THOMAS ROYAR „Wie meinst du das?“ Wie Rechenschwäche entstehen kann Mathematik ist eine Denkweise, kein Werkzeugkasten. Wir lernen Mathematik dadurch, dass wir unsere Gedanken schärfen und teilen, nicht dadurch, dass wir Verfahren anwenden. Rechnen lernen wir durch rechnen – aber was ist Rechnen eigentlich? Es ist jedenfalls nicht das „Herstellen von Ergebnissen“, das durch eine Aufgabe oder einen „Rechenbefehl“ ausgelöst wird, auch wenn wir das vielleicht so gelernt haben. Lesen wir als Erwachsene beispielsweise den Ausdruck 3 + 2, dann können wir fast nicht anders, als sofort an das „Ergebnis“ 5 zu denken. Dabei haben wir wahrscheinlich gar nicht mehr gerechnet, sondern „gewusst“, dass da „fünf herauskommt“. Kindern erklären wir dann möglicherweise, dass man „zur 3 die 2 dazuzählen“ muss und dass das dann „5 ergibt“. Doch so einfach sind das Rechnen im Allge mei nen und die Addition im Besonderen nicht. Mathematisch ist die Addition keine abstrahierte Handlung, weder ein „dazuzählen“ noch ein „zusammenzählen“. Die Addition ist vielmehr eine stark formalisierte gedankliche Beziehung, eine Art „Zusammendenken und anders betrachten“. 3 + 2 meint, eine „Dreiheit“ mit einer „Zweiheit“ gedanklich auf eine bestimmte Weise zu verknüpfen. Klingt kompliziert? Ist kompliziert. Und wesentlich komplexer, als beispielsweise drei und zwei zusammen zuzählen und dann fünf zu erhalten. „Es ist drei Uhr. Wie spät ist es in zwei Stunden?“ Kann man hier nun die drei Uhr und die zwei Stunden zusammenzählen, um dann fünf Uhr zu erhalten? Das ergibt offensichtlich keinen Sinn. Trotzdem „passt“ die Addition 3 + 2 zur beschriebenen Situa tion, denn diese abstrahiert auch das „Zusammen denken“ von Uhrzeit und Zeitspannen. Rechnen bedeutet in erster Linie, Beziehungen herzustellen und erst danach diese Beziehungen in verdichteter Form zu abstrahieren. Eine gemeinsame Sprache finden Kinder konstruieren aus Begriffen und weiteren Versatzstücken, die sie zum Teil zufällig, zum Teil durch bewusstes Nachfragen sammeln, oft ihre eigenen mathematischen Erklärungen und Regelhaftigkeiten. Schöne Beispiele dafür haben Hartmut Spiegel und Christoph Selter in ihrem wunderbaren Buch „Kinder und Mathematik. Was Erwachsene wissen 42 sollten“ zusammengetragen. Die Kunst, Kinder beim Lernen von Mathematik und auch Rechnen zu begleiten und zu unterstützen, besteht nun nicht darin, ihnen möglichst reibungsfrei beizubringen wie „die Mathematik funktioniert“, sondern darin, mit ihnen eine gemeinsame Sprache zu finden, die die Brücke zwischen der eigenen subjektiven mathematischen Welt und der objektivierten, formalen „Standardmathematik“ bilden kann. Die Schweizer Didaktiker Urs Ruf und Peter Gallin haben dies treffend als „dialogisches Lernen“ bezeichnet. Nicht der Monolog des Wissenden führt zur Wissensgenese, sondern der „Austausch unter Ungleichen“ (so der Untertitel des ersten Bandes der Autoren). Wo dieser Austausch nicht stattfindet oder fundamental misslingt, können sich vielfältige Missverständnisse ergeben, sodass Lehrende und Lernende kaum mehr eine gemeinsame Sprache sprechen. Ein (nur teilweise fiktives) Beispiel soll dies verdeutlichen: Auf einem Bild sind drei Schmetterlinge und zwei Käfer zu sehen. Das Kind wird gefragt, wie viele Tiere auf dem Bild denn nun zusammen zu sehen seien. Die Antwort kommt spontan und sicher: „Zwei.“ Nachdem die erwachsene Person daraufhin skeptisch schaut, verbessert sich das Kind: „Vier!“ Bitte nehmen Sie sich einen Moment Zeit und versuchen Sie sich die Situation vorzustellen. Als Erwachsene haben wir mit unserer Frage nicht nur die Begriffe, sondern auch die Beziehungen und die Bedeutungen implizit festgelegt. „Tiere“ ist die gemeinsame Kategorie von Schmetterlingen und Käfern, „zusammen“ meint das Bilden der mentalen „Tiermenge“ aus den „Teilmengen“ der Schmetterlinge und Käfer, die Frage „wie viele“ fokussiert auf die Anzahl dieser Menge. Uns erscheint sofort „klar“ was gemeint ist und auch was die „richtige“ Antwort ist, nämlich fünf. Doch dies ist nur klar, wenn wir die Begriffe genauso deuten, wie eben beschrieben. Diese Deutung beinhaltet aber zahlreiche Konven tionen, die vielen Kindern gar nicht ohne weiteres bekannt sind. Das beschriebene Kind hat eine eigene Deutung vorgenommen, der zufolge seine Antwort ebenso „klar“ und stimmig ist. Das Kind sieht die drei Schmetterlinge und die zwei Käfer. Es weiß, dass sowohl Schmetterlinge als auch Käfer Tiere sind, TPS 8 | 2016 Mathematik – Denken – Philosophieren KONTEXT AUF EINEN BLICK Kindern und Erwachsenen mit Rechenschwäche hängt früh ein Makel an. Oft sind die ersten Mathematik erlebnisse im Unterricht einseitig ergebnis- und methodenbezogen und bieten keine Kommunikationsmöglichkeit. Dass Rechnen jedoch in erster Linie bedeutet Beziehungen herzustellen und erst danach diese Beziehungen in verdichteter Form zu abstrahieren, ist wenig bekannt. Sich mit Kindern über mathematische Zusammenhänge im Dialog zu verständigen, ist der grundlegende Zugang. Rechnen lernen beginnt in diesem Sinne als „Austausch unter Ungleichen“ und fordert Erwachsene dazu heraus, gegenüber Kindern, den eigenen – vermeintlich wissenden – Kenntnishorizont abzulegen bzw. über ihn hinauszuschauen. aber es sind unterschiedliche Tiere, und diese lassen sich nicht so einfach zusammenfassen. Das Wort „zusammen“ lenkt nun die Fantasie des Kindes in eine andere Richtung: Es bildet mental Paare zwischen einem Schmetterling und einem Käfer. Auch eine Vorstellung, wie (unterschiedliche) „Tiere zusammenkommen“ können. Der Schmetterling, der keinen Käferpartner findet, ist dann nicht „zusammen“, sondern „allein“ und spielt für die Beantwortung der Frage keine Rolle. Sehen Sie nun den Sinn der Antwort „zwei“? Das Kind spricht von den zwei Tierpaaren, die zusammengefunden haben. Auf den skeptischen Blick hin überlegt es, dass ja statt den Paaren die einzelnen Tiere gemeint sein könnten und korrigiert sich auf vier. Bis zu diesem Zeitpunkt sprechen Erwachsene und Kind mit gleichen Worten über das gleiche Objekt – und meinen doch Unterschiedliches. Noch haben die beiden sich nicht „verstanden“, denn sie haben sich nicht auf einen gemeinsamen Deutungshorizont verständigt. Den eigenen Deutungshorizont ablegen Verständigung und damit verständiges Lernen kann nun nur gelingen, wenn eine gemeinsame Deutung erreicht wird. Allein die Frage „Wie meinst du das?“, sendet dabei das Signal, dass das Gegenüber daran interessiert ist. Beansprucht die Erwachsene nun aber die „Deutungshoheit“, ohne sich darum zu bemühen mit dem Kind eine Verständigung zu erzielen, dann könnte das Gespräch über die Schmetterlinge und Käfer plötzlich eine ganz seltsame Wendung nehmen. Es ist fast tragisch, dass diese seltsame Wendung uns auf den ersten Blick gar nicht so vorkommt – weil wir implizit den Deutungshorizont der Erwachsenen teilen. Folgendes Gespräch könnte entstehen: Erwachsene: „Wie viele Tiere sind auf dem Bild zusammen zu sehen?“ Kind: „Zwei.“ (…) „Vier?“ E: „Nein, schau mal genau hin. Wie viele Schmetterlinge sind da?“ K: „Drei“. E: „Genau, drei. Gut. Und wie viele Käfer?“ TPS 8 | 2016 K: „Zwei“. E: „Zwei, richtig. Und wie viele Tiere sind es also zusammen?“ Bis dahin hat das Kind nur die Rückmeldung „Nein“ und eine kleinschrittige Wiederholung von bereits Bekanntem erhalten. Die erneute Fragestellung hat für das Kind trotz der vermeintlichen Erklärung keine Bedeutungsveränderung erfahren. Allerdings geht es nun nicht mehr darum, den eigenen Gedanken zu folgen, sondern nur noch darum herauszufinden, was die Erwachsene meint. Statt nun aber zu erklären, was mit „Tiere zusammen“ gemeint ist, wird (in guter Absicht) die Frage erneut an das Kind gerichtet, damit es selbst die „richtige“ Antwort „erkennt“. Das genau ist aber eine fatale Doppel botschaft. Entweder man bemüht sich um die Verständigung mit der Frage „Wie meinst du das?“ oder man definiert den Begriff „zusammen“ am konkreten Beispiel durch die mentale Vereinigung der Mengen. Sagt man nun aber zugleich „falsch“ und „versuch’s noch einmal“, dann lautet die implizite Botschaft: „Dein Denken ist nicht richtig, aber wenn du dich anstrengst, dann kann es richtig sein. Klappt das nicht, dann ist entweder die Anstren gung nicht groß genug oder es muss ein Defizit bei dir vorliegen.“ Aus einer nicht gelungenen Verständigung wird somit schleichend ein einseitig auf Seiten des Kindes problembehaftetes „Nichtverstehen“. So schreibt Birgit Werner dann auch völlig zu Recht: „Lernschwierigkeiten und somit auch Schwierig ei ten im Mathematikunterricht sind in erster Linie Kommunikationsdysfunktionen im Interaktionsfeld Schule. Die Probleme einzelner Schüler im Mathematikunterricht lassen sich nicht auf isolierte, ausschließlich dem Schüler innewohnenden Verur sachungsfaktoren zurückführen, sondern haben eine komplexe, integrierte Genese.“ (2009, 101) ■ Literatur Ruf, Urs; Gallin, Peter (1998): Dialogisches Lernen in Sprache und Mathematik. Austausch unter Ungleichen. Klett/Kallmeyer, Seelze Spiegel, Hartmut; Stelter, Christoph (2015): Kinder & Mathematik. Was Erwachsene wissen sollten. Klett/Kallmeyer, Seelze Werner, Birgit (2009): Dyskalkulie - Rechenschwierigkeiten. Diagnose und Förderung rechenschwacher Kinder in Grund- und Sonderschulen. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 43
© Copyright 2024 ExpyDoc