Ein Hofladen am anderen Ende der Welt

Fair Trade
Der Landbote
Donnerstag, 21. Januar 2016
Thema
3
Ein Hofladen am anderen Ende der Welt
ExpErimEnt Mit «Crowd
Container» will ein
Jungunternehmer ein
neues Importmodell für
Lebensmittel testen. Ein
Grossteil der Wertschöpfung
bliebe so bei den Kleinbauern.
Wissen, was drin ist und woher es
kommt: Spätestens seit dem Pferdefleischskandal von 2013 schauen die Konsumenten wieder kritischer hin. Erschreckend anschaulich wurde einem damals vor
Augen geführt, wie verworren
die Produktions- und Wertschöpfungsketten in der Lebensmittelindustrie inzwischen sind. Über
fünf Zwischenhändler in fünf
Ländern wurde die Rindfleischbestellung damals abgewickelt –
und zuletzt aus Rumänien als
Pferdefleisch geliefert. Dies alles,
um die Kosten zu drücken.
Radikaler könnte der Gegensatz zum Projekt «Crowd Container» von Tobias Joos (32) kaum
sein. Um Fleisch und Fertigpro-
trendbewusster «Slow Food»Anhänger aus.
Aufgewachsen ist Joos in Ottikon bei Kemptthal, die Matura
machte er an der Kantonsschule
Rychenberg und studiert hat er
Internationale Beziehungen in
Genf. Zu keimen begann die Idee
von «Crowd Container» aber vor
Ort in Kerala, wo Joos 2010 ein
Jahr lang in der Kooperative arbeitete. Die Biodiversität der Region ist riesig. Hauptsächlich Cashewnüsse, Gewürze, Kakao, Kaffee und Kokosnüsse bauen die
rund 4500 Bauern dort an, nicht
in Mono-, sondern in Mischkulturen. Diese müsse man sich wie
kleine Wälder vorstellen, sagt
Joos: «Hier wächst ein Cashew-
nuss- neben einem Nelkenbaum
und einer Bananenstaude, dort
klettert eine Pfefferranke an einer
Kokospalme hoch.»
Bewusst keine Labels
Ein bekanntes FTAK-Erfolgsprodukt sind die Pakka-Cashewnüsse, die es bereits in die Fair-TradeLäden wie auch die städtischen
Szenebars geschafft haben. Es gibt
sie in verschiedenen Variationen,
von Curry Madras bis ummantelt
mit schwarzer Schokolade. Joos
hat unter anderem bei der für ihr
Nachhaltigkeitskonzept preisgekrönten Zürcher Pakka AG gearbeitet. Sämtliche ihrer Produkte sind Max-Havelaar- und biozertifiziert, beides Gütesiegel mit
strengen Richtlinien. «Doch der
Aufwand und die Kosten solcher
Zertifizierungen sind nicht zu
unterschätzen», sagt Joos. Auch
das geht auf Kosten der Wertschöpfung. Ein Beispiel: Ein MaxHavelaar-Bauer verdient an seiner fair gehandelten Banane rund
42 Prozent mehr, immerhin. Am
Ladenpreis macht sein Lohnanteil
aber lediglich etwa 12 Prozent aus.
Fast 80 Prozent der Wertschöpfung bleiben im Norden. Bei
«Crowd Container» sollen 60 Prozent der Wertschöpfung in Südindien bleiben. Keinesfalls stelle
«Crowd Container» solche Labels
grundsätzlich infrage. «Sie sind
ein grosser Fortschritt.» Er aber
wolle einen Schritt weiter gehen
und einen neuen Vertriebskanal
testen: Über die CrowdfundingPlattform Wemakeit bestellen
Gruppen gemeinsam ein Lebensmittelpaket. Etwa 250 Bestellungen reichen, um einen Schiffscontainer so zu füllen, dass sich der
Transport rechnet. Erst wenn diese kritische Menge erreicht ist,
geht die Bestellung an die Kooperative raus. Wer früh ordert, muss
daher bis zu drei Monate auf sein
Paket warten. Volle Transparenz
und direkte Wege verlangen Abstriche beim Service und bei der
Verfügbarkeit. «Zur Belohnung
gibt es Spitzenprodukte, zu denen
man einen konkreten Bezug hat»,
sagt Joos. Häppchenweise will er
seinen Kunden während der War-
«Zertifikate sind gut.
Aber Kosten und
Aufwand sind nicht
zu unterschätzen.»
Tobias Joos,
Projekt «Crowd Container»
dukte geht es schon einmal nicht,
sondern um Lebensmittelpakete
gefüllt mit Cashewnüssen, Kokosnussöl, sieben Gewürzen, zwei
Sorten Reis und allenfalls Kaffee,
alles in Einkaufsmengen für rund
vier Personen und zu einem Preis
von etwa 180 Franken. Die Produkte stammen ausnahmslos von
einer Kleinbauern-Kooperative,
der Fair Trade Alliance Kerala
(FTAK) im südindischen Bundesstaat Kerala. Die Produktionsund Transportkette soll einmalig
kurz bleiben, Südindien–Schweiz,
ohne Zwischenhändler. Die
Kleinbauern und lokalen Verarbeiter sollen die hohen Margen
bekommen. Das Businessmodell,
das sich Joos dafür ausgedacht
hat, ist kompromisslos – und lotet
auch etwas die Schmerzgrenze
Mit den «Crowd Container»-Lebensmittelpaketen will Tobias Joos (links) das Maximum für die Kleinbauern der südindischen Kooperative in Kerala
herausholen. Ein Bauer präsentiert stolz eine frisch geerntete Kurkuma (oben) und am jährlichen Seed-Festival (unten) wird Saatgut ausgetauscht. mad/pd
tezeit Einblicke in die Kooperative geben und über Social Media
zeigen, wie die Cashewnüsse geschält, die Gewürze gemahlen
oder die Chilis gepflückt werden.
Joos’ Organisation versucht die
Funktion des Labels zu übernehmen, das Vertrauen schafft.
Das Fensterchen zur Kooperative solle auch zu bewussterem
Konsum und Genuss anregen. «Es
macht definitiv mehr Freude,
ein Produkt zu essen, das man
kennt.» Der Urban-GardeningBoom und lokale Gemüseabos
zeugen davon, dass die Nachfrage
besteht. Die Dietiker Gartenkooperative Ortoloco, bei der Joos
seit langem mitwirkt, fand in Kürze 250 Kunden. Warum nun nicht
zusammen mit einer 7000 Kilometer entfernten Kooperative
ein «eigenes» Gärtchen für den
Anbau exotischer Lebensmittel
nutzen?
Gewürzbehörde kontrolliert
Im internationalen Netzwerk des
Impact Hub Zürich, das «Crowd
Container» als innovative Geschäftsidee unterstützt, feilt Joos
nun an seinem Konzept. Zwanzig
Lebensmittelpakete sind bereits
unterwegs und auf hoher See,
nachdem sie die strengen Exportkontrollen des Spices Board of India bestanden haben. Stimmen
Qualität, Produktemix und -menge? Der Testlauf soll erste Antworten darauf geben. Ende Februar soll dann die breit angelegte
Crowdfunding-Kampagne auf
Wemakeit mit dem Ziel von 250
Bestellungen starten.
Die «Crowd Container»-Pakete
werden wohl ein Nischenprodukt
bleiben, nur schon wegen des
kleinen Sortimentes und der langen Wartezeit. «Aber mein Bauchgefühl stimmt», sagt Joos, der
heute in Zürich-Wiedikon wohnt.
Der Social Entrepreneur weiss,
worauf die sogenannten Lohas
(Lifestyle of Health and Sustainability) ansprechen, das junge, gut
gebildete urbane Publikum. Er
selbst hält sich als selbstständiger
Berater für Kleinbauernprojekte
und als Velokurier über Wasser.
Selbst als solcher erlebe er immer
wieder, wie man als vermeintlich
Kleiner Grosses bewegen könne.
«Kürzlich haben wir per Lastenvelo eine Waschmaschine ausgeliefert.» Preislich und zeitlich habe man mit einem Lieferwagen
durchaus mithalten können.
Till Hirsekorn
Kein Label für die Stadt
Zucker-Pionier aus Hegi
FAir trAdE town Zu teuer,
zu viel Aufwand: Winterthur
will nicht Fair Trade Town
werden. Man verhalte sich
bereits vorbildlich.
industriE Die Winterthurer
Rohstofffirma Pronatec war
Weltmarktführerin im Handel
mit Bio-Fair-Trade-Zucker.
Ihr Sortiment ist heute breit.
Zweisimmen BE oder GlarusNord. Eine der beiden Gemeinden
wird voraussichtlich die erste Fair
Trade Town (FT Town) der
Schweiz. Sie erfüllen bisher am
meisten der Teilkriterien des Labels, das der Verband Swiss Fair
Trade 2014 in Winterthur lanciert
hat. Die lokalen Voraussetzungen
wären gut. Eine FT Town muss
über ein vernünftiges Angebot an
Läden, Restaurants, Hotels und
Unternehmen verfügen, die auf
Fair Trade setzen. Nur: Vom
Stadtrat bräuchte es ein offizielles
Bekenntnis. Er müsste mitunter
durchsetzen, dass im Superblock
Fair-Trade-Kaffee getrunken und
auch in Kindergärten, Schulen
und Alterszentren fair gehandelte Produkte auf den Tisch kämen.
Eine Arbeitsgruppe würde das
Ganze koordinieren und kontrollieren und jährlich eine FT-
Aktion organisieren. Der Stadtrat
bleibt bei der Position seiner
Interpellationsantwort von 2013:
Aufwand und Kosten für das FTEtikett sind ihm zu hoch. Er rechnet mit jährlichen Sachkosten von
bis zu 20 000 Franken und 25
Stellenprozenten eines «unteren
bis mittleren Kadermitglieds» für
die Arbeitsgruppe und die Öffentlichkeitsarbeit. «Die Stadt überschätzt den personellen Aufwand
deutlich», sagt die FT-TownKampagnenleiterin Tonya Krummenacher. Bis auf den Mitgliederbeitrag von 2500 Franken könne
eine Gemeinde die Gesamtkosten
selber steuern. Sie glaubt, dass
sich die politischen Prioritäten
auch in Winterthur wieder ändern. «Vorbildlich ist das städtische Beschaffungswesen jedenfalls heute schon.»
Fair, aber ohne Label
Seit 2012 garantiert eine interne
Richtlinie, dass die Stadt nur Produkte einkauft, die den acht
Hauptarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation
genügen, wie dem Verbot von
Kinder- und Zwangsarbeit. Stammen beispielsweise nicht zertifizierte Sportartikel aus Asien, wird
überprüft, welche Standards eingehalten werden. Getrunken wird
im Superblock nicht Fair-Trade-,
sondern Dallmayr-Kaffee.
Im Ranking von Solidar Suisse
(Entwicklungszusammenarbeit,
Beschaffung) schnitt Winterthur
2013 mit 58,5 von 100 Punkten
(Rang 19) eher gut ab. Ausser
Reichweite lagen Zürich (95) und
Bülach (86), knapp dahinter Illnau-Effretikon (51,5).
hit
Winterthur verzichtet.
pd
Wer Anfang der 1990er zusammen mit dem Fair-Trade-Label
Max Havelaar den weltweit ersten Biozucker vertrieb, den darf
man getrost als Pionier bezeichnen. Was 1976 als Zweimannfirma
begann, hat sich inzwischen zum
weltweit vernetzten KMU entwickelt.
Allein an ihrem Hauptsitz in
Winterthur-Hegi beschäftigt die
Rohstoffhandelsfirma Pronatec
AG inzwischen 35 Personen. Das
Unternehmen hat Lager an den
Häfen von Basel, Antwerpen und
Rotterdam und Tochtergesellschaften in Deutschland, der Dominikanischen Republik und
Madagaskar. Pronatecs Produktepalette umfasst inzwischen auch
Kakaobohnen, Vanille, Gewürze
und Nüsse, der weltweite Umsatz
ist auf fast 70 Millionen Franken
geklettert, Tendenz steigend.
Nur eines hat sich nicht verändert. Pronatec kauft direkt bei
Kleinbauern-Kooperativen ein,
nicht auf den internationalen
Rohstoffbörsen. Den Produzenten zahlt sie eine Fair-Trade- und
Bioprämie. Bei Kakao liegt diese
beispielsweise bei 200 US-Dollar
pro Tonne. Bei den 10 000 Tonnen an Kakaobohnen, die Pronatec jährlich handelt, kommt so
eine Prämie von knapp zwei Millionen US-Dollar zusammen.
Alleingang der Grossfirmen
Gerade in den Nullerjahren ist
der weltweite Fair-Trade-Markt
rasant gewachsen. In der Schweiz
lagen die Gesamtumsätze 2014
bei rund 517 Millionen Franken.
Bananen, Fruchtsäfte, Kaffee und
Kleider machten einen Grossteil
davon aus. «Bio- und Fair-TradeProdukte sind inzwischen auch
für die grossen Firmen interessant geworden», sagt David Yersin, der Geschäftsführer in zweiter Generation. Der Wettbewerb
sei heute deutlich intensiver.
Kunden wie Barry Callebaut, der
weltweit grösste Schokoladenproduzent, beziehen ihre Ware
heute teilweise selbstständig. Pronatec wächst dennoch weiterhin.
Qualität und bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgbare Produkte liessen sich nach wie vor
gut vermarkten, sagt Yersin. Seine Kunden werben gezielt mit
den «hochwertigen Kakaobohnen» aus Peru oder der «exklusiven Bourbonvanille» aus Madagaskar in ihren Produkten.
In Madagaskar ist die Firma ein
wichtiger Arbeitgeber geworden.
Rund 7400 Kleinbauern arbeiten
für drei Vanille- und Gewürzkooperativen in der Region Mananara und Tamatave.
Yersin ist viel unterwegs, in
Peru, Costa Rica, Panama, Paraguay und Madagaskar. «Schwierig
ist es vor allem, in diesen Ländern
kompetente Leute zu finden, die
einen Betrieb mit 80 Angestellten
zuverlässig leiten können», sagt
er. Yersins nächste Reise geht in
die Dominikanische Republik, wo
er die Pronatec-Tochtergesellschaft Yacao besucht.
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