PTB-Mitteilungen 126 (2016), Heft 2 Planck’sches Wirkungsquantum & Avogadro-Konstante Elektrisch-mechanisches Gleichgewicht – die Wattwaage Michael Gläser* Zusammenfassung Einleitend werden die Historie zur Entstehung der Wattwaage und ihre Bedeutung für das neue Internationale System der Einheiten (SI) erläutert. Erwähnt wird die Motivation für die Idee der Wattwaage als eine im Vergleich zu früheren Versuchen höhere Genauigkeit versprechende experimentelle Methode zur Anbindung elektrischer Größen an Kilogramm, Meter und Sekunde. Das Prinzip der Wattwaage und die Darstellung von Spannung und Strom über die makroskopischen Quanteneffekte Josephson- und QuantenHall-Effekt durch die Planck-Konstante und die Elementarladung werden beschrieben. Die Funktionsweisen der zurzeit bedeutendsten Wattwaagen werden vorgestellt und ihre Ergebnisse im Vergleich zum Ergebnis des Avogadro-Projekts und dem auf einer Ausgleichsrechnung beruhenden CODATA-Wert in einer Grafik dargestellt. Abschließend folgt eine Beschreibung der Weitergabe der Einheit Kilogram von den in der Wattwaage verwendeten Massenormalen bis hin zu Gewichtsstücken, die in der Industrie, auf den Märkten oder zur Eichung von Waagen eingesetzt werden. eine Waage entwickelt, mit der man mithilfe von Spulen einen bekannten elektrischen Strom einer messbaren mechanischen Kraft zuordnen konnte (Bild 2). In derzeitigen Einheiten heißt das, dass die Einheit Ampere einer Kraft in den Einheiten Meter, Kilogramm und Sekunde zugeordnet wird. Im Jahre 1948 hat man schließlich die Einheit Ampere nach einer idealisierten Anordnung, * Dr. Michael Gläser, ehemaliger Leiter des PTB-Labors „Masseneinheit“ und später des PTB-Fachbereichs „Festkörpermechanik“, E-Mail:[email protected] verschiebbares Gegengewicht Nivellierspitzen Stromquelle Bild 1: Schema einer Stromwaage nach Ampère (nach Wikipedia) 1.Einleitung Geschichte André-Marie Ampère entwickelte als erster eine Stromwaage, nachdem er die magnetischen Kräfte von Strom durchflossenen Leitern entdeckt hatte. Eine solche Stromwaage kann man sich als zwei parallele Leiter vorstellen, von denen einer beweglich und mit einer Wippe verbunden ist, deren Gleichgewichtslage durch ein verschiebbares Gewichtsstück eingestellt werden kann (Bild 1). Fließen nun elektrische Ströme in beiden Leitern in die gleiche Richtung, ziehen sie sich an und das Gewichtsstück wird auf der dem Leiter gegenüberliegenden Seite der Wippe auf die Gleichgewichtslage eingestellt. Fließen die Ströme entgegengesetzt, wird das Gewichtsstück auf der Seite des Leiters eingestellt. Lord Kelvin hat später Bild 2: Stromwaage im NIST 1912. Im oberen Kasten steht eine gleicharmige Balkenwaage, im unteren Kasten befindet sich die Magnetspule, die am rechten Waagebalken hängt [4]. 79 Experimente für das neue SI entsprechend der Ampère’schen Stromwaage, definiert. Die in der Definition beschriebene Anordnung mit unendlich langen Leitern lässt sich natürlich nicht realisieren, sodass man andere Versuchsanordnungen mithilfe von Spulen wählte, um die Einheit Ampere zu realisieren. Der Unterschied der beiden Geometrien lässt sich genau berechnen. Die Stromdichte in den Spulendrähten ist jedoch nicht über ihren Querschnitt konstant, sodass der geometrische Abstand der Spulen nicht mit dem Abstand der elektrischen Ströme übereinstimmt [1]. Die relative Unsicherheit von einigen 10–6 solcher Messungen [2] ließ sich aber nicht soweit verringern, wie man es Anfang der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts erhofft hatte. Die kritische Größe war die magnetische Induktion, die eine genaue Kenntnis der Stromverteilung auch im Inneren der Spulendrähte und der magnetischen Feldverteilung im Raum erfordert. Brian Kibble war der erste, der 1975 eine Messmethode vorschlug, bei der solche Messungen nicht mehr nötig waren [3] (s. Kap. 4.). So sollte in einem ersten Versuch mit einer herkömmlichen Stromwaage die Kraft auf einen Strom durchflossenen Leiter in einem Magnetfeld mit der Gewichtskraft eines Massenormals verglichen werden. In einem zweiten Versuch, in der gleichen Anordnung, sollte dann der elektrische Leiter im Magnetfeld bewegt und so eine Spannung zwischen seinen Enden erzeugt werden (s. Kap. 2). Werden die Gleichungen dieser beiden Versuche so kombiniert, dass die magnetische Induktion eliminiert ist, entsteht ein Zusammenhang zwischen Strom, Spannung, Masse, Fallbeschleunigung und Geschwindigkeit – Größen, die man mit wesentlich höherer Genauigkeit als die magnetische Induktion messen kann. Schon bald nachdem Kibble diesen Vorschlag veröffentlicht hatte, begann er selbst im National Physical Laboratory (NPL, Großbritannien), aber auch ein Team im National Bureau of Standards (NBS, heute: National Institute of Standards and Technology, NIST, USA) mit dem Aufbau entsprechender Apparaturen – die man später „Wattwaage“ nannte. Beide Institute verfolgten dabei unterschiedliche Konzepte. Während man im NPL eine vorhandene gleicharmige Balkenwaage und einen Permanentmagneten einsetzte, verwendete das NBS eine Seilrolle anstelle eines Waagebalkens und eine supraleitende Spule zur Erzeugung des Magnetfeldes. Im Jahre 1998 begann auch das Swiss Federal Office of Metrology (OFMET, heute METAS, Schweiz) mit dem Aufbau einer Wattwaage. Ihr Konzept unterscheidet sich von denen der beiden anderen. Zum Vergleich der Kräfte wird ein kommerzieller Massekomparator eingesetzt, die vertikale Bewegung wird mit einer Doppelwippe ausgeführt und die beiden Versuchsmodi sind mechanisch getrennt. Auch das Bureau International des Poids et Mesures (BIPM, 80 PTB-Mitteilungen 126 (2016), Heft 2 Frankreich) und andere nationale metrologische Institute begannen, eine Wattwaage aufzubauen, so das Laboratoire National de Métrologie et d’Essais (LNE, Frankreich), das Korea Research Institute of Standards and Science (KRISS, Südkorea) und das Measurement Standards Laboratory (MSL, Neuseeland). Das National Metrology Institute of Japan (NMIJ, Japan), das Ulusal Metroloji Enstitüsü (UME, Türkei) und das D.I. Mendeleyew Institute for Metrology (VNIIM, Russische Föderation) planen, demnächst eine Wattwaage aufzubauen. Im National Institute of Metrology (NIM, China) begann man eine Waage nach einem etwas anderen Prinzip aufzubauen: eine Joule-Waage, bei der mechanische und elektrische Energien gleichgesetzt werden. Bedeutung der Wattwaage für das neue SI Beim neuen, für das Jahr 2018 vorgesehenen Système International d’Unités (SI) wird man die Werte einiger Naturkonstanten festlegen. Diese Werte bestehen aus einer Zahl und einer Dimension, letztere besteht aus dem Produkt von Einheiten. Auf diese Weise werden die in diesen Werten verwendeten Einheiten, z. B. Kilogramm, Meter, Sekunde, Ampere oder Kelvin, indirekt definiert. Bei der Wattwaage wird das Produkt aus Strom und Spannung durch zwei Frequenzen und die Planck-Konstante ersetzt (s. Kap. 3), wobei zwei makroskopische Quanteneffekte ausgenutzt werden: der Josephson-Effekt für die Spannung und der Quanten-Hall-Effekt für einen Widerstand. Die Wattwaage stellt dann einen Zusammenhang zwischen einer Masse, der Fallbeschleunigung, einer Geschwindigkeit, zwei Frequenzen und der Planck-Konstanten her. So wird das Kilogramm über Meter, Sekunde und die Planck-Konstante definiert. Das Meter ist bereits und wird auch künftig über den Wert der Lichtgeschwindigkeit (s. Artikel Interferometrie – wie entlocke ich dem Licht eine Länge? in diesem Heft) und die Sekunde über eine atomare Konstante, die Periodendauer eines Hyperfeinstrukturübergangs des 133Cs-Nuklids (s. Artikel Wie tickt eine Atomuhr? in diesem Heft), definiert. So wird durch die Festlegung der Planck-Konstanten im neuen SI die Wattwaage eine mögliche Realisierung der Einheit Kilogramm sein. Es wird auch andere Realisierungen geben, sofern sie sich auf die festgelegten Naturkonstanten beziehen, so etwa mit dem Avogadro-Experiment (s. Artikel Atome zählen für Masse und Stoffmenge in diesem Heft). 2. Vom Kilogramm zum Watt Die Wattwaage kann in unterschiedlichen Anordnungen realisiert werden (s. Kap. 4). Zum Verständnis des Prinzips soll hier eine Seilrolle PTB-Mitteilungen 126 (2016), Heft 2 Planck’sches Wirkungsquantum & Avogadro-Konstante dienen, die die Funktion einer gleicharmigen Balkenwaage übernimmt (Bild 3). Einer der beiden Versuche (Modi), in denen die Wattwaage betrieben wird, ist der statische Modus. Dabei wird an einem der beiden Seilenden, auf einer Schale, ein Massenormal (ein Gewichtsstück) aufgelegt. Am anderen Seilende wird eine stromdurchflossene Spule angehängt, die derart im Feld eines Magneten positioniert ist, dass eine vertikale Kraft nach unten erzeugt wird. Sind die Gewichtskraft des Massenormals und die elektromagnetische Kraft auf die Spule im Gleichgewicht, ist das Produkt aus der Masse des Massenormals m, und der lokalen Fallbeschleunigung g, gleich dem Produkt aus dem Strom in der Spule I, der magnetischen Flussdichte B, und der Länge des Spulendrahts L: mg = I B L (1) Gleichung (1) gilt im Vakuum. In Luft muss die Gewichtskraft durch die Luftauftriebskorrektur ergänzt werden. Man kann nun den Strom I aus m, g, B und L berechnen. Da die magnetische Flussdichte jedoch nicht hinreichend genau bestimmt werden kann, betreibt man die Waage in einem zweiten Versuch, dem bewegten Modus. Dabei wird anstelle einer Stromquelle ein Spannungsmessgerät an den Enden der Spule angeschlossen. Am anderen Seilende wird anstelle des Masse normals ein Treiber angeschlossen, der die Rolle so in Bewegung setzt, dass die Spule sich mit konstanter Geschwindigkeit vertikal im Magnetfeld bewegt. Dadurch wird in der Spule eine Spannung induziert, die mit dem Spannungsmessgerät regis triert wird. Diesen Effekt kennt man vom Dynamo, er folgt aus den Maxwell’schen Gleichungen. Die Geschwindigkeit der Bewegung wird mit einem Laser-Interferometer gemessen. Die erzeugte Spannung U, ist dann gleich dem Produkt aus B, L und der Geschwindigkeit v: U = B L v (2) Wenn die Gleichungen (1) und (2) in VektorSchreibweise geschrieben werden, lässt sich auch die Richtung der Kraft erkennen. In der Praxis hilft auch die Drei-Finger-Regel, z. B. für Gleichung (1): der Daumen zeigt die Richtung des Stroms an, der Zeigefinger die Richtung der Magnetfeldlinien und der abgeknickte Mittelfinger die Richtung der (Lorentz-)Kraft. Gleichung (2) gilt allerdings nur, wenn im bewegten Modus die Spule sich auf einer Strecke bewegt, auf der das Magnetfeld konstant ist. In der Praxis ist das jedoch nicht der Fall. Da man aber die Geschwindigkeit hinreichend konstant einstellen kann und da man die Stelle auf der Strecke kennt, an der im statischen Modus gemessen wird, kann man die sich in der gemessenen Spannung zeigende Inhomogenität des Magnetfeldes modellieren und durch eine Korrektur entsprechend berücksichtigen. Gleichungen (1) und (2) lassen sich nun so kombinieren, dass das Produkt BL eliminiert wird: U mg = v I oder UI = mgv(3) Auf jeder Seite der Gleichung (3) steht nun jeweils eine Leistung, deren Einheit „Watt“ ist. Daher wird diese Waage „Wattwaage“ genannt. Diese Gleichung lässt sich allerdings nicht auf einfache Weise veranschaulichen. Denn diese Leistungen sind aus zwei unterschiedlichen Versuchen hergeleitet. Mit anderen Worten: weder die elektrische (linke Seite) noch die mechanische (rechte Seite) Leistung tritt im Experiment in Erscheinung. Es sind fiktive Leistungen, die sich aus der Kombination von zwei Gleichungen ergeben. Dennoch ist die Gleichung physikalisch korrekt. Die beiden Versuchen gemeinsame Größe ist das Produkt aus magnetischer Induktion und einer Länge, das rechnerisch eliminiert wurde. a) Ig m B F b) Uind B UI = mgv Fg v UI = h ƒg ƒ ind /4 Bild 3: Prinzip der Watt waage, Ig Strom in der Spule, B radiales Magnetfeld, F elektromagnetische Kraft, m Masse eines Gewichtstücks, Fg Gewichtskraft, Uind induzierte Spannung, v Geschwindigkeit im bewegten Modus, g Fallbeschleunigung, h Planck-Konstante, fg, find Mikrowellenfrequenzen der JosephsonSpannung [5] 3. Vom Watt zur Planck-Konstanten. Wie legt h das Watt und schließlich das Kilogramm fest? Strom und Spannung in Gleichung (3) können in Einheiten des bisherigen SI gemessen werden. Um sie aber auf eine Naturkonstante, die PlanckKonstante, zurückführen zu können, bedient man sich des Josephson- und des Quanten-HallEffekts (s. Artikel Elektronen zählen, um Strom zu messen in diesem Heft). Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen, sollen nur die Zusammenhänge 81 Experimente für das neue SI PTB-Mitteilungen 126 (2016), Heft 2 der entscheidenden Größen angegeben werden. So hängt die Josephson-Spannung UJ von einer Mikrowellenstrahlung der Frequenz f, einer ganzen Zahl n1, der Planck-Konstanten h und der Elementarladung e gemäß Gleichung (4) ab. UJ f = n1h 2e (4) Für n1=1 wird der Kehrwert der rechten Seite von Gleichung (4) nach dem Entdecker des Effekts „Josephson-Konstante“ genannt. Der Brite Brian D. Josephson erhielt für seine Entdeckung 1973 den Nobelpreis für Physik. Der Quanten-Hall-Widerstand RH hängt von der Planck-Konstanten h, einer anderen ganzen Zahl n2 und dem Quadrat der Elementarladung e gemäß Gleichung (5) ab. h (5) RH = n2e 2 Für n2=1 wird die rechte Seite von Gleichung (5) nach dem Entdecker des Effekts „von-KlitzingKonstante“ genannt. Für die Entdeckung dieses Effekts hat der deutsche Physiker Klaus von Klitzing 1985 den Nobelpreis für Physik erhalten. Der Strom I in Gleichung (3) wird nach dem Ohm’schen Gesetz, Gleichung (6), mithilfe eines Widerstands R und einer Spannung U gemessen. I= U R (6) Für die linke Seite von Gleichung (3) werden daher die Spannung Um – im bewegten Modus –, die Spannung Ug und der Widerstand Rg – beide im statischen Modus – gemessen. Dann erhält man für das elektrische Watt: 1 U J I = n1mn1g n2 f m f g h (7) 4 Bild 4: NPL-Wattwaage MARK 1. Oben der Waagebalken, unten links die Magnetpole mit der beweglichen Spule, die am linken Waagebalken hängt [6]. wobei der Index m sich auf den bewegten Modus und der Index g auf den statischen Modus bezieht. Gleichung (7) zeigt nun, wie h das Watt festlegt. Nach Gleichsetzung mit dem mechanischen Watt nach Gleichung (3) und entsprechender Umformung erhält man: 1 h m = n1mn1g n2 f m f g 4 gv (8) Gleichung (8) zeigt, wie h das Kilogramm – oder eine andere Masse – festlegt. So kann künftig – nach der Neudefinition des Kilogramms – mit der Wattwaage die Masse m eines Massenormals mit dem festgelegten Wert der Planck-Konstanten (Einheit Js = kg m2/s) ermittelt werden, wobei zwei Frequenzen (Einheit 1/s2), die lokale Fallbeschleunigung (Einheit m/s2) und eine Geschwindigkeit (Einheit m/s) gemessen werden. 4. Die zwei bedeutendsten Wattwaagen Die NRC/NPL-Wattwaage Bild 5: Schema der NPL-Wattwaage MARK 2. Am linken Balkenarm hängen zwei vertikal versetzte Spulen in axialen Magnetfeldern, darüber eine Vorrichtung zum Auf- und Absetzen eines 1-kg Gewichtstücks. Am rechten Balkenarm hängt ein Gegengewicht von 500 g [7, 16]. 82 Die heute im National Research Council (NRC, Kanada), befindliche Wattwaage stellt eine Weiterentwicklung der Wattwaage des National Physical Laboratory (NPL, Großbritannien) dar. Im Jahre 1975 machte Brian Kibble (NPL) auf der Fifth International Conference on Atomic Masses and Fundamental Constants in Paris den Vorschlag, die Einheit Ampere auf eine neue PTB-Mitteilungen 126 (2016), Heft 2 Weise darzustellen. Sein Vortrag wurde 1976 im nachfolgenden Konferenzband veröffentlicht [1]. Im ersten Teil seines Vortrags beschrieb er eine Messung des gyromagnetischen Verhältnisses des Protons in einem starken Magnetfeld. Die dabei verwendete Apparatur bestand aus einer gleicharmigen Balkenwaage für maximal 44 kg, an der an einem Balkenarm ein Gewichtsstück aufgehängt war und am anderen Arm eine rechteckige Spule, deren horizontale Windungen quer in einem horizontalen Magnetfeld angeordnet waren (Bild 4). Das Magnetfeld wurde zwischen den beiden Polen eines Permanentmagneten erzeugt. Im Magnetfeld war auch die Probe positioniert, an der die Präzessionsfrequenz des Protons gemessen wurde. Im zweiten Teil seines Vortrags schlug Kibble vor, mit der gleichen Apparatur in einem ersten Schritt die Gewichtskraft des aufgelegten Gewichtsstücks mit der elektromagnetischen Kraft auf die stromdurchflossene Spule zu vergleichen und in einem zweiten Schritt die Spule durch das Magnetfeld zu bewegen und so die induzierte Spannung zu messen (s. Kap. 2). Das Ziel einer solchen Messung sollte das Verhältnis zwischen dem Ampere gemäß seiner Definition im SI und dem Ampere als Quotient aus den in dem jeweiligen Laboratorium vorgehaltenen Einheiten Spannung und Widerstand sein. Nicht lange danach wurde diese Waage im NPL entsprechend umgebaut, um die vorgesehenen Messungen durchzuführen. Zunächst erhielt sie den Namen Moving-Coil Apparatus und später den Namen Watt Balance, da das Watt die Einheit der Größe ist, über die eine mechanische mit einer elektrischen Leistung verglichen wird. Um 1990 wurde die Anordnung von Magnet und Spule geändert. Eine (kurze) zylindrische Spule mit vertikaler Achse wurde in ein horizontal angeordnetes, radiales Magnetfeld gehängt (Bild 5). Tatsächlich sind es zwei axial versetzte Spulen mit einander entgegengesetzter Windung, die in entgegengesetzt gepolten, radialen Magnetfeldern hängen. Ein radiales Magnetfeld wird durch zwei kreisrunde Magnete realisiert, bei denen sich gleiche Pole gegenüberstehen. Da sich beide Pole abstoßen, werden die von ihnen ausgehenden Magnetfeldlinien umgelenkt und parallel zueinander und zum Spalt zwischen den Polen radial nach außen geführt. Ein Schema der Wattwaage des NIST zeigt den Verlauf der Feldlinien, s. Bild 6. Um systematische Fehler zu reduzieren, wird im statischen Modus anders verfahren als oben (Kap. 2) beschrieben. Der statische Modus wird in zwei Schritten ausgeführt. Der der Spule gegenüber liegende Arm der Waage wird mit 500 g belastet. In einem ersten Schritt wird ein Strom durch die Spulen geleitet, der der Gewichtskraft von 500 g die Waage hält. Im zweiten Schritt wird mit einem ferngesteuerten Mechanismus das Gehänge mit der beweglichen Spule mit Planck’sches Wirkungsquantum & Avogadro-Konstante einem 1-kg-Gewichtsstück belastet und ein Strom mit umgekehrtem Vorzeichen durch die Spulen geleitet, der das nun mit 500 g nach unten ziehende Spulengehänge nach oben in die Gleichgewichtslage anhebt. Um 1992 wurde die ganze Apparatur in einem Vakuumgehäuse untergebracht, um den Einfluss von Luftauftrieb und Luftdruckschwankungen auf die Gewichtskraft auszuschalten. Um im bewegten Modus die Geschwindigkeit der bewegten Spule messen zu können, wurde ein Laser-Interferometer verwendet. Zur Messung der Fallbeschleunigung wurde ein Absolutgravimeter eingesetzt. Bild 6: Schema der magnetischen Feldlinien und der Anordnung der supraleitenden Spulen sowie der beweglichen und festen Induktionsspulen der Wattwaage im NIST. Die verkippten Induktionsspulen zeigen eine typische Fehlausrichtung. Sensoren und Libellen dienen zum Erkennen der Ausrichtung der Spulen [8]. Bild 7: Die NRC-Wattwaage, Vakuumdeckel abgehoben. (Foto: Autor) 83 Experimente für das neue SI Zwischen 2009 und 2011 wurde diese Wattwaage vom NPL zum NRC gebracht und wieder neu aufgebaut (Bild 7). Im NRC wurden weitere Verbesserungen vorgenommen und neue Messgeräte eingesetzt. In dem neu errichteten, unterirdischen Messraum herrschen stabilere Umgebungsbedingungen, wie zum Beispiel geringere Untergrund erschütterungen als im NPL. So konnte die Messunsicherheit deutlich verbessert werden (s. Kap. 5). Die NIST-Wattwaage Während im NRC ein Waagebalken verwendet wird, benutzt das NIST eine Seilrolle (Bild 8). Bild 8: Schema der NISTWattwaage. Der obere Teil mit der Seilrolle und dem Gewichtstück liegt weit genug von den supraleitenden Spulen (unten) entfernt, sodass ihr Magnetfeld die Gleichgewichtslage nicht beeinflusst [9]. PTB-Mitteilungen 126 (2016), Heft 2 Eine Seilrolle hat den Vorteil, dass im bewegten Modus die Bewegung der Spule exakt vertikal erfolgt und keinen horizontalen Anteil besitzt wie bei einem Waagebalken. Eine Seilrolle hat aber auch Nachteile, z. B. kann das Seil verdrillen und zu unerwünschten Torsionen der angehängten Spule führen. Auch im NIST hängt die Spule in einem radialen Magnetfeld, das Magnetfeld wird aber hier durch zwei Spulen erzeugt. Anfangs waren es bei Umgebungstemperatur normalleitende Spulen. Später ging man zu supraleitenden Spulen über. Ein Vorteil eines durch Spulen erzeugten Magnetfeldes ist, dass gegenüber einem Permanentmagneten Messungen bei verschieden starken Magnetfeldern ausgeführt werden können und so die Zuverlässigkeit der Messungen überprüft werden kann. Während das Spule-Magnet-System der NRC-Wattwaage relativ kompakt ist – die Spule taucht in einen zylindrischen Schlitz des komplexen Magneten ein – hat das System im NIST erheblich größere Ausmaße (Bilder 9 und 10). Zur Kontrolle besitzt die Wattwaage des NIST neben der beweglichen noch eine gleichartige, ortsfeste Spule. Zur besseren Unterscheidung nennen wir im folgenden diese beiden Spulen „Induktionsspulen“. Die beiden Induktionsspulen umringen die supraleitenden Spulen. Daher gibt es nach außen ein starkes magnetisches Streufeld. Wer den Raum betritt, muss Kreditkarten und Uhren vorher ablegen, um Schäden daran zu vermeiden. Um den Bereich mit der Rolle und den Gewichtsstücken vom Einflussbereich des Magnetfelds zu trennen, ist die gesamte Apparatur in zwei Etagen untergebracht. Nach ersten Messungen in Umgebungsluft wurde auch die NISTWattwaage in einem Vakuumgehäuse untergebracht. Um oben genannte Torsionen zu verhindern, wurde das Seil durch 50 parallele Platin-Wolfram-Drähte realisiert und zusätzlich das Gehänge durch drei, um 1200 versetzte Flügel elektrostatisch fixiert. Störende Effekte Neben den erwähnten Effekten wie Luftauftrieb, Inhomogenität des Magnetfeldes und möglichen Torsionen sind für die Genauigkeit der Messungen noch folgende Effekte von großer Bedeutung: ■■ Fehler bei der vertikalen Ausrichtung der beweglichen Spule, bzw. bei der parallelen Ausrichtung der Kräfte; Bild 9: Die NIST-Wattwaage, untere Etage. In den blauen Zylindern befinden sich die supraleitenden Magnetspulen, im weißen Ring die Induktionsspulen, letztere im Vakuum. (Foto: Autor) 84 ■■ mögliche horizontale Schwingungen, die im bewegten Modus oder auch beim Lastwechsel entstehen; ■■ Erschütterungen des Untergrundes; ■■ die Temperaturempfindlichkeit des Permanentmagneten, aber auch die des verwendeten Widerstandes; PTB-Mitteilungen 126 (2016), Heft 2 ■■ mangelnde Abschirmung gegen elektromagnetische Störungen von außen; ■■ Fehler bei der Ermittlung der Fallbeschleunigung am Ort des Gewichtsstücks; ■■ Fehler bei der Berücksichtigung der zeitlichen Änderungen der Fallbeschleunigung; ■■ mangelhafte Eigenschaften des verwendeten Massenormals (magnetisch, veränderlich). Durch entsprechende Maßnahmen, auch Modellierungen, wurden diese störenden Effekte in den betreffenden Laboratorien so weit wie möglich reduziert. Planck’sches Wirkungsquantum & Avogadro-Konstante anschließend dazu eingesetzt, um die Masse von weiteren Gewichtsstücken über eine nachfolgende Kette von Vergleichswägungen zu bestimmen, schließlich für Gewichtsstücke, die in der Praxis bei der Wägung von Waren oder bei der Eichung von Waagen verwendet werden. Das Gewichtsstück A besteht aus einem hochwertigen Material, das besonders unmagnetisch ist, zum Beispiel aus Gold, einer Platin-Iridium-Legierung oder aus Silizium. Die anderen Gewichtsstücke in der Kette bestehen aus Edelstahl oder Gusseisen, die erheblich preiswerter sind. 5Messergebnisse Bei den ersten Messungen mit den Wattwaagen im NPL und im NIST wurden für die Bestimmung der Planck-Konstanten relative Unsicherheiten von rund 10–6 erzielt – vergleichbar mit den vorausgehenden Strommessungen mit der Stromwaage. Mit dem Experiment zur Bestimmung der Avogadro-Konstanten, z. B. in der PTB, kann durch eine Umrechnung mit anderen Naturkonstanten auch die Planck-Konstante ermittelt werden. Es zeigte sich aber bald eine unakzeptable Diskrepanz zu den Ergebnissen der Wattwagen. Erst in den letzten Jahren hat sich durch Verbesserungen bei beiden Arten der Experimente eine vertretbare Übereinstimmung gezeigt. Die von den internationalen Gremien geforderte relative Unsicherheit von 2 · 10–8 wenigstens eines der Experimente ist inzwischen erreicht. Bild 11 zeigt die letzten Ergebnisse für die Ermittlung der Planck-Konstanten. Die relativen Unsicherheiten der Ergebnisse vom NRC und von der International Avogadro Coordination (IAC) liegen bei 2 · 10–8 oder darunter und erfüllen damit einen Teil der Anforderungen des Comité Consultatif pour la masse et les grandeurs apparantées (CCM), die vom NIST liegt mit 5,6 · 10–8 nur unwesentlich darüber. Aber die Konsistenz-Anforderung ist mit diesen Ergebnissen nicht erfüllt, da das Ergebnis des NIST zu weit von denen des NRC und der IAC entfernt liegt. Es bleibt abzuwarten, ob nach künftigen, neuen Messungen diese drei Ergebnisse miteinander konsistent sein werden. Bis 2018 ist ja noch etwas Zeit. Das Ergebnis des LNE ist zwar konsistent mit den drei anderen, hat aber mit 3 · 10–7 eine zu große relative Unsicherheit, um den Voraussetzungen für eine Neudefinition zu genügen. Bild 10: Die NIST-Wattwaage, obere Etage bei geöffneter Vakuumglocke, in der Mitte das Gehänge mit der Wechseleinrichtung für das Gewichtstück. Die Seilrolle befindet sich weiter oben. (Foto: Autor) 6 Weitergabe der Masseneinheit Das in der Wattwaage verwendete Gewichtsstück – hier „A“ genannt –, dessen genaue Masse gemäß Gleichung (8) ermittelt wurde, wird Bild 11: Planck-Konstante – Messergebnisse aus dem Jahre 2015: NIST [10], IAC [11], LNE [12], NRC [13], CODATA [14] 85 Experimente für das neue SI Zurzeit werden im Rahmen einer Pilotstudie die in Wattwaagen und beim Avogadro-Experiment verwendeten Massenormale mit dem internationalen Kilogrammprototyp verglichen. Dieser Vergleich wird über Transfernormale und ein Ensemble von im BIPM vorgehaltenen Massenormalen abgewickelt. Dieses Ensemble soll auch nach der Neudefinition als eine aus einzelnen späteren Realisierungen (Wattwaage, Avogadro-Experiment) gewichtete und gemittelte Verkörperung des Kilogramms zu seiner Weitergabe dienen. In einem ersten Schritt wird die evakuierte Wattwaage belüftet. Danach wird sich in normaler, feuchter Umgebungsluft ein Film aus Wassermolekülen auf der Oberfläche des Gewichtsstücks A ablagern. Dadurch erhöht sich seine Masse, wobei diese Erhöhung von der relativen Luftfeuchte der Umgebung abhängt. Diese Masseänderung wird durch Vergleichswägungen im Vakuum und in Luft mit bekannter relativer Feuchte zwischen einem gleichartigen Gewichtsstück B und einem anders geformten C mit größerer Oberfläche, aber (nahezu) gleicher Masse, bestimmt. Das Gewichtsstück C kann auch aus einer Anzahl von Scheiben bestehen. Die so ermittelten Verhältnisse von Masseänderung zu Oberfläche bei verschiedenen relativen Luftfeuchten dienen der Korrektur der Masse von A. Mit dem Gewichtsstück A werden dann Gewichtsstücke D von nationalen metrologischen Instituten kalibriert. Diese kalibrieren dann Gewichtsstücke E von Eichbehörden oder Kalibrierlaboratorien. Mit den Gewichtsstücken E werden dann Gewichtsstücke in der Industrie oder auf Märkten geeicht, oder auch Waagen, die im Handel oder anderen gesetzlich geregelten Bereichen verwendet werden. Eine Berücksichtigung der Luftfeuchte ist für die Gewichtsstücke der Eichbehörden und Kalibrierlaboratorien nicht mehr nötig, da solche Änderungen innerhalb der Fehlergrenzen liegen. Im Laufe von Monaten und Jahren ändern Gewichtsstücke sich zusätzlich durch die Absorption von Aerosolen, insbesondere von Kohlenwasserstoffen und eingebundenen Staubteilchen. Um auf die Masse bei der Kalibrierung zurück zu kommen, müssen die Gewichtsstücke gereinigt werden, so wie auch Fensterscheiben oder Spiegel hin und wieder von ihrem Belag gereinigt werden müssen. Da Gewichtsstücke, die der gesetzlichen Überwachung (Eichung) unterliegen, nach einer festgelegten Zeit neu geeicht werden müssen, sind für sie solche Reinigungen im Allgemeinen nicht nötig. 86 PTB-Mitteilungen 126 (2016), Heft 2 7 Ausblick Die seit etwa 40 Jahren andauernden Arbeiten an der Wattwaage, zuletzt zum Erzielen einer höheren Genauigkeit für die Bestimmung des Wertes der Planck-Konstanten, haben einen Stand erreicht, der eine Neudefinition des Kilogramms durch die Festlegung dieser Naturkonstanten in den nächsten Jahren ermöglichen wird. Die für eine Neudefinition zuständigen internationalen Gremien haben bereits das Jahr 2018 dafür vorgesehen. Wie im Bild 11 zu sehen ist, muss die Übereinstimmung des NIST-Wertes mit den anderen Ergebnissen noch verbessert werden. Literatur [1] F. J. Ahlers; private Mitteilung [2] P. Vigoureux; 1965, A Determination of the Ampere, Metrologia 1, S. 3–7 [3] B.P. 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