1 Freitag, 14.10.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs

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Freitag, 14.10.2016
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Susanne Stähr
Bestechend kammermusikalisch
FELIX MENDELSSOHN BARTHOLDY
SINFONIE NR. 4 „ITALIENISCHE“
SINFONIE NR. 1
Kammerakademie Potsdam
Antonello Manacorda
SONY CLASSICAL 88985338792
Lustvolles Liedvergnügen
Ian Bostridge
Antonio Pappano
Shakespeare Songs
WARNER CLASSICS 08256 4610 6639
Nobler Klang
JOHN DOWLAND
LACHRIMAE OR SEVEN TEARS
PHANTASM
ELIZABETH KENNY
LINN RECORDS CKD 527
Dialog auf gleicher Augenhöhe
GAUTIER CAPUCON | FRANK BRALEY
BEETHOVEN
Sonatas & Variations
for Cello and Piano
ERATO 1 90295 951139
Geschmeidig, präzise, transparent
SHOSTAKOVITCH
CELLO CONCERTOS 1 + 2
ALISA WEILERSTEIN
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
PABLO HERAS-CASADO
DECCA 483 0835
Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“. – Am Mikrofon begrüßt Sie herzlich:
Susanne Stähr. In den nächsten knapp 90 Minuten reisen wir durch vier Jahrhunderte – mit
fünf neuen CDs, die ich heute für Sie mitgebracht habe. Am unteren Ende der historischen
Skala steht Gambenmusik von John Dowland, am oberen rangieren die beiden
Cellokonzerte von Dmitri Schostakowitsch – Alisa Weilerstein wird sie spielen. – Der große
Dramatiker William Shakespeare aber hat Musiker aus allen Epochen inspiriert, wie uns Ian
Bostridge mit seiner Aufnahme von Shakespeare Songs beweisen wird. Nur Ludwig van
Beethoven fehlt merkwürdigerweise in dieser illustren Reihe: Bei uns ist er dafür mit seinen
Cellosonaten vertreten, die Gautier Capuçon neueingespielt hat. Am Anfang aber wollen wir
der Sehnsucht nach dem Süden frönen – und begleiten Felix Mendelssohn nach Italien.
Wenn ein Italiener Mendelssohns „Italienische“ dirigiert, dann scheinen die Erwartungen von
vornherein festgezurrt: Auf eine feurige Interpretation hofft man, auf viel Brio und
extrovertiertes, mediterranes Temperament. Ganze Generationen italienischer Maestri
können ihr Lied davon singen oder vielleicht sogar ihr Leid klagen – von Toscanini über
Abbado und Muti bis zu Riccardo Chailly. Auch Antonello Manacorda, der gerade eine
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Gesamteinspielung der Mendelssohn-Sinfonien mit der Kammerakademie Potsdam
begonnen hat, kennt die alten Klischees nur zu gut. Umso frappierender klingt seine
Deutung. Hören wir uns den Anfang an:
Felix Mendelssohn: Sinfonie Nr. 4 A-Dur op. 90, „Italienische“,
1. Satz (Ausschnitt)
7:10
Das war der Anfang von Felix Mendelssohns Vierter, der „Italienischen Sinfonie“, genauer
gesagt: der Kopfsatz bis zum Eintritt der Reprise. Sie hörten die Neuaufnahme der
Kammerakademie Potsdam unter der Leitung von Antonello Manacorda, die bei SONY
CLASSICAL erschienen ist. Bei aller Energie, die Manacorda freisetzt, wird die „Italianità“
hier nicht besonders hervorgekehrt – manche Passagen wirken vielmehr nach innen
gerichtet und fast etwas melancholisch. Doch genau das trifft, so paradox es klingen mag,
den Charakter dieser Sinfonie viel besser als ein plakativer Lobpreis auf Bella Napoli. Denn
Mendelssohns Musik ist das Werk eines Bildungsreisenden aus Deutschland, sie kündet von
dem verklärten Italien-Bild, wie es dem Geist der bürgerlichen Empfindsamkeit entsprach.
Aus demselben Geist heraus schufen sich die Regenten in Potsdam im 18. und 19. Jahrhundert ihr preußisches Arkadien: die herrlichen Schlossanlagen und Parklandschaften an
der Havel. Genau dort, vor der Heilandskirche in Sakrow, hat sich Manacorda übrigens für
das Cover seiner CD fotografieren lassen: ein hintersinniger Hinweis auf die Ideenwelt, die
Mendelssohn geprägt hat. Und der sich die Kammerakademie Potsdam an ihrem
traditionsreichen Standort auch verpflichtet fühlt.
Dass Mendelssohns Musik nie „echte“ italienische Musik ist, sondern nur eine Traumwelt
spiegelt, das verdeutlicht Manacorda vor allem mit dem Schlusssatz. Es ist der traditionelle
Tanz des Saltarello, der diesem Finale zugrunde liegt: Ähnlich wie die Tarantella sollte er
ursprünglich bis zum Umfallen oder zur Besessenheit getanzt werden. Bei Mendelssohn und
Manacorda klingt es aber so:
Felix Mendelssohn: Sinfonie Nr. 4 A-Dur op. 90, „Italienische“,
4. Satz
5:25
„Dieser Tanz hat etwas ganz Düsteres“, sagt Antonello Manacorda über den Saltarello, den
Schlusssatz aus Mendelssohns „Italienischer Sinfonie“, den Sie gerade mit der
Kammerakademie Potsdam gehört haben. Und tatsächlich: Manacorda gestaltet ihn nicht als
ungestümen Temperamentsausbruch, sondern eher als Geistertanz. Dieses Kunststück
gelingt ihm, weil er bei den schnellen Figuren immer wieder die langsamen Gegenstimmen in
den Vordergrund holt und sie wie einen Schatten über das Perpetuum mobile legt – eine
gespenstische Grundatmosphäre ist das Ergebnis.
Manacordas Aufnahme besticht durch ihre kammermusikalische Anlage, die verdeutlicht, wie
klar und konzis gearbeitet Mendelssohns Musik ist. Nicht einmal 40 Musiker umfasst die
Kammerakademie Potsdam, und genau das dürfte Mendelssohns Intentionen viel besser
entsprechen als die spätromantisch aufgeblähte Besetzung, die man oft bei den großen
Sinfonieorchestern zu hören bekommt. Denn vergessen wir nicht: Mendelssohns Klangideal
hat sich geformt bei den Sonntagsmusiken in seinem Elternhaus, also bei einer Art
erweiterter Kammermusik. Und auch Manacorda selbst, der seine Laufbahn als
Konzertmeister im Mahler Chamber Orchestra begann und wesentlich von Claudio Abbado
geprägt wurde, schwört auf den Geist des kammermusikalischen Miteinanders, bei dem die
Einzelnen intensiv aufeinander hören, die Ideen der anderen aufgreifen und fortspinnen. Das
gelingt ihm mit der Kammerakademie Potsdam hinreißend, auch bei der ersten Sinfonie, die
Mendelssohn 1824 als 15-Jähriger komponierte. Hören wir den langsamen Satz:
Felix Mendelssohn: Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 11, 2. Satz
7:30
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Herrlich transparent und wunderschön ausmusiziert klingt der zweite Satz, das Andante aus
Mendelssohns erster Sinfonie, wie es die Kammerakademie Potsdam und Antonello
Manacorda gestalten. Alles ist fein ausbalanciert, auch die Mittel- und Gegenstimmen sind
präsent, nie werden die Bläser von einer Streicher-Soße überdeckt. Und Manacorda
phrasiert himmlisch lange Bögen, bei denen ihm der Atem nicht ausgeht. Man darf sich auf
die Fortsetzung dieser Sinfonien-Edition freuen!
Zu Mendelssohns literarischen Idolen gehörte William Shakespeare, dem er schon als
17-Jähriger, mit seiner Ouvertüre zum „Sommernachtstraum“, die Ehre erwiesen hat. Und
Mendelssohn war beileibe nicht der einzige, der sich von Shakespeares lebensprallen
Versen inspirieren ließ. Der britische Tenor Ian Bostridge hat den 400. Todestag des
Dichters zum Anlass genommen für eine neue Lied-CD mit Shakespeare-Vertonungen aus
vier Jahrhunderten. Das Spektrum erstreckt sich dabei von Lautenliedern aus der
Shakespeare-Zeit bis zu Igor Strawinskys selten gespielten „Three Songs from
Shakespeare“ für Tenor, Flöte, Klarinette und Viola aus dem Jahr 1953: Hier wandte der
Komponist erstmals serielle Kompositionsverfahren an. Aber – es ist auch ein Lied dabei,
das man bestens kennt, wenngleich sonst etwas anders. Hören Sie selbst:
Franz Schubert: An Silvia D 891
2:35
Franz Schubert war das, mit seinem berühmten Lied „An Silvia“, aber Ian Bostridge, der von
Antonio Pappano am Klavier begleitet wurde, hat nicht den deutschen Text vorgetragen, den
Schubert verwendete, sondern Shakespeares Originalverse aus der Komödie „Die beiden
Veroneser“. Und das Verblüffende ist: Der englische Wortlaut passt perfekt auf Schuberts
Musik! Was an dieser CD, die unter dem Titel „Shakespeare Songs“ bei WARNER
CLASSICS erschienen ist, so fasziniert, das sind die Querverbindungen, die Bostridge
eröffnet. Denn er singt mehrfach dieselben Gedichte, in verschiedenen Vertonungen
allerdings. Und dabei scheint das Elisabethanische Zeitalter vom frühen 20. Jahrhundert gar
nicht so weit entfernt zu sein. Ich möchte Ihnen das am Beispiel von „It was a lover and his
lass“ aus Shakespeares „Wie es euch gefällt“ demonstrieren. Wir hören uns zunächst die um
das Jahr 1600 entstandene Fassung von Thomas Morley an, der möglicherweise sogar
selbst mit Shakespeare zusammengearbeitet hat. Ian Bostridge steht hier die Lautenistin
Elizabeth Kenny zur Seite:
Thomas Morley: It was a lover and his lass
3:25
Sie hörten „It was a lover and his lass“ in einer Vertonung des Shakespeare-Zeitgenossen
Thomas Morley, gesungen von Ian Bostridge, der von Elizabeth Kenny auf der Laute
begleitet wurde. 325 Jahre später hat Peter Warlock dieselben Verse vertont. Natürlich ist
seine Klangsprache eine ganz andere, und dennoch gibt es erstaunliche Verwandtschaften
in der Art, wie Shakespeares Worte behandelt werden – bis hin zum wörtlichen Zitat der
Zeile „With a hey, and a ho, and a hey nonino“.
Peter Warlock: Pretty Ring Time
1:15
„Pretty Ring Time“ heißt das Lied von Peter Warlock, einem 1930 gestorbenen britischen
Komponisten, das unmittelbar an Thomas Morleys Vertonung von Shakespeares „It was a
lover and his lass“ anknüpft. Gesungen hat es Ian Bostridge, mit Antonio Pappano am
Klavier. Lange Zeit galt Großbritannien ja als ein „Land ohne Musik“: Tatsächlich sollten nach
dem Tod von Henry Purcell im Jahr 1695 geschlagene zwei Jahrhunderte vergehen, ehe
sich die Briten mit der Uraufführung von Edward Elgars „Enigma Variations“ wieder im
internationalen Musikleben zurückmeldeten. Wenn sich ein junger britischer Komponist zu
Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Suche nach seinen Wurzeln oder einer originär
englischen Klangsprache machte, dann landete er also automatisch in der Renaissance und
im Barock. Ähnlich fest in der Tradition verankert ist aber auch die britische Gesangsschule,
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wie Ian Bostridge beweist. Mit nunmehr über 50 Jahren erinnern seine Stimmführung und
-farbe immer stärker an den großen Peter Pears – ob es die rezitationsartige Deklamation
ist, die souveräne Kontrolle des Timbres, des Atems und des Vibratos oder auch, in der
Höhenlage, der etwas androgyne Stimmklang. Hören wir uns noch Roger Quilters „Come
away, death“ an:
Roger Quilter: Come away, death
2:40
Er tippt die Details hauchzart an und kann doch große Resonanz entfalten: Das war noch
einmal der Tenor Ian Bostridge, diesmal mit Roger Quilters „Come away, death“ auf Verse
aus Shakespeares „Was ihr wollt“. Am Klavier hörten Sie den Dirigenten Antonio Pappano,
der auch ein versierter Pianist und sensibler Liedbegleiter ist, wie man auf dieser CD mit
Shakespeare Songs eindrucksvoll erleben kann. Bostridges große Stärke wiederum ist, dass
er mit derselben Meisterschaft Renaissancemusik oder auch Britten und Tippett zu singen
vermag. Er gestaltet delikat, hat Ironie, beweist literarisches Verständnis – ohne Frage ein
intellektueller Sänger. Aber spröde ist er nie, nein, er beschert uns zugleich für ein lustvolles
Liedvergnügen.
Sie hören SWR2, den Treffpunkt Klassik mit neuen CDs. Wir bleiben noch in der
Shakespeare-Zeit und kommen zu John Dowland, dem 1626 verstorbenen Meister der
Melancholie. Mit „Semper Dowland, semper dolens“ hat er eine seiner Pavanen
überschrieben: „Einmal Dowland, immer leidend“. Das Stück ist Teil der Sammlung
„Lachrimae or Seven Tears“, auf Deutsch also „Tränen“, abermals ein Titel, der auf das
trübselige Gemüt des Komponisten verweist. Gemeinsam mit der Lautenistin Elizabeth
Kenny, die wir vorhin schon mit Ian Bostridge hören konnten, hat das Ensemble Phantasm
die „Lachrimae“ jetzt auf CD vorgelegt. Am Beginn des Zyklus steht eine Transkription von
Dowlands bekanntestem „Song of Sadness“, dem tieftraurigen „Flow my tears“, dessen
absteigende Melodielinie suggestiv die Tränen kullern lässt.
John Dowland: Lachrimae Antiquae
4:00
„Lachrimae Antiquae“ hat John Dowland dieses Stück für fünf Gamben und Laute genannt,
„Alte Tränen“. Sie hörten die Neueinspielung mit dem Violen-Consort Phantasm und der
Lautenistin Elizabeth Kenny, die bei LINN RECORDS erschienen ist. In sieben Pavanen,
also langsamen Schreittänzen, wird hier das absteigende Tränen-Thema variiert und
ausgeleuchtet: als Tränen der Trauer, der Liebe, der Treue usw. Das ist einerseits eine
radikal Ich-bezogene Klangwelt: Laurence Dreyfus, der Gründer und Leiter des Ensembles
Phantasm, spricht vom „stilisierten Selbstportrait eines vom Glück verlassenen Mannes“.
Andererseits aber entsteht die Schönheit und Ausdruckskraft dieser Musik gerade durch den
Verzicht auf Subjektivität. Denn anders als etwa beim Streichquartett geht es nicht um die
Individualität der Stimmen, sondern um den Zusammenklang. Nie drängt sich eine der fünf
Violen in den Vordergrund – alle bleiben immer wie in einem Zopfgeflecht ineinander
verschlungen, sodass man gleichzeitig die verschiedensten Facetten ein und derselben
Motivik hört.
In den 14 weiteren Tänzen, die Dowland auf die Pavanen der „Sieben Tränen“ folgen lässt,
nimmt er verschiedene Widmungsträger ins Visier: einen schneidigen Kriegshelden zum
Beispiel. Oder einen berüchtigten Piraten. Oder auch den König von Dänemark, an dessen
Hof in Kopenhagen Dowland einige Jahre diente:
John Dowland: The King of Denmark’s Galliard
1:50
Das war „The King of Denmark’s Galliard“ von John Dowland, gespielt vom Gamben-Consort
Phantasm und der Lautenistin Elizabeth Kenny. Weniger streng als die Pavanen aus
derselben Sammlung klingt diese Gaillarde – klar, sie ist ja auch ein Springtanz. Aber der
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lichtere Charakter hat nicht zuletzt mit folkloristischen Elementen zu tun. Und mit der
verspielten Ornamentik, die das Ensemble einbringt. Denn das ist die Kunst bei Dowland:
Wenn man sich die originalen Notenblätter ansieht, fällt auf, dass nur die Grundpfeiler
vermerkt sind. Wie Slalomstangen stecken sie den Kurs ab, aber wie die Interpreten von
einer Stange zur andern kommen, welchen Weg sie dabei nehmen, den kürzesten oder
einen längeren, und welche Verzierungen sie anbringen – das bleibt ganz ihrem Belieben
überlassen. Das 1994 gegründete Ensemble Phantasm, das lange an der Oxford University
beheimatet war, bevor es 2016 nach Berlin zog, beherrscht diese Disziplin meisterlich. Hören
wir uns noch eine Allemande aus ihrer neuesten CD an, nämlich „Mr. George Whitehead his
Alman“.
John Dowland: Mr. George Whitehead his Alman
1:45
Sie hörten noch einmal das Gamben-Consort Phantasm und die Lautenistin Elizabeth Kenny
mit Musik von John Dowland, und zwar mit „Mr. George Whitehead his Alman“. Je länger
man sich in diese CD mit den „Lachrimae“ vertieft, desto mehr gerät man in ihren Sog, in den
schier unendlichen Strom der Melodien, Rhythmen und meditativen Reflexionen, den
Dowland nie abreißen lässt. Der Klang des Ensembles Phantasm bleibt dabei stets nobel:
Mal ist er opulent, mal ätherisch, immer aber hat er etwas Schwebendes. Und die
ausgezeichnete Tontechnik rückt diese Qualitäten ins beste Licht.
Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein erfreute sich die Gambe hoher Beliebtheit und war ein
Standardinstrument – dann aber wurde sie vom Violoncello verdrängt. Wobei das Cello
seinerseits noch eine ganze Weile brauchte, um sich als Melodieinstrument zu behaupten –
es musste sich erst aus den Fesseln des Generalbasses befreien. Die ersten beiden
Cellosonaten, die Ludwig van Beethoven 1796 als sein Opus 5 schuf, erzählen von dieser
Geschichte. Denn über weite Strecken klingen diese beiden Werke noch eher wie eine
Klaviersonate mit Cello-Begleitung. Der französische Cellist Gautier Capuçon hat die fünf
Beethoven-Sonaten gemeinsam mit seinem langjährigen Klavierpartner Frank Braley neu
aufgenommen. Und der hat hier entschieden mehr zu tun:
Ludwig van Beethoven: Cellosonate Nr. 1 F-Dur op. 5 Nr. 1,
2. Satz (Ausschnitt)
3:10
So beginnt das Rondo, der zweite Satz aus Beethovens erster Cellosonate, gespielt von
Gautier Capuçon und seinem Landsmann, dem französischen Pianisten Frank Braley, der
bei diesem Stück mit schnellem Laufwerk und filigranen Figurationen brillieren darf. Und das
ist kein Wunder, denn die Gattung der Cellosonate steckte damals, als Beethoven dieses
Werk komponierte, noch in den Kinderschuhen. Capuçon und Braley erliegen aber nicht der
Gefahr, in die Falle des Klassizismus zu tappen; auch die beiden frühen Sonaten laden sie
dramatisch auf und verleihen ihnen eine erdige Ursprünglichkeit. Trotzdem ist der Sprung zur
dritten Cellosonate op. 69, die 1808 entstand, ein ganz gewaltiger. Denn dort sind die beiden
Instrumente tatsächlich gleichberechtigte Partner – mal führt die eine, mal die andere
Stimme. Hören wir den Beginn dieser A-Dur-Sonate.
Ludwig van Beethoven: Cellosonate Nr. 3 A-Dur op. 69,
1. Satz (Ausschnitt)
6:10
Soweit Gautier Capuçon und Frank Braley mit dem Beginn von Beethovens dritter
Cellosonate: ein Ausschnitt aus ihrer Neueinspielung, die bei ERATO erschienen ist. Die
beiden französischen Musiker, die seit vielen Jahren gemeinsam auftreten, sind wunderbar
aufeinander eingespielt: Das ist ein Geben und Nehmen, ein Dialog auf gleicher Augenhöhe,
ganz so, wie Beethoven ihn auch komponiert hat – und damit die Gattung der Cellosonate
erst wirklich etablierte. Capuçon hat einen kraftvollen, elementaren Ton mit Wucht und
Kante, der in allen Lagen präsent ist. Bei Beethoven ist das besonders wichtig, denn er
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schöpft den Tonumfang des Instruments komplett aus und katapultiert das Cello in extreme
Lagen, etwa wenn er die führende Melodie kurzerhand in den tiefsten Keller verlegt. Oder
wenn er sie ein andermal auf und ab durch die Oktaven wandern lässt. Während manch
andere Cellisten bei diesen Lagenwechseln ihre Klangqualität verändern und plötzlich nasal
oder quakend klingen, bleibt Capuçon stets tonschön. Es ist, als ob ein Sänger zugleich
seriöser Bass und lyrischer Tenor wäre … Wer Gautier Capuçon einmal live im Konzertsaal
erlebt hat, der weiß, dass dieser Cellist über einen großen, volltönenden Klang verfügt. Aber
umgekehrt kann er auch mezza-voce singen. Wie im langsamen Satz aus der fünften und
letzten Cellosonate:
Ludwig van Beethoven: Cellosonate Nr. 5 D-Dur op. 102 Nr. 2
2. Satz (Ausschnitt)
7:00
Fast wie ein Kirchenlied beginnt das „Adagio con molto sentimento d’affetto“, der zweite Satz
aus Beethovens fünfter Cellosonate. Und Gautier Capuçon, den Sie gerade mit dem
Pianisten Frank Braley gehört haben, spielt das ganz ohne Vibrato, nur hin und wieder lässt
er den Ton aus seiner totengleichen Erstarrung erwachen und aufblühen. Dieser variable
und bewusste Umgang mit dem Vibrato ist ein Gütesiegel seines Spiels. Und lässt seine
Interpretation der fünf Beethoven-Sonaten ungleich berührender werden, als es bei einem
permanenten Dauer-Espressivo der Fall wäre.
Das Violoncello galt lange Zeit als ein ausgesprochenes Männerinstrument, und das hatte
auch mit seiner Spielhaltung zu tun. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein durften die Frauen
das Cello nämlich nicht zwischen den Beinen spielen – man behauptete, das sei
unschicklich. Stattdessen mussten sie mit dem „Damensitz“ vorlieb nehmen und das
Instrument links neben dem Körper halten – eine fatale Einschränkung. Glücklicherweise gibt
es heute diese albernen Zwänge nicht mehr. Und entsprechend haben wir es mit einer
wachsenden Zahl hervorragender Cellistinnen zu tun. Die 34-jährige Amerikanerin Alisa
Weilerstein ist eine von ihnen. Für ihre neueste CD, die gerade bei DECCA
herausgekommen ist, hat sie sich mit den beiden Schostakowitsch-Konzerten allerdings zwei
Werke ausgesucht, die als besonders herausfordernd im athletischen Sinne des Power-Play
gelten, und die deshalb auch bevorzugt von Männern interpretiert werden. Sie können gleich
hören, warum. Ich spiele Ihnen den Kopfsatz des ersten Schostakowitsch-Konzerts vor.
Dmitri Schostakowitsch: Cellokonzert Nr. 1 op. 107, 1. Satz
5:45
An Jagdszenen erinnert der erste Satz aus Dmitri Schostakowitschs erstem Cellokonzert
op. 107, den Sie gerade mit Alisa Weilerstein und dem Symphonieorchester des
Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Pablo Heras-Casado gehört haben. Und das
hat mit dem ständigen Wiederholen derselben ostinaten Motive zu tun, die bis zum
Wahnsinn oder bis zur Besessenheit repetiert werden – gegen Ende hin stimmt sogar das
Jagdhorn mit in die Hatz ein. Alisa Weilerstein bewerkstelligt diese Tour de force nicht mit
Kraftmeierei, sondern mit lodernder, bohrender Intensität. Dabei gelingt es ihr, die extreme
Spannung über den gesamten Satz hinweg aufrecht zu erhalten, sich zu verausgaben und
trotzdem die intellektuelle Kontrolle und die sarkastische Schärfe zu wahren. Auf diese
Weise aber gerät ihr Portrait des zu Tode gehetzten Individuums, das Schostakowitsch hier
musikalisch gezeichnet hat, nur umso eindrucksvoller. Alisa Weilerstein versteht es aber
auch, innige Kantilenen zu intonieren, wie sie etwa im Finale des zweiten Cellokonzerts
gefordert werden:
Dmitri Schostakowitsch: Cellokonzert Nr. 1 op. 120,
3. Satz (Ausschnitt
5:40
Mit einer Hörnerfanfare und dann einer Kadenz für das Solocello, das dabei vom Tamburin
begleitet wird, beginnt das Finale aus dem zweitem Cellokonzert von Schostakowitsch –
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dann erst hebt das verträumte Thema der Variationenfolge an. Alisa Weilerstein hat den
Satzbeginn soeben gespielt, ein Ausschnitt aus ihrer neuen Schostakowitsch-CD.
Weilersteins Celloton ist geschmeidig, übrigens deutlich heller als der von Gautier Capuçon,
und eignet sich bestens für die inständigen Kantilenen, wie sie Schostakowitsch seinen
Interpreten auch abfordert. Einen ausgezeichneten Eindruck macht das Symphonieorchester
des Bayerischen Rundfunks, das von Pablo Heras-Casado dirigiert wird: Wo es nötig ist,
bietet es Wucht, Wildheit und sogar Brutalität – und das passt zu Schostakowitschs Musik,
die durchaus etwas Furchteinflößendes hat. Gleichzeitig führt Heras-Casado die Musiker
aber auch zu höchster Präzision und Transparenz. Diese Qualitäten bekommen dem Werk
besonders gut: Schostakowitschs Konzerte sind durch und durch konzertant gestaltet, d. h.
das Orchester agiert hier nicht als Meute oder Massiv, sondern es wird originell aufgefächert – sogar ungewöhnliche Instrumente wie das Tamburin werden solistisch exponiert.
All das bewerkstelligt das BR-Symphonieorchester mit delikatem Raffinement.
Mit diesem Lobpreis wären wir am Ende des Treffpunkts Klassik mit neuen CDs
angekommen. Auf unserer Website, www.swr2.de, finden Sie eine Liste mit allen genauen
Angaben zu den fünf Einspielungen, die ich Ihnen heute vorgestellt habe. Dort können Sie
übrigens auch, wenn Sie mögen, die gesamte Sendung noch einmal anhören, während der
nächsten sieben Tage jedenfalls. Fürs heutige Zuhören dankt Ihnen herzlich Susanne Stähr.
Und empfiehlt Ihnen das weitere Programm auf swr2, zunächst mit dem Kulturservice und
dann mit Aktuell und den neuesten Nachrichten.