LÄNDERBERICHT Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. MAROKKO DR. HELMUT REIFELD Oktober 2016 Stabilität bestätigt www.kas.de/marokko Aus den Nationalwahlen zur Neubeset- Während die PJD ihren Anteil an Sitzen in zung der ersten Kammer des marokkani- der „Chambre des Représentants“ gegen- schen Parlaments ist die „Partei für Ge- über 2011 von 107 auf 125 verbessern rechtigkeit und Entwicklung“ (PJD) erneut konnte, schaffte es die PAM, die 2011 erst- als Sieger hervorgegangen. Zweitstärkste mals ins Parlament eingezogen war, bereits Kraft wurde ihre Hauptrivalin, die „Partei im zweiten Anlauf von 47 auf 102 Sitze. für Authentizität und Modernität“ (PAM). Damit bleibt die PJD zwar stärkste Kraft, als Alle übrigen Parteien werden Sitze im der maßgebliche Sieger darf jedoch die PAM Parlament abgeben müssen. angesehen werden. Im Vergleich zu den letzten Nationalwahlen von 2011 ergibt sich folgendes Bild: Nationalwahl 2011 1% 3% 6% 27% 8% 10% 15% 12% 13% Nationalwahl 2016 2 Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Die Parteien MAROKKO Die wichtigste Frage vor dieser Wahl war die che Koalition mit der PJD hat die PAM kategorisch ausgeschlossen. DR. HELMUT REIFELD Oktober 2016 www.kas.de/marokko nach dem Abschneiden der beiden Hauptri- In Kontrast hierzu profitierte die PJD vor valen, der moderat islamistischen PJD (Parti allem von dem landesweiten Engagement de la Justice et du Développement) und der ihrer Stammwählerschaft. Obwohl sie in ih- PAM (Parti d’Authenticité et Modernité). Die rer Regierungszeit nur einen Bruchteil der PJD hatte in den vergangenen fünf Jahren in 2011 versprochenen Sozial- und Wirt- zwei verschiedenen Koalitionen erstmals die schaftsgesetze realisieren konnte, lebt sie Regierung gestellt, während die erst 2008 noch immer von dem Image einer moderat- gegründete und seit dem kontinuierlich an islamistischen Bewegung. Sie konnte in den Zustimmung gewinnende PAM sich ur- vergangenen Jahren quasi als die einzige sprünglich vor allem aus ihrer Opposition wirkliche Volkspartei gelten, die nun aller- gegen die Islamisten definiert hatte. dings die PAM neben sich findet. Der Generalsekretär und Regierungschef der PJD, Die PAM ist heute zu einer Sammlungsbe- Abdelilah Benkirane, ist eloquent und poli- wegung zukunftsorientierter, demokrati- tisch sehr geschickt, und so hatte er es sich scher und die Monarchie unterstützender nicht nehmen lassen, bereits im Sommer politischer Kräfte geworden. Ihre Hauptziel- pathetisch zu formulieren, dass er bereit gruppe war zunächst die Landbevölkerung, sei, für die Ziele seiner Partei zu sterben. doch findet sie inzwischen in allen Wählerschichten Zustimmung. Im Wahlkampf hat Da diese Partei jedoch auf nationaler Ebene sie sich vor allem als Verteidigerin bürgerli- nur sehr wenige ihrer Wahlversprechen von cher Freiheiten präsentiert, um sich dadurch 2011 einlösen konnte, hat sie diesmal weit- noch deutlicher von der PJD abzugrenzen, gehend darauf verzichtet, eine Wahlkampf- die zunehmend als konservativ in Erschei- Agenda zu formulieren und sich stattdessen nung trat. Unterstrichen wurde der Kontrast auf allgemeine, meist moralisierende Paro- zur PJD zum Beispiel durch das Plädoyer der len zu beschränken. Ob Wirtschaftswachs- PAM, dass Alkoholkonsum und außereheli- tum, Abbau der Arbeitslosigkeit oder öffent- cher Geschlechtsverkehr nicht mehr unter liche Investitionen: die Erfolgszahlen der das Strafgesetz fallen sollten. Ihr apostro- bisherigen Regierung klingen bescheiden: phiertes Wahlziel, mehr als 100 Sitze zu er- statt der am Anfang versprochenen 5,5 % ringen, hat die PAM eindeutig erreicht. lag das jährliche Wachstum der vergangenen drei Jahre bei 3,2 %, für 2016 können Vorsitzender und Generalsekretär der PAM maximal 1,5% erwartet werden. Die Ar- ist seit Anfang dieses Jahres Ilyas El Omari, beitslosenrate, die Regierungschef Benkira- der Präsident der Region „Tanger – Tetouan ne versprochen hatte von 8,9 auch 8 % zu – Al Hoceima“, ohne Zweifel die wirtschaft- senken, ist auf 9,7 % gestiegen und die lich am stärksten aufstrebende Region in Staatsverschuldung hat mit 825 Milliarden Marokko. Für ihn erschienen diese Wahlen MAD den höchsten Stand aller Zeiten er- zunächst als ein Vabanque-Spiel. Als ehe- reicht.2 maliger „Maoist“ verortet er sich heute als sozial-liberaler Technokrat. Er hat nicht nur Alle übrigen Parteien müssen Verluste ver- durch seine inhaltlichen Forderungen hoch zeichnen. Die traditionsreiche Istiqlal zum gesetzt und sein ursprünglich schillerndes, Beispiel verlor ein Viertel ihrer Sitze. Sie aber durchsetzungsstarkes Profil voll in die war an der ersten Regierungskoalition unter Waagschale geworfen. Zudem war die PAM Benkirane beteiligt gewesen, hatte diese beispielsweise die einzige Partei, die ihre aber 2013 wieder verlassen. Sie hatte zu- Wahlkampffinanzierung (6,4 Mio. €) offen- nächst die territoriale Integrität Marokkos, gelegt hat.1 Und besondere Aufmerksamkeit eine gleichberechtigte Gesellschaft, eine erregte sie dadurch, dass sie die ersten Stärkung der Mittelschicht, bessere Ge- zehn Plätze ihrer nationalen Jugendliste mit sundheitsvorsorge und die geschlechtliche Frauen besetzt hat. Eine theoretisch mögli- Gleichstellung in den Mittelpunkt gestellt. In die Kritik geraten war sie unter anderem 3 Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. MAROKKO dadurch, dass sie – ebenso wie die PJD – Geist der Öffentlichkeit und der Transparenz Salafisten als Kandidaten aufgestellt hatte. entgegengesetzt werden soll, um neue de- Im Unterschied zur PAM und zur PJD konnte mokratische Strukturen mit Leben zu füllen. ihr Parteivorsitzender, Hamid Chabat, keine DR. HELMUT REIFELD Oktober 2016 www.kas.de/marokko Zukunftsvision formulieren, sondern Von den Medien ebenso wie von den beiden schwärmte von der Regierungszeit der dominierenden Parteien PJD und PAM wurde Istiqlal zwischen 2007 und 2011. Sein Pro- die FDG bereits früh als „Koalition“ ange- gramm hieß „karama“, die „Würde“, und sprochen, auch wenn dieser Dialog keine seine Partei war mit dem Slogan angetre- Einladung zur Zusammenarbeit bedeutet. ten: „Contrat pour la dignité». Insbesondere die PJD steht in der Schusslinie der FDG, da sie in deren Reihen zahlrei- Auch der RNI (Rassemblement National des che Salafisten identifiziert und einige sogar Indépendants) musste ein Drittel seiner Sit- als „anti-judaistisch“ anklagt. Ihr Image von ze einbüßen. Seine Wahlversprechen laute- Integrität und neuer, säkularerer und dis- ten: Wirtschaftswachstum von ca. 5 %, ei- kursiver Meinungsbildung brachte der FDG nen Anstieg der Auslandsinvestitionen von allerdings nur ein mageres Ergebnis von ebenfalls 5% sowie eine allgemeine Verbes- zwei Sitzen. serung der staatlichen Zahlungsmoral. Ähnlich stellte sich die Situation für die übrigen Die Rahmenbedingungen der Wahl Parteien dar. Die USFP zum Beispiel konzentrierte sich ganz auf eine Verringerung Zum Wahlkampf angetreten waren insge- der Arbeitslosigkeit auf 8%, die Schaffung samt 32 Parteien mit 6.992 Kandidaten. De- von jährlich 15.000 neuen Arbeitsplätzen ren Namen finden sich auf 1.410 Listen, die sowie eine Anhebung des Durchschnittsein- jedoch nur in einigen Fällen national, über- kommens um 20 %. Auf Seiten der Altpar- wiegend jedoch lokal erstellt wurden. Ledig- teien waren es in der Regel zu begrenzte lich die drei Parteien PJD, PAM und Istiqlal Ziele, ohne größere Visionen oder nationale treten in allen 92 Wahlbezirken an. Die Ambitionen. meisten Parteien treten in weniger als der Hälfte der Bezirke an. Für die Finanzierung Verschiedene Parteien aus dem linken des Wahlkampfes hatte die Regierung ins- Spektrum (PADS, CNI und PSU) hatten sich gesamt 22 Mio. € zur Verfügung gestellt. rechtzeitig vor den Wahlen zu einem Bündnis zusammengeschlossen. Dieses Bündnis Zu den größten, strukturell politischen Prob- der „demokratischen Linken“, die FGD lemen in Marokko gehört die geringe Wahl- („Fédération de la Gauche Démocratique“), beteiligung, denn faktisch wählen gehen setzt sich vor allem aus einem Kreis von vermutlich kaum mehr als 30 % der Wahl- jüngeren und engagierten Personen zu- berechtigten. Von diesen sind 55% männ- sammen, die sich in der Vergangenheit von lich, 45% weiblich; 30% der Wähler sind jeder Art von Parteipolitik abgewandt hat- unter 35; 43% zwischen 35 und 45. Zur ten. Sie können sich vor allem auf ein origi- Wahl stehen 395 Abgeordnetensitze. Es wa- nelles Programm berufen, das in einem in- ren 4.684 Wahlbeobachter im Einsatz, da- tensiven, öffentlichen Diskurs formuliert von 310 internationale. Bei einer Bevölke- worden ist und somit breite, öffentliche In- rung von ca. 32 Mio. sind zwischen 21-22 teressen widerspiegeln sollte. Mio. potentiell wahlberechtigt. Von diesen sind 15,7 Mio. in Wählerlisten eingetragen. In diesem Kontext thematisiert die FDG Die Zahl der Bürger, die faktisch wählen, zwangsläufig auch das Spannungsverhältnis liegt etwa bei 7 bis 7,5 Mio., also weniger zwischen freier, öffentlicher Meinungsbil- als die Hälfte derjenigen, die in Wählerlisten dung und monarchischer Einflussnahme, die verzeichnet sind, aber nur ein Drittel derje- von einigen Mitgliedern auch als „totalitär“ nigen die theoretisch wahlberechtigt sind. bezeichnet wird. Gleichzeitig gehen einzelne von ihnen – rigoros selbstkritisch - sogar so In einigen Städten wurde es einzelnen weit, die eigene politische Vergangenheit als Gruppierungen erlaubt, für einen Wahlboy- „totalitär“ zu bezeichnen, der jetzt ein neuer kott zu demonstrieren. Dies betrifft zum ei- 4 Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. MAROKKO DR. HELMUT REIFELD nen die linksradikale Gruppierung „Annahj über entsprechende Netzwerke verfügen. Addimocrati“ sowie die islamistische „Al Adl Aber verglichen mit den übrigen Staaten der Wal Ihsane“. Demgegenüber wurde jedoch MENA-Region können dieser Wahl bestimm- angefangen vom König über zahlreiche In- te Mindeststandards an Demokratie und stitutionen bis hin zu allen kandidierenden Transparenz nicht abgesprochen werden. Parteien wochenlang an alle Bürger apOktober 2016 www.kas.de/marokko pelliert, in jedem Fall zur Wahl zu gehen. In Ungeachtet aller Anerkennung, die viele Be- diesem Sinne hatten sich Mitte September obachter durchaus dem demokratischen zahlreiche Politiker und Intellektuelle zu ei- Prozedere dieser Wahlen zu zollen bereit ner gemeinsamen Petition zusammengefun- sind, liegt die reale Macht im Land ohne den, in der sie nicht nur dazu aufriefen, auf Zweifel auch weiterhin in den Händen des jeden Fall zur Wahl zu gehen, sondern auch Königs. Was diesen Zusammenhang betrifft, von allen Parteien ein klares Bekenntnis ge- tauchte in diesem Wahlkampf immer wieder gen Korruption, gegen Stimmenkauf und ein sehr alter Begriff auf: „Tahakkoum“, gegen fahrlässigen Populismus forderten. Es was so viel bedeutet wie: „die Situation reiche nicht das bloße Bekenntnis zur De- kontrollieren“. Dies bedeutet auf der einen mokratie, sondern jeder müsse sich konkret Seite, dass Krone und Kronrat demokrati- für den demokratischen Prozess in Marokko sche Wahlen, einen Parteienpluralismus und einsetzen. Hierbei seien vor allem Frauen öffentliche Diskurse wollen. Zudem wird und Jugendliche gefordert. sich der König zweifellos auch an die verfassungsgemäße Vorgabe halten, einen Reprä- Dennoch hat es Fälle von, bzw. Vorwürfe sentanten der Partei mit dem größten von Stimmenkauf auch in diesem Wahl- Stimmenanteil zum Regierungschef zu er- kampf gegeben. Jedoch waren die Be- nennen. Es bedeutet aber auf der anderen schwerden über Unregelmäßigkeiten dies- Seite auch, dass er bis in die Tagespolitik mal geringer denn je: Beim Innenministeri- hinein Richtungsvorgaben geben und insbe- um sind bis zum Wahltag 110 Beschwerden sondere außen- und sicherheitspolitische eingegangen. Bei etwa der Hälfte davon Entscheidungen vorgeben wird. Er wird in wurden die Verfahren bereits eingestellt, 20 der Tagespolitik mitspielen: wenn auch werden noch untersucht und mit 6 Fällen nicht immer als Mannschaftskapitän, dann wird sich die Justiz beschäftigen müssen. zumindest als Schiedsrichter. Bei den letzten Parlamentswahlen 2011 waren es 490 Beschwerden und bei den Kom- Letztlich ist es die Monarchie, die das Land munalwahlen 2015 sogar 1.240. auf einen Weg zunehmender Rechtssicherheit, nach und nach steigenden Wachstums Der König hatte sich diesmal wiederholt für und internationaler Anerkennung gebracht eine uneingeschränkte Transparenz des hat. Vor diesem Hintergrund können die Wahlvorgangs eingesetzt. Der Verfassungs- Wahlen für die erste Kammer des marokka- rat gilt als strenger Wächter über diese Ver- nischen Parlaments erneut als Erfolg für ei- fahren. Um Ungültigkeitsverfahren vorzu- ne Demokratisierung des Landes und seine beugen, haben mehrere Parteien ihre Kan- rechtsstaatliche Verfasstheit bewertet wer- didaten mit einem speziellen Leitfaden aus- den. Vieles spricht dafür, dass sie sich als gestattet, in dem bewährte Wahlkampfprak- einen erneuten Schritt zu mehr Stabilität 3 tiken dargestellt sind. Die Friederich- erweisen werden sowie zu einer Legitimität, Ebert-Stiftung führt aktuell noch eine Unter- die nicht durch Revolution erzwungen, son- suchung durch, wie mit diesen Beschwerden dern durch Reformen erreicht werden konn- umgegangen wurde. te. Diese geht mit einem Gewinn an Transparenz und neuen Möglichkeiten der Partizi- Resümee pation einher. Korruption wird in Zukunft noch genauer beobachtet und Parteien kon- Insgesamt findet sich in der marokkani- sequenter zur Rechenschaft gezogen wer- schen Presse häufig der Vorwurf, dass die den. Dieser Wandel wird sowohl von der Führung quasi in allen Parteien in den Hän- Mehrheit der politischen Kräfte des Landes den einer kleinen, spezifische Elite liegt, die mitgetragen, wie er von der Mehrheit der 5 Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Bevölkerung positiv aufgenommen wird. Er zeigt, dass die politische Entwicklung Ma- MAROKKO rokkos in Richtung Demokratie weist. DR. HELMUT REIFELD Oktober 2016 1 Vgl. Les Ecos, 22. Sept. 2016. www.kas.de/marokko 2 L’Economiste, 2. Sept. 2016. 3 Einen solchen Leitfaden hat die KAS bereits für die Kommunal- und Regionalwahlen 2015 erstellt: Andreas Marchetti, Réussir les Élections. Guide pratique, Rabat 2015. Impressum Konrad Adenauer Stiftung e.V. Hauptabteilung Internationale Zusammenarbeit N. 24 Angle Av. Abdelkrim Benjelloun et Rue Mly. Yaacoub B.P. 559 Hassan-Rabat 10010 Rabat Marokko Tel. +2125 3776 12 32/33 Fax +2125 3776 12 35
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