Eva Heller: Die wahre Geschichte von allen Farben

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Eva Heller: Die wahre Geschichte von allen Farben
Dies ist die Geschichte von allen Farben. Von Rot, Blau, Gelb,
Orange, Grün, Violett, Weiß, Schwarz und Braun.
Jede Farbe ist anders. Manche sind miteinander befreundet,
andere vertragen sich nicht. Wenn sie sich mischen, geschehen
seltsame Dinge – Farben verschwinden, neue Farben entstehen.
Man muss es mit eigenen Augen gesehen haben: Es ist wie
Zauberei.
Am Anfang war das Weiß. Denn wenn alles leer, ganz hell und
sauber ist, dann ist es weiß. Kurz darauf kam das Rot. Es kam
angerannt, denn Rot ist immer schnell und es ist rund wie ein
Rad, weil es immer so schnell ist. „Achtung, hier bin ich!“,
brüllte es, denn Rot ist immer auch laut, jedenfalls so lange es
hell ist. „Guten Tag, ich freue mich, dich zu sehen“, sagte das
Weiß leise. „Ist da jemand?“, brüllte das Rot. „Ich bin’s, das
Weiß.“ „Hab dich gar nicht gesehen“, brüllte das Rot, denn
wie viele war es der Meinung, dass da, wo Weiß ist, nichts
wäre. Das liegt daran, dass das Weiß so schrecklich bescheiden
ist. „Hoffentlich gefällt es dir bei mir“, sagte das Weiß, „ich
habe gerade sauber gemacht.“ „Also für meinen Geschmack ist
es ziemlich langweilig hier“, brüllte das Rot. Aber heimlich
freute es sich, dass es auf dem Weiß so schön leuchtete, deshalb sagte es gnädig: „Es muss auch solche wie dich geben.
Meinetwegen kannst du bleiben wie du bist. Du bist okay!“
„Danke“, sagte das Weiß bescheiden. Das Rot hüpfte wie wild
auf dem Weiß herum.
Plötzlich kam das Blau. Es kam aus heiterem Himmel. „Ich
möchte mich etwas ausruhen“, sprach es und ließ sich nieder.
„Warum willst ausgerechnet du dich ausruhen?“, brüllte das
Rot, „du bist doch die Ruhe selbst. Wenn man dich nur
ansieht, wird man müde.“ „Jeder nach seiner Art“, sagte das
Blau sanft und wurde dabei ein bisschen größer. Es wurde
größer und größer. So ist das Blau, wenn es anfängt sich auszubreiten, hört es nicht mehr auf. Es ist wie der Himmel: Plötzlich ist das Blau da und dann ist es überall. Einfach endlos.
„Blas dich nicht so auf“, brüllte das Rot. Es rannte um das Blau
herum, versuchte es einzugrenzen. Aber das Blau war nicht zu
fassen, als ob es aus Luft wäre. „Mach dich nicht so breit! Und
nicht so hoch!“ „Ich möchte mich keinesfalls mit dir streiten“,
meinte das Blau. „Ich werde nur dort sein, wo du nicht bist.“
Und das stimmte auch: Immer wenn das Rot kam, machte ihm
das Blau Platz. Das Blau war wirklich friedfertig. Trotzdem
passte das dem Rot nicht. Denn es meinte, dass es auf Blau
nicht so leuchtete wie auf Weiß. Wütend rollte das Rot aus
dem Blau und versuchte nachzudenken, wie es mehr Platz
bekommen könnte.
Es war ihm noch nichts eingefallen, als das Gelb anschwirrte.
Das Gelb war nicht besonders groß, aber spitz. „Hier ist kein
Platz mehr für dich“, brüllte das Rot zur Begrüßung. „Was du
nicht sagst“, sagte das Gelb spitz, „soll ich dir mal ein Geheimnis verraten?“ – Das Gelb verrät gerne Geheimnisse, das liegt
daran, dass es so hell und strahlend ist, Gelb lässt sich nicht
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verheimlichen. „Dein Geheimnis interessiert mich nicht“,
brüllte das Rot, „jedenfalls nicht besonders.“ „Ich verrate es
dir trotzdem, weil du’s bist“, sagte das Gelb. „Pass auf, für
mich ist überall Platz, das ist mein Geheimnis“, und dabei
piekste es ins Rot.
„Au!“, brüllte das Rot. Das Gelb piekste das Rot überall, dabei
kicherte es tückisch „hi, hi, hi.“ „Au, au, au“, brüllte das Rot.
„Wer mir keinen Platz macht, den durchdringe ich, so mache
ich das“, kicherte das Gelb und durchdrang das Rot wie Sonnenstrahlen. Das Rot wurde ganz gelblich. „Und jetzt“,
kicherte das Gelb, „werde ich mich mit dir mischen.“ Es wirbelte im Rot herum, bis es aussah wie eine Orange. Als das Rot
ganz orange war, explodierte es.
Das Orange war noch lauter als das Rot und kreischend sang
es: „Eines ist doch jedem klar: Orange ist super-wunderbar!“
Darauf lachte es fürchterlich und klatschte sich selber viel Beifall. „Etwas mehr Ruhe bitte“, sagte das Blau zum Orange,
„möchtest du dich nicht benehmen wie eine vernünftige
Farbe?“ Das Orange dachte nicht daran. Dazu hatte es überhaupt keine Lust. Es schrie: „Juhu!“ und es blitzte nach allen
Seiten. Das konnte einem schon auf die Nerven gehen. Das
Blau seufzte. Es mochte das Orange nicht, was kein Wunder
war, denn größere Gegensätze als Blau und Orange kann man
sich nicht vorstellen.
Das Gelb wurde neidisch, weil jeder nur noch auf das Orange
sah und es zog sich zurück. Da kam das Rot wieder zum Vorschein. „Jetzt durchdringe ich zur Abwechslung das Blau“,
sagte das Gelb, das immer irgendwelche Spitzen austeilen
musste. Es piekste das Blau an. Durchdrang es. Und dann vermischte es sich. Aus Blau und Gelb wurde Grün. Unglaublich,
aber wahr. Da lag nun das Grün unter dem Blau, behäbig und
fest, als würde es nun für alle Ewigkeit da liegen bleiben. „Ein
sicheres Plätzchen hier“, sagte das Grün zufrieden. „Mehr
brauche ich nicht. Hauptsache man ist gesund.“ Und gesund
war es, das saftige Grün. Das Rot lachte schadenfroh: „Jetzt
muss sich das Blau den Platz mit Grün teilen!“ „Das Grün
nimmt mir nichts weg“, sagte das Blau, „im Gegenteil, Grün
gehört zu mir, es gibt mir was dazu.“ Tatsächlich sah das Blau
schon wieder ein bisschen größer aus. „Dann werde ich jetzt
dich durchdringen“, brüllte das Rot und raste so schnell, dass
das Blau nicht mehr ausweichen konnte, ins Blau hinein …
Das Blau sagte noch: „Nicht so hitzig, das kann leicht ein
blaues Auge geben“, da war es schon geschehen …
Im Augenblick, als das Rot ins Blau eintauchte, verlor es seine
Farbe! „Was ist denn jetzt los?!“, brüllte das Rot erschrocken.
„Ich dachte, du weißt das“, sagte das Blau, „wenn Rot und
Blau sich mischen, gibt es Violett. Und übrigens“, fügte es kühl
hinzu, „auch das Violett ist ein Teil von mir.“ „Das könnte dir
so passen“, brüllte das Rot, und weil es die kräftigste aller
Farben ist, gelang es ihm, sich loszureißen. Nur ein bisschen
Violett blieb im Blau zurück. „Da ist noch ein Teil von mir“,
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brüllte das Rot, als es das Violett sah. „Es ist ein Teil von mir,
ich weiß es ganz genau, es ist mit mir reingekommen, es soll
sofort rauskommen!“ Das Violett zögerte. „Lass es selber entscheiden, ob es zu dir oder zu mir gehören will“, sagte das
Blau. Es gab dem Violett einen sanften Schubs, dass es aus
dem Blau fiel, direkt vors Rot. „Also was bist du nun? Rot oder
was?“, brüllte das Rot das Violett an. Das Violett schwankte
unentschieden hin und her. „Manchmal bin ich blau“, sagte
das Violett, dabei wurde es rot. Dann überlegte es wieder
lange. „Ich glaube, ich bin weder rot noch blau, ich bin
anders, ich bin violett.“ „Also zu mir gehört diese Farbe auf
keinen Fall“, mischte sich das Gelb ein, „mit solchen Farben
sollte sich eine saubere Farbe nicht einlassen, da macht man
sich schmutzig. Besonders, wenn man so empfindlich ist wie
ich.“
Das Violett schwieg. Im Gegensatz zum Gelb kann nämlich das
Violett seine Gedanken für sich behalten. Es ist sogar die
geheimnisvollste aller Farben. Und dem Violett war das Gelb zu
hell, zu grell und sein Gekicher gefiel ihm nicht. Aber das sagte
das Violett nicht. Das ist nicht seine Art. Es schwankte nur
schweigend hin und her.
Als das Orange mit seinem schrillen „Juhu!“ wieder erschien,
auf das Violett zeigte und kreischte: „Bescheidenheit ist deine
Zier, doch ich komm weiter ohne ihr!“ … da wurde es dem Rot
zu bunt. „Hol ich mir eben einen Teil vom Grün!“, brüllte es.
Das Rot stürzte sich auf das Grün, das völlig ruhig dalag, riss
ein großes Stück heraus, presste allen Saft aus dem Grün,
schluckte ihn hinunter …
… und merkte in seiner Raserei nicht, welche Verwandlung
geschah. Ja, es war so seltsam, dass man es gar nicht glauben
kann, wenn man es nicht selbst gesehen hat: Aus dem leuchtenden Rot und aus dem saftigen Grün wurde Braun. Dumpfes, trübes Braun.
Das Orange, das begeistert das Rot angefeuert hatte, konnte
sich nicht mehr bremsen. Mit dem schrillen Schrei „Juhu, dein
blaues Wunder erlebst nun duhuuu!“ stürzte es sich ins Blaue.
– Und was geschah? Überall, wo sich Orange mit Blau vermischte, wurde es auch Braun!
Die Farbschlacht wurde noch grauenhafter, als sich das Gelb
über das Violett hermachte. Und aus Gelb und Violett wurde …
auch Braun! Je länger die Farbschlacht dauerte, desto dunkler
wurde alles. Aus Braun wurde Dunkelbraun, Dunkelgrau,
Dunkelgraubraun und schließlich Schwarz.
Das Rot, das kaum mehr leuchtete, konnte nur noch flüstern:
„Mir wird schwarz vor Augen.“ „Hilfe, ich verschwinde!“,
jammerte das Gelb. Tatsächlich, war es schon fast verschwunden. „Hilfe, wer weiß Hilfe?“ Sogar das Blau war mit seiner
Weisheit am Ende. „Weiß jemand Hilfe?“, rief es in die Dunkelheit hinaus.
Da machte es „Blubb – Plopp“. Nicht sehr laut, eher sehr leise,
so wie es „Blubb – Plopp“ macht, wenn man Schlagsahne auf
einen Teller klatscht. „Ihr habt mich gerufen“, sagte das Weiß.
„Hier bin ich.“
Erschöpft krabbelten die Farbreste aus der finsteren Brühe.
„Ah, Weiß! Das tut gut“, sagte das Blau und fing an, sich auszubreiten. Das Rot rannte auch sofort wieder herum. Das Gelb
durchdrang den ganzen Kreis. „Halt!“, rief das Weiß, „ihr
müsst euch gegenseitig Platz lassen, sonst verschwindet ihr alle
wieder.“ „Ich war zuerst da“, brüllte das Rot, „die anderen
sollen verschwinden.“ „Nein“, sagte das Weiß, „jede Farbe ist
gleich schön und gleich wichtig. Deshalb machen wir jetzt
einen Farbkreis. Da soll jede Farbe ihren Platz bekommen.“ Es
zählte die Farben. Es waren sechs.
Darauf unterteilte sich das Weiß in sechs Stücke, alle gleich
groß. Das war gerecht. „Und nun sollen zwischen den Grundfarben Rot, Gelb und Blau die Mischfarben Orange, Grün und
Violett sitzen, damit jeder gleich sieht, wie diese Farben entstehen. Und die Farben, aus denen Braun wird, wenn sie sich
vermischen, die sollen so weit wie möglich auseinander bleiben, sonst gibt es wieder Ärger.“
„Eine sehr harmonische Lösung“, sagte das Blau. „Wirklich
weise.“ „Versteh ich nicht“, brüllte das Rot. „Ich lass mich
nicht in eine Ecke drängen“, kreischte das Orange, „ich will in
die Mitte!“ „Dann wirst du wieder Braun und am Ende sogar
Schwarz“, sagte das Weiß. Damit war Ruhe.
„Und jetzt auf eure Plätze“, sagte das Weiß. „Das Rot soll oben
sein.“ „Jawohl, völlig richtig“, brüllte das Rot und besetzte das
Stück ganz oben. „Und links vom Rot sitzt Violett, rechts davon
Orange.“ „Warum?“, maulte das Orange, nur um sich wichtig
zu machen. „Weil du ohne mich gar nichts wärst, höchstens
gelb“, sagte das Rot angeberisch. Da es nun oben im Farbkreis
saß, fühlte es sich als König aller Farben. Das Blau setzte sich
ohne Aufforderung neben das Violett, es wusste längst, wo
sein Platz war. Nun war es auch gegenüber vom Orange, und
berührte sich mit Orange nur noch ein ganz, ganz kleines bisschen in der Mitte, eigentlich gar nicht.
Neben Orange kam das Gelb. Es hatte keine Mühe, sich in sein
Stück zu setzen. „Passt wie angegossen“, sagte es. „Gehe ich
richtig in der Annahme, dass ich gegenüber vom Rot bin?“,
fragte das Grün, das ganz sicher gehen wollte. Das war aber
eine überflüssige Frage, denn es war kein anderer Platz mehr
frei. Und da gehörte das Grün auch hin: Zwischen Blau und
Gelb und gegenüber vom Rot.
„Nun hat jede Farbe den besten
Platz!“, sagte das Weiß. Und damit
war es wieder verschwunden.
© Lappan Verlag GmbH,
Oldenburg (1. Auflage 1994)
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