Zum Text - Münchner Semiotik

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Simon Brandl:
Rainer Maria Rilkes Sonett Archaïscher Torso Apollos
im Blickfeld des psychoanalytischen Systems Jacques Lacans
Inhaltsverzeichnis
0. Das Gedicht
1
1. Einleitung
2
2. Neuformierung ontologischer Fragestellungen zur Zeit der Jahrhundertwende
2
2.1.
Problematisierung des Naiven Realismus
2
2.2.
Empiriokritizismus: die Dekonstruktion des Ich
4
2.3.
‚Sonnenhaftes Sehen‘: die Rekonstruktion des Ich
7
3. Grundbegriffe von Lacans Theorie
11
3.1.
Spiegelung am Objekt klein a
11
3.2.
Funktion von Auge und Blick
12
3.3.
Der große Andere
14
3.4.
Das Reale
15
4. Anwendung auf das Gedicht
16
4.1.
Der Torso als das Objekt klein a
16
4.1.1. Gleichsetzung von Schauen und Geschaut-Werden
16
4.1.2. Der Torso-Haupt als Trugbild
17
4.2.
Triadische Struktur
19
4.2.1. Das Imaginäre
19
4.2.2. Das Reale
20
4.2.3. Das Symbolische
22
5. Fazit
24
Literaturverzeichnis
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MÜNCHNER SEMIOTIK (2015)
ISSN: 2365-0230
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0. Das Gedicht1
Archaїscher Torso Apollos
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.
1
Zitiert nach: R. M. Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 1: Gedichte. 1895 bis 1910.
Hg. v. Manfred Engel u. Ulrich Fülleborn. Frankfurt/M., Leipzig 1996, S. 513
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1. Einleitung
Rilkes Gedicht Archaïscher Torso Apollos, das im Frühsommer des Jahres 1908 entstand,
zählt zu den bekanntesten Werken des Dichters. Das Sonett, das Gottfried Benn als eines der
schönsten Gedichte Rilkes bezeichnete,2 eröffnet den Band ‚Der neuen Gedichte anderer
Teil‘, der Auguste Rodin gewidmet ist. Obwohl kaum ein anderes Werk Rilkes so rege und
vielfältig interpretiert wurde wie das Torso-Sonett, wird die Frage, inwiefern aus der Bildsprache der dargestellten Skulptur die Dringlichkeit einer Lebensänderung erwächst, bis heute
mit zum Teil höchst spekulativen Deutungen diskutiert. Ich möchte ausgehend von einigen
Vorüberlegungen zu den miteinander konkurrierenden Erkenntnistheorien, die zur Zeit der
Jahrhundertwende auftraten, mit Jacques Lacans psychoanalytischem System einen Ansatz
vorstellen, welcher der finalen Aussage des Gedichts auf schlüssige Weise Rechnung trägt.
2.
Neuformierung ontologischer Fragestellungen zur Zeit der Jahrhundertwende
2.1 Problematisierung des Naiven Realismus
Vor dem Hintergrund, dass Rilkes Torso-Sonett in der Kunstepoche des Fin de siècle und
damit in einer Zeit entstand, die von geistigen Umbrüchen und folglich von Erscheinungen
des Verfalls geprägt war, liegt es nahe, in der fragmentierten Skulptur, welche das Gedicht
beschreibt, ein Sinnbild für die Zersprengung der ideellen Leitbilder der ‚Alten Welt‘ zu erblicken. Den Umwälzungen auf sozialer, kultureller und geistiger Ebene vorausgegangen waren ein rasanter Prozess des technischen Fortschritts sowie eine Reihe von naturwissenschaftlichen Entdeckungen, die das konventionelle Weltbild in Frage stellten.
Folgenreich für die Erkenntnistheorie der damaligen Zeit war hierbei die Tatsache, dass die
idealistischen Strömungen, das für das 19. Jahrhundert bestimmend waren, zusehends von
einem mehr oder weniger ‚naiven‘ Realismus abgelöst wurden. Ein solcher beruht per definitionem auf den Axiomen einer statischen Außenwelt und deren Rezipierbarkeit durch das
menschliche Subjekt.3 Eine Wirklichkeit ‚an sich‘, die sich als nicht variabel und geistunabhängig darstellt, aber ungeachtet dessen dem Subjekt jederzeit zugänglich ist, erlaubt es, objektiv wahre Aussagen zu fällen. Dass diese ihrerseits Universalität beanspruchen können,
2
Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausg. Bd. 6 (Prosa 4). Hg. v. Holger Hof. Stuttgart 2001, S. 18
3
Nina Ort: Das Symbolische u. das Signifikante. Eine Einführung in Lacans Zeichentheorie. Wien 2014, S. 11 f.
2
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liegt zum einen in der statischen Identität der Wirklichkeit begründet, zum anderen in der intersubjektiv gegebenen Einsicht in die Gültigkeit des jeweiligen Urteils: tertium non datur.4
Auf dieser dualen Anschauung basiert das klassische Weltbild, das darüber hinaus jeglicher
naturwissenschaftlichen Erforschung der Welt zugrunde liegt.
Dass erkenntnistheoretische Fragestellungen auch in Rilkes Torso-Sonett verhandelt werden,
möchte ich im Fortgang meiner Ausführungen zeigen. Vorerst sei nur darauf verwiesen, dass
dem ‚Sehen‘ im Gedicht eine herausragende Rolle zukommt: Es ist von einem Schauen die
Rede, das trotz des Verlustes der Augenäpfel der Skulptur noch fortbesteht, so heißt es auch
noch zuletzt, dass der Torso keine Stelle aufweist, die […] nicht sieht. Ferner handelt es sich
um einen Apollo-Torso, und Apollo tritt nicht nur als Gott der Künste und der Weissagung in
Erscheinung, sondern auch als Spender eines göttlichen Lichtes, das zur Erkenntnis befähigt.
So kommt es nicht von ungefähr, dass sich Sokrates in Platons Dialogen immer wieder auf
diesen Gott beruft.5
Dass zur Zeit der Jahrhundertwende eine Stimmung der Nervosität und der Verlorenheit vorherrschte, ist vor allem auf das physikalistische Weltbild zurückzuführen, das sich angesichts
der Erfolge, welche die Naturwissenschaften verbuchen konnten, etabliert hatte. Indem dieses
sämtliche metaphysisch begründete Gewissheiten wie Geist, Seele und Person in Frage stellte,
trieb es eine konsequente Entzauberung des bestehenden Welt- und Menschenbildes voran.
Stets war es hierbei die Perspektive des Naiven Realismus, von der aus der Absolutheitsanspruch des physikalistischen Erklärungsmodells gerechtfertigt schien.
Vieles freilich lässt sich gegen den Naiven Realismus einwenden: So setzt dieser, indem er
eine Annäherung an die ‚reine‘ Wirklichkeit intendiert, diese schon immer schon als bekannt
voraus.6 Auch steht dem Postulat einer intersubjektiv einheitlich gegebenen Wahrnehmung
eine jahrhundertelange Tradition des Skeptizismus entgegen. Als besonders problematisch
stellt sich allerdings die Tatsache dar, dass die Realität der menschlichen Innenwelt vom
Blickpunkt des Naiven Realismus nicht erfasst wird, zumal die Außenwelt hierzu keinen An 4
N. Ort 2014, S. 12
So z. B., wenn Sokrates sich im frühen platonischen Dialog ‚Phaidon‘ als einen ‚Diener Apollos‘ bezeichnet,
und die Rede davon ist, dass Sokrates ein Prooimion auf diesen Gott gedichtet habe. In der ‚Apologie‘ scheint
sich Sokrates beinahe ständig auf Apollo zu beziehen, ohne ihn dabei auch nur einmal namentlich zu erwähnen.
Er beruft sich lediglich an einer Stelle auf den ‚Gott von Delphi‘. Die Tatsache, dass Sokrates sich auch im platonischen Dialog ‚Kriton‘ mehrere Male zu ‚dem Gott‘ bekennt und es im ‚Timaios‘ heißt, dass es einen Gott
gibt, der über allen anderen Göttern steht, hat in der Forschung zu der These geführt, dass Platon schon früh den
Glauben an einen einzigen Gott vertreten hat, der unter dem Namen Apollos in sein Werk Eingang gefunden hat.
6
Siehe hierzu: Heinz v. Förster: Entdecken oder Erfinden. Wie läßt sich Verstehen verstehen? In: Einführung in
den Konstruktivismus. Hg. v. Heinz Gumin u. Heinrich Meyer. München 1992, S. 41-88
3
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haltspunkt liefert. Alle realistischen Positionierungen gegenüber dem Geistigen münden entweder in dessen Reduktion auf organische Prozesse, wenn nicht gar in dessen Elimination.
Unter dieser Bedingung aber gerät die Annahme eines wahrnehmenden Subjekts ihrerseits in
Rechtfertigungsnot; denn wie sollte ein Subjekt die Wirklichkeit reflektieren, wenn diesem
nichts bewusst ist? Die Entscheidung darüber, ob der subjektiven Erfahrungswelt oder einer
geistunabhängigen Außenwelt das Primat für eine Begründung der Wirklichkeit zuzusprechen
ist, wird zu einer philosophischen Streitfrage,7 die in der Klassischen Moderne ins Äußerste
drängt.
2.2 Empiriokritzismus: die Dekonstruktion des Ich
Einen Versuch, dieses Dilemma zu überwinden, unternahm der österreichische Physiker Ernst
Mach. Mit seinem wissenschaftstheoretischen Werk ‚Analyse der Empfindungen und das
Verhältnis des Physischen zum Psychischen‘ begründete er die damals in intellektuellen Kreisen sehr wirkmächtige Theorie des Empiriokritizismus. Dieser zufolge seien die einzigen, und
somit zugleich die fundamentalsten Bausteine der Wirklichkeit allein die unmittelbar gegebenen inneren und äußeren Eindrücke, die Mach vorzugsweise als ‚Elemente‘ bezeichnet. Alle
weiteren Annahmen, wie die einer Dichotomie von Innen- und Außenwelt oder die einer Subjekt-Objekt-Relation, besäßen demnach zwar einen praktischen, aber keinen wissenschaftlichen Wert, zumal ihnen nichts in der Realität entspreche.8 Es handle sich dabei um bloße Abstraktionen, die nötig seien, um der Abfolge der Elemente in Zeit und Raum eine berechenbare Struktur zu verleihen. Die Welt könne jedoch vollständig auf die in ihr wahrgenommenen
visuellen, auditiven, geruchlichen und taktilen Reize reduziert werden. Eine statische, allein
mit sich selbst identische Wirklichkeit ‚hinter‘ diesen Elementen ist Mach zufolge ein reines
Gedankenkonstrukt. Somit tritt ein nicht mehr weiter analysierbarer, neutraler Monismus des
Unmittelbaren zu Tage, oder um mit Mach selbst zu sprechen:
„Somit setzen sich die Wahrnehmungen sowie die Vorstellungen, der Wille, die
Gefühle, kurz die ganze innere und äußere Welt aus einer geringen Zahl von
gleichartigen Elementen in bald flüchtiger, in bald festerer Verbindung zusammen.“9
7
Jürgen Mittelstraß: Der Mensch, das Wissen u. das Leben. 4 Vorlesungen. München 2011, S. 88 ff.
Peter Kampits: Zwischen Schein u. Wirklichkeit. Eine kleine Geschichte der österreichischen Philosophie.
Wien 1984, S. 118
9
Ernst Mach: Analyse der Empfindungen u. das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. 9. Aufl. Jena
1922, S. 17
4
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Nun hat die Feststellung, dass die Elemente bald „flüchtig“, bald „fest“ sind, sie also in ihrer
Kontinuität variieren, weitreichende Konsequenzen, und zwar dahingehend, dass Dinge im
eigentlichen Sinne entsprechend der empiriokritizistischen Theorie gar keine Realität beanspruchen können. Dinge dürfe man sich nicht als selbstständige Phänomene denken, sondern
höchstens als Komplexe von Elementen, die über einen längeren Zeitraum kopräsent sind:
„Das Ding, der Körper, die Materie ist nichts außer dem Zusammenhang der Elemente, der
Farben, Tönen, usw. […].“10 Doch damit nicht genug: denn das, was auf das Ding zutrifft,
beziehungsweise auf das, was man vormals dafür halten mochte, überträgt Mach auch auf das
menschliche Individuum: Wenn die Trennung zwischen Ich und Welt aufgehoben ist, oder
anders formuliert, Ich und Welt zu einer neutralen Dimension zusammenfallen, und wenn
innerhalb dieser Dimension keine Kontinuität besteht, so erweist sich auch das Subjekt in dem
Anspruch, eine in sich abgeschlossene Größe darzustellen, als Illusion. Mach erörtert dies
anhand eines Beispiels:
„Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente […]. Die Elemente ‚bilden‘
das Ich. ‚Ich‘ empfinde Grün, will sagen, daß das Element Grün in einem gewissen Komplex von anderen Elementen (Empfindungen, Erinnerungen) vorkommt.
Wenn ‚ich‘ aufhöre Grün zu empfinden […], so kommen diese Elemente nichtmehr in der gewohnten geläufigen Gesellschaft vor. Damit ist alles gesagt.“11
Das Ich sei demnach nur eine „ideelle denkökonomische, keine reelle Einheit“12. Die zentrale
Aussage von Machs Ausführungen lautet schließlich: „Das Ich ist unrettbar“13. Von einer
Welt, die mit den Begriffen von Ding und Ich ihre nach traditionellem Verständnis fundamentalsten Konstanten aufgegeben hat, verbleibt im Grunde nichts mehr als ein sich ständig verändernder Bewusstseinsstrom, ein Klang- und Farbenfluss durch Zeit und Raum. Darin mündet denn auch Machs Fazit:
„Die Farben, Töne, Räume, Zeiten... sind für uns vorläufig die letzten Elemente
[…], deren gegebenen Zusammenhang wir zu erforschen haben. Darin besteht die
Ergründung der Wirklichkeit.“14
Auch wenn Mach mit der Theorie des Empiriokritizismus nur einen wissenschaftstheoretischen Ansatz etablieren wollte, fand er breites Echo unter den Literaten der Wiener Moderne;
unter ihnen die Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal und Hermann Bahr, die Vorlesungen
bei Mach besuchten. So glaubte Bahr, in Machs ‚Analyse der Empfindungen‘ den Ausdruck
10
E. Mach 1922, S. 5
Ebd. S. 19
12
Ebd. S. 19
13
Ebd. S. 20
14
Ebd. S. 24 f.
11
5
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einer geistigen Grundstimmung unter den europäischen Intellektuellen wiederzuerkennen:
Machs Weltanschauung galt ihm als eine „Philosophie des Impressionismus“, die eine „geistige Einheit“ mit den Werken Manets, Degasʼ und Renoirs aufweise.15
Diese Auffassung Bahrs hat einiges für sich: Machs Konzept von einer Kopräsenz von sinnlichen Eindrücken, aus denen sich alles Seiende zusammensetzt, findet sich in der impressionistischen Malerei anhand der Technik, einen Gegenstand aus einer Pluralität einzelner Farbtupfen hervortreten zu lassen, geradezu sinnbildlich umgesetzt. Nähert sich der Betrachter dem
Bild bis auf eine Hand breit, so ist das Resultat auf die gleiche Weise ernüchternd, wie die
Schlussfolgerungen, die Mach aus seiner Analyse der menschlichen Wahrnehmung zieht: Das
Vorgefundene offenbart sich als gegenstandslos, es löst sich gleichsam bruchstückhaft in seine einzelnen Elemente auf. Bewegt man aber nur ein paar Schritte zurück, so treten diese diffusen Eindrücke wie von Zauberhand miteinander in Interaktion und geben somit ein bildliches Objekt zu erkennen, das den Betrachter in die Rolle eines Subjekts zurückversetzt. Solange sich dieses Objekt jedoch, analog zu Machs empiriokritizistischen Weltbild, als illusionär erweist, steht auch der klassische Subjektbegriff infrage. Diese Einsicht scheint sich auch
in Bahrs Aufsatz über die „Unrettbarkeit des Ich“ widerzuspiegeln:
„Das Ich ist unrettbar, Die Vernunft hat die alten Götter umgestürzt und unsere
Erde enttrohnt. Nun droht sie auch uns zu vernichten. Da werden wir erkennen,
daß das Element des Lebens nicht die Wahrheit ist, sondern die Illusion. Für mich
gilt nicht, was wahr ist, sondern was ich brauche, und so geht die Sonne doch
noch auf, die Erde ist wirklich und Ich bin Ich.“16
Die Gedanken- und Gefühlswelt des Subjekts war angesichts eines Primats des Partikulären
gegenüber dem Universalen mit der Außenwelt nicht mehr in Einklang zu bringen; und dies
umso mehr, als die immer kleiner werdenden Einheiten, wie etwa Zellen, Atome oder eben
‚Elemente‘, in die sich die Wirklichkeit unter empirische Methode unterteilen ließ, fortan als
die fundamentalen Bausteine der Wirklichkeit zu gelten hatten. Das Gefühl eines irreversiblen
Weltzerfalls führte in der Kunstszene um 1900 zu dem Aufkommen eines ästhetischen Fragmentarismus, zu dessen Vertretern auch der Bildhauer Auguste Rodin zählte, unter dessen
unmittelbarem Einfluss Rilke stand.
Die zahlreichen Torsi, die aus Rodins Händen hervorgingen und womöglich die Vorlage für
Rilkes Sonett darstellten, lassen sich jedoch nicht nur als Sinnbilder der verlorenen Vollkommenheit der ‚Alten Welt‘ interpretieren: So differenziert bereits Friedrich Schlegel, der die bis
15
16
Hermann Bahr: Dialog vom Tragischen. Hg. v. Gottfried Schnödl. Weimar 2010, S. 53
H. Bahr: Dialog vom Tragischen, S. 47
6
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heute einzige konsequente Theorie des modernen Fragmentarismus entwickelte, zwischen
‚Fragmenten aus der Vergangenheit‘ und ‚Fragmenten aus der Zukunft‘.17 Bei letzteren handelt es sich um absichtlich bruchstückhaft hervorgebrachte Kunstobjekte, deren Ganzheit sich
dadurch einlösen lässt, dass ihre Leerstellen als Freiräume für die Imagination des Rezipienten fungieren. Die Größen von Einheit und innerer Abgeschlossenheit werden, analog zur
Theorie der impressionistischen Malerei, durch das subjektiv-imaginative Empfinden des
Schauenden – und sei es als bloße Illusion – wieder eingeholt.
2.3 ‚Sonnenhaftes Sehen‘: die Rekonstruktion des Ich
Im Folgenden möchte ich aufzeigen, dass Rilkes Torso-Sonett ebenfalls als ein Dokument der
Subjekt-Orientierung innerhalb der Kunstszene des Fin de siècle gelten kann. Den Hintergrund dafür stellt die Theorie des Symbolismus dar, welche sich in Grundzügen in Rilkes
Schaffen wiederfindet: Die Literaten jener Kunstströmung unternahmen es, die Bruchstücke
der ‚Alten Welt‘ auf sprachlicher Ebene neu zusammenzusetzen. Auf diese Weise etablierten
sich Synästhesie, Neologismen und Chiffren als poetische Ausdrucksmittel. Die Rezeption
der daraus resultierenden hermetischen Ästhetik bewirkt nach Anschauung der Symbolisten
beim Leser das Vermögen, innerlich Einblick in seine Teilhabe an einem ‚Lebensganzen‘ zu
gewinnen.18 Dieses durchziehe die gesamte Welt und sei demnach auch der Quell der Lebendigkeit des Lesers. Die symbolistische Lyrik, die jenen Ursprung allen Lebens sichtbar macht,
fungiere auf diese Weise auch als ein ‚Spiegel der Seele‘ des Menschen.19
Doch wie positioniert sich Rilke gegenüber alldem in seinem Apollo-Sonett? Um dieser Frage
nachgehen zu können, ist es unabdingbar, dem Schauen des Torsos auf den Grund zu gehen.
Hierbei fällt auf, dass sich jenes Schauen zugleich als ein Leuchten erweist. Dies lässt sich
bereits den ersten beiden Versen entnehmen: Wir kannten nicht das unerhörte Haupt, darin
die Augenäpfel reiften. Aber / sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber […]. Die Konjunktion Aber ergibt hier nur Sinn, wenn zwischen dem Fehlen der Augenäpfel des Torsos und dessen Glühen ein Zusammenhang besteht. Noch deutlicher wird die sprechende Instanz, die sich
hinter dem ominösen Wir verbirgt, im Folgenden, indem sie erklärt, dass sein Schauen […] /
17
Peter Horst Neumann: Rilkes Archaischer Torso Apollos in der Geschichte des modernen Fragmentarismus.
In: Fragment u. Totalität. Hg. v. Lucien Dällenbach u. Christiaan L. Hart Nibbrig. Frankfurt/M. 1984, S. 258
Horst Fritz: Symbolismus. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hg. v. Dieter Borchmeyer u. Viktor
Žmegač. Tübingen 1994, S. 364
19
Ebd. S. 364
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sich hält und glänzt. Und damit nicht genug: Wäre dem nicht so, könnte der Bug der Brust
nicht blenden, nicht wie Raubtierfelle flimmern und auch nicht, durch eine über seine steinerne Oberfläche hinausgehende Strahlkraft, aus allen seinen Rändern herausbrechen. Und dies
alles, weil der Torso keine Stelle aufweist, die nicht sieht. Zu sehen bedeutet demnach wie ein
Stern zu strahlen.
Das Motiv des sonnenhaften Sehens ist neuplatonisch. Es entstammt Enneade I.6 des spätantiken Philosophen Plotin, die den Ursprung des Schönen zum Thema hat. An besagter Stelle
heißt es: [...] kein Auge könnte je die Sonne sehen, wäre es nicht sonnenhaft; so sieht auch
keine Seele das Schöne, welche nicht schön geworden ist.“20 Goethe hat diesen Ausspruch in
den ‚Zahmen Xenien‘ in einen gereimten Aphorismus gefasst: Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt es nicht erblicken; / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie
könnt uns Göttliches entzücken?21
Sowohl Plotin als auch Goethe formulieren ihre Aussagen über das sonnenhafte Sehen in einer Konditionalkonstruktion, die sich ähnlich auch in Rilkes Sonett wiederfindet. Daran, dass
Rilke das Theorem des sonnenhaften Sehens kannte, kann kein Zweifel bestehen. So erwähnt
Nietzsche es bereits auf den ersten Seiten der von Rilke intensiv studierten Schrift ‚Die Geburt der griechischen Tragödie‘: „[Apollos] Auge muss ‚sonnenhaft‘ gemäss seinem Ursprunge, sein“.22 Mit der platonischen Gedankenwelt dürfte der Dichter spätestens seit seinem Philosophiestudium im Jahr 1895 vertraut gewesen sein.
Nicht zuletzt erlebten der Neuplatonismus sowie auch die mit diesem verwandte Strömung
der Gnosis zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine kleine Renaissance.23 Ein Grund dafür dürfte
darin bestehen, dass die neuplatonische Lehre einen Ausweg aus dem skizzierten Dilemma
anbietet, das mit dem Naiven Realismus einhergeht. Die Aporie, in die das klassische Weltbild seit Descartes angesichts der unüberbrückbaren Kluft zwischen Innenwelt und Außenwelt
verstrickt ist, wird hier zugunsten eines starken Monismus aufgelöst. Gilt den Konstruktivisten eine Realität ‚hinter‘ der Wahrnehmung eines Subjekts als kontingent und somit unbestimmbar, so gehen die Neuplatoniker einen Schritt weiter, indem sie von der Nichtexistenz
einer solchen Wirklichkeit ausgehen. Darin stimmen sie mit den Vertretern eines subjektiven
20
Plot. enn. I.6. 43. In: Plotins Schriften. Hg. u. übers. v. R. Harder. Bd.1. Hamburg 1956
J. W. Goethe: Zahme Xenien III. In: Sämtliche Werke 13.1. Die Jahre 1820–1826. Münchener Ausg. Hg. v.
Gisela Henckmann u. Irmela Schneider. München 1992, S. 108
22
Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. In: Kritische Studienausg. Bd.1 (Unzeitgemäße Betrachtungen
I-IV, Nachgelassene Schriften 1870-1873). Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1999, S. 28
23
Siehe hierzu Karl Hoheisel, Michael Pauen: Die Ketzer u. die Krise. Zur Eischätzung moderner Strömungen
als gnostisch. In: Hofgeismarer Vorträge 1997. Hg. v. dens. S. 3-26
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Idealismus oder eines Empiriokritizismus überein. Die sinnlich zugängige Welt, in der das
Subjekt lebt, werde vielmehr von dessen Seele hervorgebracht.24
Eine geistunabhängige Wirklichkeit, über die etwas Wahres ausgesagt werden kann, hat schon
Platon bestritten – man sei diesbezüglich an das Höhlengleichnis erinnert: Auf einer Welt, in
die das geistige Licht des Menschen nicht einstrahlt, liegt ein ontologisches Dunkel. Die
Schatten, welche die Gefangenen wahrnehmen, stehen als ‚Negative‘ der wirklichen Dinge
sinnbildlich für deren Abwesenheit. Auch ist der Feuerschein, in dem sie die Umrisse der
vermeintlich existierenden Außenwelt kennen, nicht identisch mit dem Licht des Geistes, das
durch die Strahlkraft der Sonne veranschaulicht wird. Die Höhlenbewohner unterliegen in
ihrer Meinung, es gäbe eine wenngleich geistunabhängige so doch erkennbare Realität außerhalb des Subjekts, einem fundamentalen Irrtum. Im platonischen Sinne ist Wahrheit, gemäß
dem ihr entsprechenden griechischen Begriff alétheia, eine Unverborgenheit.25
Als solche liegt sie nun nicht außerhalb des Subjekts, sondern tief in dessen Innerem begründet. Dies verwundert nicht, zumal Platon das naiv-realistische Konzept einer geistunabhängigen Außenwelt als Kriterium für die Optionen von ‚wahr‘ und ‚falsch‘ verwirft. Entscheidend
ist nun, dass es ihm zufolge nicht primär die sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten eines Dings
sind, die dessen Dasein ausmachen, sondern dessen wesensmäßige Bestimmung; und diese
vermag das Individuum allein über das Reich der Ideen aufzufinden. Diese geistige Sphäre ist
insofern daseinsstiftend, als sie im Subjekt ein Verständnis über das jeweilige Wesen der
Dinge stiftet. Denn diese sind nicht einfach durch sich selbst existent, sondern dadurch, dass
sie jeweils etwas Bestimmtes darstellen: Ein Ding ist durch sein Wesen determiniert, sein
Wesen wiederum durch eine Idee.26 Dieses Geistige, das die Dinge überhaupt erst zu dem
macht, was sie jeweils sind, definiert sich seinerseits sich darüber, dass es den Dingen jeweils
die Eigenschaft verleiht, für etwas gut zu sein. So ist ein Messer dafür gut, zu schneiden, eine
Amphore eignet sich, um Flüssigkeit aufzubewahren, und so weiter. Dieses Gute, durch das
sich alle Ideen auszeichnen, steht im Zentrum des Ideenreichs. Es ist die Idee hinter den
Ideen. Der Sonne ähnelt diese höchste Idee darin, dass nichts ohne sie zu erkennen ist oder
dauerhaft Bestand haben kann.27
Für die Neuplatoniker ist dieses göttliche Urprinzip ‚das Eine‘. Alles, was auf irgendeine
Weise ist, ist darin identisch, dass es jeweils ‚eines‘ ist. Ebenso wie Seiendes nicht ohne die
24
Jens Halfwassen: Plotin u. der Neuplatonismus. München 2004. S. 109 f.
Wolfgang Janke: Plato. Antike Theologien des Staunens. Würzburg 2007, S. 116
26
Michael Bordt: Platon. Freiburg/Br. 1999, S. 90-102
27
Ebd. S. 89 f.
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prinzipielle Annahme des Seins möglich sei, könne nichts existieren, ohne dass sich ‚das Eine‘ an ihm exemplifiziere. Das Eine erweist sich somit gegenüber dem Vielen als ontologisch
primär.28 Auf diese Weise vermag es – entgegen dem Partikularismus physikalistischen Weltbilds – die Ein- und Ganzheit aller Dinge zu garantieren. Je einheitlicher und vollkommener
sich die Dinge darstellen, umso schöner sind sie. Bedeutsam ist nun, dass für die Neuplatoniker das Eine zugleich so etwas wie den ‚metaphysischen Kern‘ des Subjekts ausmacht, der
tief in seinem Innern schlummert. Ohne diesen wäre das Subjekt nicht zu der produktiven
Erkenntnis imstande, welche die Dinge, die in ihrer Gesamtheit die Wirklichkeit ausmachen,
aufscheinen lässt.29
Unter dieser Perspektive wird der oben zitierte Aphorismus Plotins verständlich; vorausgesetzt, man begreift das ‚sonnenhafte Auge‘ als Metapher für die menschliche Seele sowie die
‚Sonne‘ naheliegender Weise als Sinnbild für das neuplatonische Eine: ‚Läge der Seele nicht
das Eine zugrunde, so wäre diese außerstande, auch nur ein einziges Ding zu erkennen, geschweige denn, das Eine selbst.‘ Ferner: ‚Je weiter sich die Seele des Subjekts der Vollkommenheit des Einen annähert, desto klarer kommt dem Subjekt die Vollkommenheit, die sich
an den Dingen exemplifiziert, zu Bewusstsein.
Der ungeheure Wert, den das Eine für den Menschen besitzt, offenbart sich, wenn man sich
für einen Moment vergegenwärtigt, was geschähe, wenn es nicht existent wäre: Das Individuum könnte nichts Einheitliches, nichts Gutes und nichts Schönes mehr erkennen. Von den
Dingen bliebe nicht mehr als ein Kontinuum an flüchtigen Sinneseindrücken; die Welt wäre
von einem Zerfall in verschiede ‚Elemente‘ begriffen und das Ich auf immer verloren. Indem
nun aber die Dinge als real und in sich abgeschlossen anzusehen sind – beziehungsweise: indem das Subjekt an ihnen den Abglanz des Einen zu erblicken vermag, gelangt es an den
Dingen zu einer Spiegelung, die ihm ebendieses Eine als den ‚Kern seiner Seele‘ vor Augen
führt.
Rilke intendiert in seinen Dinggedichten demnach eine kontemplationsmystische Erfahrung
des Rezipienten: Diese vollzieht sich über die Spiegelung am vollkommenen Objekt unter der
Voraussetzung einer dritten, gleichsam göttlichen, daseinsstiftenden Größe. Damit entfernt er
sich vom Normaldiskurs des Symbolismus, demzufolge die Spiegelung vermittels eines
sprachlich-ästhetischen Hermetismus erfolgt. Auch eine sich daran entzündende Einsicht in
28
29
J. Halfwassen 2004, S. 32 f.
Ebd. S. 109-120
10
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einen alles umfassenden Lebensstrom, in welchem ein jeder den „Reichthum seiner Seele“30
(Hofmannsthal) erblickt, ist für Rilke nicht verbürgt: Es scheint ihm vielmehr um eine Spiegelung an der Ein- und Ganzheit der Dinge zu gehen, über die dem Subjekt seine eigene, innerlich fühlbare Ein- und Ganzheit bewusst wird.
Ob es sich bei jenem offenbar neuplatonisch inspirierten Konzept lediglich um eine eskapistisch motivierte Konstruktion handelt, die der als heillos empfundenen modernen Welt lediglich ‚übergestülpt‘ wird, sei einmal dahingestellt. Die Schroffheit, in der sich der letzte Satz
des Torso-Sonetts präsentiert, macht jedoch nicht den Eindruck, als werde hierbei lediglich
ein Fluchtweg in eine ästhetische Traumwelt aufgezeigt.
3. Grundbegriffe von Lacans Theorie
3.1 Spiegelung am Objekt klein a
Um aufzuzeigen, inwiefern sich Lacans psychoanalytischer Ansatz für eine Interpretation des
Torso-Sonetts fruchtbar machen lässt, möchte ich im Folgenden auf einige Strukturmomente
hinweisen, in denen dieser mit dem anthropologisch-ontologischen Modell des Neuplatonismus übereinstimmt. Dabei sei nicht verschwiegen, dass zwischen den beiden Systemen, so
nahe diese auch im Rahmen einer Deutung des Gedichts auch beieinander zu liegen scheinen,
teils gravierende Unterschiede bestehen. So weicht die letztlich konstruktivistische Perspektive, die Lacan in seiner Orientierung an der Kybernetik vertritt,31 unter anderem darin von der
neuplatonischen Lehre ab, dass diese eine intersubjektive Erfahrbarkeit der geistig gestifteten
Wirklichkeit einschließt.
Eine Überschneidung der beiden Systeme offenbart sich hingegen in ihrer monistischen Konzipierung, die jeweils in sich eine triadische Struktur aufweist. So sind im Neuplatonismus die
Dinge, das Subjekt und das schöpferische Prinzip des Einen unter der Domäne des Einheitsgedankens aufs Engste miteinander verwoben. Ähnlich verhält es sich bei Lacan, der den
Dualismus des klassischen Weltbilds gleichermaßen suspendiert und von der Gesamtheit ei 30
Hugo v. Hofmannsthal: Poesie u. Leben. In: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd.11. Hg. v. Herbert
Steiner. Frankfurt/M. 1956, S. 267
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nes Psychismus ausgeht, der in die drei Funktionsebenen von Subjekt, dem Objekt klein a und
dem großen Anderen A unterteilt ist; mit dieser Trias gehen die drei Modi des Daseins, nämlich das Imaginäre, das Reale und das Symbolische einher.
Die Bewusstwerdung des Subjekts vollzieht sich hierbei nicht im Sinne einer sukzessiv voranschreitenden Psychogenese, vielmehr wird hierfür eine zunächst primitive, sodann immer
komplexere Interaktion der genannten Funktionsebenen, die ihrerseits immer schon gegeben
sind, in Anspruch genommen. Ein elementares Moment innerhalb dieser Interaktion stellt das
sogenannte Spiegelstadium dar: Dieses beschreibt einen Vorgang, in dessen Verlauf sich das
Kleinkind im Alter von 6 bis 18 Monaten zum ersten Mal im Spiegel erkennt: In der Begegnung mit sich selbst ‚in der zweiten Person‘ entdeckt das kindliche Subjekt das Phänomen
von Alterität, über das es erst ein Bewusstsein über die eigene Identität gewinnt.32 Im frühkindlichen Gefühl eines Solipsismus sind Welt und Ich ununterscheidbar; erst im Verstehen
des einen gibt sich auch das andere, als das, was es ist, zu erkennen. Dem entspricht Lacans
Feststellung „Das Ich wird geboren in der Referenz auf das du“.33,34
Lacan bezeichnet das Objekt, welches das menschliche Subjekt über ganzes Leben hinweg
begleitet und im Folgenden nicht allein in dessen Ebenbild im Spiegel, sondern auch in anderen Gegenständen aufscheint, als das Objekt klein a. Die Art und Weise, wie sich das Subjekt
zu diesem verhält, variiert stark: Reagiert das Kleinkind auf sein Ebenbild zunächst mit einer
jubilatorischen Begeisterung, so kann diese auch in Feindseligkeit umschlagen: Letztere ist
einerseits auf eine narzisstische Kränkung zurückzuführen, nicht allein in der Welt zu sein,
andererseits auf das Gefühl, in seinem Spiegel-Ich einem Rivalen zu begegnen.35 Dieses Gefühl wird dadurch verstärkt, dass sich der Andere scheinbar durch motorische Perfektion auszeichnet. Jenem Eindruck liegt wiederum durch eine Projektion zugrunde, die vom Imaginä-
32
Ebd. S. 40 f.
Jacques Lacan: Seminar I (1953–1954: Freuds technische Schriften). Übers. v. Werner Hamacher. Hg. v.
Jacques Alain Miller. Weinheim, Berlin 1990. S. 218.
34
Um nichts anderes als um eine Überwindung eines Solipsismus handelt es sich auch, wenn innerhalb einer
Welt, die sich dem empiriokritizistischen Konzept entsprechend als ein loses Kontinuum kopräsenter Elemente
darstellt, die Größe des Dings zurückkehrt: Indem ein Komplex von Elementen als einheitlich erkannt wird,
vermag sich das Subjekt daran auf sein eigenes Einssein hin zu spiegeln, das sich nach neuplatonischer Vorstellung auf dem ‚Seelenkern‘ des Subjekts, dem Einen, gründet. Erst auf diese Weise ist das Subjekt überhaupt
imstande, seine vormalige Identität mit der Welt aufzugeben. Der Bewusstseinsstrom gewinnt an Kontur: Ding
und Subjekt offenbaren sich als eigenständige Größen. Ebenso wie bei Lacan erweist sich also auch hier die
Einheit des Objekts die Minimalbedingung für Subjektwerdung.
35
N. Ort 2014, S. 41-44
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33
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ren des Subjekts ausgeht – einem emotiven Vermögen, das sich in der Faszination durch Anscheinhaftes ausdrückt.36
Das Subjekt hingegen fühlt sich seinem Kontrahenten im Spiegel notwendigerweise unterlegen, denn paradoxerweise sind alle Erfahrungen, durch die es sich konstituiert, Verlusterfahrungen: Durch das Auftreten des ‚Anderen‘ wurde das Kleinkind seiner solipsistischen Omnipräsenz und -potenz beraubt. Jeder Versuch des Subjekts, sein Gegenüber auszulöschen oder
sich mit diesem auf seine ursprüngliche Ganzheit hin zu vereinen, ist zum Scheitern verurteilt:
Die Existenz des Anderen ist nur Illusion. Solange dem Subjekt jedoch weder das eine noch
das andere gelingt, nimmt es sich als ‚gespalten‘ wahr. Dieser Eindruck geht mit dem Gefühl
eines Mangels einher, das beim Anblick des scheinbar vollkommenen Anderen das Begehren
des Subjekts hervorruft.37 Das Dasein des Individuums ist nunmehr durch seine ‚Ex-sistenz‘
bestimmt: durch ein lebenslanges und, wenngleich aussichtsloses, so doch Subjektivität stiftendes Streben nach einer Einholung des immer schon verlorenen Objekt klein a.38
3.2 Funktion von Auge und Blick
Ich möchte an dieser Stelle noch auf die Implikationen eingehen, die die Thematik der Spiegelung im Kontext mit dem von Lacan beschriebenen ‚Blick des Objekts‘ hat; vor allem, weil
sich derlei auch im Torso-Gedicht auffinden lässt. In diesem Zusammenhang ist vor allem
eine Aussage Lacans von Bedeutung: „Über das Auge triumphiert der Blick“39. Mag das Auge hier für das organische Wahrnehmungsvermögen des Subjekts stehen, so ist der Blick etwas, das dynamisch auf ein Gegenüber ausgreift; etwas, das zwischen Subjekt und Objekt zu
einander in ein Verhältnis setzt, welches sich durch Faszination und Begehren auszeichnet.
Von Leidenschaft erfüllt geht der Blick des Subjekts auf das Objekt klein a über, spiegelt sich
daran und fällt auf das Subjekt zurück, dessen Auge sich somit im Bann seines Gegenübers
befindet. Dies führt dazu, dass das Individuum nach Lacan in jedem Moment selbst ein Geschautes ist: „Ich sehe nur von einem Punkt aus, bin aber in meiner Existenz von überall her
erblickt.“40 An weiterer Stelle heißt es:
36
Ebd. S. 50 f.
Ebd. S. 52
38
Ebd. S. 49
39
Jacques Lacan: Seminar XI (1964: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse). Übers. v. Norbert Haas. Hg. v.
Jacques Alain Miller. Weinheim, Berlin 1987, S. 109
40
Ebd. S. 78
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„Ich meine […], daß wir im Schauspiel der Welt angeschaute Wesen sind. Was
uns zum Bewußtsein macht, das setzt uns auch mit demselben Schlag ein als speculum mundi. […] In diesem Sinn erscheint uns das Schauspiel der Welt als allsehend. Eben da ist jene Phantasie, die wir in der Perspektive Platons finden, die
Phantasie eines absoluten Wesens, dem die Eigenschaft des Allsehenden übertragen ist.“41,42
Es findet sich also auch bei Lacan die Gleichsetzung von Blick und Licht, die sich der Begriff
des sonnenhaften Sehens zu Eigen macht. Vorauszuschicken ist hierbei, dass Lacan zwei Arten des Sehens unterscheidet, von der die eine die Funktion des Auges, die andere die Funktion des Blicks beschreibt. Erstere richtet sich nach den Gesetzen des perspektivischen Sehens
im dreidimensionalen Raum, wie sie in der frühen Neuzeit entdeckt und von der Malerei angewendet wurde. Zwischen Objekt und dem Sehorgans eröffnet sich in kegelförmigem Umriss der Raum, innerhalb dessen sich der geschaute Gegenstand dem Auge perspektivisch darbietet.43
Das Sehen im Ausgang der Blickfunktion, das für Lacan unter von größerem Interesse ist,
verkehrt die Architektur des beschriebenen Augensehens gewissermaßen in ihr Gegenteil:
Hier befindet sich nicht das sehende Subjekt, sondern das Objekt am spitzen Ende des Raumkegels. Dieses projiziert als schimmernd blendender Lichtpunkt seinen ‚Blick‘ auf eine Fläche, die Lacan als ‚Tableau‘ bezeichnet; und dieses schließt das Subjekt, das Lacan zufolge ja
stets ein angeschautes ist, mit ein. Das Subjekt selbst wäre dem teils begehrend, teils aggressiv anmutenden ‚Blick‘ des Objekts klein a – der freilich im Grunde sein eigener ist – hilflos
ausgeliefert, könnte es sich nicht hinter einem ‚blinden Fleck‘ innerhalb des Sehkegels verbergen. Diesem kommt entsprechend seiner Funktion, den Blick des Objekts abzufangen, der
Begriff ‚Schirm‘ zu.44
Lacan illustriert die Funktionsweise des Blickverhältnisses von Subjekt und Objekt anhand
eines persönlichen Erlebnisses, das er während einer Bootstour auf dem Meer hatte: Er befand
sich hierbei in der Gesellschaft eines kleinen einheimischen Jungen namens Petit-Jean, der ihn
auf eine im Wasser treibenden, schimmernden Sardinenbüchse aufmerksam machte und dies
41
Ebd. S. 81
Hier offenbart denn auch die Grenze der Überschneidungen zur Theorie der Neuplatoniker: Denn diesen gilt,
anders als dem Atheisten Lacan, das ‚Schauen‘ der Gottheit, in dem alle Dinge zu Tage treten, als real. Das
Vermögen, sich an den Dingen zu spiegeln, setzt voraus, dass sich an diesen das Eine manifestiert, denn sonst
könnte man in ihrer Betrachtung zu keiner Einsicht über sich selbst gelangen. Indem sich die Dinge aber nun als
einheitlich, das heißt als Exemplifikationen des Einen zu erkennen geben, vermag sich das Subjekt dem ‚sonnenhaften Sehen‘ zu unterstellen, das von ihnen ausgeht, wodurch es auf eine qualitativ höherwertige Stufe des
Daseins erhoben wird.
43
J. Lacan: Seminar XI, S. 97 f.
44
J. Lacan: Seminar XI,. S. 102 f.
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mit den Worten „Sie […] sieht dich nicht.“ kommentierte. Lacan sieht darin eine Bestätigung
seiner Theorie der Blickfunktion, die ihrerseits auf der Theorie der Subjektspiegelung beruht:
„Zunächst, wenn es einen Sinn haben soll, das Petit-Jean mir sagt, daß die Büchse
mich nicht sehe, so deshalb, weil sie mich in einem bestimmte Sinn mich tatsächlich anblickt, angeht. Sie blickt mich an (me regarde) auf der Ebene des Lichtpunkts, wo alles ist, was mich angeht (me regarde), und das ist hier durchaus
nicht als Metapher gemeint.“45
Dass die Büchse ihn zuletzt doch nicht anblickte, erklärt sich Lacan damit, dass er vor den
Einheimischen des Ortes als junger Intellektueller ein so „unsäglich komisches Bild“ abgegeben habe, dass er sich, um der Peinlichkeit des ‚Gesehen-Werdens‘ zu entgehen, intuitiv hinter den lichtdurchlässigen Schirm begeben habe.46 Wer jedoch vor dem lichten Blick des Objektes klein a flieht, liefert sich zugleich dem – von Lacan an dieser Stelle nicht weiter thematisierten – Verdacht aus, im Gefühl seiner Subjektivität nachzulassen.
3.3 Der große Andere
Die erstmalige Begegnung mit dem Objekt klein a bliebe in der Schwere seiner Bedeutung für
das frühkindliche Subjekt undurchschaubar und somit völlig unreflektiert, gäbe es innerhalb
des psychischen Systems nicht noch eine weitere Instanz, die dem Geschehen eine diskursive
Ordnung zugrunde legt. Lacan bezeichnet diese als den großen Anderen A. Jener ‚be-deutet‘
das Faktum der Entdeckung von Alterität: letzteres in einem doppelten Sinne, nämlich einerseits darin, dass er selbst ein Anderes darstellt, andererseits darin, dass er die Nicht-Identität
des Subjekts mit dem Objekt klein a bestätigt.47 In der Phase des Spiegelstadiums wird der
große Andere in der Regel mit der Mutter des Kleinkindes identifiziert, die dieses vor den
Spiegel hält; diese Rolle kann jedoch auch eine andere Person einnehmen.
Dieser dritten Funktionsebene fällt es zu, das Subjekt in seiner Rolle, die dieses vor aller Reflexion schon immer innehatte, zu beglaubigen. Ferner bezeugt sie die Gespaltenheit und den
Mangel des Subjekts.48 Hatte sich letzterer zuvor allein aus dem imaginären Faszinosum der
scheinbaren Vollkommenheit des Anderen ergeben, so wird er nun retrospektiv besiegelt. Der
große Andere verleiht den zunächst rein affektiv wahrgenommenen Strukturen des Subjekt-
45
Ebd. S. 102
Ebd. S. 102 f.
47
N. Ort 2014, S. 56 f.
48
N. Ort 2014, S. 57 f.
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seins – allerdings nur im zeichenhaft-symbolischen Sinne – Wirklichkeit und Gültigkeit.49
Kurzum: das, was sich auf vorreflexiver Ebene als Fremd- und Selbstidentität ‚präsentiert‘,
wird durch ihn ‚repräsentiert‘. Was sich dem Subjekt im Modus des Imaginären scheinhaftphantasmatisch offenbart, übersetzt der große Andere in einen Modus des Symbolischen, und
letzterer wirkt seiner Natur nach repräsentierend, definierend, ordnend und signifizierend.50
3.4 Das Reale
Die dritte Funktionsebene in Lacans Psychismus-Modell ist das Reale. Es handelt sich hierbei
um eine schwer zu bestimmende Größe, die zudem als Begriff mit der Realität in keinerlei
Beziehung steht. Sie ist weder dem Imaginären noch dem Symbolischen zugehörig; ist weder
Präsentation noch Repräsentation. Das Reale bezeichnet vielmehr eine Leerstelle zwischen
den Bereichen des Imaginären und des Symbolischen, die eben aufgrund der Tatsache, dass
sie nichts anderes als ein Spalt, der diese beiden Bereiche voneinander trennt, keinen intrinsischen Wert besitzt.51 Indem es ganz und gar unbestimmbar, unbeschreiblich, unsinnig und
somit weder vom Subjekt imaginierbar noch durch den großen Anderen signifizierbar ist,
wirkt seine Präsenz auf das Individuum monströs, unerträglich und unmöglich.52
Lacan bedient sich vielfältiger Bilder, um dieses per definitionem undefinierbare Etwas fassbar zu machen: Mithin gilt es ihm als der ‚Spiegel‘, in dem das Subjekt sich selbst als das
Objekt klein a erblickt. Diese Metapher erweist sich in doppelter Hinsicht als äußerst treffend:
Erstens insofern, als die Fläche eines Spiegels, ebenso wie das Reale, kein eigenes Aussehen
besitzt – sie ist ‚leer‘. Zweitens dahingehend, dass sich das Subjekt an diesem Spiegel
‚bricht‘.53 Das Reale markiert die Stelle, an der das Subjekt zerbrochen, beziehungsweise gespalten ist – und bedeutet somit auch den Balken, mit dem Lacan das Subjekt-Kürzel in Anbetracht der Spaltung versieht ($).54 Je weiter sich jener Riss nun ausdehnt, desto größer ist die
49
Innerhalb der triadischen Struktur des neuplatonischen Modells fällt dieser Part dem Einen zu; denn dieses ist
die göttliche Lichtquelle, von dem die Wirklichkeit ‚gesehen‘, beziehungsweise ‚gelichtet‘ wird. Durch diesen
Prozess, der ‚über‘ beziehungsweise tief ‚im‘ Subjekt seinen Ausgang nimmt, nehmen die Dinge in ihrem
Wesen – das heißt entsprechend der ihnen zugrundeliegenden Ideen – Gestalt an. Die Dinge erscheinen über den
produktiven Vorgang ihrer Erkenntnis als das, ‚was‘ sie sind. Der Ausgangspunkt dieser form- und
konturgebenden Einsicht in die Wirklichkeit ist das Eine. Vom großen Anderen unterscheidet sich diese Größe
freilich darin, dass sie das Vermögen beansprucht, auf diese Weise die Wirklichkeit ‚an sich‘ zu erschaffen, und
nicht nur eine pragmatisch funktionierende ‚Wirklichkeit‘ im Sinne eines geordneten Zeichensystems.
50
N. Ort, S. 58
51
Ebd. S. 59 f.
52
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53
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54
Ebd. S. 48
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Kränkung, die das Individuum erleidet. Diese kann schlimmstenfalls zum Verlust des Ich führen; nämlich dann, wenn das Reale das Imaginäre und Symbolische gänzlich überdeckt.
4.
Anwendung auf das Gedicht
4.1
Der Torso als das Objekt klein a
4.1.1 Gleichsetzung von Schauen und Geschaut-Werden
Der hier im Ansatz dargestellte dreigliedrige Psychismus Lacans eignet sich auf faszinierende
Weise als Paradigma für eine Entschlüsselung von Rilkes Torso-Sonett. Die einzige Bedingung hierfür ist, dass der Apollo-Torso durchgehend mit dem Objekt klein a identifiziert wird.
Dieses ist ganz im Sinne der Blechbüchse, die Lacan das Gefühl vermittelte, dass sie ihn anblickte, ein schimmerndes: Der Torso glüht noch wie ein Kandelaber, / in dem sein Schauen
nur zurückgeschraubt, / sich hält und glänzt.
Ein Schauen, das ‚zurückgeschraubt‘ ist, erweist sich als rätselhaft und widerinnig. Sofern
dieses Schauen aber mit der Flamme einer Kerze – etwa der eines Kandelabers – identisch ist,
lässt sich der Gedanke, der sich hinter diesem Bild verbirgt, rekonstruieren: Zu Rilkes Zeiten
ließen sich nämlich manche Kerzendochte vermittels einer Schraube in das Kerzeninnere einfahren, wenn die Flamme zu hoch aufflackerte.55 Jene Identität von Schauen und Glänzen, die
sich bei Lacan ebenso wie in Torso-Gedicht findet und die mir mit dem altehrwürdigen Terminus ‚sonnenhaftes Sehen‘ treffend beschrieben scheint, ist in Rilkes Schrifttum noch öfter
antreffen: So sagt Rilke in seinem ‚Vortrags über Rodin‘ an einer Stelle, es sei ihm, als würfen die Augen seiner Hörerschaft, „wie die Linsen einer Laterna magica“, über ihn hinweg,
„einen riesigen Balzac“ – gemeint ist hiermit eine Statue aus der Werkstatt Rodins – „an die
Wand“56. Andernorts ist davon die Rede, dass sich an der Oberfläche „der wunderbarsten Antiken“ aus der Sammlung Rodins „tausend Augen aufschlagen“.57 Auf dasselbe Phänomen
scheint Lacan bezugzunehmen, wenn er davon spricht, dass er in seiner „Existenz von überall
her erblickt“ sei.58 Und dieses ‚Dasein im Blick des Anderen‘ begegnet schließlich auch im
Torso-Gedicht, wenn es heißt […] da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht.
55
Karl Kerényi: Auf Spuren des Mythos. München (u. a.) 1967, S. 290
R. M. Rilke: Werke. Hg. v. Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Bd. 4 (Schriften;
Auguste Rodin, Zweiter Teil). Frankfurt/M, Leipzig 1996, S. 462
57
An Clara Rilke. Brief vom 15. 9.1905. In: Briefe aus den Jahren 1902 bis 1906. Hg. v. Ruth Sieber-Rilke u.
Carl Sieber. Leipzig 1929, S. 258
58
s. Anm. 40
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56
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Wendet man Lacans Theorie von der Funktion des Blickes auf das Geschehen im Gedicht an,
so erweist sich das Lyrische Du, das sich im sechsten Vers zu erkennen gibt, als das Subjekt,
von dem der Blick auf die Skulptur übergeht. Dieser Blick wird in der Folge über den ‚Spiegel‘, den der Torso gemäß seiner Identität mit dem Objekt klein a darstellt, auf das Lyrische
Du zurückreflektiert. Dieses wird sich so überhaupt erst seiner selbst bewusst. Das ErblicktWerden ist die erste Erfahrung seines Subjektseins, und diese hallt in vielfältiger Wiederholung über das ganze Leben des Individuums nach. Bezeichnender Weise ist das Subjekt zu
Beginn des Gedichts, und dies auch im grammatikalischen Sinne, noch kein ‚Ich‘ oder ‚Du‘,
sondern ein Wir. Den Subjektpart als Du übernimmt der Schauende erst im allerletzten Vers.
Wer sich aber hinter diesem Wir verbirgt, ist ominös. Fast möchte man meinen, es handle sich
dabei um die Trias des Imaginären, des Realen und des Symbolischen, zumal der Lacansche
Psychismus nur in dieser triadischen Struktur funktioniert.
Wenn sich nun der Satz da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht an das Subjekt richtet, so bedeutet dies, dass jenes an diesem Punkt sein Selbstsein voll entfaltet hat. Zugleich kann man,
nicht zuletzt angesichts der hier auftretenden Häufung heller Vokale (die dich nicht sieht),
davon ausgehen, dass dem Lyrischen Du hier kraft der Helligkeit, die der Blick des Torsos
spendet, im wahrsten Sinne des Wortes ‚ein Licht aufgeht‘: Du muss dein Leben ändern. Dass
diese Einsicht durchaus im Sinne einer Konklusion aufzufassen ist, erschließt sich einerseits
anhand dem argumentative Duktus des Gedichts, der in Form der Adverbien Aber, Sonst und
denn zu Tage tritt, andererseits anhand der Sonettform, die nach gängiger Deutung einen „lyrischen Syllogismus“ darstellt.59
4.1.2 Das Torso-Haupt als Trugbild
Deutet man Rilkes Torso-Gedicht im Kontext mit dem lebenslangen und ubiquitären Gefühl
des Subjekts, durch seine Umwelt erblickt zu werden, so muss man sich stets vergegenwärtigen, dass dieser Eindruck rein illusionär ist. Das Objekt klein a befindet ‚im Spiegel‘; das
Subjekt ist also in Wirklichkeit seinem eigenen Blick ausgesetzt. Lacan liefert mit diesem
Konzept retrospektiv eine weitere Bestätigung der von Hermann Bahr formulierten traumatischen Einsicht, „dass das Element des Lebens nicht die Wahrheit ist, sondern die Illusion“60.
59
60
Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt/M. 1964, S. 33
s. Anm. 16
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Wie bereits dargelegt, trifft Bahr diese Aussage im Zusammenhang mit dem künstlerischen
Phänomen des Impressionismus.
Wenn Rilkes Dinggedichte als impressionistisch zu bezeichnen sind, dann vor dem Hintergrund, dass diese formal und stilistisch keineswegs so konturreich und formbestimmt gestaltet
sind, wie die Plastiken Rodins oder die Gemälde Cezannes. Vielmehr wird der Leser mit
Chiffren (unter der Schultern durchsichtigem Sturz), Neologismen (Augenäpfel) und Polysemie (‚Sturz‘, ‚unerhört‘) konfrontiert; ferner ist die Bildhaftigkeit des Ausdrucks stellenweise
so dicht, dass ein Verständnis zunächst schwer fällt. Die Vergegenwärtigung des poetisch
visualisierten Dings vollzieht sich vor dem ‚inneren Auge‘ des Lesers. Immer wieder wird
Rilkes ‚Sachliches Sagen‘ daher mit Edmund Husserls Phänomenologie kontextualisiert, die
einen Weg ‚zu den Sachen selbst‘ verfolgt: Die phänomenologische Reduktion des flüchtigen
Kontinuums an Eindrücken zugunsten eines klar aufscheinenden, ästhetischen Gegenstands
vollzieht sich demnach mit jenem Augenblick des Umschlags,61 den Rilke als eine „Verwandlung ins Herrliche“62 bezeichnet. Diese inszeniert er auch im Torso-Sonett, und zwar im zweiten Terzett unmittelbar vor dem Schlusssatz, denn hiermit ist der Punkt erreicht, an in dem
sich der Torso dem Lyrischen Du ganz hergibt. Und dieser Augenblick ist es auch, an dem die
Spiegelung ihren Höhepunkt erreicht.
Das Programmatik der Wahrnehmung, die sich hieraus ergibt, ist für den Leser und das gedichtimmanente Subjekt identisch: Es geht nicht um die passive Rezeption der Ekphrasis des
Torsos, sondern um dessen aktive Erzeugung in der subjektiven Schau. Wenn es daher eingangs heißt Wir kannten nicht das unerhörte Haupt, / darin die Augenäpfel reiften, so handelt
es hierbei nicht um einen archäologischen Befund, sondern um ein raffiniertes Spiel mit der
Wahrnehmung des Rezipienten: das unerhörte Haupt und seine Augenäpfel sind verloren –
doch es ist gerade dieser Bescheid, der beides in der Fantasie des Rezipienten aufscheinen
lässt. Letzterer unterliegt somit einer Illusion: Er meint genau um das vormalige Aussehen des
Torsos zu wissen, doch er hatte – und hat – nie Gelegenheit, es kennenzulernen. Dieses Paradox veranschaulicht das Verhältnis von Subjekt und Objekt klein a auf gelungene Weise: Ersteres ist sein Leben lang auf die Einholung seines Kontrahenten ausgerichtet, doch wird es
diesem nie auch nur einen Schritt näher kommen.
61
Wolfgang Müller: R. M. Rilkes ‚Neue Gedichte‘. Vielfältigkeit eines Gedichttypus. Meisenheim am
Glan 1971, S. 25-30
62
An Jakob Uexküll. Brief vom 19. 8. 1909. In: Briefe aus den Jahren 1907 bis 1914. Hg. v. Ruth Sieber-Rilke u.
Carl Sieber. Leipzig 1939, S. 71
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Doch das Sinnbild lässt sich noch ausweiten: Ebenso wie das Objekt klein a trotz seiner
grundsätzlichen Verlorenheit imstande ist, das Subjekt zu erblicken, ist es dem Torso trotz
seiner verlorenen Augenäpfel jederzeit vergönnt, das Lyrische Du anzusehen. Man möchte in
Lacans Sinne ergänzen: Die Funktion des Auges ist obsolet, auf die Funktion des Blickes
kommt es an.
4.2 Triadische Struktur
4.2.1 Das Imaginäre
Der Ort der hier beschriebenen Illusion ist das Imaginäre. Das Objekt klein a, der Torso, entfaltet sich im subjektiven Vorstellungsvermögen seines Beschauers zu einem ebenso faszinierenden wie kraftstrotzenden Kontrahenten, gegen den es zu bestehen gilt. Der Fragmentcharakter der Skulptur weicht sukzessiv dem Anschein von Unversehrtheit und Vollkommenheit.
Dies jedenfalls geht aus der Beschreibung des Torsos hervor: Befindet sich dieser zunächst im
Zustand eines schwachen Glühens, geht er erst in ein Glänzen und sodann ein Flimmern über,
bis er schließlich wie ein Stern aus allen seinen Rändern herausbricht.
Im Seinsmodus der Imaginären stellen die Bruchstellen an Schultern, Hals und Rumpf keine
Grenzen für eine neuerliche Ganzheit der Apolloskulptur dar. Im Gegenteil: folgt man der
Theorie des modernen Fragmentarismus in der Tradition Schlegels, so fungieren diese vielmehr als Platzhalter für das subjektiv-imaginative Vermögen des Betrachters. Dieses nimmt
Rilke ferner für jegliche Schau von Dingästhethik in Anspruch:
Erinnern Sie sich solcher Dinge? Da ist vielleicht eines, das Ihnen lange nur lächerlich erschien. Aber eines Tages fiel Ihnen seine Inständigkeit auf, der eigentümliche, fast verzweifelte Ernst, den sie alle haben; und merkten Sie da nicht,
wie über dieses Bild, gegen seinen Willen beinah, eine Schönheit kam, die Sie
nicht für möglich gehalten hätten?63
Die Schönheit des Torsos, die mit seiner Strahlkraft einhergeht, ist jedoch insofern ambivalent, als sein Glänzen, ganz im Sinne Lacans, mitunter aggressive Züge annimmt: Das Lyrische Du wird vom Bug der Brust geblendet. Das sonnenhafte Sehen der Skulptur trifft ihren
Betrachter in ungefiltertem Modus; das Subjekt wird, ohne dass es die Gelegenheit erhält,
seine Gestalt innerhalb des Tableaus gegen den Lichtstrahl abzuschirmen, vom Blick des Objekts klein a bloßgestellt.
63
R. M. Rilke: Werke. Bd. 4 (Schriften; Auguste Rodin, Zweiter Teil), S. 456
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Dieser Blick gilt Lacan vor dem Hintergrund, dass er für das Subjekt angesichts seiner ursprünglichen Gespaltenheit an das Objekt klein a verloren ist, zugleich als ein Symbol für den
Phallus.64 Angesichts seiner vermeintlichen Bedrohung durch Kastration – welche nur durch
die stellvertretende Übertragung von Brust, Exkrement, Stimme und eben auch Blick an das
Objekt klein a abgewendet werden kann –, symbolisiert der Phallus sämtliche Verlusterfahrungen des Subjekts.65 In der Tat lassen sich sowohl dessen Blendung als auch dessen Kastrationskomplex ‚im Spiegel‘ wiederauffinden; und zwar in Form der fehlenden Augenäpfel und
der fragmentierten Mitte, die die Zeugung trug. Der Torso ist jedoch nicht nur Spiegelbild des
Subjekts, sondern auch das Objekt klein a: Indem er glänzt und die Stelle zwischen seinen
Lenden mit einem Lächeln versehen ist, offenbart er, dass er sich die Blickfähigkeit und die
sexuelle Potenz des Subjekts zu eigen gemacht hat.
In Anbetracht der imaginierten Überlegenheit des Gegenübers und dem damit zusammenhängendem Gefühl des Mangels erwächst das Begehren des Subjekts, das sich auf das Objekt
klein a richtet. Auch dieses spiegelt sich am Torso – denn dieser trägt nicht nur apollinische,
sondern auch dionysische Züge: So ist das unerhörte Haupt des Torso zwar einerseits dasjenige eines Apollo-Priesters, dessen Orakelspruch kein Gehör findet.66 Andererseits offenbart
sich darin auch das frivole Antlitz des Weingottes, der seinem Lüsternheit auf ‚unerhörte‘
Weise freien Lauf lässt. Auch dass der Torso wie Raubtierfelle flimmert, spricht für die heimliche Anwesenheit des Dionysos, denn dieser trägt für gewöhnlich ein Panterfell über der
Schulter.67
Indem das Imaginäre am Objekt klein a Körperkraft, sensomotorische Perfektion, sexuelle
Potenz und Lusterfüllung ‚vor-spiegelt‘, beflügelt es das Subjekt in seinem Streben nach einem Ideal-Ich. Das Individuum will ganz mit seinem Kontrahenten – und auf diese Weise mit
sich selbst – eins werden; unwissend, dass es sich hierbei auf ein Phantasma richtet.
4.2.2 Das Reale
Auch das Reale lässt sich in Rilkes Torso-Gedicht auffinden. Der Bezug zu dieser komplexen
Größe scheint gegeben, wenn vom Torso ausgesagt wird, dass dieser, wenn er nicht wie Raub 64
J. Lacan: Seminar XI, S. 110
J. Lacan: Seminar XI, S. 193
66
Man denke in diesem Zusammenhang an die mythischen Gestalten von Laokoon und Kassandra.
67
Ariane Wild: Poetologie u. Décadence in der Lyrik Baudelaires, Verlaines, Trakls u. Rilkes. Würzburg 2002,
S. 263
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tierfelle flimmern und nicht aus allen seinen Rändern wie ein Stern herausbrechen würde,
sich entstellt und kurz / unter der Schultern durchsichtigem Sturz befände. Mit jener unter
Vorbehalt formulierten Konsequenz gibt sich ein beunruhigendes Moment zu erkennen. Der
Torso wird hier als ein völlig triviales Objekt imaginiert; als ein unbestimmtes und unförmiges Etwas, reduziert auf das ihm zugrunde liegende Material. Rilke unterstreicht das Unbehagen, das mit dieser Vorstellung einhergeht, durch einer Häufung von Zischlauten (stünde –
Stein – Schultern – Sturz) sowie durch eine Brechung des jambischen Metrums, indem er das
erstsilbig betonte Wort unter an den Anfang des zehnten Verses setzt. Das Vermaß wirkt auf
diese Weise, ganz in Übereinstimmung mit dem Inhalt, regelrecht ‚fragmentiert‘: Hatte das
Lyrische Du die Skulptur im Seinsmodus des Imaginären noch als unversehrt und vollkommen wahrgenommen, so gewinnt jene überhaupt erst in diesen beiden Zeilen den Charakter
eines Torsos.
Folgt man der Argumentation, die das Gedicht beinhaltet, wird schnell klar, weshalb dem so
ist: Die Apollo-Skulptur ist nur dann ein Fragment, solange sie nicht schaut beziehungsweise
glänzt. Der durchsichtige Sturz – worunter man sich ein glockenförmiges Glasgefäß zur
schützenden Abschirmung von allerlei filigranen Objekten vorzustellen hat68 – würde, sowie
einmal über den Torso gestülpt, der Glut, an der sich das sonnenhafte Sehen entzündet,
sogleich den Sauerstoff entziehen und diese somit zum Erlöschen bringen.
Ein Objekt klein a, welches das Subjekt nicht mehr anblickt, hätte keinerlei subjektstiftende
Funktion mehr: Unter dieser Voraussetzung hätte das Subjekt nämlich selbst aufgehört zu
sehen, sodass ihm überhaupt nichts mehr gegenwärtig wäre; zumindest aber hätte es sich von
jenem ‚Spiegel‘, den das Objekt klein a darstellt, abgewendet. Damit aber wäre es in seiner
Existenz bedroht, zumal sein Subjektsein sich doch gerade über die Erfahrung des Anderen
definiert. Findet das Subjekt das Objekt a nicht mehr auf, so verliert es damit zugleich die
Reflexionsfläche seines Blicks und insofern auch die Illusion seines Kontrahenten ‚im Spiegel‘, welcher aufgrund seines Andersseins das Überdauern des Subjekts garantiert. Schwindet
das Objekt klein a, so wird auch das Subjekt eliminiert.
Wenn im Gedicht der Verlust des sonnenhaften Sehens zu Sprache kommt, so wird damit also
zugleich der Zerfall des Lyrischen Du ausgesagt. Dieses gibt sich damit gewissermaßen selbst
als ‚Torso‘ zu erkennen. Der gedichtimmanente Torso offenbart sich somit, dem Lacanschen
Psychismus entsprechend, als ein Spiegelbild des Lyrischen Du. Nimmt man demgegenüber
68
Hermann J. Weigand: Rilkes ‚Archaischer Torso Apollos‘. In: Ders.: Fährten u. Funde. Aufsätze zur deutschen Literatur. Bern, München 1967, S. 258 f.
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die Perspektive eines Zeitzeugen des Fin de siècle ein, so ist man versucht, den Torso als eine
Allegorie auf den modernen Menschen interpretieren, der mit der Unrettbarkeit des Ich konfrontiert ist.69
Für eine Deutung des Gedichts im Sinne Lacans erweist sich der Fragmentcharakter der
Skulptur jedoch vielmehr als ein Sinnbild für das Reale. Die Bruchstellen des Torsos würden
demnach die Abwesenheit des Symbolischen und des Imaginären repräsentieren; und damit
zugleich jene Leere, durch die sich das Reale auszeichnet. Die Fragmentierung des Objekts
kann wiederum überhaupt nur dann zustande kommen, wenn der lichthafte Blick des Skulptur
unter dem durchsichtigen Sturz ersticken würde, sodass und diese entstellt und kurz zurückbliebe. Das Reale würde expandieren, das Imaginäre und das Symbolische immer weiter zurückdrängen und damit die Elimination des Subjekts vorantreiben. Folgt man dem Gedichtinhalt, so wird dies jedoch verhindert, zumal das sonnenhafte Sehen des Torsos seinerseits an
Leuchtkraft gewinnt: Das Objekt klein a artikuliert sich so eindringlich, dass das Individuum
dessen Blick und somit auch seinem Subjektsein nicht zu entgehen vermag.
Führt man sich vor Augen, dass das Subjekt umso gespaltener ist, je weiter das Reale sich
ausdehnt, so kann der Torso, zumal sich dieser in einem Zwischenstadium von absoluter Gegenwart und vollständiger Zertrümmerung aufhält, als Sinnbild für das gespaltene Subjekt
gelten: Dieses ist nie ganz bei sich selbst, da stets auf die Einholung seines Alter Ego ausgerichtet, jedoch gerade dadurch überhaupt erst in seinem Dasein als Subjekt grundgelegt. Die
Rettung des Dings geht einher mit der Rettung des Individuums: Diesem Grundsatz jedenfalls
scheint Rilke Rechnung zu tragen, wenn er im ‚Vortrag über Rodin‘ davon spricht, dass der
Mensch im Kindesalter überhaupt erst durch das Ding in seinen Beziehungen zur Welt vorbereitet werde,70 und nicht müde wird zu betonen, dass wir auch jetzt noch Dinge nötig haben.71
4.2.3 Das Symbolische
Noch steht die Frage im Raum, was es denn mit der finalen Aussage des Gedichtes auf sich
hat, die sich auf so drastische, geradezu schockierende Weise präsentiert. Um dies zu klären,
scheint es mir unabdingbar, die Instanz in den Blick zu nehmen, die den Torso beschreibt und
dabei über das Erleben des Lyrischen Du offenbar genau Bescheid weiß. In ihr sehe ich denn
auch die Funktionsebene des großen Anderen repräsentiert. So ist es diese sprechende Instanz,
70
71
R. M. Rilke: Werke. Bd. 4 (Schriften; Auguste Rodin, Zweiter Teil), S. 456
Ebd. S. 456
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die das gedichtimmanente Geschehen dokumentiert und dabei ihre Beobachtungen anhand der
argumentativen Struktur, die das Gedicht aufweist, in einen Sinnzusammenhang bringt. Sie
bettet die dynamischen Relation von Torso und Lyrischem Du – beziehungsweise von Objekt
klein a und Subjekt – in das Gefüge jener diskursiven Ordnung ein, die durch das Symbolische repräsentiert wird.
In der Tat spielt Ordnung auch für Rilkes Konzeption des ästhetischen Gegenstands eine entscheidende Rolle. Diese drückt sich, ganz in Übereinstimmung mit dem Einheitsdenken der
neuplatonischen Tradition,72 in den Begrifflichkeiten von innerer Abgeschlossenheit, Kontur
und klarer Begrenzung aus. So heißt es in einem Brief an Lou Andreas-Salomé: „Das Ding ist
bestimmt, das Kunst-Ding muss noch bestimmter sein; von allem Zufall fortgenommen, jeder
Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben, ist es dauernd geworden, fähig zur Ewigkeit.“73 Das künstlerische Werk Rodins sei „eine Insel, überall abgelöst vom
Kontinent des Ungewissen“74 und die Erwerbung des Lichts, die sich an Rodins Skulpturen
beobachten lasse, sei eine Folge „einer ganz bestimmten Oberfläche“75.
Wenn sich in der bildenden Kunst der Wert des ästhetischen Dings daran bemisst, wie klar
sich dieser von seiner Umgebung abhebt, so ist der künstlerische Wert des Dinggedichtes davon abhängig, wie eindeutig der darin beschriebene Gegenstand dargestellt ist. Auch wenn die
Ganzheit des poetisch dargestellten Dings letztlich erst in der Imagination des Rezipienten
eingelöst wird, so wird dennoch deutlich, dass dem Gedichtsprecher die Rolle eines Signifikanten zukommt; und in dieser Gestalt entspricht er dem großen Anderen.
Als großer Anderer bestätigt er die ursprüngliche Gespaltenheit des Subjekts, indem er diesem
den Spiegel vorhält, in welchem es sich der Torso zu erkennen gibt. Er macht ferner auf die
Blendung aufmerksam, die der Geschaute durch den Bug der Brust seines Gegenübers erfährt,
und weist auf den Mangel hin, den das kastrationsbedrohte, seines Blickes beraubte Subjekt
verspürt. Doch er zeigt auch das dionysische Begehren auf, das aus diesem vermeintlich defizitären Zustand erwächst.
Wenn der Gedichtsprecher zuletzt den Satz Du mußt dein Leben ändern äußert, so handelt es
sich hierbei nicht um einen Imperativ, sondern um eine schliche Feststellung, die sich im
72
Nach der (neu-)platonischen Theorie ist das Ding, wie bereits ausgeführt, durch sein Wesen, sein Wesen
wiederum durch eine Idee bestimmt. Die Idee gründet ihrerseits in der Idee des Guten beziehungsweise Einen.
Das Ding verweist insofern stets auf das Absolute, welches seinerseits den Urgrund von Schönheit darstellt.
Dementsprechend ist ein Kunstwerk umso schöner, je dinglicher es ist.
73
An Lou Andreas-Salomé. Brief vom 8. 8. 1903
74
R. M. Rilke: Werke. Bd. 4 (Schriften; Auguste Rodin, Zweiter Teil), S. 461
75
Ebd. S. 463
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Rahmen der Projektion des Lacanschen Modells auf den Gedichtinhalt geradezu zwangsläufig
ergibt – nicht von ungefähr endet das Gedicht nicht mit einem Ausrufezeichen, sondern mit
einem Punkt. Die Überlegenheit des Anderen, die das Subjekt im Objekt klein a zu erkennen
glaubt, ruft in ihm das Bedürfnis hervor, sein Leben zu ändern. Doch seine begehrliche Bemühung um eine Vereinigung mit seinem Ideal-Ich kommt nie an ihr Ziel, denn das Subjekt
unterliegt einer Illusion: Den Anderen hat es nie gegeben, dieser ist und bleibt ‚im Spiegel‘.
Die Feststellung Du mußt dein Leben besitzt daher zeitlose Gültigkeit.
Zu wenig Beachtung hat bisher die Tatsache gefunden, dass es sich bei dem Torso um das
Fragment einer Statue des Gottes Apollo handelt. Führt man sich vor Augen, dass dieser unter
anderem für die Prinzipien von Formung, Sinn, Kalkül und Bemessung einsteht, so möchte
man meinen, dieser selbst sei die Instanz, die sich hinter dem großen Anderen verbirgt.76
Demnach wäre es die nunmehr vollendete Skulptur selbst, die den Schlusssatz ausspricht.
Diese Überlegung gewinnt an Plausibilität, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Satz Du
mußt dein Leben eine gewisse Ähnlichkeit mit der Formel ‚Gnōthi seautón‘ besitzt, die in der
Antike dem Gott Apollo selbst zugeschrieben wurde. Das Gelangen zu sich selbst – wenngleich auf rein äußerer Ebene und nur unter der Bedingung eines prinzipiellen Selbstverkennens – steht auch, in Form eines uneinlösbaren und doch produktiven Moments, im Zentrum
des Lacanschen Psychismus.
5. Fazit
Rilkes vielinterpretiertes Sonett Archaïscher Torso Apollos erschließt sich ausgehend vom
Blickpunkt Lacans auf so plausible und eindrucksvolle Weise, dass man beinahe den Eindruck gewinnt, der Dichter habe dem Psychoanalytiker vorgegriffen. Ein sehr zentrales Motiv
des Gedichts ist das ‚sonnenhafte Sehen‘, das der neuplatonischen Philosophie entstammt,
welche zudem auf struktureller Ebene einige Überschneidungen mit dem psychistischen Modell Lacans aufweist. Ein Ineinander von Glänzen und Schauen findet sich auch in Lacans
Ausführungen über die Funktionen von Auge und Blick. Die Analyse des daseinsstiftenden
Modus des Geschaut-Werdens, in welchem sich das Subjekt befindet, stellt denn auch den
Ausgangspunkt für eine Deutung des markanten Schlusssatzes des Gedichts dar.
76
Nach der neuplatonischen Theorie ist das Eine dasjenige Element, das signifizierend und ordnungsstiftend
wirkt. Auch dieses wurde schon früh mit Apollo identifiziert, und zwar von Seiten einiger Philosophen, die den
Namen ‚Apollon‘ vom Adjektiv ‚polýs‘, verbunden mit einem Alpha privativum (‚a‘), herleiteten. Dieser
künstlichen Etymologie zufolge wäre Apollo der ‚Nicht-Viele‘, eine Allegorie des Einen.
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Zumal das Theorem der Spiegelung, das für Lacans Psychismus konstitutiv ist, auch in Rilkes
modifiziertem Symbolismus rege rezipiert wird, liegt es nahe, die am Torso-Sonett erprobte
Methode auch noch auf weitere Dinggedichte Rilkes anzuwenden; so etwa auf seine Blaue
Hortensie, deren Blütendolden […] ein Blau / nicht in sich tragen, nur von ferne spiegeln
oder auf Rilkes Schwarze Katze, in deren Gesicht man seinen Blick im geelen / Amber ihrer
runden Augensteine / unerwartet wieder-trifft: Der praktisch-methodische Wert von Lacans
vielfach skeptisch beäugtem Denken würde hierin gewiss eine nachhaltige Bestätigung erfahren.
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