit Topfpflanzen vollgestellt war, die zum Teil verdorrt waren, zum Teil noch lebten. In
der Mitte befand sich ein runder Brunnen, sie lehnte sich über die gemauerte Brüstung, das Wasser war kristallklar. Der Fußboden
des Innenhofs war wie ein Mosaik gestaltet. Sie blickte nach oben, über ihr wölbte sich der blaue Himmel.
„Wie alt ist dieses Haus?", fragte sie.
Peretz lächelte, er sagte: „Gefällt es dir?"
Anna wollte Ja sagen, doch sie zögerte. Sie ging weiter durch die Räume.
„Was sind das für Muster? Und diese Ornamente ?"
„Die sind arabisch."
„Das Haus gehört Arabern?"
„Nicht mehr."
„Wo sind sie?"
„Ausgewandert."
„Ausgewandert oder vertrieben?"
„Ausgewandert."
Anna wandte sich um, sie sah Peretz direkt in die Augen.
„Sagst du mir die Wahrheit?"
Peretz nickte:
„Sie wollten nicht in einem jüdischen Staat leben, deshalb sind sie gegangen."
„Und du hast ihnen das Haus abgekauft?"
„Sie sind einfach gegangen, Anna, einfach so, von einem Tag auf den anderen. Das haben hier viele getan. Die Araber hassen
uns, sie werden nie wiederkehren, höchstens als Soldaten, um Israel zu vernichten. Das Haus gehört jetzt dem Staat."
Anna schwieg. Sie sah sich um, ein schönes, altes Haus. Wenn man aus dem Küchenfenster hinausblickte, sah man das Meer.
Wenn man hinausblickte und nicht auf die Töpfe und Pfannen achtete, die neben dem Fenster an der Wand hingen, die Teller und
Tassen, die in den Regalen standen, wenn man die rußige eiserne Teekanne auf dem alten Gasherd nicht beachtete. Wenn man
über das Spülbecken hinwegsah, in dem noch schmutzige Gläser lagen.
Peretz beobachtete sie, er sagte:
„Die Sonne geht im Wasser unter, dort", er zeigt an ihr vorbei Richtung Horizont. Anna schwieg, sie schlang die Arme um ihren
Oberkörper, es war warm, doch plötzlich fröstelte sie. Peretz wurde ungeduldig, er sagte:
1965 bis 2015. Deutschland - Israel
Autoren aus Israel und Deutschland stellen ihre Bücher vor
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„Die werden nicht zurückkommen, seit dem Krieg haben noch viel mehr Araber das Land verlassen. Es ist auch besser so, glaub
mir, Juden und Araber können nicht im selben Land leben, wir sind viel zu unterschiedlich." Er machte eine Pause. Er sagte: „Du
wolltest doch so schnell wie möglich aus dem Haus meiner Eltern ausziehen. Und du wolltest nicht in einem Kibbuz leben, obwohl
das vielleicht die beste Lösung wäre."
„Ich will nicht, dass Shimon die ganze Woche in einem Kinderhaus leben muss. Getrennt von seinen Eltern. Und von Sarah. Das
ist alles.“ Peretz schwieg. Sie blickten gemeinsam aus dem Fenster.
„Wenn du dich nicht schnell entscheidest, wird jemand anderes hier einziehen, die übrigen Häuser sind alle schon weg." Anna sah
ihn an.
„Lebten hier vor dem Krieg nur Araber?" Peretz nickte unwillig.
„Und sie sind alle weg?" Peretz schüttelte den Kopf.
„Die, die nicht gehen wollten, sind geblieben."
„Zeig mir ein solches Haus."
„Was soll das, Anna?"
„Ich will so ein Haus sehen."
Peretz presste die Kiefer aufeinander, er blickte seine Frau wütend an. Dann riss er sich zusammen, er sagte: „Komm!"
Er verließ das Haus, ging die abschüssige Gasse hinunter, Anna folgte ihm im Laufschritt, so schnell ging Peretz, die Sonne stand
hoch am Himmel, die Menschen hatten sich hinter schützende Wände, unter schattige Dächer zurückgezogen, ein alter Mann mit
einem Esel kam den Berg herauf, er hatte den Hut tief in die Stirn gedrückt, sein schmächtiger Körper war gebückt, Anna sah das
Meer dort unten und bis zum Horizont, wo die Sonne untergehen würde, Peretz stürmte durch schmale Gässchen, die Häuser mit
den arabischen Ornamenten, den Mustern in den Fassaden, überall sah Anna sie. Plötzlich blieb Peretz stehen und zeigte auf ein
Haus. „Dort wohnen Araber, die geblieben sind."
Anna war außer Atem, sie schwitzte, die Sonne stach ihr in die Augen. Das Haus sah verschlossen aus, die Fensterläden waren
zugezogen, eine schmiedeeiserne Tür versperrte den Zugang zum Vorgarten. Anna blickte Peretz an.
„Willst du läuten und mit ihnen reden? Nur zu !“ Anna blickte von Peretz zum Haus, vom Haus zu Peretz. Plötzlich wandte sie sich
ab und ging den Berg hinauf, Peretz sah ihr verblüfft nach, dann folgte er ihr. „Was ist? Glaubst du mir nicht?"
„Doch, Peretz, ich glaube dir. Lass uns das Haus nehmen." Sie lächelte ihn an. Sie wollte, dass alles rechtens war, dass die
Araber wirklich gegangen waren, weil sie die Wahl gehabt hatten, sie wollte Lydia Sarfatis misstrauischem, ratlosem Blick
entgehen, sie wollte keine Feldarbeit in einem Kibbuz verrichten, sie wollte in der Stadt leben, sie wollte Peretz zeigen, dass sie
seine Mühe schätzte, dass er alles richtig gemacht hatte, sie nahm sich vor, bald mit ihm zu schlafen. Sie malte sich aus, dass sie
ein neues Kind haben würden. Ein Kind in Jaffa. Sie dachte, Alles wird gut. Sie hörte auf nichts anderes. Sie nahm seine Hand.
Gemeinsam gingen sie den Berg hinauf.
Hundertzehn
Es knisterte. Ein Gong ertönte. Ein Mann mit sonorer Stimme sagte : „Es ist zwölf Uhr. Hier ist die Stimme Israels. Mein Name ist
Mordechai Primann. Ich verlese jetzt die heutigen Suchanzeigen, die mir von der Jüdischen Agentur für Israel übermittelt worden
sind: Sara Rosenbaum aus New York, geboren in Korov, Galizien, Polen, sucht ihren jüngeren Bruder Jaakov Rosenbaum,
sechsunddreißig Jahre alt. Das letzte Mal haben sie sich im Ghetto von Bielsko-Biała gesehen, im Juni 1942 vor dem letzten
Transport nach Auschwitz. Dort wurde die Familie getrennt, die Männer von den Frauen, und Sara Rosenbaum überlebte. Andere
Überlebende haben ihr erzählt, dass ihr jüngerer Bruder ebenfalls überlebt hat, doch sie haben sich seitdem nicht mehr
wiedergesehen. Abraham Gerschenson aus Miami, geboren in Bialistok, Weißrussland, sucht überlebende Geschwister. Am Ende
des Krieges verließ er die Rote Armee und kehrte nach Bialistok zurück. Dort erzählte man ihm, dass die Jüngeren aus seiner
Familie in die Wälder geflohen waren und dort von den Partisanen aufgenommen wurden, doch keiner von ihnen kehrte nach
Bialistok zurück.
Lisa Kramer, geborene Ejzenstain, ursprünglich aus Polen, nach dem Krieg aufgewachsen in Lübeck, Deutschland. Als Baby
verlor sie ihre Mutter, Margarita Ejzenstain, der Vater, Tomasz Ejzenstain, war zuvor von der SS ermordet worden. Lisa Kramer
sucht nach Anna Sarfati, die sie als kleines Kind im Übergangslager Pöppendorf gemeinsam mit ihrer Großmutter Marta Kramer
kennengelernt hat. Das sind die Anzeigen für heute. Die Gesuchten können sich bei uns oder direkt bei der Jüdischen Agentur für
Israel melden, der Kontakt zu den Suchenden wird auf Wunsch unverzüglich hergestellt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Es ist jetzt fünf nach zwölf. Hier ist die Stimme Israels. Mein Name ist Mordechai Primann.“
Anat Almog schaltete das Radio aus. Sie fuhr sich durch den dichten, braunen Haarschopf und langte nach einer Kaffeekanne, die
mitten auf dem runden Tisch stand. Sie blickte der Reihe nach in die Gesichter ihrer beiden Kinder, Binah, schmal und blass wie
sie selbst, Erez, groß und kräftig wie sein Vater. Kinder, die keine Kinder mehr waren. Kinder, die mit Vater und Mutter
aufgewachsen waren, die glaubten, sie wüssten alles über ihre Eltern. Dazwischen Lisa. Sie sah Lisa an, sie lächelte ihr zu.
„Jetzt heißt es warten, Liebes."
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